Das Ende des Romantikdiktats - Andrea Newerla - E-Book
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Das Ende des Romantikdiktats E-Book

Andrea Newerla

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Beschreibung

Revolutionieren wir die Welt der Liebe!

»Ein mutiges, kluges Buch über Formen intimen Zusammenlebens, über Nähe, Liebe, Sexualität – und das Ende der Romantiknorm. Ein Nachdenken, das neue Perspektiven öffnet!« Gert Scobel

»Dieses Buch öffnet Scheuklappen auf höchst interessante Weise! So entstehen neue Räume im Kopf. Als Paartherapeutin weiß ich, wie wichtig das ist.« Ann-Marlene Henning

Unsere Beziehungen funktionieren häufig nicht mehr: Die Zahl der Single-Haushalte steigt, die Kleinfamilie zerfällt und während uns Hollywood den Glanz der ganz großen Liebe ins Wohnzimmer strahlt, suchen wir mit Dating-Apps, polyamoren oder offenen Beziehungen den neuen Goldstandard für Nähe und Verbindlichkeit. Doch liegt darin wirklich die Erfüllung unserer intimsten Sehnsüchte? Steckt dahinter nicht ein Prinzip, das sich in Zeiten des ökonomisierten Dating-Marktes selbst überholt hat?

Soziologin Andrea Newerla blickt hinter die Glücksversprechen unserer Zeit, zeigt, was wir eigentlich suchen und warum unsere Beziehungskonzepte nicht wirklich so alternativlos sind, wie sie uns immer scheinen.

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Seitenzahl: 259

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

Unsere Beziehungen funktionieren häufig nicht mehr: Die Zahl der Single-Haushalte steigt, die Kleinfamilie zerfällt und während uns Hollywood den Glanz der ganz großen Liebe ins Wohnzimmer strahlt, suchen wir mit Dating-Apps, polyamoren oder offenen Beziehungen den neuen Goldstandard für Nähe und Verbindlichkeit. Doch liegt darin wirklich die Erfüllung unserer intimsten Sehnsüchte? Steckt dahinter nicht ein Prinzip, das sich in Zeiten des ökonomisierten Dating-Marktes selbst überholt hat?

Soziologin Andrea Newerla blickt hinter die Glücksversprechen unserer Zeit, zeigt, was wir eigentlich suchen und warum unsere Beziehungskonzepte nicht wirklich so alternativlos sind, wie sie uns immer scheinen.

© Roger Buer

Über die Autorin

Andrea Newerla ist promovierte Soziologin und forschte zuletzt als Senior Scientist an der Paris Lodron Universität Salzburg zu Intimitäten, Onlinedating und Beziehungsmustern jenseits heteronormativer Standards. Ihre Forschungserkenntnisse dienen als Ausgangsfragen einer neuen Perspektive auf unsere intimen Beziehungen und bieten die Grundlage der Betrachtung sich wandelnder gesellschaftlicher Verbindlichkeiten für ihr Buch.

Andrea Newerla

DASENDEDESROMANTIKDIKTATS

Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken sollten

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Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30035-7V001

www.koesel.de

Wenn wir uns aber an den utopischen Wunsch erinnern, der hinter dem normalen Intimleben steht, dann wollen wir uns auch daran erinnern, dass wir nicht mit ihm verheiratet sind.

Lauren Berlant und Michael Warner1

Inhalt

VORWORTLet’s talk about … Intimacy

KAPTIEL 1 All you need is … Ja was denn?

Alles Liebe? Woraus besteht unsere Beziehungswelt?

Nur Romantik zählt!

Wir sind uns nah – auch jenseits des Romantikdiktats

KAPITEL 2 Ist die zauberhafte Welt der Liebe am Ende?

Zauberberge des Glücks: Die Erfindung der romantischen Liebe

Es ist nicht alles Gold, was glänzt! Warum romantische Beziehungen heute scheitern

Was bleibt uns vom Zauber der romantischen Liebe?

KAPITEL 3 Stecken wir in einer Intimitätskrise?

Digitale Suchmaschinen

Was kann Onlinedating?

Im Labyrinth der Möglichkeiten

KAPITEL 4 Wenn Grenzen brüchig werden: Der große Wandel unserer intimen Beziehungen

Das Spiel mit dem Glück – wie wir heute was suchen

Unklare Verhältnisse und unsichere Beziehungen?

In der Grauzone: Sex mit Freund*innen

KAPITEL 5 Das Ende des Romantikdiktats: Wie wir neue Verbindungen knüpfen

Die Frage aller Fragen: Wie wollen wir zusammen leben?

Nähe, wem Nähe gebührt: Freundschaften ins Zentrum unseres Lebens holen

Bauen wir die Welt, wie sie uns gefällt

UNDZUMSCHLUSSAuf dem Weg zu postromantischen Verhältnissen

Dank

Quellen und Anmerkungen

VORWORTLet’s talk about … Intimacy

Eine Straßenkreuzung in London: Der Buchhändler William stolpert in die Arme von Anna – eine bekannte Schauspielerin. Ungeschickterweise schüttet er ihr dabei seinen Orangensaft über die Bluse. Anna ist zunächst offensichtlich erschrocken und auch ein wenig wütend über dieses Missgeschick, William bietet ihr aber sofort an, sie könne das bei ihm zu Hause sauber machen, schließlich wohne er gleich ums Eck. Sie nimmt das charmante Angebot an, macht sich frisch und verlässt die Wohnung nach ein paar flüchtigen Worten schnell wieder – nur um kurze Zeit später zurückzukehren, da sie ihre Einkäufe vergessen hat. Es kommt zu einem erneuten verlegenen Verabschiedungsmoment, bei dem sich die beiden wortlos im Flur gegenüberstehen und einander tief in die Augen blicken. Und dann geschieht etwas Unerwartetes: Anna tritt einen Schritt näher und küsst William.

Diese schicksalhafte Zufallsbegegnung, die hier in Szene gesetzt wird, ist der Beginn einer großen Liebesgeschichte, die vermutlich vielen von uns bekannt ist, denn sie stammt aus dem erfolgreichen Liebesfilm Notting Hill mit Julia Roberts und Hugh Grant aus dem Jahr 1999. Und wie viele Liebesfilme ›made in Hollywood‹ hat auch diese Geschichte ein Happy End: Den Höhen und Tiefen des Kennenlernens zum Trotz endet der Film mit einem Blick auf die Traumhochzeit der beiden unsterblich Verliebten und ein paar anschließenden hochromantischen Schnappschüssen der gemeinsamen Zukunft: Die beiden sitzen happy auf einer Parkbank, Julia ist schwanger und schaut hochzufrieden in die Ferne, während Hugh erfüllt in ein Buch vertieft zu sein scheint. Dazu romantische Musik. Ende gut, alles gut. Könnte es nicht auch so schön einfach im wahren Leben sein?

Es ist nicht verwunderlich, dass es Szenen wie diese sind, die – fast automatisiert – in unseren Köpfen ablaufen, wenn wir selbst verliebt sind. Sie lassen uns fantasieren, wie es idealerweise sein wird mit dem Menschen, für den wir auf einmal ganz besondere Gefühle entwickelt haben. Da fliegen uns Schmetterlinge im Bauch umher, begleitet von romantischen Bildern. Diese kennen wir, seit wir klein sind, und sie wurden uns bereits unzählige Male erzählt. Es sind Geschichten von der großen Liebe, wie sie William und Anna im Film erleben: Erst der tiefe Blick, dann der alles verändernde Kuss – und fast wie von selbst folgen weitere Schritte, die schließlich in der Hochzeit münden, in der Gründung einer Familie und dem sprichwörtlichen Glück ›bis ans Ende ihrer Tage‹. Die entsprechenden Drehbuchanweisungen dafür kommen aus der uns nicht immer bewussten Regie: Klappe die Erste, »True Love« in fünf, vier, drei, zwei, eins, und los geht es mit unserem ganz persönlichen Liebesfilm. Gemeinsam schwingen wir uns ein in die fabelhafte Welt der romantischen Liebe.

Den Wenigsten von uns ist bewusst, dass das Skript, dem unsere Liebesgeschichten folgen, bereits feststeht und seit Jahrhunderten ungefähr gleich abläuft: Verliebt, verlobt, verheiratet – oder moderner: daten, crushen, verlieben, zusammenziehen, Kinder kriegen, Familie werden. Vielleicht auch heiraten oder ein Haus bauen, muss aber mittlerweile häufig auch nicht mehr unbedingt sein. Es ist ein wunderschönes Skript, geradezu ein Diktat, welches uns da immer wieder von Neuem vorgelesen wird und welches wir jedes Mal mit neuer Leidenschaft mitschreiben. Sind wir nicht am Schreiben, sehnen wir uns regelrecht danach, sie endlich wieder aufschreiben zu dürfen, unsere Liebesgeschichte – vielleicht schaffen wir es diesmal ohne Fehler. Oder ohne dass uns die Tinte auf halber Strecke ausgeht.

Geschichten wie die von William und Anna, die von der Schönheit und Leichtigkeit der romantischen Liebe erzählen, haben nach wie vor eine enorme Strahlkraft – mehr noch: sie entfalten einen Sog, dem wir uns kaum entziehen können. Dabei sieht die bittere Realität unseres intimen Zusammenlebens eher so aus: Seit Jahrzehnten sinkt die Anzahl an Heiratswilligen, zugleich steigt die Scheidungsrate, Ein-Personen-Haushalte nehmen stetig zu, und wo wir hinsehen, stemmen alleinerziehende Mütter und Väter ihren Alltag mit Kindern, leben Senior*innen allein und vereinsamen, sind Singles frustriert und überfordert von einem schier unendlichen Angebot auf dem Datingmarkt bei gleichzeitiger Unverfügbarkeit von tatsächlichen Dating Partner*innen. Das ist deshalb bitter, weil sich die meisten von uns etwas ganz anderes wünschen: Nämlich eingebunden sein in nahe Beziehungen, die uns stützen, die Halt geben und in denen wir uns geborgen und geliebt fühlen – und das auf Dauer.

Viele Menschen sind heute an einem Punkt, an dem sie enttäuscht feststellen: So wie es uns immer erzählt wurde und wie wir es uns oft erträumt haben, ist es einfach nicht. Unser persönliches Liebesglück ist oftmals nicht von Dauer, und häufig machen wir Trennungserfahrungen, die schneller kommen als gedacht. Etliche suchen ihr Glück dann eben woanders: nächste Beziehung – und der Liebeszauber geht von vorne los. Im Gepäck ist die Hoffnung, dass das mit dem Glück diesmal endlich klappen wird. Vielleicht fragt sich manch eine*r von uns in den Momenten des Übergangs – also zwischen der einen und der nächsten Liebesbeziehung –, was wohl zum Scheitern geführt haben könnte. Sind wir der Nähe nicht gewachsen gewesen? Wollten wir zu viel oder zu wenig? Müssen wir vielleicht einsehen, dass wir zunächst an uns selbst arbeiten müssen, um es beim nächsten Versuch besser machen zu können? Oder sind wir womöglich alle beziehungsunfähig geworden? Vielleicht haben einige aus den schmerzhaften Erfahrungen gelernt und sind persönlich gewachsen. Irgendwann muss es doch mal klappen mit dem ganz persönlichen Liebesglück.

Wonach wir in diesen Momenten nicht fragen, ist die soziale Beschaffenheit unserer romantischen Träume, Sehnsüchte und Wünsche – und unseres permanenten Scheiterns. Wir fragen nicht, warum in unseren Köpfen immer wieder die Filme mit den schönen, romantischen Skripten ablaufen, die uns unsere persönlichen Liebesgeschichten vorzuschreiben scheinen. Wir fragen nicht, warum diese Geschichten so wirkmächtig sind und wir uns keine anderen Sehnsuchtsorte ersinnen wollen als romantische. Wir fragen nicht, warum wir kaum andere Vorstellungen von einem glücklichen und zufriedenen Zusammenleben haben als die der romantischen Liebesbeziehung und der im besten Fall daraus erwachsenden Kleinfamilie. Wir fragen nicht ganz grundsätzlich nach den Regeln, Funktionen und Normen unserer persönlichen Liebesgeschichten. Es ist fast so, als würden wir uns nicht trauen, da genauer hinzuschauen. Vielleicht weil wir dann erkennen – oder sagen wir: anerkennen – würden, wie viel Gesellschaft in unseren Schlafzimmern steckt.

Und genau hier möchte dieses Buch ansetzen. Gemeinsam werden wir herausarbeiten, wie eng unsere persönlichen und sehr nahen Beziehungen sowie unsere Vorstellungen von Intimität, Beziehungen und Liebe geprägt sind durch die Gesellschaft, in der wir leben – und sie sind nicht nur geprägt durch unsere gegenwärtige Gesellschaft und Kultur, sondern auch durch die vergangene. Die Krisen, die viele von uns in ihren Liebesbeziehungen, Ehen und Familien erleben und die heute zu vielen Brüchen und Zerwürfnissen führen, sind eng verbunden mit gesellschaftlichen Mechanismen, Regeln, Strukturen und Normen. Über diese Verwobenheiten von Intimität und Gesellschaft sprechen wir allerdings kaum, mehr noch: Sie sind uns oft nicht einmal bewusst.

Dabei wäre es überaus hilfreich, würden wir anfangen, über diese Dinge nachzudenken und zu sprechen – auch außerhalb unserer Schlafzimmer und fernab des Privaten. Dann würden wir erkennen, dass wir nicht allein sind mit den Herausforderungen in Sachen Liebe, dass viele ähnliche Nähe-, Beziehungs- und Liebeskrisen erleben, dass wir es hier mit Mustern zu tun haben, die sich wiederholen. Wir würden erkennen, dass romantische Beziehungen als diejenige Form des Zusammenlebens, die wir als ganz normal wahrnehmen, Ergebnis historisch-gesellschaftlicher Prozesse sind. Prozesse, die zeigen, dass unsere nahen Beziehungen nicht »schon immer« auf der Vorstellung der romantischen Liebe basierten, sondern sich im Laufe der Zeit verändert haben und dies auch in Zukunft weiter tun werden.

Ich bin überzeugt davon, dass in all diesen Erkenntnissen ein großes Potenzial schlummert, welches wir kaum nutzen. Denn wenn es so ist, dass wir als Menschen unser intimes Leben selbst herstellen, dass es sich stetig gewandelt hat und weiterhin wandeln wird, dann bedeutet das auch, dass wir es auch heute aktiv gestalten können. Und wir können es auch anders gestalten. Möglicherweise begegnen wir den Krisen und dem ständigen Scheitern auf andere Weise, wenn wir verstanden haben, wie die soziale Beschaffenheit unserer nahen Beziehungen ist. Vielleicht können wir dann sehen, dass neben der romantischen Liebesbeziehung, die noch stets der Goldstandard unter den Beziehungen ist, auch andere, sehr nahe Beziehungen existieren, die wertvoll für uns sind. Was ist zum Beispiel mit unseren Freundschaften: Ist es nicht unsere Erfahrung, dass sie viel eher von Dauer sind als unsere romantischen Liebesbeziehungen? Oder was ist mit selbst gewählten Familien? Oder unseren Wohngemeinschaften? Können dies nicht auch Orte sein, die uns ein Zuhause bieten, die Raum bieten zur Planung von Zukunft und wo wir nahe Beziehungen führen können, die uns erfüllen und zufrieden machen, in denen wir uns gehalten, geborgen und geliebt fühlen?

Nicht, dass wir uns da falsch verstehen: Dieses Buch hat nicht vor, die romantische Liebe zu ihrem Ende zu bringen. Ganz im Gegenteil! Sie ist ein fantastisches Gefühl, auf das wir auch in Zukunft auf gar keinen Fall verzichten sollten. Vielmehr möchte ich dazu anstiften, das romantische Ideal von seinem hohen Sockel zu schubsen, welches die romantische Liebe, wie wir sie kennen, stets als das höchste Maß der Dinge erscheinen lässt. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Es gibt auch Alternativen, andere Beziehungen, die wir als nah und bedeutsam empfinden und innerhalb derer wir uns unsere Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte erfüllen können. Und vielleicht können wir damit letztendlich auch die romantische Liebe retten, denn sie krankt heute daran, alles sein und erfüllen zu müssen.

Machen wir uns also gemeinsam auf den Weg und bringen wir das Romantikdiktat – die immer gleiche Geschichte von der Liebe, die einfach nicht hält, was sie verspricht – zu seinem Ende. Erfinden wir gemeinsam andere Geschichten, die von Liebe und Nähe erzählen, von bedeutsamen, aber eben nicht zwangsläufig romantischen Beziehungen. Seien wir dabei kreativ, probieren wir uns aus und wagen wir auch mal etwas Neues. Denn es gibt sie, die anderen Möglichkeiten des Sich-Nah-Seins, des Miteinanders. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, Zufriedenheit und Glück im Zusammenleben zu realisieren. Unsere intimen Verhältnisse werden sich nicht allein in der Theorie verändern: Das Know-how dafür erlangen wir nicht allein über das Nachdenken, sondern nur über »verschiedene Versuche zu leben«, so die Philosophin Amia Srinivasan.2 Es geht also nur über die Praxis. Aber: Für eine Praxis, die wir aktiv gestalten wollen, ist es unerlässlich, zunächst eine gemeinsame Sprache zu finden, die es uns ermöglicht, über intime Selbstverständlichkeiten ins Gespräch zu kommen. Holen wir das intime Leben aus den stillen Kämmerlein unserer Schlafzimmer heraus, um es aktiver und bewusster zu gestalten. Und dafür müssen wir endlich über Intimität reden – Let’s talk about Intimacy!

KAPTIEL 1 All you need is … Ja was denn?

Ich bin am Boden zerstört, als mich Fritz anruft und mir sagt: »Andrea, ich kann und will nicht mehr.« Das war es also nach acht Jahren Beziehung? Ein Anruf genügt, und es ist vorbei. All meine Zukunftspläne zerplatzen wie eine Seifenblase: Das, was vorher so schön im Lichte der Liebe geglitzert hat, löst sich mit einem Mal einfach in Luft auf. Ich dachte, unsere gemeinsame, glückliche Zukunft würde so aussehen: Wir bekommen Kinder und bleiben bis ans Ende unserer Tage zusammen. Als Fritz den Anruf und damit unsere Beziehung beendet, fühlt es sich so an, als sei mein Leben nun vorbei. Mein gesamter Lebensentwurf war so eng mit dieser Liebesbeziehung verbunden, dass für andere Empfindungen als Verlorenheit gar kein Platz war. Heute muss ich lächeln bei dem Gedanken an Fritz, auch wenn ich Trauer und Schmerz, die die Trennung mit sich brachte, immer noch spüre. Warum ich lächeln muss? Nun, weil ich gelernt habe, dass Beziehungen, die ich als nah wahrnehme, nicht immer nach dem vorgegebenen Schema F verlaufen müssen. Und weil Fritz immer noch in meinem Leben ist – allerdings auf ganz andere Art.

Tauchen wir also ein in die Praxis, um ein Verständnis dafür zu bekommen, wie unsere gesellschaftlichen Narrative, die Geschichten, die wir uns über unsere intimen Beziehungen erzählen, funktionieren und welche Wirkmächtigkeit sie entfalten. Und dafür beginne ich bei meiner ganz persönlichen Liebesgeschichte – weil sie, wie so viele andere ihrer Art in unserer Gesellschaft, auch eine prototypische ist: Ab meinem 15. Lebensjahr war ich immer in heterosexuellen romantischen Partnerschaften und nie wirklich länger als ein paar Monate ohne Partner. Die romantischen Liebesbeziehungen kamen und sie gingen. Das ging Jahre, Jahrzehnte so. Die Forschung nennt das »serielle Monogamie« und meint damit das Muster, dass Liebesbeziehungen heute eher kurz sowie meist treu verlaufen und sich mit recht kurzen Phasen des Singledaseins abwechseln.3 Eine Reihe von Studien legt zudem mittlerweile nahe, dass die Monogamie gesamtgesellschaftlich zunehmend an Bedeutung verliert. Menschen, die sich heute in romantischen Liebesbeziehungen befinden, sind sich also nicht mehr zwingend treu oder führen verstärkt offene Beziehungen.4 Ich spreche daher lieber von serieller Romantik, weil die Serialität heute nicht allein monogame Liebesbeziehungen betrifft, sondern auch nicht-monogame.

Ich war also serielle Romantikerin und kannte es nicht anders. Alles um mich herum erzählte genau diese Geschichte, die es zwar in verschiedenen Versionen gibt, aber die Kernbotschaft ist eindeutig: Es gibt da draußen einen Menschen, der zu dir passt, der Deckel für deinen Topf – du musst einfach nur suchen, die Augen und Ohren offenhalten und irgendwann wirst du diese Person schon finden. That’s how the Story goes! Wie wohl die meisten von uns habe ich daran keine Sekunde gezweifelt. Ich habe es zwar für möglich gehalten, dass es im Sinne serieller Romantik mehr als einen passenden Menschen für mich geben kann, aber ich habe die Idee an sich nicht infrage gestellt: die Idee, mit einer Person (und eventuell irgendwann auch noch ein paar Kindern) mein Leben zu teilen. Wie wohl den meisten Menschen in unserer Gesellschaft kam es auch mir so vor, als sei es das Natürlichste der Welt, dass es so zu sein hat. Deshalb habe ich diesem Weg an sich nie hinterfragt und immer weitergesucht, wenn eine meiner vielen romantischen Liebesbeziehungen zu ihrem Ende kam. Irgendwann wird schon einer kommen, mit dem es endlich klappt. Der Richtige, mit dem ich bis zum Ende meiner Tage zusammen sein werde, sagte ich mir. Immer wieder. Romantik pur!

Mit Ende 20 kam dann Fritz, und ich habe mich (mal wieder) Hals über Kopf verliebt. Recht schnell sind wir auch ein Paar geworden: erst als Fernbeziehung, dann nach einigen Jahren zusammen in einer größeren Wohngemeinschaft. Das war der Kompromiss: Wir leben zusammen an einem Ort, haben aber unsere eigenen Wohn- und Lebensbereiche. Kompromiss deshalb, weil ich mehr Nähe wollte, Fritz aber Sorge um seine Autonomie hatte – ein Grundkonflikt vieler romantischer Liebesbeziehungen. Trotz dieser Schwierigkeiten war mir eines immer klar: Das ist der Mensch, mit dem es endlich klappt – glücklich und zufrieden, bis ans Ende meiner Tage … So wie ich es mir immer vorgestellt habe und wie ich es aus den vielen Geschichten aus Romanen oder Filmen kannte: Mit der großen Liebe wird man alt.

Als sich Fritz trennte, stand meine Welt dementsprechend kopf: Meine gesamte Liebes- und damit auch Lebensgeschichte schien auf einmal auserzählt. Sollte das alles nun vorbei sein und Fritz aus meinem Leben verschwinden? Suche ich nun wieder weiter den für mich passenden Menschen? Und was, wenn ich ihn nicht finde? Wer wird mich begleiten und wird da jemand sein, wenn es mir mal schlecht geht? Werde ich vielleicht ganz allein bleiben? Zu jenem Zeitpunkt dachte ich noch an eine Person, den Deckel für meinen Topf, der alles abdeckt, was ich mir wünsche und zum Glücklichsein brauche.

Doch wie gesagt: Fritz gehört nach wie vor zu den wichtigen Menschen in meinem Leben. Trotz Trennung teilen wir viel, haben aber weder eine sexuelle noch eine romantische Liebesbeziehung. Wir leben an unterschiedlichen Orten und dennoch bin ich sehr eng mit ihm verbunden. Er ist Teil meiner Familie. Familie – ein anderes Wort fällt mir für diese Beziehungsform nicht ein. Auch wenn wir seit Jahren kein Paar mehr sind, ist Fritz da und er bleibt auch da. Diese Erfahrung war sehr zentral für mich und sie stellt eine Art Wendepunkt in meinem Leben dar. Denn eines wurde mir dadurch bewusst: Intime Beziehungen können sich grundlegend in ihrer Form, in ihrem Wesen verändern, ohne dass der Mensch an Bedeutung verlieren muss.

An dieser Stelle könnten Sie denken: Ja gut, meine Expartner*in ist auch noch in meinem Leben, wir sind heute befreundet und teilen vieles. Genau! Viele Menschen machen Erfahrungen dieser Art. Doch was machen wir mit diesen Erfahrungen? Fragen Sie sich doch einmal, welchen Stellenwert andere nahe Beziehungen für Sie haben im Gegensatz zu Ihrer (vielleicht aktuell noch nicht vorhandenen) romantischen Liebesbeziehung. Mit wem teilen Sie Ihr Leben beziehungsweise möchten Sie Ihr Leben teilen? Mit wem planen Sie Ihre Zukunft? Welchen Menschen wünschen Sie sich verlässlich an Ihrer Seite, wenn Sie daran denken? Die meisten werden an ein romantisches Gegenüber denken und vielleicht noch an die eigenen Kinder, die das Ergebnis dieser Liebesgeschichten sind. An enge Freund*innen, langjährige Affären, Liebhaber*innen und Sexualpartner*innen, an eine selbst gewählte Familie oder Gemeinschaft jenseits von Verwandtschaft denken vermutlich die wenigsten.

Dass unsere intimen Beziehungen in den letzten Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten, massiv in Bewegung geraten sind, bekommen wir alle täglich mit. Vielleicht in den Berichten und Büchern, die wir lesen, den Filmen und Serien, die wir schauen, den Gesprächen, die wir führen – und ziemlich sicher auch in unseren eigenen Beziehungen. Was vielen von uns heute vielleicht noch nicht klar ist, ist, welche Dimensionen diese Entwicklungen haben, was sie für uns bedeuten und was wir tun müssen, um heute besser mit ihnen umzugehen. Wie gesagt: Romantische Liebe und Nähe sind wunderbare Aspekte des Lebens, die Menschen zufrieden und glücklich machen können. Aber auch andere Formen intimer Beziehungen können liebevoll und bedeutsam sein. Insofern ist dieses Buch auch ein Aufruf, mehr zu lieben – (und dies geht über polyamoröse Vorstellungen hinaus)! Wir müssen beginnen, die Vielfalt an Formen des Sich-Nah-Seins und Sich-Liebens zu erkennen und als gelebte Praxis in Betracht zu ziehen. Es ist an der Zeit zu hinterfragen, warum romantische Liebesbeziehungen eine derartige Relevanz in unserem Leben haben und warum wir andere wichtige Beziehungen systematisch dieser Form der Nähe unterordnen, obwohl wir gesellschaftlich wahrnehmen, dass die romantische Liebe zunehmend an ihre Grenzen kommt.

Alles Liebe? Woraus besteht unsere Beziehungswelt?

Als Soziologin beschäftige ich mich seit Langem sehr intensiv mit dem Wandel unserer persönlich-nahen Beziehungen. Einer der Gründe ist sicher auch, dass ich selbst als liebende Person, die in romantischen Liebesbeziehungen ihr Glück suchte, diverse Erfahrungen gemacht habe, die mich herausgefordert haben – und ich fühle mich auch heute noch herausgefordert, manchmal auch überfordert. Als Kind dieser Zeit bin ich mit bestimmten gesellschaftlichen Bildern und Vorstellungen darüber groß geworden, was Liebe, Nähe, Sex und romantische Beziehungen eigentlich sein sollen und wie ich diese auszugestalten habe. Nicht nur meine Eltern haben es mir vorgelebt, auch über Filme, Romane, Musik und andere kulturelle Güter habe ich Vorstellungen von und Meinungen über Liebe, Nähe, Sexualität entwickelt. All you need is love – wer kennt sie nicht, die unzähligen Popsongs, die von romantischer Liebe erzählen: wohlige Musik, verknüpft mit wohligen Gefühlen, erzeugen wohlige Träume. Sofort erscheinen Bilder und Szenen in unseren Köpfen, die wir aus den unzählig vielen Hollywood und Disney Filmen kennen. Bei mir waren es oft Szenen aus dem Film Dirty Dancing, der Ende der 1980er Jahre (ich war damals nicht mal zehn Jahre alt) erschienen ist: Trotz aller Hindernisse verlieben sich Johnny und Frances tanzend ineinander – schöne Bilder und schöne Musik kombiniert mit schönen Gefühlen. Als ich noch kleiner war, waren es die vielen Märchen, die mir schon früh Geschichten darüber erzählten, wie es ist, sich zu verlieben.5 Insbesondere Aschenputtel hat mich beeindruckt, weil auch hier die Liebe trotz aller widrigen Umstände siegt und am Ende alle glücklich sind. Ich dachte: Wie stark muss dieses Gefühl sein, wenn es dazu führt, dass Menschen all diese Hürden auf sich nehmen? Was für eine Kraft muss die romantische Liebe haben! All diese Geschichten wecken die Hoffnung, dass es einem auch irgendwann so gehen kann, so wie Frances und Johnny oder Aschenputtel und dem Prinzen. Vielleicht haben wir Glück und finden uns, dann werden auch wir so glücklich sein – bis ans Ende unserer Tage. Doch ist das denn wirklich so?

Sie werden sich nun vielleicht fragen, was all das mit Ihren persönlich-nahen Beziehungen zu tun hat. Diese sind doch unsere Privatsache, da hat sich niemand einzumischen. Wir gestalten diese nach unseren eigenen Ideen und Vorstellungen, wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft. Das stimmt in gewisser Weise auch: Viele Dinge unseres Lebens können wir selbst bestimmen, weil wir Handlungsspielräume besitzen – zumindest in einem gewissen Rahmen und manche mehr als andere. Allerdings sind diese ›persönlichen Angelegenheiten‹ Teil eines breiteren Kontextes: Unsere persönlich-nahen Beziehungen sind eng verwoben mit unserem gesellschaftlich-kulturellen Leben. Aus diesem Grund ist der Blick auf individuelle Liebesgeschichten aufschlussreich. Und so dienen die vielen anekdotischen und auch persönlichen Geschichten in diesem Buch dazu, diese Verwobenheiten herauszuarbeiten und die Strukturen des Wandels zu entziffern. Als Soziologin ist – neben der Analyse der vielen Interviews und Gespräche, die ich mit Menschen über ihre Beziehungs- und Intimitätspraxis geführt habe – eine kritisch-reflexive Selbstanalyse, wie sie der Soziologe Didier Eribon in seinem Buch Grundlagen eines kritischen Denkens vorschlägt, Teil meiner Arbeit.6 Dieser, auch Autoethnografie genannte Forschungs- und Schreibansatz ist eine geeignete Möglichkeit, Erleben und Praxis der intimen Beziehungen eines forschenden Individuums zu beschreiben und systematisch zu analysieren, um auf diese Weise kulturelle und soziale Erfahrungen zu verstehen.7 Kombiniert mit der Analyse von Gesprächen und wissenschaftlichen Interviews ist es eine aufschlussreiche Möglichkeit, um Gesellschaftsanalyse zu betreiben.

In der Regel stellen wir uns nicht die Frage, wie das Alltägliche beschaffen ist, welche Gewohnheiten, Routinen und auch Rituale unser tägliches Leben bestimmen. Haben Sie mal beim Fahrradfahren versucht, darüber nachzudenken, was Sie da eigentlich genau machen, welche Dinge Sie tun und beachten müssen, damit Sie überhaupt fahren können? Wenn Sie das täten, gerieten Sie möglicherweise ins Schleudern, weil Sie plötzlich feststellen würden, wie komplex die Sache eigentlich ist. Auch im alltäglichen Miteinander haben Menschen Routinen und Gewohnheiten entwickelt, die so vertraut und eingespielt sind, dass ein Nachdenken darüber nicht notwendig ist – es passiert einfach. Das hat eine entlastende Funktion und vor allem erzeugt es Sicherheit und Vertrauen. Den meisten Menschen fallen diese Gewohnheiten und Routinen erst auf, wenn sie durch irgendetwas gestört werden oder wenn es zu einem Bruch gewohnter Abläufe kommt. Wenn zum Beispiel eine Person anders handelt als zu erwarten ist: So wären wir irritiert bis bestürzt darüber, wenn sich eine Person von heute auf morgen nicht mehr bei uns melden würde, obwohl wir doch – so dachten wir zumindest – auf dem Weg zu einer romantischen Liebesbeziehung waren.

Auch die Coronapandemie hat uns einmal mehr vor Augen geführt, wie verwoben unser persönliches Leben mit den gesellschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen ist.8 Plötzlich stand zur Debatte, wem wir wie nah sein dürfen und wem nicht: Wer Teil unseres Zwei-Meter-Radius sein durfte, hing eng damit zusammen, was gesellschaftlich als legitim und relevant wahrgenommen wurde. Im öffentlichen Diskurs dominierten Begriffe wie »Personen des eigenen Haushalts«, »Familie«, »Lebenspartner*in« – das waren die zulässigen Orte des Sich-Nah-Seins. Ministerpräsident Markus Söder brachte dies kurz vor Weihnachten 2020 so auf den Punkt: Weihnachten sei nun mal das »Fest der Familie und das emotionalste Fest der Deutschen und der Bayern«, Silvester hingegen das »Fest der Freunde und anders zu bewerten[den]«.9 Die Botschaft, die hier mitschwang: Familie ist bedeutungsvoller als Freundschaften.

Um zu zeigen, wie unsere persönlichen und nahen Beziehungen mit gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen, müssen wir fragen, wie unsere soziale Welt beschaffen ist und wie sie funktioniert. Um zu verstehen, wie Menschen innerhalb dieser Lebenswelt(en) ihre nahen Beziehungen miteinander organisieren, welche kulturellen Muster und Ideale, soziale Normen sowie vorherrschende Strukturen sich entwickelt haben und wie diese Dinge miteinander zusammenhängen. Denn besonders diese soziologische Sichtweise hilft zu verstehen, wie unsere soziale Welt geschaffen ist. Sie lehrt uns, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, immer der Frage folgend, ob es nicht auch anders sein könnte.

Diese Denkweise eröffnet uns die Möglichkeit, die Welt mit anderen Augen zu sehen, um den Gewohnheiten, Routinen und Ritualen unseres täglichen (Liebes-)Lebens auf die Spur zu kommen und sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Der Soziologe Zygmunt Bauman bezeichnet es als Aufgabe der Soziologie, genau jene Fragen zu stellen, die uns oft unbequem erscheinen. In seinem Buch Vom Nutzen der Soziologie schreibt er dazu:

Sie verwirrt das bequeme, ruhige Leben, indem sie Fragen stellt, die, soweit die Erinnerung der ›Einheimischen‹ noch reicht, noch keiner gefragt hat, geschweige denn beantwortet hat. Solche Fragen wandeln Bekanntes in Rätsel; sie machen das Vertraute unvertraut. Plötzlich gerät das gewöhnliche Leben unter einen prüfenden Blick und erscheint nicht länger als ›selbstverständlich‹, sondern als eine Möglichkeit unter anderen.10

Als Soziologin nehme ich hier also die Rolle der störenden Fremden ein, die genau jene Fragen stellt. Fragen, die unbequem erscheinen, die vielleicht auch irritieren. Und dieses Buch soll irritieren: weil die Irritation uns innehalten lässt, um nachzudenken und zu reflektieren. Gleichzeitig soll dieses Buch auch motivieren, die Gewissheiten und Routinen der eigenen Beziehungspraxis in Frage zu stellen. Nicht um alles niederzureißen, sondern um kritisch zu prüfen: Was ist da eigentlich? Wie ist meine (intime) Welt beschaffen? Welche Erfahrungen habe ich bislang gemacht? Und: Was kann noch sein?

Ab wann wird es bei uns eigentlich ›intim‹?

Bevor wir uns auf den Weg machen, uns die Praxis unserer intimen Beziehungen genauer anzusehen, müssen wir klären, was überhaupt intime Beziehungen sind, denn es gibt verschiedene Formen naher und persönlicher Beziehungen. Da ist zum einen die romantische Liebesbeziehung, wie wir sie von Narrativen wie dem von Johnny und Frances oder Aschenputtel kennen, in der sich die romantische Liebe – meist in Form von monogamen Paarbeziehungen – organisiert. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird recht selbstverständlich von einer »Beziehung« oder »Partnerschaft« gesprochen, wenn damit eine partnerschaftlich organisierte Liebesbeziehung gemeint ist, die auf romantischen Gefühlen fußt. Diese Form von Miteinander ist gesellschaftlich institutionalisiert. Die sprachliche Gleichsetzung von Beziehung und romantischer Liebesbeziehung verdeutlicht die präsente Stellung, die diese Beziehungsform in unserer Gesellschaft hat: Eine Beziehung zu führen gilt als normal. Mehr noch, es ist die Normalität, dasjenige gesellschaftliche Skript, an dem sich unsere Handlungen fundamental orientieren. Sie wirkt also ebenfalls normierend: Fragen wir zum Beispiel eine Freundin, ob sie und der Mensch, den sie seit Wochen sehr regelmäßig trifft und mit dem sie auch eine sexuelle Ebene hat, nun ein Paar seien und eine Beziehung führten, fordern wir diese Freundin zur Bestimmung dessen auf, was da zwischen ihr und dem anderen Menschen ist – ohne dass sie vielleicht selbst das Bedürfnis hat, der Sache einen Namen zu geben. Die Frage, die wir dieser Freundin stellen, hat somit eine Ordnungswirkung.

Weil Sprache und das Benennen der Formen des Sich-Nah-Seins diese gravierenden gesellschaftlichen Wirkmächtigkeiten haben, ist es notwendig, sich auch mit diesen Funktionen der Sprache auseinanderzusetzen. Dabei gilt es, den Blick auch auf das zu richten, was es neben der romantischen Liebesbeziehung noch gibt: die anderen Beziehungen, die wir als nah empfinden, die Beziehungen zwischen Freund*innen, zwischen mehr als zwei Personen, zwischen Menschen, die einfach nur Sex miteinander haben und so weiter.11 Im weiteren Verlauf differenziere ich deshalb zwischen romantischer Liebesbeziehung und intimenBeziehungen (im Plural!) – der Vielfalt intimer Beziehungen also, die sich jenseits der romantischen Liebesbeziehung verorten lassen.

Was bedeutet eigentlich Intimität? Im allgemeinen Sprachgebrauch wird dieser Begriff meist für Aspekte von Sexualität und sexuellen Handlungen verwendet: Intimrasur, Intimbereich, Intimschmuck, mit jemandem intim werden und so weiter. Das Wort »intim« meint aber sehr viel mehr. Ein Blick in das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache verrät uns, dass der Begriff dem lateinischen Wort intimus entlehnt ist und »der innerste, vertrauteste, geheimste« oder auch »vertrauter Freund« meint.12 Wenn Intimität doch eigentlich so viel mehr bedeutet als sich sexuell nah sein, wieso haben wir dann heute ein so eingeschränktes Verständnis von Intimität? Der Psychologe Steve Bearman macht in diesem Zusammenhang in seinem Essay Why Men Are So Obsessed with Sex auf einen interessanten Aspekt aufmerksam: Sex ist der einzige Ort, an dem Männer in unserer Gesellschaft Intimität und Sinnlichkeit erfahren können beziehungsweise dürfen. Aus diesem Grund, so Bearman, seien Männer auch »so besessen von Sex«, weil sie dort – und nur dort – tiefgehende Nähe erleben können.13 Ist unsere Vorstellung von Intimität, von intim sein, also Ergebnis patriarchaler Dominanzkultur(en), weil Sex der einzige Ort ist, an dem Männer sich emotional zeigen können? Es wird Teil unserer Reise sein, den Begriff Intimität aus den Fesseln dieser Denkstrukturen zu lösen und ihn uns auf eine Weise anzueignen, in der das Sich-Nah-Sein ein wesentlicher Teil des zwischenmenschlichen Miteinanderseins ist – egal in welcher Form. Wir sind uns als Menschen auf unterschiedliche Weise nah, wir empfinden besondere Vertrautheit und emotionale Tiefe auf verschiedene Weise. Es gilt, die vielen Möglichkeiten zu entdecken, wie wir uns nah sein können.