Wie ich mal rot wurde - Tobias Haberl - E-Book

Wie ich mal rot wurde E-Book

Tobias Haberl

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Beschreibung

Bürgersohn trifft dogmatische Linke. Ein Selbstversuch

Ein Linker ist Tobias Haberl wahrlich nicht. Er kommt aus einer konservativen Arztfamilie, hat studiert, geerbt, ein Opern-Abo und einen spannenden Job. Umso größer die Verwunderung von Familie und Freunden, als er beschließt, für ein Jahr Mitglied der Partei DIE LINKE zu werden. Er diskutiert, demonstriert, macht Wahlkampf und wird als Spion verdächtigt. Seine Expedition ins linke Milieu: ein manchmal schreckliches, oft witziges, immer lehrreiches Aufeinandertreffen von Klischees, gerechten Zielen und ideologischen Absurditäten.

Was zieht man an, wenn man in die Linkspartei eintritt? Kränkt man den Hartz-IV- Empfänger, wenn man bei der Mitgliederversammlung zwei Euro Trinkgeld gibt? Warum hat man Angst, auf einer Anti-Kriegs-Demo von der Nachbarin erkannt zu werden? Tobias Haberl – politisch unerfahren – stolpert ins Parteileben, tappt in Fettnäpfchen, fühlt sich mal mehr, mal weniger willkommen, aber meistens fehl am Platz. Klar trifft er Chaoten, Ewiggestrige und Wichtigtuer, aber auch gescheite, rührende, faszinierende Persönlichkeiten; Menschen, die ihren Luhmann auswendig kennen, aber kneifen, wenn der Info-Stand vor dem Aldi in Aubing besetzt werden muss; Menschen, die mehr wissen und erlebt haben als Dirk Niebel, Andrea Nahles und Volker Kauder zusammen. Frieden, Gerechtigkeit, Mindestlöhne – vielen Zielen der LINKEN stimmt Haberl zu. Umso trauriger macht es ihn, wenn er mit ansehen muss, wie sich Idealismus und Engagement in absurden Grabenkämpfen verflüchtigen. Nach einem Jahr ist Haberl immer noch kein Linker. Aber er hat viel dazugelernt: über Parteipolitik, über die soziale Realität in Deutschland – und über sich selbst. Sein kleiner Ortsverband Mitte-West wird die Welt nicht verändern, aber ihn, den Autor, hat er verändert. Wenigstens ein bisschen.

• von einem, der auszog, DIE LINKE kennenzulernen - und sich selbst: ein Erfahrungsbericht
• Gerechtigkeit, natürlich! Frieden, klar! Warum ist man mit so vielen Forderungen der LINKEN einverstanden? Und warum will man sie trotzdem nicht wählen? Haberl macht die Probe aufs Exempel
• Die Partei DIE LINKE hat schon längst das Parteispektrum nachhaltig verändert. In mehreren Landtagswahlen 2011 wird sich das erneut zeigen

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Seitenzahl: 304

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Die Namen der Genossinen und Genossen sind teilweise vom Autor geändert.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort1. »Ich werde beantragen, dich aus dem Saal werfen zu lassen« - Ein Jahr Klassenkampf findet ein klägliches Ende2. »Adolf Hitler hat auch gute Reden gehalten« - Warum ich in die LINKE eintrete, obwohl ich kein Linker bin3. »Wie kann eine einzige Frau 12 Milliarden Euro besitzen?« - Wie Oskar Lafontaine versucht, mich rumzukriegen4. »Willkommen im Club« - Erst trete ich ein, dann haue ich ab5. »Schau mal, der Dicke mit der Brille ist unser Bundeskanzler« - Wie ich Helmut Kohl die Hand schüttelte und nichts dabei empfand6. »Ich esse nur Französisch, Indisch und Ayurvedisch« - Eine Hippiefrau füttert mich mit Apfelscheiben und Rosinen7. »Sag mal, horchst du uns aus?« - Meine lieben Genossen aus dem Ortsverband Mitte-West8. »Kannst du mal die Fahne schwenken, Tobias?« - Ich demonstriere und schaue in den Lauf eines Maschinengewehrs9. »Was soll ich spenden? Ich hab doch selber nichts« - Trotz Fußkettchen erinnert mich Valerie an Jesus10. »Von Flügelkämpfen verstehe ich nichts, ich bin doch kein Vogel« - Warum Peter Sodann Kommissar hätte bleiben sollen11. »Gerecht, kompliziert, liebevoll und sensibel« - Das bezauberndste Mädchen der ganzen Partei12. »Wir gehen ans Telefon, wenn uns jemand anruft« - Mein Samstag ist futsch, aber Wahlkampf muss sein13. »Die kümmern sich um gar nichts mehr, die sind am Ende« - Kleine Hartz-IV-Kunde mit German14. »Eine junge Frau in leicht geöffneter Jacke« - Unser Programm für die Bundestagswahl klingt überzeugend15. »Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr« - Warum ich die LINKE trotzdem nicht wähle16. »Wollen Sie meine Funknummer?« - Eine halbe Nacht mit Sahra Wagenknecht17. »17000 Euro, ein alter Porsche und eine Berghütte ohne Strom« - Warum ich Klaus Ernst lustig und tragisch finde18. »Er ist anders, und es ist ihm wichtig, das herauszustellen« - Na toll – jetzt hassen sie mich19. »Deutschland in Schieflage – Deutschland brummt wieder« - Also was jetzt?DanksagungCopyright

Gewidmet den Guten, egal welcher Partei

Mit Extremisten muss man anders umgehen. Von denen nimmt man kein Stück Brot.

Günther Beckstein, CSU, über den Umgang der SPD mit der Linkspartei

The trouble with Socialism is that it takes too many evenings.

Oscar Wilde

Vorwort

Gibt es eigentlich noch echte Geheimnisse? Rätsel, für die es sich lohnt, allen journalistischen Ehrgeiz aufzuwenden? Ja, es gibt sie und man muss keine gefährlichen Expeditionen unternehmen, um ihnen auf die Spur zu kommen. Es reicht, mit offenen Augen durch die eigene Nachbarschaft zu gehen, ausgestattet mit Neugierde und Bescheidenheit. Journalismus mit dem Eingeständnis einer Wissenslücke und dem Wunsch, sie zu schließen. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es sich anhört.

Wenn wir bei Hart aber fair über Sozialpolitik neben Fachleuten auch eine Hartz-IV-Empfängerin in der Runde haben, werden wir manchmal belächelt: »Emotionales Beiwerk« heißt es dann oder »Betroffenen-Fernsehen«.

Das ist sehr einfach und arrogant ist es auch. Kann es nebensächlich sein, aus erster Hand zu erfahren, wie sich das Leben mit 364 Euro im Monat anfühlt? Ist es unwichtig, einer abstrakten sozialpolitischen Debatte Bodenhaftung zu geben?

Es ist gar nicht leicht, die Wirklichkeit zum Sprechen zu bringen. So viele Daten, Fakten, Nachrichten geben uns das Gefühl, bestens informiert zu sein. Alles schon gesehen, alles schon gehört. Lohnt sich die Mühe, alles, was man weiß oder zu wissen glaubt, beiseite zu lassen und selber noch einmal ganz genau hinzusehen?

Tobias Haberl hat sich diese Mühe gemacht. Er hat sich die Frage gestellt: Kann man das Innenleben einer Partei verstehen, wenn man sie sich immer nur von außen anschaut? Seine Antwort darauf ist ein journalistischer Selbstversuch: Ein Jahr in der Linkspartei.

Er taucht ein in das Parteileben an der Basis, fremdelt mit den Ansichten und Überzeugungen seiner Genossen und ist doch immer wieder beeindruckt von ihrem Engagement.

Wenn Journalismus gelingt, öffnet er Fenster, durch die man in andere Welten gucken kann – ganz ferne und fremde, aber auch die in der Nachbarschaft. Tobias Haberl lässt es dabei aber nicht bewenden. Es reicht ihm nicht, mit genauem Blick das Leben der anderen zu ergründen. Er beobachtet sich auch selbst. Dabei entdeckt er die Vorurteile, die wahrscheinlich jeder hat, der aus behütetem bürgerlichen Hause stammt und einen Ausflug in das Milieu der Linkspartei macht. Gewissheiten kommen ins Rutschen, festgefügte Bilder geraten in Bewegung.

Er spart nicht mit Ironie, aber genauso wenig mit Selbstironie. Und wenn er manchmal wirkt wie ein verwöhntes Bürgersöhnchen, das überrascht feststellt, dass es noch etwas Echteres gibt als handgemachte Lederschuhe, dann tut er das mit voller Absicht.

Tobias Haberl ist bei seinem Ausflug in die Linkspartei kein Linker geworden. Er hat sein Weltbild nicht geändert, aber er hat erfahren, wie prägend Weltbilder sind – das der anderen und das eigene. Es würde jedem Journalisten gut tun, genau daran zu denken, wenn er wieder einmal meint, schon alles zu wissen. In der Wirklichkeit, links und rechts der eigenen Scheuklappen, gibt es noch viele Geheimnisse zu lüften.

Frank Plasberg

1. »Ich werde beantragen, dich aus dem Saal werfen zu lassen«

Ein Jahr Klassenkampf findet ein klägliches Ende

Januar 2010, ein Samstag; das neue Jahr hat gerade erst begonnen, und schon habe ich Angst. Die Weltwirtschaft stürzt ab, Menschen holen ihre Ersparnisse von der Bank, alle reden von Systemrelevanz, obwohl es das Wort vor ein paar Wochen noch gar nicht gab. So genannte Experten sagen, es sei kein Ende in Sicht, weitere Banken werden kollabieren, vielleicht sogar Staaten; Millionen von Menschen werden ihre Arbeit verlieren, gut möglich, dass bald Autos brennen, dazu dieser verdammte Krieg in Afghanistan – alle paar Wochen fliegen sie einen Sarg zurück nach Deutschland. Die Welt steht am Abgrund, eine Zeitenwende scheint angebrochen, vielleicht ist bald nichts mehr, wie es war.

Ich bin nicht der Einzige, der sich Sorgen macht, die ganze Welt hält den Atem an, aber meine Angst hat einen anderen Grund: Es ist der Termin, der mir bevorsteht. Seit Tagen muss ich an ihn denken. Er nervt und belastet mich, aber ein Rückzieher kommt nicht in Frage. Ich möchte die Sache durchziehen, unbedingt, oder sagen wir besser: zu Ende bringen.

Der Himmel ist milchig, das Licht fahl, als ich um kurz vor 10 Uhr auf der Rosenheimer Straße stadtauswärts fahre; über Nacht ist die Temperatur auf minus 10 Grad gefallen, das Lenkrad ist kalt wie Eis. Als die Ampel auf der Isarbrücke Rot zeigt, greife ich nach hinten, hole meine Wollhandschuhe von der Rückbank und ziehe sie über meine steifen Hände. »Ausfahrt links vor Ihnen«, sagt die Frauenstimme des Navigationsgerätes. Ich bin nervös. Was, wenn sie mich gar nicht in den Saal lassen? Wenn sie mich schon am Eingang abweisen?

»Biegen Sie in 200 Metern links ab.«

Mein Ziel ist die griechische Taverne Odyssee. Noch 1,2 Kilometer, steht auf dem Navigationsgerät. In drei Minuten 20 Sekunden bin ich da. Wenn sie mich abweisen, kann ich immer noch meinen Mitgliedsausweis aus der Tasche ziehen; gegen den sind sie machtlos, ich habe ihn extra eingesteckt. Oder ist es denkbar, dass einer durchdreht und handgreiflich wird? Nein, Gewalt, das wäre albern. So wichtig war die Sache auch wieder nicht, außerdem liegt sie vier Monate zurück. Aber ihre Enttäuschung und ihre Wut werde ich zu spüren bekommen, manche werden mich beschimpfen, andere ignorieren, aber damit kann ich leben – glaube ich.

Noch 600 Meter.

»Du nimmst dich zu wichtig«, rede ich mir ein. Alles wird sein wie immer: Ein paar werden nett sein, ein paar kleinkariert, die meisten gleichgültig. Viele Genossen wissen nicht mal, wer ich bin, dafür kennen mich andere ziemlich gut. Vor ihnen fürchte ich mich am meisten: Henning, Martin, German, Nicole, ich sehe ihre Gesichter schon vor mir, verbitterte, enttäuschte Gesichter, ohne Lächeln. Vielleicht täusche ich mich aber auch, vielleicht sind sie gar nicht böse, sondern höflich und distanziert – das würde mir am meisten wehtun. Als die Taverne am Ende der Straße auftaucht, gehe ich vom Gas, die letzten Meter lasse ich meinen Golf ausrollen. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagt die Stimme aus dem Navigationsgerät.

Die Raucher sehe ich zuerst, das war immer so. Es ist so frostig, dass sich der ausgestoßene Atem mit dem Rauch der filterlosen Zigaretten vermengt. Vor dem Odyssee stehen zwei, drei Frauen und vielleicht zehn Männer. Ein paar Gesichter kommen mir bekannt vor, aber Henning, German oder Nicole sind nicht dabei; wenn sie jetzt hier stünden, hätte ich vielleicht nicht mal den Mut auszusteigen; wahrscheinlich würde ich den Kopf einziehen, aufs Gaspedal treten und weiterfahren. Ich würde an einer Tankstelle halten, mir die Süddeutsche kaufen, vielleicht noch was zum Blättern, eine Monopol, eine Wallpaper oder so, und mich in ein Café setzen. Ich würde einen Cappuccino ohne Schokostreusel und ein Glas Leitungswasser trinken, ein Croissant mit Butter und Himbeermarmelade essen, die Rechnung bestellen und beim Einsteigen ins Auto einen 15-Euro-Strafzettel unter dem Scheibenwischer entdecken. Ich würde ihn zu den anderen ins Handschuhfach stecken und überlegen, ob ich mich noch mal ins Bett lege, einen Winterspaziergang an der Isar mache oder eine der 250 Nummern aus meinem Handy anrufe.

Aber Henning steht nicht da, Nicole auch nicht und so parke ich mein Auto, halte kurz inne und steige aus. In wenigen Augenblicken werde ich meinen Genossen zum ersten Mal in die Augen blicken, seitdem die Geschichte diese unschöne Wendung genommen hat.

Auf den zwanzig Metern vom Auto zum Eingang der Taverne bin ich ziemlich erleichtert, dass hinter mir ein verbeulter Golf steht. Protzerei können sie mir schon mal nicht vorwerfen. Das macht die Sache nicht einfacher, aber weniger unangenehm. Meine Genossen drehen ihre Köpfe, sie mustern mich, schauen mir nach. Ob sie ahnen, wie hin und her gerissen ich in den letzten Monaten war? Wie ich mit mir gekämpft und überlegt habe, ob das, was ich mache, richtig oder falsch ist, ob es irgendeinen Sinn hat?

Als ich an der Gruppe vorbei Richtung Eingang gehe, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und tue so, als würde ich eine SMS tippen. Ich glaube, es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einen Raum komme, in dem ausnahmslos Menschen sitzen, die mich nicht mögen. Vielleicht wird es auf einen Schlag still, wenn ich reinkomme. Vielleicht verstummen alle, schauen mich an und warten darauf, dass ich was sage oder mich entschuldige.

Als ich den Saal betrete, versuche ich souverän zu wirken, selbstbewusst, aber auf keinen Fall hochnäsig. Links vom Eingang sitzen zwei Frauen an einem separaten Tischchen: die Mandatsprüfungskommission. Die Genossinnen begrüßen mich und fordern mich auf, meinen Namen auf eine Liste zu schreiben. Im Gegenzug bekomme ich ein rotes Kärtchen in die Hand gedrückt. Am anderen Ende des Saales ist eine Bühne, auf der eine Leiter, ein Stuhl und ein Mikrofonständer stehen. Das Ganze erinnert mich an das Akropolis aus der Lindenstraße, das Restaurant von Vasily Sarikakis: Kleinkunst, Bauerntheater, Oliven in Schälchen. An der Decke hängen Girlanden, die Wände sind holzvertäfelt, ungefähr 100 Menschen sind da, vor jedem liegt ebenfalls ein rotes Kärtchen. Die Tische sind in langen Reihen gruppiert. Vor ein paar Wochen hätte ich den Saal nach Henning oder Valerie abgesucht. Einer der beiden hätte mir sicher einen Platz freigehalten. »Tobias, wie schön, dass du da bist«, hätten sie gerufen. Valerie hätte ein langes buntes Kleid mit Rüschen angehabt, sie hätte mich umarmt und gedrückt, Henning hätte mir die Hand gegeben und gelächelt. Heute setze ich mich allein an den letzten Tisch und tue so, als würde ich die Speisekarte lesen. Ich habe Angst vor den Vorwürfen und Fragen, ich will weg.

Martin sieht mich als Erster. Er ist im Vorstand meines Ortsverbands, aber viel zu sanftmütig, um mir seine Meinung ins Gesicht zu sagen. Er ist Mitglied in vier verschiedenen Umweltschutzorganisationen, meistens trägt er Funktionskleidung. Ende 2009 hat ihm ein Polizist bei einer Demonstration auf dem Münchner Marienplatz den Arm gebrochen, dabei ist Martin der friedlichste Mensch, den ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe. Er ist so gutmütig wie ein Golden Retriever, bei Sitzungen stellt er einen Wecker vor sich auf den Tisch, damit er beim Reden die Zeit nicht vergisst. Er kann ziemlich lustig sein, manchmal mit Absicht, meistens unfreiwillig. Ich könnte ihm stundenlang zuhören, wenn er mit komplizierten Sätzen einfache Dinge sagt. Während der Fußball-WM plädierte er zwei Minuten vor dem Anpfiff des alles entscheidenden Gruppenspiels gegen Ghana dafür, weiter über die Gesundheitsreform zu diskutieren. So einer ist Martin. Man darf ihn nicht zu ernst nehmen, manchmal treibt er einen in den Wahnsinn, aber wenn es einen Himmel gibt, dann ist Martin eines Tages drin.

»Hallo, Tobias«, sagt er. »Dass du noch hierherkommst, wundert mich. Ehrlich gesagt hätten wir uns schon noch mal unterhalten sollen, bevor du diesen Text veröffentlichst.«

Mein Gott, bin ich erleichtert. Martin spricht mit mir, obwohl jeder im Saal sehen kann, dass ich es bin, mit dem er sich unterhält. »Ach, Martin«, sage ich. »War’s wirklich so schlimm?«

»Naja«, sagt er, »es gab Unmut, wir haben viel über dich diskutiert, aber ich glaube, inzwischen haben die meisten die Sache vergessen«, dann klopft er mir auf die Schulter und zieht weiter. Wahnsinn, damit hatte ich nicht gerechnet, andererseits – das war Martin.

»Hey, Tobias, dass du dich noch hierhertraust, Kompliment!«, ruft eine weibliche Stimme. »Ich habe deinen Text im ICE auf dem Weg nach Berlin gelesen.« Anja aus dem Landesvorstand kommt auf mich zu, die auf den ersten Blick wie eine Oberstufenschülerin wirkt, aber ziemlich raffiniert und ehrgeizig ist. Sie wird es weit bringen, nicht an die Spitze, aber weit. Früher war sie Krankenschwester, inzwischen studiert sie Soziologie. »Du, ganz ehrlich«, sagt sie, »die Genossen in Berlin fanden den Text okay. Manche fanden ihn sogar lustig. Klar wurde im Kreisvorstand über dich debattiert, aber so schlimm war’s nicht. Wird dich schon keiner erwürgen.«

Anja ist Mitglied der Strömung »Forum demokratischer Sozialismus« (FdS), die vor allem in den Neuen Ländern vertreten ist. Innerhalb der LINKEN ist sie rechts, man könnte auch pragmatisch oder vernünftig sagen. In Bayern, wo die LINKE ziemlich chaotisch ist, fühlt sie sich gar nicht wohl, deshalb fährt sie sooft es geht nach Berlin. »Da sind die Genossen viel besser«, sagt sie und meint: pragmatischer, lustiger, normaler.

Dann beginnt die Mitgliederversammlung: Ein Sprecher begrüßt das Bayerische Fernsehen und einen japanischen Sozialwissenschaftler, der am Nebentisch sitzt und während der folgenden acht Stunden so überfordert dreinblickt, dass ich bis heute daran zweifle, dass er auch nur ein Wort verstanden hat. Auf der Tagesordnung stehen zehn Punkte, unter anderem Finanz- und Revisionsberichte, Berichte aus den Ortsverbänden, die Nachwahl der Kreissprecherin und die Wahl der Delegierten für den Bundesparteitag.

Es sei heute ganz wichtig, sagt ein Sprecher, dass ausschließlich über München und nicht über die Turbulenzen im Landesverband gesprochen werde. Schade, werden sich die Kollegen vom Fernsehen denken, die sicher nicht zu dritt für den ganzen Tag angerückt sind, weil eine Kreismitgliederversammlung der LINKEN unbedingt ins Fernsehen muss. Die sind gekommen, um live dabei zu sein, wenn die Fetzen fliegen: Die Lage der Partei ist brisant. Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch wurde äußerst unschön aus dem Amt gedrängt, Oskar Lafontaine hat Krebs und wird als Bundesvorsitzender zurücktreten. Klaus Ernst aus Bayern möchte ihn beerben, hat aber das Problem, dass sich sein Landesverband seit Wochen bis zur Arbeitsunfähigkeit selbst zerlegt. Es geht drunter und drüber, die Zeitungen schreiben die LINKE an den Rand des Abgrunds, es wird intrigiert, getuschelt, beleidigt, und das wenige Wochen nach der Bundestagswahl, bei der die LINKE mit 11,9 Prozent den größten Erfolg ihrer Parteigeschichte eingefahren hat.

Zu Beginn wird wie üblich über alles Mögliche abgestimmt: Gibt es Einwände gegen die Tagesordnung? Wie lange ist die Redezeit pro Genosse? Kann die Liste der Mandatsprüfungskommission geschlossen werden? Wie viele Wortbeiträge werden zugelassen? Die Hände gehen rauf und runter, ein Meer aus roten Kärtchen. Vor einem Jahr hat mich die Abstimmerei noch aggressiv gemacht. Ich arbeite in einer Zeitungsredaktion und bin es gewohnt, dass ein Chefredakteur entscheidet. Aber in der Politik wird ständig und bei der LINKEN den halben Tag lang über irgendetwas abgestimmt. Basisdemokratie sagen sie dazu, die Klugheit der Masse. Ich finde es vor allem lächerlich, über Zeitpunkt und Länge von Raucherpausen abzustimmen. Manchmal kam es mir so vor, als würden wir darüber abstimmen, ob über einen Sachverhalt abgestimmt werden müsse. Das ist so absurd, als würde man jemandem eine SMS schreiben, um ihn darüber zu informieren, dass er gleich eine SMS bekommt.

Von der ersten Sitzung an ging mir die Basisdemokratie ziemlich auf die Nerven. Ein Jahr später weiß ich, wie langwierig es ist, eine politische Entscheidung zu treffen und durchzusetzen, wie viel Druck auf Delegierte ausgeübt wird, wie viele Gespräche in Hinterzimmern geführt und Rückschläge hingenommen werden müssen, bis sich eine Winzigkeit um einen Millimeter verschoben hat. Wenn es so kompliziert ist, ein windiges Adjektiv aus einem Programmentwurf zu streichen, wie kompliziert muss es sein, das Gesundheitssystem zu reformieren oder Soldaten aus Afghanistan abzuziehen? Wenn ich was in meinem Jahr bei der Linkspartei gelernt habe, dann dass es gerecht ist, wenn jeder mitreden darf, aber alles andere als zielführend.

Während die Genossinnen und Genossen immer wieder ihre Kärtchen heben und senken, suche ich den Saal ab. Zum Glück sitze ich im Rücken der Genossen, das verschafft mir einen guten Überblick: Links vorne sitzt Henning im Cordsakko, ein paar Stühle dahinter Nicole, wie so oft ganz in schwarz; als sie mich sieht, kommt es mir vor, als würde sie durch mich hindurchschauen. Natürlich kränkt mich das, aber ich verstehe sie auch. Politik ist Nicoles Leben, ein Blick auf ihr Facebook-Profil reicht, um zu wissen, wo sie wieder überall mitorganisiert, mitdemonstriert, mitdebattiert hat. Sie verkörpert beides: die Leidenschaft der Straße und die Seriosität des Parlaments. Inzwischen sitzt sie im Bundestag. Wie soll sie Verständnis haben für das, was ich getan habe? Dass ich ihre politische Haltung ablehne, ihren Mut, ihre Leidenschaft und ihr Redetalent bewundere, kann sie ja nicht wissen. Ich habe es ihr nie gesagt.

Genau in dem Moment, als Christine an mir vorüberhastet und so tut, als sähe sie mich nicht, trägt die Mandatsprüfungskommission ihren Bericht vor: 80 Mitglieder sind anwesend, 60 männlich, 20 weiblich, darunter zwei neue, die namentlich begrüßt werden. Die Genossen klatschen, die zwei Neuen lächeln zaghaft und sehen so glücklich aus, als wären sie gerade von einer Familie mit zwei Autos und Hund adoptiert worden. Es folgen Revisions- und Finanzberichte, viele Zahlen, die mir für eine Partei erstaunlich niedrig vorkommen. »Der Kreisverband München nimmt 5500 Euro monatlicher Mitgliedsbeiträge ein«, berichtet der Kassier. »Für das Jahr 2010 rechnen wir mit 2000 Euro an Spenden, insgesamt werden wir das Jahr mit einem Kontostand von 4000 Euro abschließen.« Dann erklärt er, was das Superwahljahr 2009 gekostet hat. Ich höre was von 21 000 Euro insgesamt und 8000 Euro für 600 Plakatständer, aber irgendwann geht es nur noch um Summen und Zahlen und Euro, mir wird langweilig, ich schweife ab, gäbe es ein Fenster, würde ich nach draußen schauen und ein bisschen vor mich hin träumen, aber es gibt keins. Draußen scheint die Sonne, ein makelloser Wintertag und ich sitze hier im Zwielicht. Alles ist deprimierend, der Raum und die Tischdecken, Kondensmilch in geriffelten Döschen; ich bin kurz davor, in Selbstmitleid zu fallen, als sich ein Schatten in mein Blickfeld schiebt:

»Sind Sie, äh, bist du …« – vor mir materialisiert sich das Gesicht von Till Steffens und ich habe den Eindruck, dass es sich deutlich zu nah an meinem befindet, aber bevor ich was sagen kann, sprudelt es schon unkontrolliert aus ihm heraus: »Du hast doch, äh, diesen Text in der SZ, nein, im SZ-Magazin geschrieben, oder?!«

Um trotz meiner schrecklichen Angst, souverän zu wirken, sage ich nichts und nicke. Ich bin aufgewühlt, alles geht sehr schnell. Till Steffens, der wie immer seine Baskenmütze mit den vier Buttons trägt, redet und redet und ich finde ihn Furcht einflößend und lächerlich zugleich und muss lachen – aber nur innerlich, weil alles andere ihn jetzt zum Explodieren bringen würde –, weil er mich erst gesiezt und dann geduzt hat, als ihm eingefallen ist, dass man sich unter Genossen mit dem Vornamen anspricht. »Du hast in deinem Text geschrieben, dass du dich mit unseren Grundsätzen nicht identifizieren kannst. Und deshalb werde ich jetzt nach vorne gehen und den Antrag einbringen, dass du die Versammlung zu verlassen hast.«

Ich weiß, dass er nie im Leben damit durchkäme. Mein Ausweis ist in der Jackentasche, ich kann ihn jederzeit rausholen, trotzdem wird mir ganz mulmig und ich spüre, wie meine Wangen warm werden. Es ist diese Wut, mit der ich konfrontiert bin, eine Wut, die vollkommen ernst gemeint ist.

»Keine Sorge«, sage ich, vielleicht einen Tick zu arrogant, »ich bin als Berichterstatter hier, nicht als Parteimitglied.«

»Und was ist das hier?«, bellt er mich an und deutet auf meine rote Stimmkarte.

»Die hier«, sage ich, »gebe ich jetzt zurück«, gehe zwei Schritte nach hinten und drücke der Frau von der Mandatsprüfungskommission meine Stimmkarte in die Hand. Sie nickt und streicht mich von der Liste. Dann lässt mich Till Steffens, ohne ein weiteres Wort zu sagen, sitzen und geht zurück an seinen Platz. Als ich ihm hinterherschaue, bemerke ich, dass er lustige O-Beine hat.

Was für ein unsouveräner Auftritt. Ich verstehe ihn ja irgendwie, aber trotzdem: Wie unfair! Ich bin ziemlich sicher, dass er keine Sekunde über einen Antrag nachgedacht hat, mir die vier Mitgliedsbeiträge à 55 Euro zurückzuüberweisen, die seit Erscheinen meines Textes an die Partei geflossen sind, obwohl genau das konsequent wäre: Wenn er mir den Mitgliedsstatus absprechen will, muss er auch auf mein Geld verzichten. Der durchschnittliche Monatsbeitrag im Münchner Kreisverband liegt bei elf Euro, was nichts anderes heißt, als dass die Partei nicht schlecht mit mir verdient. Seit meinem Eintritt im Dezember 2008 habe ich 770 Euro in ihre Kasse eingezahlt. Von den 600 Plakatständern gehen knapp sechzig auf mein Konto. Natürlich sollte ich mich schämen für diese spießigen, kleingeistigen Gedankenspiele, aber so was geht einem halt durch den Kopf, wenn ein Typ mit Baskenmütze daherkommt, einen unter Stress setzt und aus dem Saal werfen will.

Gegen 15 Uhr laufe ich auf dem Weg zur Toilette in Henning. Wie erwartet ist er distanziert, aber fair. Als ich zu meinem Rechtfertigungsmonolog ansetze, unterbricht er mich: »Tobias, lass gut sein, das hier ist nicht der richtige Ort für diese Debatte. Lass uns bald mal in Ruhe treffen.«

Den Rest des Tages verbringe ich damit, Anträgen zuzuhören, eine Gyrospfanne zu bestellen, ein Flugblatt durchzulesen, das sich gegen Patente auf Saatgut am Beispiel von Brokkoli einsetzt, mehrere SMS zu schreiben, die ich lange aufgeschoben habe, und zwei, drei Genossen zuzunicken. Gegen 16 Uhr fühle ich mich so erschöpft, dass ich den Saal verlasse. Nichts ist anstrengender als Zuhören, vor allem, wenn viele Menschen nacheinander das Gleiche sagen. Ohne mich zu verabschieden, gehe ich nach draußen, erleichtert, den Nachmittag überstanden zu haben. Am Abend klicke ich mich durch das Facebook-Profil von Till Steffens: ein paar Fotos, ein paar Einträge, 82 Projekte, die er unterstützt, darunter »Free Tibet from the Lamas«, »Aktionswochen gegen Antisemitismus«, »Rosa-Luxemburg-Stiftung«, »Klimaschutz-Netz«, »Mut gegen rechte Gewalt«, »SoS – Studieren ohne Studiengebühren«, »Hoch der Erste Mai!«, »Ärzte ohne Grenzen«, »World Holocaust Center«, »Mumia Abu Jamal«, außerdem »TSV 1860 München« und »Farmville«, das Online-Spiel, bei dem man einen virtuellen Bauernhof bewirtschaftet. Nach drei Minuten habe ich genug gesehen. Ich klappe mein Notebook zu, stelle mich dreißig Minuten unter die heiße Dusche, schaue mir Breakfast at Tiffany’s auf DVD an und lege eine Platte mit Schubert-Sonaten auf. Erst dann fühle ich mich imstande einzuschlafen.

2. »Adolf Hitler hat auch gute Reden gehalten«

Warum ich in die LINKE eintrete, obwohl ich kein Linker bin

Was war passiert, dass diese Menschen so empfindlich auf mich reagierten? Warum wollte Till Steffens mich aus dem Saal werfen lassen? Warum tat Christine, als würde sie mich nicht sehen, wo wir doch erst vor ein paar Wochen auf ihrem Balkon Würstchen gegrillt hatten?

Die Sache ist die: Im Januar 2010, zum Zeitpunkt der Kreismitgliederversammlung, war ich genau ein Jahr lang Mitglied der Linkspartei. Ich war im Dezember 2008 eingetreten, aber – und das nehmen mir die Genossinnen und Genossen bis heute übel – nicht aus Überzeugung, sondern aus Neugierde.

Ein Jahr lang habe ich Mitgliederversammlungen, Stammtische und Vorträge der Rosa-Luxemburg-Stiftung besucht. Ich habe für den Frieden gekämpft, gegen die NATO demonstriert und die Systemfrage gestellt. Ich habe auf dem Viktualienmarkt Flugblätter verteilt, Infostände betreut und über den sozialen Kahlschlag der Regierung geschimpft. Beim Ostermarsch bin ich neben der Samba-Gruppe durch Haidhausen gelaufen, in Susis Garten habe ich bei 30 Grad Wahlkampfständer zusammengehämmert. Ich bin mit Menschen in der Kneipe gesessen, die im Bundesverfassungsbericht erwähnt werden, und noch schlimmer, wir haben alkoholische Getränke zu uns genommen. Ich habe mich auslachen, beschimpfen und als Spion beschuldigen lassen. Ich bin von Polizisten durch München eskortiert und von einem Maschinengewehr bedroht worden.

Dabei bin ich nicht links, komme aus keiner linken Familie und habe keine linken Freunde. Ein paar tun so, als wären sie es, ich weiß aber genau, dass sie die ersten sind, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, weil die Sophie oder der Constantin dort nicht mit so vielen Ausländerkindern in der Klasse ist.

Fast jeder, den ich kenne, schimpft über die LINKE: utopische Forderungen, alles nicht finanzierbar, Spinner, Kommunisten, DDR, Stasi. Nicht, dass ich etwas anderes dachte; ich wollte die LINKE nicht verteidigen, aber es ist nun mal so, dass ich gern widerspreche, wirklich, es ist fast pathologisch mit dem Widersprechen bei mir, und deshalb wollte ich es genauer wissen. Mich störten die Klischees, die von dieser Partei existieren: Die LINKE – waren das wirklich nur Protestwähler und frustrierte Versager, die den Kommunismus verklären und sich auf meine Kosten durchs Leben schnorren? Oder gibt es in der Partei auch Menschen, die nicht aus einer Opferhaltung heraus links sind, sondern weil sie eine demokratische Form des Sozialismus für das gerechtere System halten? Mit anderen Worten: Ist ein Sozialismus – nicht der Unterdrückung, sondern der Freiheit – am Ende vielleicht doch möglich?

Linkssein – in meinem Kopf waren das immer Gandhi-Sprüche, wild wachsende Gärten, Frida Kahlo-Drucke und Kinos mit 20 Sitzplätzen; Kneipen, in denen die Menschen Schach spielen, Bardolino-Flaschen, in denen Kerzen stecken, schlechte Bands mit tiefgründigen Texten und Serrano-Schinken auf Holzbrettern. Ich mag diese Welt nicht. Ich halte sie für naiv, selbstgerecht, engstirnig, manchmal sogar für intolerant. Linke – für mich waren das immer Menschen von niederschmetternder Aufrichtigkeit und trostloser Einfältigkeit.

Wenn Barack Obama in einer Rede das Ideal einer atomwaffenfreien Welt beschwört, ist er ein Held und die Menschen jubeln ihm zu. Spricht Gregor Gysi von einer Welt, in der alle Menschen in Frieden und Harmonie miteinander leben, ist er naiv und ein Träumer. Das mal vorneweg. Die Medien haben die Linkspartei in eine Schublade gesteckt und den Schlüssel weggeworfen. Ich wollte sie nicht aus dieser Schublade herausholen, ich wollte sie nur einen Spalt öffnen, hineinschlüpfen, mich umsehen, um danach beurteilen zu können, ob sie zu Recht drinnen ist.

Es ist nämlich nicht so, dass die LINKE grundsätzlich Unrecht hätte: Zum Beispiel nennt sie das, was unsere Soldaten in Afghanistan machen, seit Jahren beim Namen: Krieg. Die anderen Parteien haben sich jahrelang um die Wahrheit gedrückt und komplizierte Ausdrücke dafür erfunden, bis Verteidigungsminister Guttenberg kam und sich traute, nicht mehr »Friedensmission« sondern »Krieg« zu sagen. Wofür die LINKE zuvor kritisiert worden war, dafür wurde der Baron aus Bayern gewürdigt.

Medien wie Politiker anderer Parteien reagieren allergisch auf die LINKE, regelmäßig landen Kommentare unter der Gürtellinie, ein deutliches Zeichen von Nervosität, weil diese neue Partei mittlerweile selbst in den alten Bundesländern zweistellige Ergebnisse einfährt. Die CSU beschimpft die Linkspartei als »Dämonen« und »Kader-Geschwader«, das man in einem »Kreuzzug« bekämpfen müsse. »Von solchen Extremisten nimmt man nicht mal ein Stück Brot«, sagte Günther Beckstein, als er für wenige Monate versuchte, den Bayern ein guter Ministerpräsident zu sein. In seinem Fall war die Panik berechtigt: Zwar scheiterte die LINKE am Einzug in den bayerischen Landtag, erwies sich mit 4,4 Prozent aber als ernst zu nehmende politische Kraft – 2003 hatte die PDS nicht mal auf dem Wahlzettel gestanden. Beckstein aber büßte mit dramatischen 43,4 Prozent (17,3 Prozentpunkte weniger als Stoiber 2003) die absolute Mehrheit ein, verlor gegenüber der letzten Wahl 700 000 Stimmen, davon 50 000 an die LINKE, und musste seinen Trachtenhut nehmen.

Auch die SPD, immerhin Koalitionspartner der LINKEN in Berlin und Brandenburg, vergreift sich bei ihren Attacken gegen die Linkspartei regelmäßig im Ton: Auf Lafontaines Redekunst angesprochen, entgegnete Altkanzler Helmut Schmidt, dass auch Adolf Hitler gute Reden gehalten habe. Ein Satz, der für einen Skandal gesorgt hätte, wenn Michel Friedman ihn gesagt hätte. Klaus von Dohnanyi, ansonsten die Personifizierung eines ritterlichen Politikers, beschimpfte die LINKE schlichtweg als »dumme Partei«. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs brach ein Interview ab, in dem die LINKE als »politische Realität« bezeichnet wurde, obwohl sie genau das in den Monaten zuvor geworden war.

Die Anfeindungen aus dem Lager der SPD wirkten fast noch bösartiger als die der Union, was nur daran liegen kann, dass die SPD in der Linkspartei ihre eigene Vergangenheit erkennt. Durch die LINKE wird die deutsche Sozialdemokratie jeden Tag daran erinnert, was sie früher einmal war und wie weit sie sich von dort entfernt hat. In ihrem Hass auf den kleinen Konkurrenten von links steckt jede Menge Selbsthass. Die SPD wirkt wie ein Liebhaber, der abgewimmelt wurde und jetzt so tut, als habe er nie Interesse gehabt. Seit drei Jahren wissen Müntefering, Steinmeier und Gabriel nicht, wie sie mit der LINKEN umgehen sollen. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie die Partei für regierungs- und koalitionsfähig halten oder nicht. Vor jeder Wahl stammeln sie die gleichen Floskeln in die Mikrofone der Hauptstadtjournalisten: im Osten ja, im Westen nein, unter einem SPD-Regierungschef vielleicht, bei der Bundespräsidentenwahl mal schauen, bei der Bundestagswahl auf keinen Fall. Wer so argumentiert, braucht sich nicht wundern, wenn er an Glaubwürdigkeit verliert und in Umfragen seit zwei Jahren bei 23 Prozent rumdümpelt.

Die Verurteilung der LINKEN stimmt längst nicht mehr mit ihrem realen Stellenwert überein: Aus dem »Aktiönchen«, wie Gerhard Schröder die Gründung der WASG einst bezeichnet hat, ist eine richtige Partei geworden. Eine Partei, die sich auch im Westen durchgesetzt und bei der letzten Landtagswahl im Saarland ihr Ergebnis verzehnfacht hat. Eine Partei, die in 13 von 16 Landtagen und mit 76 Abgeordneten im Bundestag sitzt. Wenn alles normal läuft, werden die letzten linksbefreiten Zonen bald fallen, erst Baden-Württemberg (2011), dann Rheinland-Pfalz (2011), zuletzt Bayern (2013). Nicht schlecht für eine Partei, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Die anderen Parteien scheinen noch lernen zu müssen, was die Menschen im Land längst begriffen haben: Bereits 2008 hielten knapp 60 Prozent der Deutschen die LINKE für eine ganz normale Partei. Während den anderen Parteien die Mitglieder scharenweise davonlaufen, hat die LINKE seit ihrer Gründung vor drei Jahren 25 000 Mitglieder dazugewonnen. Bei den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen liefen 43 000 Wähler von der CDU (!) zur LINKEN über.

Wer die Linkspartei beschimpft, macht sie interessant für Menschen, die sich als Opfer fühlen. Wenn eine Partei ausgegrenzt ist, zieht sie Ausgegrenzte an. Und wenn sich Ausgegrenzte organisieren, kann es gefährlich werden, weil radikale Linke früher oder später immer mit der Nichtumsetzbarkeit der eigenen Utopie konfrontiert werden. Spätestens dann müssen sie sich entscheiden: zwischen Resignation und RTL II oder Aufstand und gewaltsamer Revolution.

Die LINKE zu dämonisieren ist der falsche Weg. Sie auf die DDR-Vergangenheit zu reduzieren auch. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Wolfgang Böhmer (CDU) hat mal gesagt, dass es keinen Zweck habe, der Partei die DDR-Probleme vorzuhalten. Da würden nur die applaudieren, die sowieso nicht vorhatten, die LINKE zu wählen. Nach meinem Jahr in der LINKEN kann ich sagen, dass die DDR – zumindest für die Genossen im Westen – kein Thema ist. Natürlich findet sich hin und wieder jemand, der vor laufender Kamera behauptet, dass die DDR kein Unrechtsstaat oder die Mauer keine schlechte Idee gewesen sei, aber das sind Spinner, die innerhalb der Partei nicht ernst genommen werden. Ich würde nie im Leben die LINKE wählen, aber auf keinen Fall deshalb, weil sie die Nachfolgepartei der SED ist, der Mauer- und Schießbefehlpartei der DDR.

Bei der Bundestagswahl 2009 hat die Linkspartei die SPD gedemütigt: 1,1 Millionen ehemalige SPD-Wähler haben der LINKEN ihre Stimme gegeben. Im Osten kam die SPD auf 18,3, die LINKE auf 26,4 Prozent, in Sachsen-Anhalt wurde sie stärkste Partei. Im Osten ist die LINKE Volkspartei, tief verwurzelt in der ostdeutschen Seele. Im Westen kommt sie als Interessenpartei immerhin auf 10 Prozent der Wählerstimmen, im Saarland dank Lafontaine sogar auf über 20 Prozent. Seit mehr als drei Jahren hat die LINKE keine Antworten, aber stellt die richtigen Fragen. Dass sie von den anderen Parteien ignoriert wird, ist nicht nur hilf-, sondern auch verantwortungslos. Denn selbst wenn die Linkspartei ein »Sammelbecken der Ängstlichen, Enttäuschten und Frustrierten« ist, müssen sich Regierungspolitiker die Frage stellen, welche Politik die Menschen ängstlich, enttäuscht und frustriert hat werden lassen.

In seinem Buch Der Politik aufs Maul geschaut schreibt Erhard Eppler von der SPD: »Der Kommunismus als geschichtliche Kraft ist tot. Der Antikommunismus hat ihn überlebt. Aber irgendwann wird auch er sterben.« Stirbt er vielleicht gerade? Ausgerechnet zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, wo alle in dunklen Mänteln gerührt am Brandenburger Tor gestanden und sich an die tanzenden Menschen von damals erinnert haben, an die Trabis, die Bananen und Helmut Kohl, den wunderbaren Ermöglicher der Deutschen Einheit?

Könnte es sein, dass Deutschland vor einem Linksruck steht, ausgelöst durch eine wirtschaftliche Jahrhundertkrise, die in immer kürzeren Abständen zurückkommt? Unterstützt durch eine ideenlose Bundesregierung und der Angewohnheit der Deutschen, vor allem Angst zu haben, also nicht nur vor Arbeitslosigkeit und klammen Haushalten, sondern auch der Inflation, der Klimakatastrophe, dem Internet, den Moslems, den Terroristen, dem neuen Bahnhof in Stuttgart und der Zukunft? Ist es möglich, dass die Deutschen von demokratischen Streitereien und halbherzigen Kompromissen die Nase dermaßen voll haben, dass sie sich den Sozialismus – zumindest in gemäßigter Form – wieder vorstellen können?

Vor der Bundestagswahl im September 2009 luden die vier Münchner Direktkandidaten der Linkspartei sämtliche Zeitungen, Radio- und TV-Sender der Stadt ein, um sich vorzustellen. Es gab Filterkaffee aus Thermoskannen und belegte Brote. Sie wollten über ihre Ideen sprechen, über soziale Gerechtigkeit und Mindestlöhne – aber niemand kam, der sie hören wollte, keiner von der SZ, keiner vom Merkur, keiner von der Abendzeitung , keiner vom Radio, nicht mal ein Praktikant.

»Die LINKE, im Westen sind das vor allem Spinner, Kommunisten und Sektierer, ideologisch, verwirrt, gefährlich.« Das schreiben die Journalisten, die kein Interesse daran haben, die Spinner kennenzulernen. Ich halte das für unhöflich und schlecht recherchiert. Ich wollte nicht nur nachplappern, was in der Zeitung steht. Ich wollte – wie Jürgen Habermas es fordert – die Position des Gegenübers einnehmen, um seine Argumente verstehen zu können. Ich wollte die Partei kennenlernen, ihre Ideen, ihre Vorschläge, ihre Mitglieder. Ich wollte mir darüber klar werden, wie sie denken, wofür sie kämpfen und was das Leben mit ihnen gemacht hat, dass sie ihre Hoffnung auf die LINKE setzen. Ich war neugierig und wollte nicht den Fehler begehen, den in der Politik so viele machen: aus Machtinteresse über Menschen urteilen, die man nicht kennt, oder aus Kalkül Ideen ablehnen, mit denen man sich nicht auseinandergesetzt hat, oder noch schlimmer: die man heimlich gut findet. Ich wollte keinen Posten, keine Stimmen, nur die Wahrheit.

Es gibt aber noch einen zweiten Grund für mein Experiment. Er hat mit mir selbst zu tun, meinen Freunden und der Art, wie wir leben. Seit einiger Zeit nämlich hatte ich das Gefühl, dass wir auf der Stelle traten. Wir merkten es nicht, aber es war so. Wir redeten über Vitra-Stühle, vietnamesische Restaurants, Osteopathen, Dachterrassen und Rahmengeschäfte, wegen der Bilder, die wir uns in den letzten Jahren gekauft hatten. Manche zogen ins Ausland und vergaßen, dass man sich selbst immer mitnimmt, andere zogen raus aus der Stadt und spielten Landleben. Besuchte man sie, empfingen sie einen in Gummistiefeln, weil sie gerade Wiesenblumen gepflückt oder Holz für den Kachelofen gehackt hatten. In stillen Momenten wurde uns bewusst, wie berechenbar wir geworden waren, aber wir gestanden es uns nicht ein. Wir sprachen in einem ironischen Unterton darüber, als wollten wir uns gegenseitig versichern, dass wir uns selbst nicht dabei ernst nehmen, aber machte es das besser?

»Du, nächstes Jahr ziehen wir raus aufs Land, vielleicht an den See, das ist für die Kinder einfach besser.« – »Ich gehe kaum mehr aus, ehrlich, ich schaff’s einfach nicht mehr, aber essen gehe ich umso öfter, mein Gott, was ich Geld in Restaurants lasse.« – »München lullt einen ein, schon klar, man muss regelmäßig raus, aber werd’ erst mal 35, dann hast du lieber einen anständigen Rahmbraten vor der Tür als einen DJ aus Detroit.«