Wie handelt Gott in der Welt? - Christoph Böttigheimer - E-Book

Wie handelt Gott in der Welt? E-Book

Christoph Böttigheimer

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Beschreibung

Die christliche Religion gründet auf Gottes Handeln in der Welt, das für viele Menschen heute unwahrscheinlich, ja mit wissenschaftlichen Erkenntnissen unvereinbar ist. Der Autor beantwortet die zentralen Fragen: Wie kann angesichts neuerer biologischer und kosmologischer Erkenntnisse dennoch an Gottes Handeln in der Welt verantwortet geglaubt werden? Was heißt "Gott handelt"? Gibt es Wunder? Ist es sinnvoll, Gott um ein besonderes Eingreifen zu bitten?

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Christoph Böttigheimer

Wie handelt Gott in der Welt?

Reflexionen im Spannungsfeld vonTheologie und Naturwissenschaft

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

ISBN (E-Book): 978-3-451-80063-4

ISBN (Buch): 978-3-451-33266-1

Inhalt

Vorwort

I. Naturwissenschaftliche Herausforderungen

1. Einfluss der Naturwissenschaften

Kompetenzverlust des Gottesglaubens

Gottesglaube in der Defensive

Pastorale Herausforderung

Ausblick

2. Naturwissenschaft und Theologie

Dialog statt Trennung

Methodische Grenzen und Grenzüberschreitungen

Sicheres Wissen?

Nicht-Prognostizierbarkeit

Ausblick

II. Schöpferisches Handeln Gottes

1. Göttlicher Schöpfungsakt

Biblische Schöpfungsaussage

Vernünftigkeit aller Wirklichkeit

Kosmologische Entwicklungsstufen

Schöpfungsakt und Urknalltheorie

Schöpfungslehre und Evolutionstheorie

Vermittlungsversuche

Evolution und göttlicher Plan?

Ausblick

2. Kontinuierliches Schöpfungswirken Gottes

Gottes zeitlose Schöpfertätigkeit

Schöpferische Allgegenwart

Seinsanalogie und natürliche Theologie

Gott in allen Dingen suchen

Ausblick

III. Geschichtliches Handeln Gottes

1. Vermitteltes Handeln Gottes

Erst- und Zweitursache

Personalität Gottes

Wort, Weisheit und Geist Gottes

Personal vermitteltes Wirken Gottes

Göttliches und menschliches Wirken

Wirkmacht göttlicher Liebe

Menschliche Freiheit?

Ausblick

2. Gottes befreiendes Handeln am Menschen

Göttliches Geschichtshandeln

Menschliche Unheilsgeschichte

Gott schenkt Befreiung

Göttliches Erlösungshandeln

Ausblick

3. Göttliches Betroffenwerden

Leidenschaftslosigkeit Gottes

Mitleid Gottes

Ist Gott allmächtig?

Ewigkeit und Zeitlichkeit

Ausblick

IV. Interventionistisches Handeln Gottes

1. Unmittelbares Handeln Gottes

Wunder als Heilszeichen

Unvermitteltes Handeln Gottes?

Selbstüberbietung des Seienden

Auferweckung Jesu

Ausblick

2. (Bitt-)Gebet als Ernstfall

Gott als Gebetsadressat

Mensch als Gebetssubjekt

Bitten um unmittelbares Eingreifen?

Wirkung des (Bitt-)Gebets

Worum bitten?

Ausblick

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Personenverzeichnis

Vorwort

Die Frage nach dem Wirken Gottes in der Welt ist keine theologische Randfrage – im Gegenteil. Der biblische Glaube geht ja grundlegend davon aus, dass sich Gott sowohl in seiner Schöpfung als auch darüber hinaus in der Geschichte Israels auf mannigfache Weise geoffenbart hat, indem er seinem auserwählten Volk heilvoll, richtend und erlösend zur Seite stand. Sein freies, persönliches Handeln kommt zum Ausdruck beim Exodus, bei der Wüstenwanderung, der Landnahme, im Kampf gegen fremde Völker und Götter etc. »Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen.« (Dtn 26,8f.) Auf das heilvolle Handeln Gottes in Welt und Geschichte bezieht sich nicht nur der Glaube Israels, sondern ebenso der des Christentums, das überzeugt ist, dass Gott in Jesus Christus heilvoll an allen Menschen gehandelt hat: Gott »hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.« (2 Kor 5,21) Dem christlichen Glauben liegt somit die Annahme vom Wirken Gottes in der Welt konstitutiv zugrunde.

Die Rede vom persönlichen Handeln Gottes in Welt und Geschichte steht im Zentrum des biblischen Glaubens und übt für alle theologischen Themen eine Schlüsselfunktion aus. Verliert darum die Rede vom freien göttlichen Handeln ihre Überzeugungskraft, wird dem im geschichtlichen Offenbarungshandeln Gottes gründenden Glauben seine Basis entzogen. Doch gerade diese Geschichtsbezogenheit Gottes ist heute aufgrund mangelnder Gotteserfahrungen massiv ins Wanken geraten mit gravierenden Folgen: Wie soll fortan von Gott Heil erhofft werden, wenn nicht mehr geglaubt werden kann, dass er die Weltgeschichte lenkt und in der eigenen Lebensgeschichte machtvoll wirkt? Wie soll heute von Gott gewusst werden, wenn gemäß biblischer Tradition ein solches Wissen allein von seiner geschichtlichen Offenbarung, also »von den großen Taten Gottes, der die Geschichte seines Volkes lenkt«1, herrühren kann? Wie kann Liturgie gefeiert werden ohne den Glauben an Gottes Handeln in den liturgischen Vollzügen, insbesondere den Sakramenten? Warum sollte man sich im Glauben Gott anvertrauen und im Gebet seine heilvolle Nähe erbitten, wenn von ihm keine wirklichkeitsverändernde Hilfe zu erwarten ist?

Christlicher Glaube gründet im geschichtsmächtigen Handeln Gottes. Macht es in diesem Zusammenhang einen Unterschied, ob vom Handeln oder vom Wirken Gottes in Welt und Geschichte gesprochen wird? In der heutigen Theologie ist die Anwendung des Handlungsbegriffs, der von menschlichen Entscheidungen abgeleitet wird, auf Gott umstritten, weshalb der Begriff des Wirkens teilweise bevorzugt wird.2 Während der Begriff des »Wirkens eher an das kausale Modell« anschließt3, ist der Begriff des Handelns stärker an ein Subjekt gebunden, das »(in der Regel intentional) eine Transformation von Zuständen in der Welt bewirkt oder verhindert. Handlungen vollziehen sich immer in konkreten Situationen und können sich über einen bestimmten Zeitraum erstrecken, wobei das Ergebnis des Tuns mit zur Handlung gerechnet wird. Auch wenn der Handlungsbegriff ebenso auf unbeabsichtigtes Tun angewendet werden kann, ist der Bezug auf ein rational mindestens mit partieller Willensfreiheit ausgestattetes Subjekt und dessen Intentionalität doch unerlässlich für seine Verwendung.«4 Wenn demnach von einem Handeln Gottes gesprochen wird, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass Gott als absolute Freiheit willentlich und zielgerichtet auf eine unterscheidbare Weise in die Welt eingreift, in welcher er freilich immer schon zugegen ist, sofern diese Welt als seine Schöpfung geglaubt wird.

Bei der Anwendung des Handlungsbegriffs muss stets mit bedacht werden, dass es sich wie bei jeder Gottrede so auch beim Sprechen vom persönlichen Handeln Gottes um eine analoge Aussage handelt. »Gottes ›Handeln‹ darf nicht nach Art beschränkt endlichen, weltlichen Handelns gedacht werden, das immer durch ein hier und nicht dort, jetzt und nicht damals und dann gekennzeichnet ist; es ist vielmehr als universales Wirken zu denken. Gott wirkt anders und in allem.«5 Weil Gott kein endliches Subjekt ist, wirkt er auch nicht wie kontingentes Seiendes und sein Handeln ist innerweltlich auch nicht so identifizierbar und beobachtbar wie das von Geschöpfen.

Dass Gott in allem am Werk ist und im Laufe der Geschichte immer wieder frei handelnd in die Welt eingegriffen hat, davon geht die Hl. Schrift durchweg aus. Dass dies auch heute noch der Fall ist, davon lebt die Kirche in all ihren Grundvollzügen (Martyria, Leiturgia, Diakonia, Koinonia) und darin gründet die christliche Hoffnung, weshalb nachfolgend der Begriff des Handelns trotz allen erwähnten Schwierigkeiten nicht einfach zugunsten dem des Wirkens preisgegeben wird. Doch was hat man sich unter dem Handeln Gottes näher vorzustellen? Kann im naturwissenschaftlichen Zeitalter noch intellektuell redlich von einem besonderen Handeln Gottes in der Welt gesprochen werden? Hat der christliche Glaube gerade in dieser Hinsicht vor allem aufgrund neuerer, gesicherter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse längst seine Plausibilität eingebüßt?

Wird Gott ein interventionistisches, punktuell in den Weltlauf eingreifendes Handeln zugebilligt, setzt man sich einer Reihe von kritischen Anfragen aus: Müsste ein göttliches Eingreifen nicht mit der Außerkraftsetzung von Naturgesetzmäßigkeiten einhergehen? Wäre ein solches freies Handeln Gottes gegebenenfalls vom menschlichen Handeln eindeutig unterscheidbar? Wie können heute noch mit einem eventuellen Handeln Gottes in der Welt Wunder in Zusammenhang gebracht werden? Welche Konsequenzen wären mit einem unvermittelten, innergeschichtlichen Handeln des Ewigen im Kontext des Zeitlichen unweigerlich verbunden? Würde aus einem interventionistisch, voluntativ handelnden Gott nicht notgedrungen ein Willkürgott und spitzt sich dadurch die Theodizee-Frage nicht zusätzlich zu? Handelt Gott wirklich, wenn der Mensch ihn bittet? Solche und ähnliche Fragen sollen in den folgenden Überlegungen leitend sein und reflexiv einer Beantwortung zugeführt werden, in der Hoffnung, dass mittels rationaler Reflexion der christliche Glaube seiner Sache besser inne wird. Nur wenn der Glaube an ein göttliches (Heils-)Handeln mit intellektueller Integrität verantwortet werden kann, kann dieser Glaube auch einen universalen Wahrheitsanspruch erheben, wie er in der Hl. Schrift zum Ausdruck kommt (1 Tim 2,4).

Mein besonderer Dank gilt Frau Edeltraud Halbig, der Sekretärin am Lehrstuhl, für die Erstellung des Registers, Frau Hortense Mayr und Frau Verena Lauerer für das mühsame Korrekturlesen, der wissenschaftlichen Hilfskraft, Herrn Otto Ziegler, sowie insbeondere Herrn Dr. René Dausner, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl, für seine sachkundige Begleitung des Manuskripts.

»Der Leser möge dort mit mir weitergehen, wo er meine Überzeugung teilt, mit mir suchen, wo er mit mir am Schwanken ist, sich an mich halten, wo er einen Irrtum bei sich erkennt, mich zurückrufen, wo er einen Irrtum meinerseits entdeckt. So wollen wir miteinander den Weg der Liebe gehen und uns ausstrecken nach Dem, von dem es heißt: ›Suchet mein Antlitz immer!«6

Anmerkungen

1 Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Das Glaubensbekenntnis der Kirche, hg. v. der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 31985, 60.

2 K. v. Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg i. Br. 2006, 23–89.

3 Ders., Gottes Handeln denken. Ein Literaturbericht zur Debatte der letzten 15 Jahre, in: ThRev 101 (2005), 90–108, hier 93.

4 Ders., Art. Handlung, in: A. Franz, W. Baum, K. Kreutzer (Hg.), Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Freiburg i. Br. 2003, 184–186, hier 184.

5 H. Kessler, Den verborgenen Gott suchen. Gottesglaube in einer von Naturwissenschaften und Religionskritik geprägten Welt, Paderborn 2006, 94.

6 Augustinus, De Trin. I, III, 5 (PL 42, 822).

I. Naturwissenschaftliche Herausforderungen

1. Einfluss der Naturwissenschaften

Wer sich heute für die Glaubensweitergabe einsetzt, hat es wahrlich nicht leicht. Denn innerhalb wie außerhalb der Kirche leidet der christliche Glaube unter einem massiven Plausibilitätsverlust. Nach Auskunft der Shell-Jugendstudie 2010 glauben beispielsweise nur ein Viertel der Jugendlichen (12–25 Jahre) in Deutschland an einen persönlichen Gott und ein weiteres Viertel an ein göttliches Prinzip. Die andere Hälfte der Jugendlichen teilt sich in gleichen Teilen in solche auf, die nicht wissen, woran sie glauben sollen, und in jene, die weder an Gott noch an eine überirdische Macht glauben.1 »Unbestreitbar sind die klassische Religiosität und ihre Lebensbedeutung bei den Jugendlichen des kulturellen Mainstreams Deutschlands weiter im Rückgang, wobei der Schwerpunkt der Veränderung bei den katholischen Jugendlichen liegt.«2

Der christliche Glaube tut sich ganz offensichtlich schwer und, wie etwa die vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen statistischen Daten der Katholischen Kirche in Deutschland belegen, zunehmend schwerer, bei den Menschen unserer Zeit Gehör und Akzeptanz zu finden – nicht nur außerhalb, sondern ebenso innerhalb der katholischen Kirche. So fällt heute in vielen Familien eine religiöse Erziehung aus, nicht selten auch dort, wo ein oder beide Elternteile einmal kirchlich sozialisiert waren. Die Gründe hierfür können vielfältig sein und hier nicht alle entfaltet und schon gar nicht näher reflektiert werden. Sicherlich spielen negative Kirchenerfahrungen eine Rolle, persönliche Lebensumstände, biographische Brüche, mangelndes Glaubenswissen und vieles andere mehr – vielleicht auch Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit. Eines mag aber ebenso zutreffend sein: Hinter manchem Glaubensabbruch stehen auch bedrängende und unbeantwortete Fragen, die auf die Sinnhaftigkeit des Glaubens selbst zielen. Zutreffend schrieb Walter Kardinal Kasper (* 1933) in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts: »Nicht allein die Weitergabe des Glaubens, sondern der Glaube selbst, nicht allein das Wie seiner Vermittlung, sondern das Was und Warum des Glaubens stehen heute in Frage. Der Glaube selbst ist herausgefordert.«3 Herausgefordert ist der biblisch-christliche Glaube, der sich fundamental auf einen in der Geschichte handelnden Gott bezieht, nicht zuletzt durch die unaufhaltsam wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die fortschreitenden historischen Einsichten und nicht zuletzt durch die technischen Errungenschaften, welche die Alltagswelt erobern und das Bewusstsein gemeinhin dominieren.

Die Kluft zwischen Glauben und einer hoch technisierten, profanen Lebenswirklichkeit scheint für nicht wenige unüberbrückbar. Kann aber ein Handeln Gottes inmitten der gelebten menschlichen Erfahrungen immer schwerer ausgemacht werden, hat dies weitreichende Folgen. Von Karl Rahner (1904–4984) stammt der viel zitierte Satz: »Der Fromme von morgen wird ein ›Mystiker‹ sein, einer der etwas ›erfahren‹ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil […] die bisher übliche religiöse Erziehung […] nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiöse Institutionelle sein kann.«4 Der Glaube an die Geschichtsmächtigkeit Gottes lebt davon, dass sich die Überzeugung vom heilvollen Handeln Gottes immer wieder anhand konkreter Erfahrungen bewahrheitet. Besteht der Glaube heute diese Probe? Nicht wenige beantworten diese Frage negativ. Für sie ist Gott in seinem persönlichen, freien Handeln nicht mehr inmitten einer von Wissenschaften und Technik beherrschten Welt erfahrbar. Eine grundlegende Schwierigkeit besteht darin, dass man zwar »von einem göttlichen Handeln im Hinblick auf konkrete Widerfahrnisse« sprechen kann, »die jedoch stets auch anders zu beschreiben sind, ohne Rückgriff auf Gott […] Die Erfahrung eines göttlichen Handelns in einem Ereignis läßt sich vor allem nicht mit derselben Unausweichlichkeit einem andern zumuten wie die Wahrnehmung des betreffenden Ereignisses für sich.«5

Während sich außerhalb der Kirche die Gottesfrage schon vielfach gar nicht mehr stellt, scheint sie auch für die Glaubenden selbst zu einem schwierigen Problem zu werden. Wie kann Gott innerhalb einer durchrationalisierten und durchtechnisierten Welt noch als machtvoll handelnd erfahren werden? Welcher angemessene Wirkort kann ihm zugedacht werden? Handelt Gott heute noch in der Geschichte? Wie soll in einer aufgeklärten Welt mit mythischen Gottesvorstellungen und naiven Tröstungen, die nicht mehr zu tragen scheinen, umgegangen werden? Bevor diese Fragen einer eingehenden Reflexion unterzogen werden, soll zuerst der Blick für die eben nur kurz angedeuteten Herausforderungen des christlichen Glaubens geschärft werden. In welchem Verhältnis stehen heute eine von Wissenschaften und Technik dominierte Alltagswelt auf der einen und der Glaube an einen geschichtsbezogenen, machtvoll handelnden Gott auf der anderen Seite?

Kompetenzverlust des Gottesglaubens

Der französische Philosoph und Soziologe Auguste Comte (1798–8857) war von der Aufklärung und Französischen Revolution geprägt und vertrat einen dezidierten Positivismus. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte er die prekäre Situation des Glaubens in einer durchtechnisierten und -rationalisierten Welt weitsichtig vorhergesehen. Nach ihm sei die Reifung des menschlichen Geistes einer gesetzmäßigen, evolutiven und zielgerichteten Entwicklung unterworfen. Derzufolge ließen sich drei verschiedene Stadien unterscheiden (Drei-Stadien-Gesetz), in denen sich das menschliche Denken und die Vorstellungen von der Welt entwickeln und die menschliche Intelligenz mehr und mehr zur Vorherrschaft gelangen würde6: das theologische, metaphysische und positive Stadium. Im »Gesetz der Geistesentwicklung der Menschheit«7 spiegle sich das Kindesalter, die Pubertät sowie das Erwachsensein des Geistes wider. Die drei Stadien, zwischen denen ein fließender Übergang bestehe, würden sich durch folgende Arten des Philosophierens auszeichnen:

Im »theologischen oder fiktiven Stadium«8 würde aufgrund einer natürlichen Neugierde nach der inneren Natur der den Menschen umgebenden Dinge und Wesen gefragt und nach absoluter Erkenntnis über die erste Ursache sowie über das letzte Ziel der Welt gesucht. Der Mensch erkläre sich die ihn umgebenden Phänomene mit Hilfe übernatürlicher Wesen. Dieses Stadium sei »bloß provisorisch und vorbereitend«9, als solches aber zugleich »unentbehrlich wie unvermeidlich«10. In diesem fiktiven Stadium würden sich nach Comte im Umgang mit den Vorgängen und Tatsachen der Welt folgende Hauptformen ausbilden: Fetischismus, Polytheismus und Monotheismus. Der Fetischismus sei die »unmittelbarste und ausgeprägteste«11 und lebe von der Phantasie, indem äußeren Körpern ein menschenähnliches Leben zugeschrieben werde. Während für den Polytheismus die Einbildungskraft prägend sei, welche äußere Erscheinungen mit fiktiven Wesen, d. h. Gottheiten, in Verbindung gebracht würden, trete im Monotheismus die menschliche Intelligenz insofern schon deutlicher zum Vorschein, als das Interesse den unveränderlichen Gesetzen gelte, die den natürlichen Phänomenen innewohnen würden.

Das zweite Stadium sei das »metaphysische oder abstrakte«12 und käme »eine[r] Art chronischer Krankheit« gleich, »die mit unserer geistigen Individual- und Gattungsentwicklung zwischen Kindheit und Mannesalter natürlich verbunden ist.«13 Dieses Stadium sei demnach eine Phase des notwendigen Übergangs. In ihm würde die Einbildungskraft zugunsten des Verstandes und der Beobachtung zurücktreten. Zwar würde noch immer nach absoluter Erkenntnis gestrebt, doch würden die natürlichen Erscheinungen und alles Seiende nicht mehr auf fiktive und übernatürliche Wesenheiten zurückgeführt, sondern auf abstrakte Begriffe, Ideen oder Prinzipien, wie das Absolute oder den Willen. Diese würden als wirkungsmächtige Ursachen aufgefasst. Zudem trete nun an die Stelle der Phantasie der logische Beweis. Die Suche nach abstrakten Begriffen und Entitäten führe letztlich zu einer dem Monotheismus analogen Stufe, auf der alle Erscheinungen auf eine einzige Wesenheit oder ein einziges abstraktes metaphysisches Prinzip zurückgeführt würden, wie etwa auf die Natur. Weil das metaphysische Stadium an der Methode des theologischen Stadiums Anleihen nehme, ohne das theologische Denken zu überwinden, sei es widersprüchlich und inkonsequent.14

Vollends weiche die Einbildungskraft zugunsten der Vernunft im dritten, dem »positiven oder realen Stadium«15, das allmählich alle Wirklichkeitsbereiche erfassen würde. Jetzt würde endlich realistische Reife erlangt, gelte doch allein das »Positive«, d. h. das, was gesellschaftlich nützlich, sicher bestimmbar und tatsächlich gegeben, also mit den eigenen Sinnen erkennbar sei. Die spekulative Logik »anerkennt von nun an als Grundregel, daß keine Behauptung, die nicht genau auf die einfache Aussage einer besonderen oder allgemeinen Tatsache zurückführbar ist, einen wirklichen und verständlichen Sinn enthalten kann. […] Mit einem Wort, die grundlegende Revolution, die das Mannesalter unseres Geistes charakterisiert, besteht im wesentlichen [sic!] darin, überall anstelle der unerreichbaren Bestimmung der eigentlichen Ursachen die einfache Erforschung von Gesetzen, d. h. der konstanten Beziehungen zu setzen, die zwischen den beobachteten Phänomenen bestehen. Ob es sich nun um die geringsten oder die höchsten Wirkungen, um Stoß und Schwerkraft oder um Denken und Sittlichkeit handelt, wahrhaft erkennen können wir hier nur die verschiedenen wechselseitigen Verbindungen, die ihrem Ablauf eigentümlich sind, ohne jemals das Geheimnis ihrer Erzeugung zu ergründen.«16 Die Tatsachen sollen durch Vernunftgebrauch, genauer durch empirisch wissenschaftliche Erforschung in Form der rationalen Beobachtung auf allgemeine Gesetze gebracht werden, welche rationale Voraussagen ermöglichen würden. »Es wird mir nun leicht sein, das Wesen der positiven Philosophie darzulegen. Für diese Philosophie sind alle Vorgänge unveränderlichen Gesetzen unterworfen …; man untersucht nur die Umstände, unter denen sie entstanden sind, und verknüpft sie durch die Beziehung im Nacheinander und durch ihre Ähnlichkeit untereinander«.17 Die Frage nach dem Wesen der Dinge und die Suche nach ihrer absoluten Erklärung sei jetzt ohne Belang; was über das Reich der Erscheinungen hinausgehe, habe keinerlei Geltung. Könnten alle Phänomene auf ein Gesetz zurückgeführt werden, wäre die höchste Stufe, der Optimalzustand, erreicht.

Im dritten Stadium erbringen allein die exakten positiven Wissenschaften eine kognitive Leistung, weshalb der Religion jegliche kognitive Kompetenz abgesprochen wird, mit der Konsequenz, dass der Glaube an ein Handeln Gottes in der Welt im Allgemeinen und (Bitt-)Gebete im Besonderen als sinnlos erachtet werden. Auf der Grundlage exakter Kausalforschung, welche die positivistischen Wissenschaften erbringen, müssen sie als wirkungslos erscheinen. Jetzt zählt ja allein das positive Denken, welches mit Hilfe rationaler Voraussicht menschliche Probleme lösen soll. Indem Phänomene kritisch beobachtet und deren Gesetzmäßigkeiten eruiert werden, sollen gar Ereignisse rational vorausgesehen werden können, was die Möglichkeit eines göttlichen Handelns zwangsweise unterbindet. Weltbewältigung mittels Wissen (»Know-how«) wird angestrebt. Diese Phase ist demnach notwendigerweise atheistisch, erzeugt doch nun der Mensch selbst alles Herrschaftswissen und übt es aus, ohne dafür einen Gott zu brauchen. Die Aufgaben der kognitiven Leistung übernimmt nun allein die exakte positive Wissenschaft. Damit kommt dem Gottesglauben keine kognitive Kompetenz mehr zu; ihm wohnt weder eine eigene Effektivität inne, noch verfügt er über eigene Erkenntnismittel. Er fördert weder eine eigene Wahrheit zutage, noch übt er eine eigene Funktion aus. Aufgrund des »Fortschritts des exakten Denkens« wird jetzt auch der »Mensch selbst im Eigentlichen seines Menschseins« durchschaubar werden und damit »das Mysterium der Theologen nach und nach an Boden verlieren.«18 Das bedeutet, dass »[d]ie Gottesfrage […] im Zuge dieser Entwicklung des Denkens notwendig zur überholten Frage werden [wird], die das Bewußtsein einfach als gegenstandslos hinter sich läßt: So wie es heute niemand in den Sinn kommt, die Existenz der Homerischen Götter zu widerlegen, weil diese Existenz gar keine wirkliche Frage mehr darstellt, so werde in einem endgültig positiv gewordenen Denken die Gottesfrage von selbst aufhören zu bestehen.«19

Comte, der den Positivismus zum Wissenschaftsideal auch für die Geisteswissenschaften erhoben hatte, erschien die Religion als ein vorwissenschaftliches, unreines Bewusstsein, weil die realistische Reife des Positivismus noch nicht erlangt worden sei und man noch in Mythen und philosophischen Befangenheiten lebe, ähnlich wie übrigens auch für Friedrich Nietzsche (1844–4900) »[a]lle Religionen … ein Merkmal davon [zeigten], daß sie einer frühen unreifen Intellektualität der Menschheit ihre Herkunft verdanken«20. Gegen Ende seines Lebens erkannte Comte, dass Religion auch im dritten Stadium möglich und nützlich sei, »da der Mensch zwar ohne Gott, nicht aber ohne Religion bestehen könne.«21 Insofern Religion jetzt atheistisch konzipiert würde, bliebe ihr die psychologische Funktion erhalten, nämlich die emotionale und soziale Stabilisierung und damit die Beflügelung der nicht-religiösen, wissenschaftlichen Leistungsträger. Aufgabe der Religion sei es nun, die Arbeit der Wissenschaften auf geistige Weise zu begleiten, sozusagen mit Weihrauch und Weihwasser, Gebet und Segen. Religiöse Anerkennung und Verehrung komme nun dem höchsten Wesen, das die Daseinsbewältigung leiste, d. h. dem Menschen und seiner Vernunft zu. Die Menschheit bejahe sich selbst im Medium der Religion. Am Ende sah Comte sich selbst »gar als der Hohepriester einer neuen säkularen Kirche. Er strebt eine neue Religion ohne Gott an, deren Organisation, Hierarchie und Zeremoniell der katholischen Kirche nachgebildet werden sollte.«22

Gottesglaube in der Defensive

Der Positivismus gilt heute als überwunden. Er ging nämlich von der falschen Grundannahme aus, dass Wissenschaft und Wirklichkeit deckungsgleich seien. Doch die Wissenschaft begegnet der Wirklichkeit nie an sich, da, wie es schon vor Comte der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–4804) ausdrückte, »die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt«.23 Das bedeutet, dass sich die Vernunft der Wirklichkeit immer nur unter einer ganz bestimmten Fragestellung annähert.

Nichtsdestotrotz hat Comte in weiser Voraussicht das säkularisierte Selbst- und Weltverständnis und die Wissenschaftsfixiertheit des neuzeitlichen Menschen treffend beschrieben. Die säkularisierte Weltsicht wird heute u. a. von Hans-Dieter Mutschler (* 1946), der sich als Professor für Naturphilosophie u. a. mit Grenzfragen zwischen naturwissenschaftlichem und christlichem Weltbild auseinandersetzt, als Fakt konstatiert: »Die zunehmende Macht durch technische Weltbewältigung klappe die vertikale Dimension der traditionellen Religion in die horizontale des technischen Fortschritts, so dass nun plötzlich dieser Fortschritt sich mit religiösen Hoffnungen amalgamiere.«24 Der religiös-metaphysische Bezugsrahmen geht allmählich verloren, weil das Leben zunehmend säkularisiert wird, so dass nun die Lebensbewältigung allein vom Menschen mittels Wissenschaft und Technik geleistet wird: An die Stelle Gottes tritt der Mensch, an die Stelle des Religiösen die Technik. Anerkennung und Bestätigung gebühren nicht mehr Gott, sondern dem Menschen und seiner Vernunft, der durch immer größere Fortschritte seine Daseinsbewältigung erleichtert. Religion wird im »Zeitalter der Wissenschaft«25, falls sie überhaupt noch als hilfreich erachtet wird, zur Geborgenheitsreligion humanistisch umfunktioniert.

Bis heute beeinflusst die erklärende Kraft, die von den modernen Naturwissenschaften ausgeht, nachhaltig das Weltbild des modernen Menschen und damit sein Empfinden und Verhalten. »Der Glaube an die Wissenschaft spielt die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit«.26 Daran hat auch das Wissen um die Grenzen naturwissenschaftlicher Welterkenntnis sowie ein gewisser Pessimismus, der spätestens seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts Platz gegriffen hat, nichts Grundlegendes geändert. Zwar wird es »[d]em Menschen […] unheimlich in dieser von Menschen beherrschten und von Menschen zerstörten Welt«27, dennoch herrscht aber im Alltag weithin die Grundüberzeugung vor, die alltäglichen Lebensaufgaben und Herausforderungen seien primär mit Hilfe von Wissen(schaft) und Technik zu lösen. »Die kulturellen Plausibilitäten unserer Zeit – der Moderne – stehen im Zeichen der Verpflichtung, sich in Fragen der Wirklichkeitserkenntnis und der Lebensgestaltung nur den Imperativen der (autonomen) Vernunft zu unterstellen. Was in der Welt geschieht, ist aus ihr selbst, aus ihren eigenen Entwicklungsgesetzen und Antriebskräften erklärbar.«28 Für die Bewältigung menschlicher sowie gesellschaftlicher Aufgaben ist die Hypothese Gott damit überflüssig geworden.

Noch immer übt das Postulat der geschlossenen Naturkausalität seinen Einfluss aus. Der moderne Mensch glaubt aufgrund seiner wachsenden Handlungskompetenz seinen Lebensraum autonom gestalten zu können. »Der Mensch von heute baut darauf, daß der Lauf der Natur und Geschichte, wie sein eigenes Innenleben und sein praktisches Leben, nirgends vom Einwirken übernatürlicher Kräfte durchbrochen wird«.29 Die Annahme eines Eingreifens Gottes in den Zusammenhang der Naturabläufe erscheint als unbegründet. »Trotz der durch viele Rückschläge bedingten Anfechtungen eines solchen Handlungs- und Fortschrittskonzepts bleibt ein naiver, nicht zuletzt durch stetiges Wachstum der technischen Möglichkeiten des Menschen gestärkter Fortschrittsoptimismus vorherrschend, der durch menschliches Handeln Natur und Geschichte zu kontrollieren hofft und damit ein Handeln Gottes prinzipiell unmöglich erscheinen lässt.«30

Das von Comte beschriebene Bewusstsein spiegelt sich heute noch vielfach in Form einer technisch-wissenschaftlichen Aneignung von Natur wider: Was früher einst Gott zugeschrieben wurde, kann heute auf rationale Weise erklärt werden. Für nicht wenige scheinen die Wissenschaften hinlängliche Antworten auf ihre Fragen parat zu haben. Die Welt wird als ein kausaldeterministisch geschlossenes System wahrgenommen, das mit Hilfe von Wissenschaft und Technik gestaltet und beherrscht werden kann – »etsi deus non daretur«, weshalb die Gottesfrage auch keinen Ansatz mehr im Denken aufgeklärter Menschen findet. »Selbst unter den Gläubigen«, so beobachtet es Joseph Ratzinger (* 1924) in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts »breitet sich weithin ein Gefühl aus, wie es unter den Fahrgästen eines sinkenden Schiffes herrschen mag: Sie fragen sich, ob der christliche Glaube noch eine Zukunft habe oder ob er nicht in der Tat immer offenkundiger von der geistigen Entwicklung einfach überholt wird. Hinter solchen Überlegungen steht das Bewußtsein eines tiefen Auseinanderklaffens der Welten des Glaubens und des Wissens, das unschließbar scheint und so Glauben weithin unvollziehbar macht.«31

Die Hl. Schrift spricht beinahe auf jeder Seite von einem besonderen, unvermittelten Handeln Gottes in und mit der Welt, und dennoch suchen selbst überzeugte und praktizierende Christen ihre Alltagsprobleme primär mit Hilfe von Wissenschaft und Technik, d. h. mittels kognitiv-instrumenteller Rationalität zu lösen. »Die äußerlich sichtbarsten Wunder, von denen der religiöse Glaube berichtet hat, waren die Speisung der Hungrigen, die Heilung der Kranken und die Zerstörung menschlichen Lebens durch eine unbegreifliche Macht; die technisierte Landwirtschaft und das Transportwesen, die moderne Medizin und die heutige Kriegstechnik tun genau solche Wunder.«32 Der Glaube an ein wunderbares Handeln Gottes in der Welt lässt sich heute im traditionellen Sinne nicht aufrechterhalten. Wunder tragen heute weder einen Glaubwürdigkeitserweis für den Glauben aus, noch kann sich der Glaubende auf sie stützen. Immer schwerer fällt es, an einen Gott zu glauben, »der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet«.33 Die Überzeugung von der allwirksamen und fürsorglichen Geschichtsmacht Gottes (1 Petr 5,7) ist in die Defensive geraten und vermag auch im Alltag selbst gläubiger Menschen nur noch bedingt eine das Bewusstsein prägende Kraft darzustellen. Ein Agrarwirt wäre heute beispielsweise sicherlich schlecht beraten, bei der Bestellung seiner Felder primär auf Bittprozessionen oder den Wettersegen zu vertrauen, anstatt auf Meteorologie und neueste Agrartechnik zu setzen. Selbst im Krankheitsfall wird zuerst bei der hoch entwickelten Gerätemedizin Zuflucht gesucht anstatt bei der Klinikseelsorge. Die methodisch-technische Einstellung zieht sich heute durch alle Lebensbereiche. »Anstatt auf Gott zu setzen, wird der Glaube an sozialstaatliche Regelungsmechanismen und die technologischen und medizinischen Errungenschaften der modernen Welt gelebt. […] An die Allmacht Gottes, an sein Eingreifen in den Natur- und Geschichtsverlauf, lässt sich solange füglich glauben, wie man nicht ernsthaft daran glaubt.«34 Der bürgerlichchristliche Glaube macht »Gott weithin zum Statisten, der – semi-deistisch – nur geschehen lässt, was die Natur und wir tun, und dem sie selbst nichts zutraut.«35

Wird bei der Bewältigung von Alltagsproblemen vorwiegend auf die wirtschaftliche, technische etc. Machbarkeit gesetzt, muss der Gottesglaube zwangsläufig bedeutungslos werden. »In der säkularisierten Welt wird die Hypothese Gott als Erklärung innerweltlicher Phänomene zunehmend überflüssig; Gott wird weltlich funktionslos.«36 Gilt die physikalisch-materielle Weltwirklichkeit als ein eigengesetzliches, in sich geschlossenes Kausalsystem, das als solches aus sich selbst heraus verständlich sein soll, bleibt für ein besonderes und direktes, freies Handeln Gottes kein Platz mehr. Schon Mitte des letzten Jahrhunderts konstatierte Romano Guardini (1885–5968): »Die Natur wird immer mehr experimentell und rational durchdrungen; die Politik als ein bloßes Spiel von Mächten und Interessen begriffen; die Wirtschaft aus der Logik des Nutzens und der Wohlfahrt abgeleitet; die Technik als eine große, jedem Zweck zur Verfügung stehende Apparatur gehandhabt; die Kunst als eine Gestaltung nach ästhetischen Gesichtspunkten und die Pädagogik als Heranbildung jenes Menschen angesehen, der imstande ist, diesen Staat und diese Kultur zu tragen. Im Maße das geschieht [sic!], sinkt die religiöse Empfänglichkeit. Darunter verstehen wir […] das unmittelbare Ansprechen auf den religiösen Gehalt der Dinge; das Erfaßtwerden von der Geheimnisströmung der Welt, wie es sich bei allen Völkern und zu allen Zeiten findet. Das heißt aber: der neuzeitliche Mensch verliert weithin nicht nur den Glauben an die christliche Offenbarung, sondern erfährt auch eine Schwächung seines natürlichen religiösen Organs, so daß er die Welt immer mehr als profane Wirklichkeit sieht. Das hat aber weittragende Konsequenzen. […] So erscheint zum Beispiel der Zusammenhang der Ereignisse, aus denen das Leben besteht […] als eine bloße Folge empirischer Ursachen und Wirkungen«.37

In einer Welt, die aufgrund des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts zunehmend entzaubert und weltlich wird, begegnet der Mensch immer weniger einem in Welt und Geschichte handelnden Gott als vielmehr sich selbst und seinem eigenen Tun. Hält er aber dennoch am Gottesglauben fest, weist dieser notgedrungen deistische Züge auf. Das bedeutet, Gottes Schöpfungstat wird auf die Erschaffung der Welt eingegrenzt, ohne mit einem fortdauernden Schöpfungswirken Gottes zu rechnen. Gott wird in seiner absoluten Transzendenz gedacht, als der Deus otiosus, der als der rein Jenseitige die Welt ihren eigenen natürlichen Gesetzen, Funktionen und Mechanismen überlässt, mit der Konsequenz, dass es kein innerweltliches Wirken Gottes mehr geben kann, sondern nur noch den Lauf der Dinge. Gott schafft auf transzendentale Weise die Möglichkeitsbedingung dafür, dass die Welt gesetzmäßig geordnet ist und der Mensch in ihr frei und autonom zu handeln vermag. Ein solcher Gott, der durch die von ihm selbst geschaffene Welt geradezu begrenzt und zum ohnmächtigen Zuschauer wird, kann keinerlei Beziehung zu den Menschen aufnehmen. Für ihn muss Gott bedeutungslos erscheinen und das (Bitt-)Gebet als sinnlos.

Tatsächlich meinen »[s]eit einigen Jahren […] Soziologen, bei Jung und Alt eine verstärkte Tendenz zu einem ›deistischen‹ Gottesverständnis beobachten zu können.«38Gott und Welt werden säuberlich getrennt: »Was die Verkündigung über den Gott der Schöpfung und der Vorsehung sagt (sofern sie überhaupt noch von letzterer redet), versucht man in seine Glaubenswelt einzufügen; was man durch naturwissenschaftliche Informationen erfährt, speichert man in seiner Wissenswelt.«39 Ein solches Verhalten impliziert allerdings einen latenten Hang zum praktischen Atheismus. »Viele empfinden eine naturgesetzlich geordnete Welt wie eine starre Mechanik, die sich zwischen Mensch und Gott schiebt und seinen Einfluß auf unser Leben verhindert: Gibt es kein Wirken Gottes im Sinn eines Eingreifens mehr, sondern nur noch den Lauf der Dinge, die Weltmaschine und ihren fernen Konstrukteur?«40

Theologisch betrachtet, können sich Welterkenntnis und Gotteserkenntnis weder widersprechen, noch dürfen sie gegeneinander ausgespielt werden, da diese Welt doch Gottes Schöpfung ist. In der Glaubenspraxis jedoch tut sich heute für viele eine unüberbrückbare Kluft zwischen wissenschaftlich-instrumentellem Denken und christlichem Glauben auf. Für nicht wenige ist Gott weder erfahrbar noch denkbar. Unversehens gewinnt so das von Martin Buber (1878–8965) geprägte Wort der »Gottesfinsternis« eine ganz neue Aktualität: »Die Zeiten der großen Probe […] sind die der Gottesfinsternis. Wie wenn die Sonne sich verfinstert, und wüßte man nicht, daß sie da ist, würde man meinen, es gäbe sie nicht mehr, so ist es in solchen Zeiten. Das Antlitz Gottes ist uns verstellt, und es ist, als müßte die Welt erkalten, der es nicht mehr leuchtet. […] Wir nehmen ihn nicht mehr wahr, es ist finster und kalt als ob es ihn nicht gäbe, es erscheint sinnlos zu ihm umzukehren, der doch, wenn er da ist, sich gewiß nicht mit uns abgeben wird, es erscheint hoffnungslos zu ihm durchdringen zu wollen«.41 Zwar ist der Begriff von Gott heute noch vorhanden, doch wird er durch die Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht mehr gedeckt. »Findet Gott in der Realität der neuzeitlichen Welt überhaupt noch Raum, seine Wahrheit welthaft, ›konkret‹ darzustellen?«42

Das Problem, dass der Gottesglaube nur noch schwer mit einer von Wissenschaft und Technik beherrschten Welt in Einklang gebracht werden kann, wird in der kirchlichen Verkündigung heute oft zu wenig bedacht. Viel zu selten wird der Umstand problematisiert, dass »die Christen im zwanzigsten Jahrhundert in Bekenntnis und Gottesdienst die traditionellen Worte gebrauchen, [aber] der Inhalt ihres Glaubens nur noch eine entfernte entwicklungsgeschichtliche Ähnlichkeit zu dem aufweist, was im Kontext der Gedankenwelt vergangener Jahrhunderte oder gar des ersten Jahrtausends geglaubt wurde«.43 Wird aber das pastorale Konzept des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) bewusst und konsequent verfolgt, muss der Blick unweigerlich auf jene gerichtet werden, die zwischen der Welt des Glaubens und der Wissenschaft keine Brücke mehr zu schlagen vermögen, aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ins Zweifeln geraten und infolge des Nicht-Erhörens ihrer (Bitt-)Gebete an einen in ihrem eigenen Leben handelnden Gott nicht mehr glauben können.

Pastorale Herausforderung

Die Väter des Zweiten Vatikanums machten damit Ernst, dass die Kirche keine ein für alle Mal vorgegebenen und bekannten Lehrsätze vertrete, sondern dynamische Glaubenswahrheiten, die immer wieder neu der Verheutigung bedürfen. Von daher bekam das Wort »pastoral« eine völlig andere Bedeutung. Ausschließlicher Bezugspunkt kirchlicher Seelsorge ist nun keine absolut gültige Lehre mehr, vielmehr soll die lehrhafte Seite der Kirche mit der praktischen verbunden werden. In der Anmerkung zur Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« heißt es: Die Pastoralkonstitution »wird ›pastoral‹ genannt, weil sie, gestützt auf Prinzipien der Lehre, das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute darzustellen beabsichtigt.«44 Das Wesen der Kirche hat also »pastoral zu sein, d. h. dort zu sein und zu wirken, wo Gott ist und wirkt, nämlich wo die Menschen sind, und für sie da zu sein und so Gott die Ehre zu geben«.45Pastoral bedeutet, sich mit den Menschen der eigenen Zeit zu solidarisieren, die »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute« (GS 1) ernst zu nehmen und auf diese konkrete Situation hin die Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden. Treffend formulierte Papst Johannes Paul II. (1978–8005): Der Mensch »ist der erste und grundlegende Weg der Kirche«46.

Wenn die Kirche in ihrer Verkündigung von der neuzeitlichen Entwicklung absieht, dass die Welt zur Welt des Menschen geworden ist, und die in ihrem Glauben an ein besonderes Handeln Gottes in der Welt verunsicherten Menschen übergeht, kann sie ihrer pastoralen Aufgabe schlechterdings nicht gerecht werden. Glaubensverkündigung und Glaubensweitergabe stehen heute in der Pflicht, ein von den Naturwissenschaften geprägtes Wirklichkeitsverständnis, gemäß dem die Ereignisse der Natur als aus rein immanenten Ursachen herleitbar erscheinen, mit dem Glauben an die Welt- und Geschichtsbezogenheit Gottes zusammen zu bringen. Die Kirche muss das Evangelium den Menschen im heutigen wissenschaftlich-technischen Zeitalter so nahe bringen, dass unter Einbeziehung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse und Fortschritte die lebensfördernde und heilstiftende Dimension der jesuanischen Frohbotschaft ungebrochen zur Sprache kommt. Weltzugewandt und weltbejahend wollte das Konzil den Glauben an den in der Geschichte sich offenbarenden, heilvoll und wirkmächtig in der Geschichte handelnden Gott verkünden. Aus einer Kirche über der Welt sollte eine Kirche inmitten der Welt werden, die die konkreten Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen der Menschen ernst nimmt. Das bedeutet konkret, dass heute nicht mehr einfach davon abgesehen werden kann, dass »Welterfahrung und Weltbemächtigung […] in Wissenschaft und Technik so weit entwickelt [sind], daß kein Mensch im Ernst am neutestamentlichen Weltbild festhalten kann und festhält […] Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben«.47

Nicht nur die Weltbetrachtung, sondern auch die Welterfahrungen sind heute gänzlich unterschieden von der Weltwahrnehmung Abrahams, Isaaks oder Jakobs, ebenso wie von der Weltwahrnehmung Jesu oder Paulus‹. Man kann nicht einfach wieder in die naturwissenschaftlich undifferenzierte Welt der Bibel eintauchen, für die »Naturvorgänge so unmittelbar dem Willen Gottes unterworfen [waren], daß sie ein außergewöhnliches Handeln Gottes zur Rettung oder Bestrafung des Volkes […] nicht – wie der heutige Leser – als Aufhebung von universalen Naturgesetzen und Wirkzusammenhängen empfindet; denn diese sind noch kaum bekannt.«48 Aufgrund der naturwissenschaftlichen Welterklärung und des heutigen Weltbildes fällt es selbst praktizierenden Christen immer schwerer, den Lauf der Geschichte und ihres eigenen Lebens unmittelbar mit dem persönlichen und freien Handeln Gottes in Verbindung zu bringen und darin Gott als Handelnden wahrzunehmen. Wenn der Mensch aber »nicht imstande ist, Gott in seinem Erfahrungsbereich, als in dieser Welt, in irgendeiner Weise als Wirkendem zu begegnen, wenn es ihm nicht gelingt, Gott in der Welt und durch die Welt als handelnde Person zu erkennen, dann bedeutet ihm Gott auch nichts, dann existiert Gott für ihn nicht, ja sogar das Wort Gott wird für ihn leer und sinnlos.«49 Es ist zu bezweifeln, ob dies in der gegenwärtigen kirchlichen Verkündigung angemessen berücksichtigt wird.

Ausblick

Nach dem Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) wurde »[d]ie Naturwissenschaft […] zum harten Kern der Neuzeit.«50 Daraus erwächst für Theologie und Kirche die Aufgabe, Gottes Wort vom biblischen, überkommenen Weltbild zu befreien und in ein technisch-naturwissenschaftliches Zeitalter zu übersetzen, das weithin geprägt ist von der Einsicht in die Eigengesetzlichkeit naturhafter Abläufe und einer zunehmenden Naturbeherrschung mittels Wissenschaft und Technik. Weil gemäß dem Zweiten Vatikanischen Konzil der zeit- und geistesgeschichtliche Kontext einen theologischen Erkenntnisort für die Verheutigung, also das Heutigwerden (»aggiornamento«) des Evangeliums darstellt, muss in der Verkündigung des Glaubens auf die Fragen der durch die naturwissenschaftliche Welterkenntnis zutiefst verunsicherten Menschen nach angemessenen Antworten gesucht werden (GS 4). Im Blick auf die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften bedarf es heute mehr denn je »einer erneuerten ›Intellektualität des Glaubens‹«.51

Papst Paul VI. (1963–3978) verstand unter aggiornamento »die Beziehung zwischen der unveränderlichen Gültigkeit der christlichen Wahrheiten und ihrer praktischen Einwurzelung in unsere dynamische und außerordentlich wandelbare Gegenwart hin, in das Leben des Menschen, das sich in unserer unruhigen, aufgeregten und doch fruchtbaren Zeit ständig und in vielerlei Weise ändert.«52 Diese Änderung gilt es wahrzunehmen. Was hindert den Glauben heute daran, alle Lebensbereiche so zu durchziehen wie einst in vormoderner Zeit? Warum wird heute das naturwissenschaftliche Denken oftmals als Glaubenshindernis empfunden und nicht selten bei deistischen Vorstellungen und einem praktischen Atheismus Zuflucht gesucht? Die Verheutigung des Evangeliums muss sich von Glaubenden zu denken geben lassen, die zwischen einer vom Kausalitätsprinzip geprägten, deterministisch-mechanistischen Weltsicht und der Vorstellung von einem personalen, allmächtigen Gott, der sich um jeden Einzelnen sorgt, gar die Haare auf unserem Haupt alle zählt (Mt 10,30), zerrissen werden. Zur schrittweisen Entflechtung dieser Spannung wird im nachfolgenden Kapitel das wechselvolle Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft beleuchtet sowie das veränderte Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaft und deren methodischen Grenzen thematisiert.

2. Naturwissenschaft und Theologie

Häufig liegt der kirchlichen Verkündigung noch immer ein sehr undifferenzierter, mythisch geprägter Schöpfungs- und Vorhersehungsglaube zugrunde, so wie er sich in der biblisch-christlichen Tradition über Jahrhunderte hinweg durchgetragen hat und heute noch in manchen liturgischen Texten und Kirchenliedern zum Ausdruck kommt.

Der Herr, »der alles so herrlich regieret […] hast du nicht dieses verspüret?«53 Manch einer möchte auf diese in einem bekannten Kirchenlied aufgeworfene Frage wohl spontan mit Nein antworten. Viele empfinden »diese Art, von Gott zu reden, einfach als ungedeckt von ihrer Alltagserfahrung«.54 Ihre Sicht der Welt ist intellektualistisch geprägt und darum weithin entzaubert. »Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet […] nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.«55

Ein Weiteres kommt hinzu: Seit Auschwitz und Hiroshima hat die Bestürzung über unvorstellbares Unheil die Gewissheit vom persönlichen Handeln Gottes in der Zeit grundlegend erschüttert und den Glauben an einen geschichtsmächtigen Gott der Liebe ins Wanken gebracht. »Das vielfach beklagte ›Grundgefühl‹ der Abwesenheit Gottes, das längst der Phase der Trauer über sich selbst entwachsen ist, scheint das Reden vom aktuellen Handeln Gottes jeder Aussicht auf Evidenz beraubt zu haben.«56 Nicht von ungefähr dichtete einst Bertolt Brecht in seinem parodistischen ›Großen Dankchoral‹ mit beißender Ironie: »Lobet die Nacht und die Finsternis, die Euch umfangen. Kommet zuhauf, schaut in den Himmel hinauf: Schon ist der Dank Euch vergangen!«57

Wahrlich, der Blick zum gestirnten Himmel mag in Staunen versetzen, aber ebenso zum Zweifeln anregen und die Tragik des Menschen vor Augen führen: Was heißt es, an einen personalen Gott zu glauben, angesichts der komplexen Organisation der Materie? »Im Universum aus Wasserstoff und Helium, hinter den Kernreaktionen der Sonnen, den sich aufblähenden Roten Riesen, abkühlenden Weißen Zwergen, Supernova-Explosionen, rotierenden Neutronensternen, interstellaren Staub- und Gaswolken, den Fluchtbewegungen der Galaxien sowie dem evolutionären Wechselspiel zufällig streuender Mutationen mit dem Kampf ums Dasein wollen die Versuche und Bemühungen, die Fürsorge eines alles tragenden und lenkenden Schöpfers zu erblicken, nicht mehr so recht überzeugen.«58 Hinzu kommt die Einsicht, dass innerhalb der ca. 15 Milliarden Jahren währenden Geschichte des Kosmos der Mensch erst seit ca. 200.000 Jahren existiert und es eine Zeit geben wird, da der Kosmos noch sein wird, nicht aber der Mensch, der doch die Krone der Schöpfung sein soll. Vor diesem Hintergrund ist es nur schwer einzusehen, »[w]ie mit Bezug auf einen solchen Weltverlauf heute noch überzeugend davon die Rede sein kann, dass er von Anfang an auf Verklärung und Vollendung hingeordnet ist, in der die Herrlichkeit Gottes offenbar wird«.59

Die Materie ordnet sich im expandierenden Universum zu Galaxien zusammen, die jeweils viele Milliarden Sterne enthalten und durch riesige intergalaktische Entfernungen voneinander getrennt sind. Innerhalb des der menschlichen Beobachtung zugänglichen Universums gibt es Hunderte von Millionen Galaxien, die sich ihrerseits zu Galaxienhaufen zusammenordnen. Angesichts dieser kosmischen Ausdehnung bemerkte der USamerikanische Physiker Steven Weinberg (* 1933): »Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.«60 Was hat diese unfassbare kosmische Struktur, die Häufung von Materie und Energie zu Galaxien, und was haben das unvorstellbare Ausmaß des Weltalls und die in ihm wirkenden Kräfte mit einem personalen, frei handelnden Gott zu tun? »Wenn man die Bilder fernster Galaxien sieht, deren Licht Milliarden von Jahre unterwegs war bis zu unseren Riesenteleskopen, oder die Bilder gigantischer, leuchtender kosmischer Nebel, dann rückt auch jene Gottheit, die alles dieses geschaffen haben soll, für uns in unendliche Fernen, wir sollen uns nicht nur kein Bild von ihr machen – wir können es gar nicht.«61

Nimmt man die Einsichten der Kosmologie und Evolutionsbiologie zur Kenntnis und lässt sie auf sich wirken, erscheinen manche christlichen Glaubensaussagen in einem neuen Licht; sie verlieren angesichts der Kälte des Kosmos ihre schiere Selbstverständlichkeit und sehen sich plötzlich einer enormen Verunsicherung und Erschütterung ausgesetzt. In einer durch die Naturwissenschaften entzauberten Welt fällt der Glaube an einen fürsorglichen, alles ordnenden Schöpfergott immer schwerer. Selbstkritisch müsse deshalb nach Ansicht von Karl Rahner darüber nachgedacht werden, »ob man heute noch in rechtschaffener Redlichkeit des Geistes behaupten könne, der unbegreifliche Gott, der auch Tausende von Lichtjahren von unserem kleinen Planeten entfernt den Kosmos auseinanderstieben läßt, sei Mensch geworden, und […] ob man im Ernst sich vorstellen könne, daß dieser Jesus wiederkomme, um eine Menschheitsgeschichte von ein paar Millionen Jahren und vielleicht sogar eine kosmische Geschichte vom Urknall her und von ein paar Milliarden Jahren abzuschließen.«62 Wie vertragen sich christliche Glaubensaussagen und kosmologische Erkenntnisse, Theologie und Naturwissenschaft?

Dialog statt Trennung

Der US-amerikanische Jesuit und Astronom George Coyne (* 1933), der bis 2006 Direktor der Vatikanischen Sternwarte war, machte unmissverständlich deutlich, dass sich das aufgeklärte Bild von einem evolvierenden Universum mit der traditionellen, scholastischen Gotteslehre nicht vereinbaren ließe: »Wenn wir die Ergebnisse der modernen Wissenschaft ernst nehmen, fällt es schwer zu glauben, daß Gott allmächtig und allwissend ist im Sinne der scholastischen Philosophen. Die Wissenschaft erzählt uns von einem Gott, der sehr anders sein muß als der Gott, den mittelalterliche Philosophen und Theologen sahen. Könnte Gott zum Beispiel nach einer Milliarde Jahre eines fünfzehn Milliarden Jahre alten Universums vorhergesagt haben, daß menschliches Leben entstehen würde? Gehen wir davon aus, daß Gott im Besitz der ›Universaltheorie‹ wäre, alle Gesetze der Physik, alle Elementarkräfte kennen würde. Selbst dann: Könnte Gott mit Sicherheit wissen, daß der Mensch entstehen würde? Wenn wir wirklich die wissenschaftliche Sichtweise akzeptieren, daß es neben den deterministischen Vorgängen auch Zufallsprozesse gibt, denen das Universum ungeheure Gelegenheiten bietet, dann sieht es so aus, als könnte selbst Gott das Endergebnis nicht mit Sicherheit kennen. Gott kann nicht wissen, was nicht gewußt werden kann. Dies ist keine Einschränkung Gottes. Ganz im Gegenteil. Es offenbart uns einen Gott, der ein Universum erschaffen hat, dem eine gewisse Dynamik innewohnt und das somit am Schöpfungsakt Gottes teilnimmt. Sofern sie die Ergebnisse der modernen Wissenschaft respektieren, müssen Gläubige Abstand von der Vorstellung eines diktatorischen Gottes nehmen, eines Newtonschen Gottes, der das Universum als Uhrwerk erschaffen hat, das regelmäßig weitertickt. Theologen haben den Begriff von Gottes fortwährender Schöpfung geprägt. […] Ich glaube, es wäre eine sehr bereichernde Erfahrung für Theologen und Gläubige, die moderne Wissenschaft unter diesem Begriff der fortwährenden Schöpfung näher zu erkunden. Gott arbeitet mit dem Universum.«63

Wie allmächtig und allwissend ist Gott, wenn seiner Schöpfung eine unvorhersehbare Dynamik innewohnt? Ist Gott selbst im Werden, solange seine Schöpfung nicht fertig ist, sondern noch in Geburtswehen liegt (Röm 8,22)? Hat es etwas zu bedeuten, wenn Milliarden von Jahren vergingen, ohne dass sich im Kosmos Leben regte? Was bedeutet die biblische, einige hundert Jahre umspannende Offenbarungsgeschichte angesichts des kosmischen Zeitalters von ca. 14 Milliarden Jahren? »Warum kam Gottes Sohn als Homo sapiens erst vor 2000 Jahren in die Welt, wo es da doch schon mindestens 100 000 Jahre lang den Homo sapiens sapiens gab, ausgestattet mit komplexem Gehirn und modern-kognitiver Erkenntnisfähigkeit, in der sich der weise Mensch sogar schon Offenbarungen auslegte?«64 Kann man angesichts solcher unvorstellbarer evolutiver Zeiträume noch davon ausgehen, dass Gott »mit starker Hand und ausgestrecktem Arm« (Dtn 5,15) direkt in die menschliche Lebensgeschichte eingreift? Ist es naiv zu glauben, dass das ganz Leben unter der fürsorglichen Hand Gottes steht, dass er sich um jeden einzelnen kümmert und er dem, der inständig bittet, auch tatsächlich gibt (Lk 11,9)? Verbirgt sich hinter dem evolutiven Prozess der Wirklichkeit überhaupt ein sinnvoller Plan?

Statt solche Fragen und die daraus entstehenden inneren Konflikte der Gläubigen bewusst aufzugreifen und um eine zeitgemäße Verhältnisbestimmung von Welt und Gott zu ringen, wird oft noch viel zu häufig und teils unüberlegt die biblische Weltanschauung übernommen und somit ein voraufgeklärtes, mythisches Weltbild rezipiert. »In unseren Gottesdiensten preisen wir Gottes Zuwendung in Leben, Gebet und Sakramenten in der Sprache und Denkweise der biblischen Wunderberichte und Psalmen – und werden so mit ihrem undifferenzierten Allwirksamkeitsglauben konfrontiert.«65 Auf sehr anthropomorphe Weise wird dann vom Wirken Gottes in der Welt gesprochen, von seiner Vorsehung und fürsorglichen Planung. Offensichtliche Spannungen, die aus den Alltagserfahrungen der Menschen resultieren, werden durch paraphrasierende Formulierungen wegzuspiritualisieren versucht, etwa durch den Hinweis, dass Gottes Wirken für uns eben uneinsichtig sei oder aber quer zu allen innerweltlichen Abläufen stünde.66 Doch solche verzweifelten, gebetsmühlenartig vorgetragenen Ausflüchte, die die Härten des Lebens nicht zur Kenntnis nehmen wollen, wie auch manche eingeschliffenen Floskeln von Gottes Allmacht und Vorsehung, holen aufgrund ihrer naturwissenschaftlichen Unbekümmertheit die westlich-moderne Erfahrungswelt nicht ein und lassen den Glaubenden letzten Endes hilflos zurück. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, den Atheismus durch eine »missverständliche Darstellung der Lehre« selbst zu forcieren, wie die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils selbstkritisch einräumten (GS 19).

Enttäuschte Glaubenserwartungen hinsichtlich der Geschichtsmächtigkeit Gottes und ausbleibende Glaubenserfahrungen führen dazu, dass Glaube und Alltag leicht als getrennte Parallelwelten erscheinen. Kann man in Liturgie und Gebet beim biblischen Gott Kraft und Halt suchen, die täglichen Herausforderungen aber allein mit Hilfe von Wissenschaft und Technik lösen wollen, weil Gott im geschlossenen kausalen Naturgeschehen nicht mehr vorzukommen scheint? Muss die fehlende Brücke zwischen beiden Welten, da, wo sie wahrgenommen und eingestanden wird, letzten Endes nicht zu einer gewissen Schizophrenie führen, vor der der französische Jesuit Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) zeitlebens gewarnt hat? Muss es nicht dort, wo sonntägliche Glaubenspraxis einerseits und atheistische Alltagsbewältigung andererseits nicht mehr zueinander finden, zwangsläufig zu einem von Fragen und Zweifeln bedrängten Glauben kommen, zu »einer religiös-wissenschaftlichen Bewusstseinsspaltung«67, die sich auf Dauer nur verhängnisvoll auswirken kann? »Auf die Dauer kann kein Mensch in sauber getrennten Welten und in vollständig voneinander isolierten Bewußtseinshorizonten leben. Was vom Physiker Faraday erzählt wird, er habe sein Labor immer sorgfältig hinter sich verschlossen, wenn er in seine Betkammer gegangen sei, und umgekehrt, ist keine Dauerlösung.«68

Freilich können naturwissenschaftliche und theologische Weltbetrachtung als komplementär aufgefasst werden, doch Komplementarität – lat. completum; dt. Ganz – bedeutet die Vereinbarkeit von nur scheinbaren Widersprüchen, d. h. das Zusammenkommen zweier gleichwertiger Gedanken zu einem Ganzen, welche je unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche betreffen, nicht einfach auseinander herleitbar sind und nie zugleich gedacht werden können. Auch wenn sich naturwissenschaftliche und theologische Aussagen komplementär zueinander verhalten, so dürfen sie dennoch in keinem kontradiktorischen Verhältnis zueinander stehen. Stattdessen müssen naturwissenschaftliche Rationalität und gläubiges Vertrauen in einen konstruktiven Dialog miteinander gebracht werden können und sich aufeinander beziehen lassen. Insofern Glaube und Vernunft Zugänge zu ein und derselben kohärenten Wirklichkeit bahnen und religiöse Aussagen durchaus Tatsachenbehauptung aufstellen, also einen kognitiven Gehalt beanspruchen, können sich Glauben und Denken nicht disparat zueinander verhalten, sondern nur kohärent. »Eine Schöpfungstheologie, die ihren Schöpfungsbegriff nicht in ein direktes und unmittelbares Verhältnis zur Natur stellt, macht ihren Anspruch unglaubwürdig und wird über den Kerngehalt der Macht dieser Schöpfung sprachlos.«69

Komplementarität besagt nicht, dass zwischen Naturwissenschaften und Theologie keinerlei Dialog möglich ist – ganz im Gegenteil. Weil sich beide Disziplinen aus unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektive der einen Wirklichkeit zuwenden, können »sowohl Naturwissenschaft wie Theologie mit wechselseitiger fachlicher Relevanz beitragen.«70 So spricht sich beispielsweise der Schweizer Theologe Hans Küng (* 1928) für »ein Komplementaritätsmodell kritisch-konstruktiver Interaktion von Naturwissenschaft und Religion« aus, »in dem die Eigensphären bewahrt, alle illegitimen Übergänge vermieden und alle Verabsolutierungen abgelehnt werden, in dem man jedoch in gegenseitiger Befragung und Bereicherung der Wirklichkeit als ganzer in allen ihren Dimensionen gerecht zu werden versucht.«71 Gerade im Blick auf die Relevanz und Plausibilität theologischer Aussagen kann die Theologie auf einen solchen Dialog mit den Naturwissenschaften nicht verzichten. Schon Albert Einstein (1879–9955) bemerkte treffend: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.«72 Um des Glaubens willen dürfe die Theologie nicht von den Erkenntnissen anderer Wissenschaften absehen: »Je weiter die geistige Entwicklung des Menschen vorschreitet, in desto höherem Grade scheint es mir zuzutreffen, dass der Weg zu wahrer Religiosität nicht über Daseinsfurcht, Todesfurcht und blinden Glauben, sondern über das Streben nach vernünftiger Erkenntnis führt. In diesem Sinne glaube ich, dass aus dem Priester ein Lehrer werden muss, wenn er seiner hohen erzieherischen Aufgabe gerecht werden will.«73

Glaubensaussagen, deren Plausibilität durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse in Frage gestellt wird, kann eigentlich nicht verantwortlich zugestimmt werden. Ganz abgesehen davon, dass sie für den durch die Naturwissenschaften geprägten Erfahrungsbereich des Menschen gezwungenermaßen bedeutungslos werden: »[K]önnte das Bekenntnis zur Schöpfung der Welt durch Gott gar nicht auf die Welt unserer Erfahrungen bezogen werden, und im Medium unseres Erfahrungswissen von der Welt ausgedrückt werden, dann würde das Bekenntnis zur Schöpfung der Welt zu einer Leerformel, die keinen Realitätsgehalt hätte.«74

Während heute das Dialogmodell in der Theologie weithin vertreten wird, wurde in der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts das Trennungsmodell propagiert. Renommierte katholische wie evangelische Theologen traten für eine scharfe Trennung von Naturwissenschaft und Theologie ein, wie etwa der protestantische Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–8834): »Wenn die Reformation […] nicht das Ziel hat, einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung, so daß jener nicht diese hindert und diese nicht jenen ausschließt: so leistet sie den Bedürfnissen unserer Zeit nicht Genüge, und wir bedürfen noch einer anderen, wie und aus was für Kämpfen sie sich auch gestalten möge.«75 Nach Karl Rahner können »Theologie und Naturwissenschaft […] grundsätzlich nicht in einen Widerspruch untereinander geraten, weil beide sich von vornherein in ihrem Gegenstandsbereich und ihrer Methode unterscheiden.«76 Ähnlich stellte der evangelisch-reformierte, schweizerische Theologe Karl Barth (1886–6968), der von einem streng theologischen Gesichtpunkt aus seine Schöpfungslehre entwarf, fest: »Die Naturwissenschaft hat freien Raum jenseits dessen, was die Theologie als das Werk des Schöpfers zu beschreiben hat. Und die Theologie darf und muss sich da frei bewegen, wo eine Naturwissenschaft, die nur das und nicht heimlich eine heidnische Gnosis und Religionslehre ist, ihre gegebene Grenze hat.«77 Auch für den evangelischen Theologen Rudolf Bultmann (1884–4976) war ein Widerspruch zwischen christlichem Glauben und wissenschaftlicher Erkenntnis undenkbar: »Vom Christentum aus gibt es keinen Protest gegen die profane Wissenschaft, weil das eschatologische Verständnis der Welt keine Methode der Welterklärung ist, und weil die Entweltlichung nicht in einer Weltdeutung, sondern nur im Entschluß des Augenblicks durchgeführt werden kann.«78 Die weit verbreitete Auffassung von der strikten Trennung von Theologie und Naturwissenschaft soll schließlich durch einen weiteren einflussreichen evangelischen Theologen belegt werden: Paul Tillich (1886–6965). »Das Problem der Zukunft der Religion ist nicht mehr das Verhältnis von Religion und Wissenschaft. Auch in dieser Hinsicht ist mit dem Beginn des Jahrhunderts eine Epoche zu Ende gegangen. Die Autonomie der historisch-kritischen Forschung, der Naturwissenschaft und der Psychologie wird heute von der herrschenden protestantischen Theologie unbeschränkt anerkannt. Ebenso hat die Wissenschaft gelernt, ihre vorwissenschaftlichen Voraussetzungen und ihre philosophischen Grundlagen von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu unterscheiden. Beide Seiten haben erkannt, dass die Symbole, in denen die Religion Wahrheit ausdrückt, auf einer anderen Ebene liegen als wissenschaftliche Feststellungen über das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von natürlichen Objekten. Die Religion der Zukunft wird frei sein von dem sinnlos gewordenen Konflikt zwischen Glauben und Wissen.«79

Werden die unterschiedlichen Voraussetzungen von Theologie und Naturwissenschaften betont und ihre Ansiedelung auf verschiedenen Ebenen der Realität unterstrichen, so wird dadurch zwar jeder Konflikt schon im Vorfeld verunmöglicht – sie können »sich nicht grundsätzlich gegenseitig bedrohen oder verneinen«80 –, allerdings um den Preis, dass die methodische Begrenzung jedes Gespräch unterbindet und infolgedessen den theologischen Aussagen keine empirische Relevanz mehr zukommt. Eine Beziehungs- und Sprachlosigkeit sowie gegenseitige Irrelevanz, einschließlich eines unüberwindlichen Dualismus zwischen subjektiver Glaubenswahrheit und objektiver Wissenschaftswahrheit, zwischen Leib und Seele, zwischen Materie und Geist ist unabdingbar. Eine solche Trennung und Indifferenz ist aus theologischer Sicht aber inakzeptabel. »Eine Theologie, die Gott und Welt radikal auseinander hält, […] braucht […] die Sinnleere einer gottlos gewordenen Welt nicht zu beklagen, da sie dieser Entwicklung durch die Rücknahme des Gottesgedankens in eine weltlose Unerreichbarkeit selbst Vorschub leistet. Wenn Gott in ihrem Zentrum mit der Welt nichts mehr zu tun hat und allenfalls noch an den Randzonen des Lebens anzutreffen ist, kann es kaum verwundern, wenn auch die säkular gewordene Welt Gott aus ihrer Mitte verbannt. Ein so abstrakter und weltloser Gottesglaube ist jedoch nicht mehr der Glaube der Bibel, die den lebendigen Gott als einen Gott der Menschen und der Geschichte (vgl. Dtn 26,5–9 und Ex 3,14) bezeugt.«81 Wird der Weltbezug und mithin die Naturwissenschaft für die Theologie als irrelevant erachtet, wird letztlich die Bedeutungsleere der theologischen Rede billigend in Kauf genommen.

Lassen sich Geist und Welt, Subjekt und Objekt, existentielle Fragen und wissenschaftliche Einsichten so einfach auseinander dividieren? »[E]ine Spaltung von Existenz und Natur, so etwa, daß die Existenz das Feld des christlichen Glaubens, die Natur das Feld der exakten Wissenschaft wäre, [weist] sowohl dem Glauben wie der Wissenschaft ein zu enges, ein eigentlich so gar nicht vorhandenes Feld« zu.82 Statt einer naturwissenschaftlichen Immunisierung der Theologie ist darum ein Dialog zwischen theologischem und naturwissenschaftlichem Denken angezeigt, der um die Grenzen der jeweiligen Disziplinen weiß und auf sie achtet. Schließlich geht es der Theologie ja weder um ein weltloses Heil noch um eine heillose Welt. »Wenn Gott und das Heil nicht im Hinblick auf das hier zerrissene und offene Ganze ausgelegt werden können, dann können sie überhaupt nicht ausgelegt werden.«83

Methodische Grenzen und Grenzüberschreitungen

Grundlegend für das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis ist die Ablösung des Wesensbegriffs durch den Funktionsbegriff, also die Hinwendung zu den Wirkursachen. Die Ausrichtung auf das quantitativ Messbare und in gesetzlichen Zusammenhängen Beschreibbare, unter Zurückstellung der Wesensbestimmung der Dinge, ermöglichte den rasanten Fortschritt der Naturwissenschaften. »Naturwissenschaftler sind kausale Funktionalisten. Sie definieren die Gegenstände ihrer Forschung durch ihre kausale Einbettung in der Welt.«84 Während die Naturwissenschaft aus der Beschäftigung der Vernunft mit bestimmten Gegenständen und Sachverhalten dieser Welt erwächst, geht es in der Theologie um eine hermeneutische Einstellung zur Wirklichkeit. »Die Denkweise der Naturwissenschaft […] ist empirisch, mathematisch, kausalanalytisch, praktisch, fantasievoll, aber historisch entwurzelt und zeitlich fragmentiert«85, die der Theologie dagegen »elementar, sprachlich, hermeneutisch, existentiell, zugleich traditionsgebunden und auf Hoffnung ausgerichtet und deshalb zeitlich integriert.«86 Naturwissenschaften beziehen sich also auf die quantifizierbare und messbare Wirklichkeitsstruktur und erforschen Einzelphänomene, während sich die Theologie dem Ganzen der Weltwirklichkeit zuwendet und die Frage nach dem Sinn des Daseins und den Werten stellt. Bei deren theistischer Deutung setzt die Theologie die Selbstoffenbarung Gottes voraus, welche ihre Blickrichtung durch und durch bestimmt. Anstatt Naturkausalitäten zu erforschen, geht es ihr um Sinnaussagen über Welt, Mensch und Geschichte. Während die Naturwissenschaft auf das »›horizontale‹ Woher« und das »raum-zeitliche Nacheinander der Geschöpfe eingeht«, fragt die Theologie nach dem »›vertikalen‹ Warum und Wozu der Wirklichkeit«.87

Theologie und Naturwissenschaften unterscheiden sich in ihrer je unterschiedlichen Zuwendung zur Wirklichkeit: Dem glaubenden Zugang zur Wirklichkeit kommt es nicht auf deren objektive Beschreibung an als vielmehr um das subjektive Einbezogensein und Betroffensein. Naturwissenschaftliches Erkennen ist also nur eine mögliche Perspektive auf die Welt, weshalb von einer grundsätzlichen Komplementarität naturwissenschaftlicher und theologischer Einstellungen auszugehen ist, geradeso wie sich Objektives bzw. Quantitatives einerseits und Qualitatives bzw. Sinnhaftes andererseits nicht gegenseitig ausschließen, sondern komplementieren. Eindrücklich formulierte schon der lateinische Kirchenvater Augustinus von Hippo (354–430) in der Auseinandersetzung mit dem Manichäer Felix: »Im Evangelium liest man nicht, der Herr habe gesagt: Ich sende euch den heiligen Geist, damit er euch über den Lauf der Sonne und des Mondes belehre. Christen wollte er machen, nicht Mathematiker.«88