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Warum es sich lohnt, die Vielfalt des Zusammenlebens neu zu entdecken
Andrea Newerla lädt uns in ihrem neuen Buch »Wie Familie, nur besser« dazu ein, die vertrauten, doch häufig auch dysfunktionalen Familienmodelle zu hinterfragen und alternative Wege des Miteinanders zu entdecken. Auf Basis ihrer langjährigen Forschung und Beratungspraxis, beleuchtet sie, wie wir Verbindlichkeit, Sicherheit und Geborgenheit außerhalb traditioneller Strukturen finden. Mit Best Practices und persönlichen Geschichten zeigt Newerla, wie gemeinsames wohnen, arbeiten, lieben und sorgen in neuen Konstellationen nicht nur funktionieren kann, sondern, wie wir es selbst aktiv und besser gestalten. Ein inspirierendes Buch für alle, die jenseits konventioneller Normen authentische und erfüllende Beziehungsmodelle suchen, die uns im Alltag Halt und Verlässlichkeit versprechen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über das Buch
Das traditionelle Bild von Familie prägt unsere Gesellschaft wie kaum ein Zweites. Und doch merken wir heute immer häufiger, wie dysfunktional dieses soziale Korsett mitunter für unsere Beziehungen, das Miteinander und unser Wohlergehen ist. Auf Basis ihrer langjährigen Forschung und Beratungspraxis, beleuchtet Andrea Newerla, wie wir Verbindlichkeit, Sicherheit und Geborgenheit außerhalb traditioneller Strukturen finden und aktiv gestalten.
Ein inspirierendes Buch für alle, die jenseits konventioneller Normen authentische und erfüllende Beziehungsmodelle suchen, die uns im Alltag Halt und Verlässlichkeit versprechen.
ANDREA NEWERLA
WIE
FAMILIE
NUR
BESSER
WIEWIRNEUEFORMENDESZUSAMMENLEBENSGESTALTEN
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
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Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN978-3-641-32885-6V002
www.koesel.de
Für meine Familien!
Inhalt
VORWORT: Blut ist dicker als Wasser! Aber welches Blut eigentlich?
I. TEILVOMSTATUSQUOZUNEUENFORMENDESZUSAMMENLEBENS
KAPITEL 1: Eine schrecklich normale Familie
KAPITEL 2: Kleine Geschichte des familiären Zusammenlebens
KAPITEL 3: Wie Familie! Unser Zusammenleben neu denken
II. TEILNEWSFLASH: WIRKÖNNENUNSERZUSAMMENLEBENGESTALTEN!
KAPITEL 4: Einander lieben
KAPITEL 5: Gemeinsam wohnen
KAPITEL 6: Zusammen Geld haben
KAPITEL 7: Umeinander sorgen
III. TEILZUSAMMENLEBENHEISST: ÜBEN, ÜBEN, ÜBEN
KAPITEL 8: Übung macht die Meister·in: Schritt für Schritt zu einem besseren Zusammenleben
NACHWORT: Ein Aufruf statt ein Ende: Bilde deine Familienbande, jetzt!
Dank
Über die Autorin
Anmerkungen und Lesenswertes
VORWORT
Blut ist dicker als Wasser! Aber welches Blut eigentlich?
Die Familie gehört zusammen, komme was wolle! Mit diesem Satz bin ich aufgewachsen. Das Wir, also meine Herkunftsfamilie, war so wesentlich, dass es oftmals mein Denken und Handeln von Grund auf bestimmte: Mir wurde beigebracht, dass es das Wichtigste ist, Dinge zu tun, die gut für die Familie sind. Lange Zeit hatte ich wirklich Schwierigkeiten, mein eigenes Handeln und meine Wünsche und Bedürfnisse von diesem Wir zu trennen. Irgendwie waren diese Dinge so sehr ineinander verzahnt, dass es mir nicht leichtfiel, herauszufinden, was ich wollte, was die Familie von mir wollte und was nun an welcher Stelle stehen sollte. Was war also wichtiger, meine Bedürfnisse oder die der Familie? Immer wieder fand ich mich in einem Dilemma wieder und musste Dinge entscheiden wie »Darf ich meine Freund·innen treffen, obwohl meine Tante heute meine Hilfe braucht?« oder »Sollte ich nicht in der Nähe meiner Familie wohnen, um stets schnell verfügbar zu sein, wenn ich gebraucht werde?«. Es fiel mich nicht leicht, diese Fragen zu beantworten.
Die Tatsache, dass ich obendrein noch weiblich und katholisch sozialisiert wurde, machte die Sache nicht gerade einfacher. So wurde mir beigebracht, die Familie und die Bedürfnisse einzelner Familienmitglieder stets genaustens im Blick zu haben: Bevor bei Tisch ein Glas eines Erwachsenen leer war, sollte ich zur Stelle sein und bereits neues Wasser aufgefüllt haben. Was ich selbst in diesen Momenten hätte gebrauchen können, spielte in meinem Bewusstsein keine Rolle. Ob ich zum Beispiel mal eine Pause von der Sorgearbeit nötigt hatte, war in diesem Zusammenhang nicht wichtig. Damals kannte ich den Begriff auch überhaupt nicht. Ich habe nicht bewusst darüber nachgedacht, was ich hätte brauchen können. Es war einfach meine Aufgabe, mich um die anderen zu kümmern. Kommt dir das auch bekannt vor?
Gleichzeitig gab und gibt es da etwas, was ich so nur ganz selten in anderen sozialen Zusammenhängen erlebt habe: eine uneingeschränkte Verbindlichkeit, füreinander da zu sein. Heute lebe ich rund 500 Kilometer von meiner Herkunftsfamilie entfernt – und mir zu erlauben, so weit weg zu ziehen, war ein langer Weg –, und dennoch weiß ich eines sehr genau: Wenn ich ein Familienmitglied anrufe und sage »Hör zu, ich brauche deine Hilfe, jetzt!«, dann wird mir geholfen. Es ist ein gutes Gefühl, diese Sicherheit zu haben. Als ich erwachsen wurde und mich ein Stück weit von meiner Herkunftsfamilie lösen konnte, fand ich ähnliche Gefühle der Sicherheit und Gewissheit in einer anderen sozialen Beziehungsform: der romantischen Liebesbeziehung.I
Auch in Liebesbeziehungen fühlen wir uns sehr schnell miteinander verbindlich, teilen vieles und sind sehr früh bereit, uns aufeinander zu verlassen. Eigentlich ziemlich interessant, dass wir mit Menschen, die wir noch nicht lange kennen, direkt so vieles teilen wollen, unser alltägliches Leben und unsere Zukunft. Mit Freund·innen hingegen, die wir seit vielen Jahren kennen, können wir uns das nicht so leicht vorstellen. Da erscheint beispielsweise bereits der Gedanke absurd, sie ins Testament aufzunehmen oder mit ihnen den Bund fürs Leben einzugehen. Es fühlt sich schnell so an, als seien wir gescheitert, denn wir konnten nicht die richtige Person finden, mit der wir bereit sind unser Leben zu teilen. Da bleiben dann »nur noch« die Freund·innen. Wer will denn so leben?
Wir fühlen uns in familiären und auch romantischen Kontexten sicher und geborgen. Außerdem verbinden wir mit diesen Beziehungen Gewissheit und Verbindlichkeit. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass sehr viele Menschen ein starkes Band zu ihrer Herkunftsfamilie wahrnehmen. Es ist ein Band, das sie auf Lebzeiten aneinanderbindet. Die Verknotungen halten so gut, dass es uns, selbst wenn wir es wollen, extrem schwerfällt, uns von unserer Familie zu lösen. Dabei kann es gute Gründe geben, sich von ihr zu lösen oder gar mit ihr zu brechen. Wir haben aber verinnerlicht, Blut sei dicker als Wasser. Mit dieser Metapher erzählen wir uns, dass familiäre Bindungen immer stärker sein werden als andere. Historisch gesehen, also etwa vor zwei bis zweieinhalbtausend Jahren, hatte dieser Ausdruck noch eine etwas andere Bedeutung: Mit dem Austausch von Blut wurden wichtige Verträge geschlossen, allerdings nicht zwischen Verwandten. Ein mit Blut besiegelter Vertrag galt als wesentlich stärker als die familiären Bande, die durch Wasser (Fruchtwasser) entstanden sind. Es ist doch erstaunlich, wie sehr sich die Erzählungen und die damit zusammenhängenden Vorstellungen so grundlegend verändern können.
Zurück zur Gegenwart. Halten wir zunächst einmal fest, dass sich viele Menschen ein emotionales, intimes Zuhause wünschen, eine Form der Gemeinschaftlichkeit, die ihnen einen sicheren Hafen bietet. Und sie wünschen sich Verbundenheit, Verbindlichkeit und Vertrauen. Klassischerweise verorten wir diese Aspekte in unseren Herkunftsfamilien. Oder in eigenen Familien, die wir mit unseren romantischen Partner·innen gründen, damit sie diese Aspekte erfüllen. So wird es bereits seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden gemacht. Und so kennen wir es selbst, seit wir auf der Welt sind. Wir lernen auch, dass alles andere irgendwie komisch ist. Wir haben Mitleid mit Menschen, die (aus welchen Gründen auch immer) keine eigene Familie haben. Wir bewerten andere Lebensmodelle als »nicht normal« und vergessen dabei, dass die Geschichte der Blutsfamilie alles andere als rosarot ist, auch wenn wir sie ständig romantisieren und überhöhen. Sie ist nicht der Garant für ein gutes Zusammenleben. Ich bezweifele sogar, dass sie es jemals war. Und ich vermute, dass viele Menschen bereits selbst erlebt haben, wie unglücklich Familie und Liebesbeziehungen einen machen können.
Wenn es stimmt – und wissenschaftliche Ergebnisse sprechen hier eine deutliche Sprache –, dass wir als Menschen einander brauchen,1 die klassischen Modelle des Zusammenlebens aber zunehmend an ihre Grenzen kommen – weil sie nicht mehr zeitgemäß sind und Menschen sich in diesen Konstellationen nicht mehr wohlfühlen –, ist es mehr als an der Zeit, gemeinsam neue Wege zu gehen. Daher werde ich in diesem Buch die Frage stellen, ob Familie als Ort von Verantwortung, Verbindlichkeit, Sicherheit und Vertrauen zwangsläufig unsere Herkunftsfamilie sein muss, die wir uns nicht ausgesucht haben. Wir werden die Frage beantworten, ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, eigene Familien zu gründen, die ein funktionierendes Zusammenleben ermöglichen, welche das klassische Kleinfamilien-Modell (Vater, Mutter, Kind) hinter sich lassen. Denn auch hierüber wissen wir: Dieses Modell ist nicht so tragfähig, wie wir es uns sehnlichst wünschen.
Mit diesem Buch möchte dir zeigen, dass es auch andere Formen des Zusammenlebens gibt, die dich glücklich machen können. Es gibt bereits Konzepte, Ideen, Experimente, die offen und verbindlich sind, ein Miteinander herstellen und dennoch Raum lassen für jeden Einzelnen. Denn das ist ja der Spagat, den wir heute hinbekommen müssen: Ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem Wir-Sein und dem Ich-Sein. In Gemeinschaft leben können und dabei auch das Eigene nicht völlig aufzugeben. Keine leichte Aufgabe, die beispielsweise in der romantischen Verschmelzung oder der Kleinfamilie, die immer alles zusammen machen soll, schnell zum Problem wird. Daher werde ich dir Formen des Zusammenlebens vorstellen, die über die romantische und kleinfamiliäre Symbiose hinausgehen. Denn ich halte es für mehr als sinnvoll, die Zweisamkeitsbestrebungen gesellschaftlich zu überwinden. Aus dem einfachen Grund: Eine Gemeinschaft aus mehr als zwei erwachsenen Menschen ist nicht sofort zerbrochen, wenn eine Person geht.
Dass es in der Praxis nicht so einfach ist, diese neuen Wege zu bestreiten und neue Modelle umzusetzen, ist mir bewusst. Es fällt uns schwer, andere Formen des Zusammenlebens überhaupt zu denken, geschweige denn sie auszuprobieren und umzusetzen. Dass wir keine Vorbilder haben und nicht genau wissen, wie es gehen kann, ist auch einer der Gründe, warum eine Umsetzung nicht so einfach ist. Und es ist auch deshalb schwer, weil wirkmächtige, gesellschaftliche Normen und Werte, Familienpolitik und Gesetze unser Leben (vor)strukturieren, sodass wir immer wieder in die klassischen Familienmodelle geschubst werden. Und es wirkt so, als sei diese Art des Zusammenlebens gesellschaftlich sehr nützlich. Aber schadet es uns als Gesellschaft wirklich, wenn wir eine Vielfalt an Familienmodellen haben?
Ich glaube, dass es nur bereichernd sein kann, auf diese Vielfalt zu setzen. Dies ist kein Plädoyer dafür, das eine gegen das andere auszutauschen. Oder irgendetwas abzuschaffen. Mir geht es schlicht um die Erweiterung der Möglichkeiten! Und es geht mir um eine Aufweichung der Normen, die uns immer wieder in diese eine Richtung zu lenken versuchen. Auch bin ich davon überzeugt, dass ein gesellschaftlicher Wandel nicht von heute auf morgen stattfinden wird. Dieser braucht Zeit. Und Menschen brauchen Zeit, mit neuen Entwicklungen umzugehen. Dass es manchen Angst macht und sie am Gewohnten festhalten möchten, ist zum Teil nachvollziehbar – Neues ist bekanntlich mit viel Ungewissheit und daher auch Angst verbunden.
Aber: Ohne Neues gibt es keine gesellschaftliche Entwicklung und keine Chance auf ein besseres Zusammenleben. Haben wir also den Mut, uns auszuprobieren und gemeinsam neue Wege zu bestreiten! Lasst uns also unsere Familien selbst gründen! Lasst uns selbst aussuchen, mit wem wir ein gemeinsames Leben gestalten wollen. Lasst uns dies mit mehr Menschen als unserer romantischen Partner·in tun. Und lasst uns dieses Miteinander bewusst und aktiv gestalten. Diese selbstgewählten, aktiv gestalteten und über die Zweisamkeit hinausgehenden Familien eröffnen uns Potenziale, unser Miteinander positiv zu verändern. Es besser zu machen.
Wie? Nun, dazu brauchen wir zunächst einmal Vorbilder und Geschichten, die uns zeigen: Schau mal, so kann es gehen. In drei Akten werde ich dich durch dieses Buch leiten: Zunächst geht es darum zu verstehen, wie der Status quo aussieht. Dann möchte ich dir anhand von vielen praktischen Beispielen zeigen, wie wir den Status quo hinter uns lassen können. Zuletzt gebe ich dir noch hilfreiche Tools für eine konkrete Umsetzung.
Ich möchte dich mit diesem Buch inspirieren und aufzeigen, wie es gehen kann neue intime Verhältnisse zu erschaffen, die tragfähig sind und halten, Raum zur persönlichen Entfaltung sowie Gemeinsames ermöglichen. Vielleicht suchen wir uns statt Blut was anderes aus, um diese Bande zu besiegeln. Zum Beispiel eine Notar·in. ;)
I Mit romantischen Liebesbeziehungen sind hier all die verschiedenen Formen (monogam, nicht-monogam, poly und so weiter) von partnerschaftlichen Beziehungen gemeint, die zwei oder mehr Menschen eingehen und die meist Setzungen wie Priorisierungen und andere hierarchische Ordnungen mit sich bringen. Wenn ich im Folgenden von Liebesbeziehungen spreche, meine ich romantische.
KAPITEL 1
Eine schrecklich normale Familie
Familie. Wir hören dieses Wort und haben sofort eine Vorstellung davon im Kopf, was das ist. Vielleicht hast du auch sofort ein Bild vor deinem inneren Auge. Du siehst Menschen, die sich einander glücklich an den Händen halten und gemeinsam ihren Weg gehen. Viele werden eine Frau· und einen Mann· sehen, die ein Kind an ihrer Seite haben.II Idealerweise haben sie zwei Kinder, sodass jeder Erwachsene ein Kind an die Hand nehmen kann. Alle lachen und freuen sich. Sie wirken einfach glücklich. Es ist ein schönes Bild, das wir da in unseren Köpfen zeichnen. Und wir verbinden es mit Gefühlen des Vertrauens, der Zugehörigkeit, Geborgenheit und Liebe.
Ist das tatsächlich echt? Sehen die meisten Familien wirklich so aus? Ist es nicht vielmehr so, dass vermutlich viele der Idealbilder, auf denen Mutter, Vater, Kind zu sehen sind, bereits in der Mitte auseinandergerissen wurden? Ist da nicht viel eher nur ein Elternteil mit zwei Kindern auf dem Bild? Oder zwei Frauen mit zwei Kindern? Oder auch fünf Freund·innen mit einem, vielleicht aber auch gar keinem Kind? Sehen unsere Lebensrealitäten heute nicht viel bunter aus?
Dass sich erwachsene Menschen in Liebesbeziehungen und Ehen irgendwann trennen, ist keine Neuigkeit. Auch wenn die Anzahl der Scheidungen laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2023 leicht zurückgegangen ist, ist die Entwicklung insgesamt recht eindeutig: Es heiraten immer weniger Menschen und im Durschnitt ist eine Ehe nach 15 Jahren wieder vorbei.2 Das Prinzip der Ehe scheint also statistisch gesehen nur bedingt zu funktionieren. Warum halten wir also so hartnäckig an dieser Form des Zusammenlebens fest? Grundsätzlich sind gesellschaftliche Normen hier einer der wirkmächtigsten Faktoren, die uns in der Ausgestaltung unserer nahen Beziehungen beeinflussen. Nach ihnen sind wir idealerweise heterosexuell und binden uns monogam und romantisch auf Lebenszeit an einen anderen Menschen.3 Alles andere ist irgendwie nicht normal. Nur was geschieht, wenn der Traum platzt und die Ehe nach 15 Jahren wieder vorbei ist? Viele Menschen stehen nach einer Trennung vor einem Scherbenhaufen ihrer Existenz. Wie geht es dann mit dem Leben weiter, wenn alles auf eine Karte gesetzt wurde?
Das gilt alles auch für Paare, die gemeinsame Kinder, also eine gemeinsame Familie haben. Nur was geschieht dann mit dem familiären Zusammenhalt? In der Regel besteht eine solche Familie aus einem (heterosexuellen) Paar, das gemeinsam ein oder mehrere Kinder hat. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts zeigt, dass 23 Prozent der deutschen Familien im Jahr 2023 sogenannte Nachtrennungsfamilien sind. Genauer bedeutet das: 17 Prozent der Familien in Deutschland bestanden zu diesem Zeitpunkt aus einem alleinerziehenden Elternteil mit Kindern und sechs Prozent lebten in Stief- beziehungsweise Patchworkfamilien.4 Ein Viertel der deutschen Familien lebt also getrennt oder in neuen Familienkonstellationen. Wir können davon ausgehen, dass die Zahlen weitaus höher liegen dürften. Vermutlich kennen wir dies alle auch aus unserem eigenen Umfeld: Wir selbst oder gute Freund·innen haben sich getrennt, auch jene, die gemeinsame Kinder haben. Und vermutlich kennen wir auch erwachsene Personen, die sich von ihren Herkunftsfamilien abgewandt haben. Aus welchen Gründen auch immer.
Ein nüchterner Blick auf Statistiken und Zahlen, die sich zu Familien sammeln lassen, zeigt, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Realität sieht in vielen Fällen eher getrübt aus. Menschen erleiden psychische und physische Verletzungen und erleben Gewalt und Trauma in ihren eigenen Familien. Dennoch halten wir gesellschaftlich an der Vorstellung fest, dass die Familie ein »sicherer Hafen in einer herzlosen Welt« sei, so der Trauma-Experte Bessel van der Kolk.5
Wir kennen sie alle, die Geschichten über Familiendramen – entweder aus eigener Erfahrung, unserem Umfeld oder aus der Boulevardpresse. Wie zum Beispiel die von Ralf und Cora Schumacher, die Anfang der 2000er als Traumpaar schlechthin gefeiert wurden. Als dann noch Wunschkind David zur Welt kam, schien alles perfekt: Erfolg, Schönheit und gemeinsames Familienglück strahlten sie aus, die Schumachers. Heute ist davon nur noch ein Scherbenhaufen übrig geblieben. Ralf und Cora haben sich nichts mehr zu sagen, sprechen nur noch in den Medien übereinander. In DERSPIEGEL berichtet Cora Schumacher, dass das Familienglück, was die Öffentlichkeit damals zu sehen bekam, mehr Schein als Sein gewesen sei. Nach der Geburt ihres Sohnes fehlte es ihr an Nähe und Zuwendung und sie habe sich gefühlt »wie ein altes Paar Turnschuhe, das in die Ecke gestellt wurde«.6 Andererseits scheint es kein Verständnis für das Outing von Ralf Schumacher zu geben, der sich vermutlich in dieser Zeit in einem falschen Leben gewähnt hat. Aber darum geht es medial nicht, sondern um die Inszenierungen »der glücklichen Familie«, die damals stattgefunden haben soll. In Promibeziehungen, bei denen jedes unschöne Detail in der Klatschpresse breitgetreten wird, sind solche Risse in der Fassade des perfekten Familienglücks um einiges sichtbarer, als bei Durchschnittshaushalten. Doch das heißt nicht, dass der Weg vom Familienglück zum ausgeträumten Traum bei wenigen Menschen so aussieht.
Denn tatsächlich ist Familie weitaus weniger rosarot, als wir sie uns vorstellen. Das zeigen auch die Zahlen zur häuslichen Gewalt. Im Jahr 2023 wurden über 130 000 weibliche Personen als Opfer von Partnerschaftsgewalt polizeilich erfasst.7 Laut Statistik wurden im Jahr 2023 in 16 375 Fälle wegen sexuellen Kindesmissbrauchs polizeilich ermittelt.8 Die Zahlen zeigen außerdem, dass sexueller Missbrauch von Kindern am häufigsten im häuslichen Umfeld stattfindet: zu einem Viertel durch engste Familienmitglieder und zur Hälfte durch Personen aus dem sozialen Nahraum (erweiterter Familien- und Bekanntenkreis, Nachbarschaft, Vereine). Diese Zahlen sind allerdings »nur« das sogenannte Hellfeld, also lediglich die Summe der registrierten Fälle. An etlichen Stellen wird darauf hingewiesen, dass Gewalttaten dieser Art sehr häufig nicht zur Anzeige gebracht werden. Die Dunkelziffer an Gewalt in Familie, Ehe und Partnerschaft dürfte also weit höher liegen.
Auch andere, nicht direkt gewalttätige Beziehungsdynamiken innerhalb von Familien können negative Effekte auf Menschen, vor allem Kinder, haben. Die Pädagogin Annika Felber bezeichnet Beziehungen dieser Art als toxisch. So kann zum Beispiel eine zu frühe Verantwortungsabgabe an Kinder langfristig dazu führen, dass die Betroffenen unter Dauerstress leiden und später selbst unsichere Bindungsstile entwickeln. So ein Fall tritt dann ein, wenn Eltern Kinder über die Androhung von Liebesentzug dazu bewegen wollen, Sorgearbeiten wie die Betreuung kleinerer Geschwister zu übernehmen. Auch kann es sich negativ auf die Entwicklung von Kindern auswirken, wenn Eltern die eigenen emotionalen Probleme an ihre Kinder weitergeben und sie als Kummerkasten oder Projektionsfläche missbrauchen.9
Wir müssen also feststellen, dass das Familienleben uns nicht zwangsläufig so glücklich macht, wie es uns stets erzählt wird. Trotz all der Dramen, vielen Trennungen, Schmerzen und Verletzungen, die wir alltäglich um uns herum erleben und die viele am eigenen Leib zu spüren bekommen, halten wir eisern fest an der Vorstellung der glücklichen Familie, die uns trägt, auffängt und immer da ist. Eine eigene Kleinfamilie zu gründen ist bei vielen Menschen nach wie vor hoch im Kurs, obgleich sie andere Erfahrungen in ihren eigenen Familien gemacht haben müssen – Scheidungen und Zerwürfnisse stehen nun mal auch auf der Tagesordnung.
Das Bild der glücklichen Familie verfängt allzu leicht. Groß ist unsere Sehnsucht nach Verbundenheit, Zugehörigkeit, Liebe, Nähe, Zuwendung und Sicherheit. Gerade der letzte Aspekt, also Sicherheit, ist in Krisenzeiten wie heute bedeutsam: Menschen wollen einen stabilen Rückzugsort, um der neoliberalen, aggressiven und kalten Gesellschaft und Ökonomie zu entkommen – zumindest für eine Weile. Aber was ist, wenn dieses Traumbild nur eine Fata Morgana ist und wir diesen Zustand einfach nicht erreichen, egal wie sehr wir uns anstrengen? Vielleicht hat es sie auch nie gegeben, die goldenen Zeiten der Familie? Vielleicht waren Leid, Gewalt und Ausgrenzung schon immer Teil des Familienlebens? Was machen wir dann eigentlich?
SIND WIR ALLEIN NICHT BESSER DRAN?
Die Frage, was daraus folgt, dass die Familie, wie wir sie kennen, nicht der Garant für ein gutes, gemeinsames Leben ist, beantworten schon heute viele Menschen damit, dass es ihnen allein besser erginge. Dass alles etwas leichter würde, wenn sie sich unabhängig machen und ihr Leben allein gestalten. Diesen Impuls kann ich sehr gut nachvollziehen. Wie oft habe ich gedacht: Hätte ich mich nicht an diesen einen Menschen gebunden, wäre ich jetzt nicht so verletzt; hätte ich mich früher selbstständig gemacht von meinen nahen Beziehungen, hätte ich Karriere gemacht; hätte ich bereits mit 25 nicht mehr in Wohngemeinschaften gelebt, würde ich jetzt allein mit viel Platz in einer tollen Altbauwohnung wohnen. Ganz nach dem Motto: Allein wäre ich besser dran gewesen.
Vielleicht stimmt das manchmal. Aber ich denke nicht, dass uns diese Antwort wirklich glücklich machen wird. Und ich denke auch, dass wir überhaupt nicht dazu in der Lage sind, völlig allein zu leben, allein zu existieren. Zumindest noch nicht. Wer weiß, was technische Innovationen in Zukunft so alles möglich machen werden. Aber im Hier und Jetzt sind wir noch immer auf andere Menschen angewiesen. Und zwar ganz wesentlich und von Geburt an. Es gibt nur wenige Phasen des Lebens, in denen wir durchaus allein zurechtkommen können. Vermutlich merken wir in diesen Phasen aber auch recht schnell, dass da immer noch viele andere Menschen sind, die das überhaupt alles möglich machen. Unsere Gesellschaft funktioniert nur durch eine Vielzahl anderer Menschen. Unser Zusammenleben ist geprägt durch soziale Interaktionen. Und wir wollen intrinsisch in nahen Beziehungen zu anderen Menschen stehen. Wir wollen uns geborgen, sicher und zufrieden fühlen. Wir wollen geliebt werden und andere Menschen lieben. Dies sind Dinge, die uns zum Menschen machen: Wir sind soziale Wesen, die auf Beziehungen zu anderen Menschen und Gruppen angewiesen sind.10
Und mal ganz ehrlich, wer will wirklich auf Dauer allein sein? Vermutlich die wenigsten. Während der Corona-Pandemie haben wir alle am eigenen Leib erfahren müssen – manche mehr, mache weniger intensiv – was es bedeutet, von anderen Menschen abgeschnitten zu sein. Viele Menschen, insbesondere Alleinlebende, Frauen und Jüngere, fühlten sich während der Pandemie einsamer als zuvor.11 Das Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) veröffentlichte im Jahr 2024 eine Studie, aus der hervorgeht, dass Einsamkeitsbelastungen, vor allem bei jüngeren Menschen, noch heute sehr hoch sind.12 Auch andere Bevölkerungsgruppen weisen nach wie vor hohe Werte auf. Derzeit ist nicht abzusehen, welche psychischen und sozialen Langzeitfolgen die Pandemie haben wird.
Einsamkeit ist nicht allein Folge von Alleinsein. Es kann eine Folge sein. Oder sagen wir so: Alleinlebende haben ein erhöhtes Risiko von Einsamkeit betroffen zu sein. Mit all seinen negativen Folgen. Es gibt noch weitere Faktoren, die Einfluss auf unser Einsamkeitsempfinden haben. Diese sind sozioökonomischer Status (Einkommen, Bildung und Erwerbstätigkeit), Lebenssituation (Alleinerziehend, Alleinlebend) sowie Staatsangehörigkeit. Um es konkret zu machen: Insbesondere »Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status, ohne deutsche Staatsangehörigkeit und Allein- beziehungsweise Getrennterziehende« sind heute von Einsamkeit betroffen.13 Und wie gesagt: Soziale Beziehungen schützen uns nicht automatisch vor Einsamkeitsbelastungen. Nicht nur Alleinlebende, sondern auch Menschen, die mit anderen Menschen zusammenleben, können sich einsam fühlen. Es ist nicht allein wichtig, dass wir mit anderen Menschen gesellschaftlich verbunden sind, es ist auch von Bedeutung, wie wir es sind.
Was uns aufmerksam machen sollte, sind die weltweit hohen Zahlen an Einsamkeitsbetroffenen.14 Vereinzelung und Einsamkeit können sich negativ auf Gesundheit, individuelles Wohlbefinden und Alterungsprozesse auswirken. Und sie gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn sich beispielsweise einsame Menschen zunehmend aus sozialen Bezügen zurückziehen und sich folglich nicht mehr am gesellschaftlichen Leben beteiligen.15 Einige Länder haben dies zum Anlass genommen, um dem aktiv entgegenzusteuern. Großbritannien beispielsweise hat 2018 ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben gerufen, um der »Epidemie der Einsamkeit« zu begegnen.16 Zu Beginn fokussierte die Regierung Maßnahmen zur Einsamkeitsbekämpfung älterer Menschen. Hier sah das Ministerium den größten Handlungsbedarf, weil diese Bevölkerungsgruppe aufgrund von Todesfällen oder Trennungen im hohen Alter schnell von Einsamkeit betroffen ist. Mittlerweile hat das Ministerium auch jüngere Bevölkerungsgruppen im Blick. Mit verschiedenen Strategien und Angeboten sowie der Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins für die Problematik versucht das Ministerium seither, der Einsamkeitsbelastung entgegenzuwirken.
Nun können wir gesellschaftlich diskutieren, ob es ein Ministerium braucht, um diesen Entwicklungen zu begegnen. Und ob es auch noch weitere Möglichkeiten gibt, dem etwas entgegenzustellen. Das Nachdenken über dieses Thema führt mich zu einer sehr viel schwereren Frage, die sich nicht so leicht beantworten lässt: Was machen wir gesellschaftlich eigentlich mit das Tatsache, dass wir ohne andere Menschen nicht gut leben können, dauerhaft mit ihnen zu leben uns aber auch schwerfällt? Heißt die Antwort darauf dann einfach: Alle zehn Jahre eine neue Liebesbeziehung? Und alle 15 Jahre eine neue Kleinfamilie, bestehend aus dem neuen Liebespaar und den ganzen Kindern, die die Partner·innen mitbringen? Klar, das ist eine Möglichkeit und wird auch vielfach bereits gemacht. Bruch und Neuzusammensetzung. Immer wieder aufs Neue. An dieser Stelle frage ich mich allerdings, warum wir nicht auch einmal ganz anders über unser Zusammenleben und das Konzept der Familie nachdenken. Darüber, was Familie alles noch sein kann. Vielleicht lernen wir aus den Fehlern, die wir in unseren Herkunftsfamilien und Kleinfamilien gemacht haben, und machen es nun besser! Das wäre doch mal was, oder?
MIT NEUEN FAMILIENMODELLEN ZU EINEM BESSEREN ZUSAMMENLEBEN!
Es brennt mir wirklich unter den Nägeln, gemeinsam mit anderen Menschen über diese Frage nachzudenken. Das meine ich auch ganz persönlich. Mit mir nahen Menschen über unseren Alltag und unsere Zukunft zu sprechen. Wenn ich darüber nachdenke, ploppen sofort etliche Fragen auf: Wie kann ich verbindlich mit ihnen zusammenleben, ohne mich allzu sehr einschränken zu müssen? In welchem Maß nehme ich mich dann zurück und gehe Kompromisse ein, um das gemeinsame Zusammenleben zu gestalten? Und wo liegen hier meine Grenzen und wo liegen die Grenzen meines Gegenübers?
Diese Fragen zu beantworten, ist alles andere als einfach. Auch werden die Antworten von Person zu Person unterschiedlich ausfallen. Und sie lassen sich nicht beantworten, ohne auch gesellschaftliche Ungleichwertigkeiten in den Blick zu nehmen. Denn wer sich auf welche Weise zurücknimmt, wer welche Kompromisse eingeht, um das Miteinander zu realisieren, hängt von gesellschaftlichen Anforderungen und Positionszuweisungen der einzelnen Individuen ab. Dass diese ungleich verteilt sind, wissen wir nur zu gut.
So kümmern sich statistisch gesehen in Kleinfamilien in der Regel weibliche Personen um die Erziehung der Kinder, schmeißen den Haushalt, bewältigen den größten Teil des Mental Load. Das Statistische Bundesamt veröffentlichte kürzlich Zahlen, die zeigen, dass der Gender Care Gap im Jahr 2022 fast bei 44 Prozent lag: Im Durchschnitt leisten Frauen knapp 30 Stunden unbezahlte Care-Arbeit pro Woche, Männer hingegen nur 21 Stunden.17 Ob diejenigen, die diese ganze Arbeit machen, dann noch dazu in der Lage sind, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen nachzukommen (wie sich beruflich weiterzuentwickeln, sich selbst um eine finanzielle Absicherung zu sorgen, allein zu verreisen, sich einfach mit Freund·innen zu treffen und so weiter), ist mehr als fraglich.
Wie diese ungleichen Voraussetzungen zustande kommen, beschreibt bell hooks in ihrem Buch lieben lernen sehr eindrücklich: Um für andere da zu sein und die Kleinfamilie oder Liebesbeziehung am Laufen zu halten, lernen weiblich-sozialisierte Personen sehr früh, sich selbst zurückzunehmen.18 Es sind Folgen patriarchaler Gesellschaftsstrukturen, die »Frauen« andere Positionen zuweisen als »Männern«. Und deshalb hängen auch Aushandlungen über die Frage des Zusammenlebens mit Fragen von Ungerechtigkeit und Ungleichheit zusammen.
Angesichts dieser Norm, ist die Frage durchaus berechtigt, ob ein intimes Zusammenleben auch in anderen Konstellationen als Liebesbeziehung und Kleinfamilie funktionieren kann. Und die Antwort ist ganz einfach: Ja! Menschen leben bereits heute in diesen »anderen« Zusammenhängen. Sie teilen ihren Alltag miteinander, thematisieren ungleiche Verteilung von Sorgearbeit, arbeiten gemeinsam an einer Veränderung dieser Zustände und finden gangbare Lösungen, sind füreinander verantwortlich, sorgen füreinander und haben jeweils Raum und Zeit für die eigene Entwicklung. Sicher, die vielen Ungleichheitsverhältnisse, die wir heute erleben, sind dadurch nicht einfach weg, denn sie lassen sich nicht durch ein paar Gespräche in Luft auflösen. Aber hier steckt ein bisher unerkanntes Potenzial: Durch eine bewusste Gestaltung unseres intimen Zusammenlebens ist es viel eher möglich, soziale Ungleichheiten anzugehen und diesen aktiv gegenzusteuern.19
So müssen beispielsweise Menschen, die nicht in einer Liebesbeziehung sind, aber entschieden haben zusammen ein Kind zu bekommen, viel mehr miteinander besprechen und aushandeln. Aus dem einfachen Grund: Hier wirken gesellschaftliche Normen nicht annähernd so stark wie Liebesbeziehungen und daraus resultierenden Kleinfamilien. Dann können sie nicht automatisch davon ausgehen, dass zum Beispiel diejenigen, denen aufgrund gesellschaftlicher Normen Sorgeverantwortung zugeschrieben wird, alle Aufgaben natürlicherweise übernehmen. Quasi als »Liebesdienst«, wie es aktuell die Normalität in vielen Liebesbeziehungen darstellt. Weil diese Mechanismen in einer Co-Elternschaft nicht auf gleich Weise wirken, müssen alle Aspekte genaustens abgesprochen werden. Denn sehr wahrscheinlich teilen die Co-Eltern nicht den Wohnraum, haben unterschiedliche Abläufe, Wünsche und Vorstellungen so weiter. Dass sie das alles vorher aushandeln müssen, ist aber kein Nachteil. Im Gegenteil: All das eröffnet den werdenden Eltern die Möglichkeit, gesellschaftliche Rollen neu zu besetzen.20
Wir können also unser intimes Zusammenleben Stück für Stück besser machen. Dazu sind nicht nur Schritte im Kleinen – also im persönlichen Umfeld – zu tun, sondern wir brauchen auch Bewegung im gesellschaftlichen Miteinander. Wir brauchen dringend auch entsprechende Strukturen und Modelle, wie unser Zusammenleben in Zukunft aussehen kann. Hier sind Gesellschaft und Politik ebenso in der Verantwortung wie jede einzelne Bürger·in. Ganz konkret bedeutet das: Wir brauchen Gesetze, die neue Formen des Zusammenlebens ermöglichen, statt diese zu verhindern. Wir brauchen Politiker·innen, die bereit sind, neue Wege zu gehen, statt alles zu tun, um das Alte zu konservieren. Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs, der andere Geschichten erzählt, statt immer wieder das romantische Märchen zu reproduzieren. Und wir brauchen mutige Menschen, die auch mal mit Freund·innen ausprobieren Verantwortung zu teilen, statt am Glauben festzuhalten, nur in romantischen Beziehungen ihr persönliches Glück zu finden.
Seien wir doch mal ehrlich zu uns: Wir wissen eigentlich sehr genau, dass Familie und Ehe nicht das halten, was sie uns versprechen: nämlich ein gutes und glückliches Zusammenleben »bis dass der Tod uns scheidet« oder »solange du deine Füße unter meinem Tisch stellst«. Nicht nur die Zahlen sprechen hier für sich. Ist die Vorstellung auf Lebzeiten aneinander gebunden zu sein wirklich so positiv? Verstellt sie uns nicht den Blick auf die Veränderungen, die wir alle durchmachen und die vielleicht dazu führen, dass wir uns einfach nicht mehr verstehen?
Jetzt werden mir vermutlich einige widersprechen. Die Vorstellung lebenslang aneinandergebunden zu sein zeuge doch von Verbindlichkeit. Aber zu welchem Preis? Was ist mit all den toxischen und auch gefährlichen Konstellationen, aus denen wir dann nicht mehr herauskommen? Ist es in Anbetracht dessen nicht eine der wichtigen Errungenschaft unserer Zeit, frei wählen zu können, mit wem wir wie unsere Zeit und unsere Lebensabschnitte verbringen wollen? Ich finde, wir sollten dies nicht einfach über Bord werfen, auch wenn das Zusammenleben heute schwieriger geworden ist.
Hier möchte ich eine andere Perspektive anbieten. Eine, die sogar ein besseres Zusammenleben möglich machen kann. Wenn wir nämlich nicht alles auf eine Karte, auf die eine Liebe setzen, muss es nicht das Ende des gemeinschaftlichen Zusammenlebens sein, wenn diese eine Person uns irgendwann verlässt – oder wir sie verlassen. Für die Kleinfamilie, die aus zwei Erwachsenen und Kind(ern) besteht, ist es das Ende. Sind mehr als zwei Erwachsene für Kinder verantwortlich, wohnen mehr als zwei Menschen zusammen in einem Haus, teilen mehr als zwei Menschen ihre Finanzen, lieben sich mehr als zwei Menschen, muss es nicht zwangsläufig das Ende der Gemeinschaft sein, wenn eine Person gehen will.
Ich schlage vor, unser intimes Fundament, also unsere engen und nahen Verbindungen und Beziehungen zu anderen Menschen, breiter aufzustellen als wir es bisher gewohnt sind. Und ich meine damit nicht unbedingt die Vielfachliebe, die Polyamorie, wie ich manchmal missverstanden werde. Sie kann eine Möglichkeit sein, das Leben mit anderen Menschen zu teilen. Es gibt aber auch viele andere Optionen. Zum Beispiel können wir mit Freund·innen unser Leben teilen, können einander auffangen und uns trösten. Vielleicht wohnen wir auch zusammen in einem Haushalt, ziehen gemeinsam Kinder groß und realisieren Projekte und Träume. So vieles ist denkbar. Und so vieles wird bereits von Menschen umgesetzt. Dieses Buch wird genau davon erzählen: von den Erfahrungen der Menschen, die bereits Wege jenseits klassischer, heteronormativer Familienstrukturen gehen, und davon, wie sie das ganz konkret machen.21 Damit möchte ich dir zeigen, was alles heute schon möglich ist, und dich inspirieren, es einfach mal selbst auszuprobieren.
WÄHLE DEINE FAMILIE DOCH SELBST
Ein solides intimes Fundament für neue Familienkonstellationen aufzubauen klingt vielleicht im ersten Moment abstrakt, ist aber wirklich keine Raketenwissenschaft. Denn jetzt, da wir schon wissen, wie schnell und an wie vielen Stellen klassische Familienkonstellationen an ihre Grenzen stoßen, ist der erste große Schritt schon getan. Anstatt also unsere ganze Energie ausschließlich in die Suche von The-One-and-Only zu stecken, könnten wir doch stattdessen an unseren bestehenden (Freundschafts-)Beziehungen arbeiten. Oder uns auf die Suche nach ihnen begeben. Blick dich doch einmal genauer in deinen Lebenszusammenhängen um. Vielleicht findest du da auch die Freundschaften, die du mit einem Gefühl von Gewissheit, Sicherheit und Verbindlichkeit verknüpfst. Und falls es sie (noch) nicht gibt, kannst du dich auf den Weg machen und diese Beziehungen aufbauen. Wie? Indem du Gespräche beginnst mit Menschen über eure Beziehung, was sie ausmacht und was ihr euch gemeinsam vorstellen könnt. Vielleicht stellt ihr beide fest, dass es Wünsche und Träume gibt, die ihr teilt, und dass ihr ähnliche Zukunftspläne habt. Warum dann nicht auch darüber sprechen, ob ihr diese nicht gemeinsam verwirklichen wollt.
Ich weiß, dass auch dieser Weg nicht immer einfach ist. In meiner Arbeit als Beziehungsberaterin stelle ich immer wieder fest, dass es eine Scheu gibt, diese Gespräche mit Freund·innen zu führen – aus Angst vor Überfrachtung, Zurückweisung und Ablehnung. Da kommen beispielsweise Fragen auf, ob dies überhaupt von einer Freundschaft erwartbar sein könne, sich auf Aushandlungsgespräche einzulassen oder ob es nicht »zu viel« sei, mehr Verbindlichkeit in einer Freundschaft zu verlangen. Gerade das zeigt auch, welche Funktion einer Freundschaft gesellschaftlich zugeschrieben wird: Freude, Spaß, aber bloß keine Verpflichtungen. Zumindest die Art von Verpflichtungen, die wir in Kleinfamilien und Liebesbeziehungen bereits eingehen. Verbindliche Alltagsbewältigung und Zukunftsplanung gehören in den Zuständigkeitsbereich der Familie, nicht in die von Freundschaften.
