Wie ich die Dialyse fünf Jahre hinauszögerte! - Dieter Reinecker - E-Book

Wie ich die Dialyse fünf Jahre hinauszögerte! E-Book

Dieter Reinecker

3,0

Beschreibung

Mit 57 Jahren erhielt der Autor die Diagnose: Chronische Niereninsuffizienz im Endstadium. Er musste sich entscheiden: Nierentransplantation oder Dialyse. Der Autor entschied sich gegen beides. Er forschte nach den Ursachen und den Zusammenhängen zwischen der Krankheit und seinem Leben. Welchen Weg er ging und wie er ihn ging, das beschreibt er nicht trocken, wissenschaftlich und nüchtern, sondern lebendig, humorvoll, aufregend und spannend wie ein Roman, so dass jeder verstehen kann, was es bedeutet, sich selber aus der tiefsten Krise seines Lebens herauszuarbeiten, dass es sich lohnt zu kämpfen, dass man Gewohnheiten ändern kann, dass man sein Leben ändern kann und wie wichtig es ist, die richtige Frau an seiner Seite zu haben. Ganz nebenbei erfährt der Leser nicht nur grundlegendes Wissen über Nieren und Ernährung, sondern auch einen einzigartigen Blick auf das Leben an sich.

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Dieses Buch widme ich meiner Frau Beate, die mich in jeder Situation selbstlos und uneingeschränkt unterstützt hat.

Wie ich die Dialyse fünf Jahre hinauszögerte!

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Zum Schluss

Wie ich die Dialyse fünf Jahre hinauszögerte!

von

Dieter Reinecker

Einleitung

Meine „Geschichte“ ist wahr und ist so geschehen, wie ich sie hier aufgeschrieben habe.

Als nachweisbare Belege habe ich die Kreatininwerte der ersten Diagnose, dann die Werte nach vier Wochen und nach zwölf Monaten im Anhang ausgewiesen. Es waren zudem zwei verschiedene Laboratorien, einerseits beauftragt durch den Hausarzt und andererseits durch zwei Dialysezentren. Die Ärzte sind dem Verlag bekannt. Ihre Namen in meiner Erzählung habe ich aber frei erfunden.

In diesem Buch geht es um das erste Jahr nach der Diagnose. Ich habe es im zweiten Jahr nach der Diagnose geschrieben. Nachdem ich mein Leben umgekrempelt hatte, habe ich in dieser Form weitere vier Jahre so gelebt, um möglichst spät oder am liebsten gar nicht an die Dialyse zu müssen.

Aus meinem Gesundheitsverlauf kann man natürlich nicht auf andere Krankheitsverläufe schließen. Ich bin diesen Weg alleine und in eigener Verantwortung gegangen.

Es mag in vielen Augen vielleicht ein radikaler und riskanter Weg gewesen sein. Aber es war mein Weg und ich bin froh, ihn so gegangen zu sein.

Ich will bewusst keine medizinischen Ratschläge geben oder Therapien vorschlagen und erst recht nicht, von Arztbesuchen abraten.

Mein Ziel war es, nur aufzuzeigen, welchen Weg ich gegangen bin, und dass es sich lohnt, darüber nachzudenken.

Kapitel 1

Haben Sie einen bequemen Sessel? Wenn nicht, geht auch ein Sofa, zur Not ein Bett, am wenigsten ist ein Stuhl geeignet. Bequem soll der Sitz sein. Und dann brauchen Sie Ruhe, viel Ruhe. Ich sitze in der Küche, auf einem Stuhl, weil ich nicht lese, sondern schreibe. Vor mir ein alter, aber brauchbarer Laptop. Das Radio schweigt. Meine Frau ist im Wohnzimmer, sie wollte noch ein paar Sachen bügeln und der Fernseher läuft dabei, aber so leise, dass ich nichts höre. Unsere Kinder sind längst ausgezogen. Genau genommen, sind es ihre Kinder. Ich habe meine Frau mit zwei kleinen Kindern geheiratet. Der ältere war im zweiten, die jüngere im ersten Schuljahr. Ich hatte sie von Anfang an ins Herz geschlossen.

Ich habe Ruhe. Ich gehöre auch nicht der Generation an, die mit Ohrstöpseln durch die Straßen schlürft und immer Gefahr läuft, überfahren zu werden. Ich bin fast achtundfünfzig Jahre alt und es ist mein erstes Buch, zumindest soll es eines werden. Und wenn Sie dies lesen, ist es auch eins geworden.

Aber warum empfehle ich Ihnen, es sich bequem zu machen und für Ruhe zu sorgen. Ruhe war es, die mir half, wieder gesünder zu werden.

Es ist keine fünf Monate her. Es war der 7. September 2010. Da saß ich auch zuhause und saß da und saß da und saß da.

„Ich will es ihr direkt sagen, so wie sie es von mir gewohnt ist, direkt heraus, ohne Umschweife. Wie fange ich an. Sie kennt mich zu genau.“

Sie fragt allein schon durch ihre Blicke.

Drei Tage zuvor war ich beim Hausarzt gewesen und auch an diesem Tag war ich bei ihm, die Laborwerte abzuholen. Meine Frau hatte mich gebeten, eine Lebensversicherung abzuschließen. Wir haben es nicht so „dicke“ und wenn mir mal was passieren sollte, wollte sie abgesichert sein, verständlicherweise.

Aber in meinem Alter muss man zum Arzt. Ich war doch immer gesund, hatte eigentlich keine Beschwerden. Oder doch? Doch, im Herbst vorigen Jahres, auf Mallorca. Das hatte ich völlig verdrängt, da hatte ich Bauchschmerzen, sogar ziemlich heftig. Das zog so am Magen bis über den Brustkorb, manchmal sogar in den Rücken. Ich stoppte beim Spaziergang und beugte mich nach vorne hinüber. Das dauerte einige Sekunden. Dann ging es wieder.

Und als wir in Palma spazieren gingen, am Hafen, an den vielen Booten von "Sozialhilfeempfängern" vorbei, kehrten wir in ein Hafencafé ein und ich bestellte erst einmal eine Canya, ein Bier, und dann noch eins, bis der Schmerz nachließ. Stress. Berufsstress bis in den Urlaub. Das war damals meine Diagnose. Alkohol tut gut. Und für abends, ich koche ja so unheimlich gern, musste ich ja noch Wein einkaufen. Daran dachte ich schon morgens, dass ich ihn im Laufe des Tages nicht vergesse. Ja so war das und so zum Ende der vierzehn Tage habe ich auch nicht mehr diese Schmerzen gehabt. Es musste also der Stress gewesen sein. Vierzehn Tage sind ja auch zu kurz.

Ich saß also da, im Wohnzimmer, kein Fernseher war an, das Radio still, und ich dachte. Eigentlich musste ich noch einige Kundenbriefe schreiben, Berechnungen von Baukosten, Emails beantworten. Der Anrufbeantworter – hatte ich ihn überhaupt angestellt? Ich wusste es nicht mehr. Mein Handy war auch noch aus. Beim Arzt hatte ich es ausgestellt.

Ich war für keinen Menschen erreichbar. Ich hatte Ruhe. Es war still um mich, sehr still, fast unerträglich still. Noch gestern hätte ich eine Flasche Wein geköpft, im Kühlschrank mit gewohnter Sicherheit etwas gefunden und mir Kulinarisches gezaubert.

In der Küche bin ich nämlich sehr kreativ. Mein Kartoffelsalat soll sogar süchtig machen. Ich habe damals genau aufgepasst, wie meine Oma ihn zubereitet hatte. Diese Oma war die Mutter meines Vaters, aus Oberschlesien. Sie hatte sogar die Mayonnaise selbst geschlagen, mit Eigelb und Olivenöl. Aber jetzt sitze ich in der Stille und denke. Komischerweise habe ich sogar Appetit, aber ich kann mich nicht bewegen, habe keine Motivation, in die Küche zu gehen. Ich werde ihr einfach sagen, dass alles nicht so schlimm ist, und nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Ich spürte meine Tränen. Ich fing an zu weinen. Sofort wischte ich mir die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht. Diese Blöße wollte ich meiner Frau gegenüber nicht geben. Aber sie wird es sowieso merken. Wusste sie eigentlich, was Kreatininwerte sind? So ganz genau wusste ich es selber nicht, damals. Aber ich hatte schon mal damit zu tun.

Es war vor circa anderthalb Jahren. Da war ich noch bei meinem alten Hausarzt. Von ihm soll ich ja auch meine alte Akte noch abholen. Der neue Hausarzt wollte nachschauen, ob nicht früher schon mal etwas war, mit meinen Werten. Die Ursache war ja noch völlig unklar. Und ich, ich hatte von nichts einen Plan, keinen blassen Schimmer. Das macht zusätzlich Angst.

Vor anderthalb Jahren, also mittlerweile vor zwei Jahren, hatte mich mein ehemaliger Hausarzt zu einem Spezialisten geschickt, zu einem guten Bekannten von ihm, einem Nephrologen. Diese Fachrichtung hörte ich damals zum ersten Mal. Es handelt sich um einen Nierenarzt. Ich weiß noch genau, wie ich vor meinem alten Hausarzt saß, vor dem großen schwarzen Schreibtisch, er dahinter, ganz in weiß, sogar seine Haare waren weiß und sein Lehnsessel erschien sehr bequem und hörte auf zu wippen, als er mir direkt in die Augen sah und mit leiser Stimme sagte:

„Sie sind Ihrem Alter entsprechend eigentlich gesund, nur ein Wert macht mir Sorgen…“

Stille.

„Das Beste ist, ich schicke Sie mal zu einem Spezialisten. Ich habe da einen guten Bekannten…“

Den Rest habe ich gar nicht mehr gehört. Auch die Sprechstundenhilfe hatte plötzlich so große Augen und war ganz ernst, irgendwie geheimnisvoll. Sie drückte mir einen Zettel in die Hand, kein Rezept, nur einen Namen mit Anschrift. Der lange Flur der Praxis zog sich unendlich. Ich verließ die Arztpraxis wie benommen. Meine Selbstsicherheit war weg. Die Knie, die Beine, irgendwie alles Gummi. Ich schritt durch den Flur, die Treppen hinunter, mir kamen Leute entgegen, ich nahm sie gar nicht wahr. Automatisch wie ein Roboter fuhr ich Auto, ich merkte nicht, dass die Ampel von rot auf grün umschaltete und ich losfuhr. Damals musste ich vom Arzt direkt ins Büro. Ich hörte meinen AB ab. Meine beruflichen Probleme hatten mich wieder und der Zettel mit dem Namen des Spezialisten war in meinem Portemonnaie gut versteckt. Vom Büro aus rief ich ihn an. Mit seiner Arzthelferin verabredete ich einen Termin.

Wenige Tage später bin ich dann hingefahren. Gut eine halbe Stunde von zuhause in einem kleinen Ort auf dem Lande. Eine unscheinbare Praxis, ein paar ältere Damen im Warteraum. Wie selbstverständlich ging ich gleich durch bis zur Rezeption und wurde auch nach Aufnahme meiner Daten weitergeschickt, als ich ihr sagte, ich sei Privatpatient. Eine Ärztin oder Arthelferin drückte mir eine große Plastikflasche in Hand.

„Von heute Abend 18, 19 Uhr bis nächsten Morgen sammeln Sie bitte Ihren Urin. Den ersten Strahl aber in die Toilette."

Dass man sich dabei komisch vorkommt, ist nachvollziehbar, so direkt und irgendwie unangenehm. Aber die Anweisung war klar und unmissverständlich. Ich war es halt nicht gewohnt und mir war es ein wenig peinlich, vielleicht bin ich in dieser Hinsicht auch verklemmt? Jedenfalls wollte ich keine Emotionen zeigen, nahm die Flasche und verabschiedete mich auf morgen. Die große Zwei - Literfalsche verstaute ich in meinen Aktenkoffer und fuhr nach Hause. In der Wohnung angekommen, ging ich mit der Aktentasche direkt ins Badezimmer und verstaute, man kann wohl eher behaupten, versteckte ich die Flasche im weißen Schränkchen unter dem Waschbecken.

Ein Tag später. Den Anforderungen genügend fuhr ich mit der fast gefüllten Flasche wieder zur ländlichen Arztpraxis. Während des Fahrens hörte ich keine Musik. Ich wollte mir dieses Gedudel und blöde Gelaber nicht antun, und immer wieder diese Werbung. Auf diese dümmliche Werbung im Radio falle ich sowieso nicht `rein. Außerdem stelle ich das Radio auf leise, wenn die Werbung angesagt wird oder wechsle den Sender. In meinem Alter hört man lieber WDR oder NDR 2, die privaten hängen mir zum Halse heraus: Oberflächlich, Allgemeinplätze, kindisch und Kitsch über alle Maßen. Das war noch nie mein Ding. Die Flasche gelangte im Schutze einer blickdichten, jeglichen Inhalt vermeidenden Aldi-Tüte in die Hände der Arzthelferin. In einer Woche seien die Laborwerte da. Nach einer Woche rief ich an und erhielt auch einen Termin beim Arzt höchstpersönlich. Und dann stand ich vor ihm. Er, ein richtiger Westfale, vor dem die Römer schon beim Anblick aus dem Teutoburger Wald geflüchtet wären, und ich mit meinen 176cm zu ihm hochschauend, gaben sicherlich ein komisches Bild ab und als er dann seine Pranken auf meine Schultern legte und schnaufte:

„Sie sehen doch ganz gesund aus. Tut Ihnen was weh?"

Ich schüttelte nur zaghaft den Kopf und konnte an gar nichts denken. Was er dann noch gesagt hat, habe ich vergessen. Zwei Wochen später erhielt ich eine Rechnung über 186 Euro. Die Laborwerte hatte ich gleich mitbekommen und boten für mich auch keine Neuigkeiten. Irgendwie sind sie dann im Schreibtisch vergilbt. Ich habe den Zettel auch nicht wieder gefunden. Die Verdrängung hatte voll zugeschlagen. Meinen ehemaligen Hausarzt habe nicht mehr aufgesucht. Wie hieß noch mal dieser Nierenwert? Das Wort hatte ich bereits wieder vergessen. Und nun sitze ich hier. Soll ich mir Vorwürfe machen? Wer ist denn schuld daran, dass ich fast zwei Jahre an alles dachte, nur nicht an meine Laborwerte. Das Türschloss knackte, Schritte auf dem Flur.

„Ich bin hier“, rief ich.

Kapitel 2

Fast 10 Jahre später…

Als sie das Wohnzimmer betrat, stand ich auf, schaute in ihre grün-blauen Augen. In diesen Augen erblickte ich gleichzeitig die Augen des Arztes, sein Gesicht in Umrissen und seinen düsteren Gesichtsausdruck als Ganzes und alles gleichzeitig. Ich wandte mich irritiert ab und steuerte auf den Flur in Richtung Badezimmer.

„Bin gleich wieder da“, rief ich und schloss hinter mir ab. Mein Gesicht hatte rote Flecken und die Augen waren trüb, feucht. Ich setzte meine Lesebrille auf und glaubte, etwas Gelbes zu erkennen. Mit kaltem Wasser befeuchtete ich mein Gesicht, trocknete es ab und schritt langsam durch den engen, mit Schränken vollgestellten, dunklen Flur zur Küche. Dort saß sie an ihrem gewohnten Platz am großen Holztisch.

„Meine Nieren sind nicht in Ordnung.“

„Sehr schlimm?“

„Ja.“

„Entgiften die Nieren nicht mehr richtig?“

„Irgendwie. Aber die Werte sind so schlecht, dass mich Dr. von Rothenburg zum Dialysezentrum überwiesen hat.“

„Da gehst du aber auch ganz sicher hin. Versprochen?“

„Natürlich.“

„Da darf man nicht mit spaßen.“

„Ich weiß. Ich geh da auch hin.“

„Hat der Arzt was gesagt, was die Ursache ist?“

„Er kann sich das auch nicht erklären. Der hat ja alles untersucht. Erst die Laborwerte zeigten an, dass die Nieren nicht in Ordnung sind und auch mein Blutdruck ist wohl zu hoch, Cholesterin ist auch dramatisch.“

Meine Stimme wurde schwach und zittrig. Ich senkte den Kopf, fühlte mich wie erschlagen. Sie stand auf, legte behutsam eine Hand auf meinen Kopf und sagte:

„Das schaffen wir schon. Geh erst mal dort hin und dann sehen wir weiter.“

„Er hat mir auch Tabletten mitgegeben, unter anderem wegen des Bluthochdrucks und eine Sache wegen des Cholesterins. Ich habe ihm auch von meinem beruflichen Stress erzählt.“

Meine Stimme versagte. Alle Probleme mit den Kunden, den Ämtern und offenen Rechnungen, die letzten Jahrzehnte quetschten meinen Kopf wie in einem Schraubstock zusammen. Ich hätte am liebsten losgeheult. Stress, Stress und immer wieder Stress.

Abends, nach der Tagesschau, wir saßen nebeneinander, sie auf der Schlafcouch, ich im Korbsessel, die Beine ausgestreckt auf einem anderen Korbstuhl ein wenig seitlich von mir. Der Ton wurde leiser. Bevor der Ton ganz weg war, hörte ich ihre Stimme:

„Gut, dass du jetzt nichts trinkst, du hast immer zu viel getrunken, und in letzter Zeit wurde es immer mehr. Ich habe dich häufig genug gewarnt. Du weißt, das rächt sich irgendwann. Du kennst doch die Krankheitsfälle im Bekanntenkreis unserer Eltern. Viele sind…“

Das alles hatte ich nicht nur zur Genüge gehört, ich kannte mittlerweile jeden einzelnen mit seiner Krankheit, ob und wie er oder sie noch lebte, wer welchen Tumor hatte, nur noch einen halben Darm usw. Aber wenn man selber nie krank war, dann haben es eben die Anderen übertrieben. Ich fühlte mich nicht als Alkoholiker. Im letzten Frühjahr habe ich vier Wochen kein Bier oder Wein getrunken. Ich war überzeugt, dass vermag kein Alkoholiker und wenn ich eins habe, dann ist es Selbstdisziplin.

Ich weiß noch genau, wie ich aufgehört habe zu rauchen. Ich hatte mich in Beate verliebt. Eine „alleinverziehende“ Mutter mit zwei Kindern, sechs und sieben Jahre alt. Nach wenigen Wochen waren es meine Kinder und die Mutter war die Frau meiner Träume. Damals habe ich noch geraucht. Aber wenn ich in diese Familie einsteige, muss ich Vorbild sein. Als studierter Pädagoge weiß ich, dass Erziehung zwecklos ist, da die Kinder sowieso alles nachmachen.

Nach einem Aushilfsvertrag als Lehrer wurde ich nicht weiterbeschäftigt und ging nach einigen anderen beruflichen Fehlversuchen zu einer Bausparkasse. Ich war damals einundvierzig und mittlerweile Bausparvertreter. Ein älterer Kollege, zu dem ich einen sehr freundschaftlichen Kontakt pflegte, war Rohköstler. Der erste, den ich kennen gelernt hatte. Alle mochten ihn, auch wenn er immer nach Knoblauch stank. Er hatte mir damals geraten, mit Heilfasten anzufangen und dann mit den Körnern, Wurzeln und rohem Gemüse eine neue Ernährung zu starten. Außerdem würde ich dann automatisch aufhören zu rauchen. Das mit der Rohkost habe ich bewundert, kam aber für mich nicht in Frage, hat buchstäblich bei mir nicht gefruchtet. Aber die Sache mit dem Heilfasten und Nichtmehrrauchen, das hatte ich noch behalten. Ich weiß es noch genau.

Freitagabend rauchte ich meine letzte Zigarette, trank eine Flasche Bier und ging mit meinem damaligen Rauhaardackel Dicki spazieren, diesen Abend ohne Abstecher ins Lenzig oder Wolters, wo man mich kannte und als Gesprächspartner schätzte. Nein, ich hatte mir fest vorgenommen, nun sechsunddreißig Stunden zu fasten und nur Mineralwasser zu trinken – ohne Kohlensäure versteht sich.

Fast nüchtern lag ich im Bett, auf dem Rücken. Kopfschmerzen. Nein. Ich hasste Kopfschmerzen. Die gingen bei mir immer durch die Stirn von innen in die Augen. Kopfschmerzen bekam ich immer, wenn ich zu viel getrunken hatte. Kopfschmerzen, wie ich sie hasste. Mein Magen fing an zu grummeln. Ich begann, mich aufmerksam zu beobachten. Ich hatte das Gefühl, dass der Hunger ein wenig nachließ und der Magen sich zusammenzog. Ich konzentrierte mich auf meinen Magen.

Ich lag auf dem Rücken, starrte zur Decke und hörte meinem Magen zu. Das war dann die Situation, in der die Kopfschmerzen Pause machten. Dann fühlte ich so etwas Ähnliches wie Schüttelfrost. Ich zog das Federbett bis zum Hals und versuchte, mich gedanklich abzulenken. Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein. Ich wachte spät auf. Es war schon nach zehn. Wie gewohnt, ging ich unter die Dusche. Das tat gut. Wenn ich dusche, erinnere ich mich unweigerlich an meine Zeit als Sportler. Damals zuhause, als ich noch ein Kind war, wurde immer nur samstags gebadet. Nach dem Sport aber, ich habe mit vierzehn Jahren angefangen, in der Schulmannschaft Volleyball zu spielen, durften wir duschen. Das tat immer unheimlich gut. Das habe ich regelrecht genossen.

Nach dem Duschen, kurz was drüber, ging`s in die Küche. Ich setzte mich an den kleinen Plastiktisch und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Ich hatte gar keinen Hunger. Die noch halb volle Zigarettenschachtel schaute mich an, ich schaute angewidert weg. Wenn ich jetzt eine rauche, dachte ich bei mir, hab` ich verloren. Ich ließ den Gedanken weiter laufen. Ich stellte mir vor, eine Zigarette zu rauchen. Ich wollte mein Gefühl auskundschaften. Ich nahm eine Zigarette, steckte sie zwischen die Lippen und ließ sie kalt. Ich zog dran und tat so, als wenn ich rauchen würde, nippte sogar die nicht vorhandene Asche ab und sah mir die Zigarette genau an. Dann schob ich sie wieder in die Schachtel – für einen möglichen Rückfall.

Ich blieb sitzen und schaute wieder aus dem Fenster. Es war Frühling, die Amseln trillerten und Dicki kam um den Türrahmen geschlichen, wölbte den Rücken wie eine Katze und schob die Hinterbeine weit nach hinten und gähnte. Kaffee, nein danke. Die erste Versuchung mit der Zigarette war überstanden, auf den Kaffee konnte ich leichter verzichten. Ich zog mich an und verließ mit dem Hund die Wohnung. Vor der Tür traf ich meine zukünftige schönere Hälfte. Sie wusste noch nichts von meiner Hungerkur. Sie hielt Abstand und wollte wohl etwas sagen, verkniff es, aber ich fragte sie:

„Ist was?“

„Hast du nicht geduscht, die Nacht durchgemacht?“

„Hm, ich? ganz im Gegenteil, ich mache Heilfasten.“ Da lag Stolz in meiner Stimme.

„Ach deswegen stinkst du so.“

Das war mir mehr als unangenehm.

„Du stinkst wie ein fauler Fisch“, setzte sie noch einen drauf.

„Ich muss die Kinder von der Schule abholen.“

„Ok, und ich mach `ne Rund mit dem Hund.“

Mittags ging ich nicht zu ihr und zu den Kindern. Ich musste erst einmal den Gestank wieder loswerden. Auch noch mal Duschen half nichts. Ich musste etwas essen. Aber ich hatte gar keine Lust, etwas zu essen. Ich erinnerte mich, dass man das Fasten am besten mit Obst „brechen“ sollte. Zuhause biss ich in einen Apfel und mir wurde fast übel. Mein Magen verkrampfte sich, ich hätte fast gekotzt. Mir wurde ein wenig schwindelig und ich legte mich aufs Bett.

Im Laufe des Tages habe ich dann wieder angefangen, etwas zu essen, Brot, Käse, Schinken, abends Spaghetti und einen kühlen Rosé. Am nächsten Tag habe ich nicht mehr so ausgedünstet und besuchte meine neue Flamme.

Kapitel 3

Das Schreiben strengt an. Monate später sitze ich wieder vor meinem alten Laptop und denke. Ich habe es mir auf der Couch in meinem eigenen Zimmer gemütlich gemacht. Mir gegenüber steht ein Aquarium, ein Meter fünfzig breit mit schwarzem Deckel und schwarzem Unterschrank. Milan, unser neuer Mischlingshund, halb Dackel, halb Jack Russel, liegt entspannt in voller Länge neben mir und bewacht die PC-Maus, die übrigens auf der Couch sogar funktioniert. Das Schreiben strengt an, weil ich mich erinnern will und gleichzeitig spüre, dass sich mein Gehirn dagegen wehrt.

Und so ging es weiter:

Drei Tage später, es war der 9. September 2010. Ich musste wieder zum Hausarzt, um die Laborwerte abzuholen, viele Laborwerte. Der Wert, der bestimmte Wert, der Kreatininwert lag bei 3,6, das Wort, das ich völlig verdrängt hatte, da war es wieder. Wie dramatisch dieser Wert war, war mir damals nicht annähernd klar. Ich hatte die alte Krankenakte vom Nachfolger meines ehemaligen Hausarztes abgeholt und hastig durchsucht. Da hatte es schwarz auf weiß gestanden, Kreatininwert 2,8. Mit diesem Wert hatte der damalige Hausarzt mich zu diesem Waldund Wiesenarzt geschickt, diesem Teutonen.

Danach war ich ja zehn Jahre nicht mehr beim Arzt, bis im Spätsommer 2010, wegen der Lebensversicherung. Dr. von Rothenburg, mein neuer Hausarzt hatte alles untersucht, sogar mit Ultraschall. Ich saß vor ihm, in seiner Praxis und zitterte am ganzen Körper. Er schickte mich zum Dialysezentrum, eben nicht nur zu irgendeinem Facharzt. Der Wert 3,6 war Allarmsignal genug, aber er hatte auch noch von anderen Werten gesprochen, unter anderem:

„Ihre Prostata ist auch ein wenig größer. Das ist aber nicht so dramatisch.“

Nicht dramatisch? Ich kann doch logisch denken. Dramatisch ist also der andere Wert. Danke Doktor, sehr einfühlsam, aber jetzt weiß ich wenigstens, woran ich bin. Ich bin ein Dialysepatient, schoss es mir durch den Kopf. Ich musste schlucken, meine Lippen waren zum Platzen trocken, ich zitterte innerlich, das Blut zog sich aus meinen Fingern zurück. Ich fühlte, wie sie immer kälter wurden.

„Hier“, sagte er, „ich schreibe Ihnen die Adresse auf.“