Wie ich mich auf einer Parkbank in einen bärtigen Mann mit sehr braunen Augen verliebte - Emmy Abrahamson - E-Book

Wie ich mich auf einer Parkbank in einen bärtigen Mann mit sehr braunen Augen verliebte E-Book

Emmy Abrahamson

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Beschreibung

Eine der charmantesten, lustigsten und traurigsten Liebesgeschichten, die Sie je lesen werden! Die 29-jährige Schwedin Julia lebt mit ihrem Kater Optimus in Wien und gibt ambitionierten Wirtschaftsbossen und Langzeitarbeitslosen Englischunterricht. Sie fühlt sich so einsam, dass sie an Marktforschungsumfragen und kostenlosen Hörtests teilnimmt, nur um die Zeit totzuschlagen. Doch dann passiert das Märchen: Sie verliebt sich. Julias Verehrer entspricht nur ganz und gar nicht dem Ritter in der strahlenden Rüstung. Er lebt in einer Hecke im Stadtpark und benötigt dringend eine Dusche. Aber dafür hat er zwei sehr überzeugende Argumente ‒ nämlich die größten braunen Augen der Welt!

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Seitenzahl: 268

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Emmy Abrahamson

Wie ich mich auf einer Parkbank in einen bärtigen Mann mit sehr braunen Augen verliebte

Roman

Aus dem Schwedischen von Anu Stohner

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1

»I love cocking«, sagt die Frau gut gelaunt.

Ich sehe in meine Unterlagen, mache eine unleserlich kleine Notiz, lege den Kugelschreiber beiseite und räuspere mich.

»Was Sie sagen wollen … Ich glaube … beziehungsweise hoffe … obwohl ich es Ihnen natürlich gönnen würde, wenn es für Sie so … Also, was Sie wahrscheinlich sagen wollten, ist, dass Sie gerne kochen. Sie meinen cooking, nicht … cocking.«

Das ist heute meine elfte Unterrichtsstunde, und ich bin so müde, dass ich schon ins Schwafeln komme. Außerdem muss ich die ganze Zeit auf mein mintgrünes Infokärtchen schauen, damit ich mich überhaupt erinnere, mit wem ich es zu tun habe. Petra, Petra, Petra. Bedenklich ist auch, dass ich die Frau schon mindestens dreimal unterrichtet und dennoch keinerlei Erinnerung an sie habe. Es ist, als hätten sich alle meine Schüler in ein einziges gesichtsloses Wesen verwandelt, das Tuesday und Thursday verwechselt und sich hartnäckig weigert, das Perfekt zu benutzen. Ein Wesen, das ein Thank you mit einem Please quittiert, obwohl ich ihm schon hundertmal erklärt habe, dass es You’re welcome heißen muss. Ein Wesen, das glaubt, eine Sprache lerne sich von allein, wenn man sich nur lange genug mit einer Lehrkraft im selben Raum aufhält.

Mit einem schnellen Blick auf die Uhr sehe ich, dass es noch zwanzig Minuten bis zum Ende der Stunde sind. Zwanzig zähe Minuten.

»Und … Petra, was kochen Sie am liebsten?«, frage ich.

Es war nie mein Plan oder gar Traum, Englischlehrerin in Österreich zu werden. Aber nach vier Monaten Arbeitslosigkeit war die Stellenausschreibung der Berlitz-Schule fast zu schön, um wahr zu sein. Die Ausbildung dauerte gerade mal zwei Wochen, und sobald man sie abgeschlossen hatte, durfte man unterrichten. Trotzdem schaute ich in der Anfangszeit immer wieder zur Tür, weil ich fest damit rechnete, dass irgendwann der Ausbilder mit dem Pferdeschwanz hereinstürzen und mir völlig aufgelöst erklären würde, er habe nur einen Scherz gemacht, selbstverständlich dürfe ich noch nicht unterrichten. Danach würde man mich aus dem Unterrichtsraum abführen und die Schüler in Sicherheit bringen. Es war die Zeit, in der ich mich spätabends noch hinsetzte und mich auf den nächsten Tag vorbereitete. Ich machte mir genaue Unterrichtspläne und bemühte mich, jede Stunde so abwechslungsreich und unterhaltsam wie möglich zu gestalten. Ich kopierte interessante Zeitungsartikel, notierte mir Fragen, dachte mir hübsche Rollenspiele aus und laminierte Fotos, mit denen ich geistreiche Diskussionen anstoßen wollte. Alles für meine Schüler.

Inzwischen haben sie Glück, wenn ich schon vor dem Betreten des Unterrichtsraums einen Blick auf ihr Infokärtchen werfe. Die trotzige Wende datiert auf den Tag, an dem mir plötzlich klar wurde, dass ich schon viel länger unterrichtete als die geplanten sechs Monate und – was noch schlimmer war – dass ich es gut machte. Dass ich sowohl die nötige Geduld besaß (wer hätte gedacht, dass sie eine der wichtigsten Tugenden einer guten Sprachlehrerin ist?) als auch eine Art natürlich Begabung, meine Schüler zum Reden zu bringen. Seit ich meine Stunden nicht mehr vorbereite, sind sie nicht nur für meine Schüler, sondern auch für mich zu einer Art Wundertüte geworden. Zurzeit sind sie so ziemlich das Spannendste in meinem Leben.

»Ach, alles Mögliche, Schnitzel, Würstchen …«, beantwortet Petra meine Frage.

»Bitte einen vollständigen Satz!«, fordere ich sie auf.

»Ich bereite gern Schnitzel und Würstchen zu«, sagt Petra brav.

Da die Berlitz-Methode im Wesentlichen darin besteht, die Fremdsprache qua Alltagskonversation zu vermitteln, müssen mir während einer Unterrichtsstunde immer nur genügend Banalitäten einfallen, über die ich mich mit meinen Schülern unterhalten kann. Drei Jahre als Englischlehrerin haben aus mir eine Expertin der zwanglosen Plauderei gemacht. Einmal habe ich einen Schüler eine Viertelstunde lang über den Einbau seines neuen Garagentors reden lassen, nur um herauszufinden, ob ich das aushalte.

»Und was ist Ihr Lieblingsgetränk, Petra?«, frage ich.

Petra denkt nach.

»Leitungswasser.«

»Bitte einen vollständigen Satz!«, wiederhole ich mit einem angestrengten Lächeln.

»Mein Lieblingsgetränk ist Leitungswasser«, sagt Petra.

Ich lächle Petra weiter an und sage nichts, weil mir beim besten Willen nichts einfällt, was ich zu jemandem sagen soll, der am liebsten Leitungswasser trinkt.

In der letzten Viertelstunde lösen wir Kreuzworträtsel mit Wörtern, die mit Essen zu tun haben. Als es läutet, seufze ich gespielt und ziehe die Mundwinkel nach unten, um zu zeigen, wie traurig ich bin, dass wir schon Schluss machen müssen. Wir geben uns die Hand, und Petra geht nach Hause, wahrscheinlich um ein festliches Mahl aus Schnitzel, Würstchen und einem Glas Leitungswasser zu sich zu nehmen.

 

In dem winzigen Lehrerzimmer herrscht eine qualvolle Enge, weil man in der fünfminütigen Pause um Himmels willen keinen Kontakt mit den Schülern haben möchte. An den Wänden hängen Berlitz-Poster mit Gesichtern aus allen Weltgegenden und Sätzen mit Ausrufezeichen. In drei Bücherregalen stehen und liegen Ausgaben des hauseigenen Magazins ›Passport‹ und allem Anschein nach von niemandem je benutzte Französisch-, Russisch- und Spanisch-Lehrbücher. Die Englisch-Lehrbücher dagegen sind zerfleddert, und den meisten fehlt der Rücken entweder ganz, oder er ist mit Tesafilm angeklebt.

Mit einer Ausnahme ist keiner von uns ausgebildeter Lehrer. Mike ist ein arbeitsloser Schauspieler, Jason schließt gerade seine Doktorarbeit über Schönberg ab, Claire hat früher im Marketing gearbeitet, Randall ist Grafiker, Sarah Diplom-Ingenieurin, Rebecca Geigenbauerin, und Karen hat einen Abschluss in Medien- und Kommunikationswissenschaften. Ich selbst träume immer noch davon, Schriftstellerin zu werden. Der eine ausgebildete Lehrer ist Ken, der deshalb fast so inbrünstig gehasst wird wie Dagmar, die Leiterin unserer Berlitz-Schule in der Mariahilfer Straße.

Ken betritt das Lehrerzimmer.

»Oh Mann, ist das wieder ein Stress!«, sagt er gut gelaunt und versucht, sich mit einer aufgeschlagenen Grammatik zum Kopierer zu zwängen. Alle ignorieren ihn. Am Fenster stehen Mike und Claire dicht beieinander und versuchen, durch einen fingerbreiten Spalt zu rauchen.

»Ich hab gleich vier Stunden am Stück mit derselben Gruppe«, seufzt Claire und stopft ihr Feuerzeug in die Zigarettenschachtel. »Bis ich heute hier rauskomme, ist es acht.«

»Dauert ja nicht mehr lange, dann musst du so was nie wieder machen«, sagt Randall, denn Claire wird bald nach London zurückgehen, um zu studieren.

»Bei mir sind’s heute zwölf Stunden«, sage ich, und ein anerkennendes Murmeln geht durch den Raum.

Es gibt nur drei Themen im Lehrerzimmer: wie viele Stunden am Tag wir unterrichten müssen, wie anstrengend unsere Schüler sind und wie sehr wir Dagmar hassen.

»Ich hatte gerade eine AMS-Gruppe«, kontert Mike.

Wir seufzen aus Sympathie. AMS steht für »Arbeitsmarktservice Österreich« und ist der Name der österreichischen Arbeitsvermittlung. Vor ein paar Jahren hat Berlitz einen lukrativen Vertrag mit dem Staat abgeschlossen, seither erhält jeder Arbeitslose, der einen entsprechenden Antrag stellt, bei uns Englischunterricht. Es gibt wenig, was deprimierender wäre, als eine AMS-Gruppe zu unterrichten.

Meine letzte Schülerin des Tages ist neu. Als ich den Raum betrete, ist sie bereits da und schaut aus einem der schmutzigen Fenster auf die Mariahilfer Straße. Zu meiner Erleichterung sehe ich auf dem Infokärtchen, dass man ihr ein Englisch der Stufe 5 bescheinigt, ihre Sprachkenntnisse also bereits ein »hohes Niveau« besitzen. Je höher das Niveau des Schülers, desto weniger Mühe muss ich mir geben.

»Hallo, ich heiße Julia«, sage ich und strecke die Hand aus.

Die dünne Frau reicht mir eine überraschend warme Hand. Nach einer Viertelstunde weiß ich, dass sie Vera heißt, ursprünglich aus Graz kommt und als PR-Beraterin für die FPÖ tätig ist. Sie ist alleinstehend und hat eine achtjährige Tochter. Leider beginnt Vera nach dieser Viertelstunde, mir ihrerseits Fragen zu stellen.

»Where do you come from?«

»From Sweden«, sage ich, ohne zu überlegen.

Als auf Veras Stirn eine Falte auftaucht, weiß ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Obwohl mein Englisch so akzent- wie fehlerfrei ist, will niemand hören, dass ich nicht aus einem englischsprachigen Land stamme. Dagmar hat mich deshalb diskret darum gebeten, den Schülern gegenüber nicht zu erwähnen, dass ich aus Schweden komme. Mir fällt ein, was Rebecca von ihrem Job in einem Grillrestaurant in Australien erzählt hat: Obwohl sie sich die Bestellungen auch so merken konnte, benutzte sie zum Schein einen Notizblock, weil sie merkte, dass die Gäste nervös wurden, wenn sie nichts aufschrieb. So ähnlich komme ich mir in etwa vor, wenn ich wegen meiner Herkunft lügen muss.

»Swindon in Northern England«, versuche ich, die Sache in Ordnung zu bringen.

Vera schaut mich immer noch mit der Falte auf der Stirn an.

»Liegt Swindon nicht in Südengland?«, fragt sie. »In der Nähe von Bristol? Ich hab dort mal einen Kurs besucht.«

Ich spüre meine Wangen und meinen Hals warm werden.

»Meins ist ein anderes Swindon«, sage ich schnell. »Ein kleineres. Wir nennen es … Mini-Swindon. Aber Vera, sagen Sie mir doch, wie Sie Ihre Wochenenden verbringen. Was tun Sie am liebsten?«

Vera mustert mich immer noch misstrauisch, und ich denke, dass ich Rebeccas Rat beherzigen und nicht so viele Stunden am Tag unterrichten sollte.

Leider ist Veras Englisch fast perfekt. Erst gegen Ende der Stunde sagt sie in the end of the month statt at the end of the month. Endlich kann ich sie korrigieren und muss mich nicht mehr wie ein nutzloses Requisit fühlen.

Auf dem Heimweg kommt mir plötzlich eine Idee für eine Geschichte. Sie ist so aufregend und gruselig, dass ich stehen bleiben muss und Gänsehaut bekomme. In der Geschichte wird es um einen gescheiterten Schriftsteller gehen, den man als Hausmeister für ein nur im Sommer betriebenes abgelegenes Ferienhotel eingestellt hat. Er muss den ganzen Winter mit seiner Frau und seinem kleinen Kind dort verbringen. Das Kind ist ein Junge. Oder ein Mädchen. Nein, ein Junge. Im Laufe des Winters verliert der Schriftsteller aufgrund der Isolation und der bösen Geister, die in dem Hotel herumspuken, immer mehr den Verstand. Alles endet in Blut, Chaos und Tod. Die Geschichte steht mir geradezu beängstigend klar vor Augen: der Schneesturm, der heulend ums Hotel weht, die verlassenen Gänge, das Hotelzimmer, in dem alles stillsteht, und der Schriftsteller, der vor seiner Schreibmaschine sitzt. Das Buch wird der Gruselschocker schlechthin! Ich renne mehr nach Hause, als dass ich gehe, weil ich noch heute Abend loslegen will. Ich kichere bei dem Gedanken, dass noch niemand vor mir auf diese Geschichte gekommen ist.

2

Am Abend treffe ich Leonore in einer Cocktailbar im 6. Bezirk.

Ich hasse Leonore. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass Leonore mich auch nicht ausstehen kann, aber wir haben beide begriffen, welch große symbiotische Vorteile wir aus unserer Freundschaft ziehen. Nachdem alle meine anderen Freundinnen und Freunde feste Beziehungen eingegangen sind und sich, sobald es Mitternacht schlägt, in menschliche Kürbisse verwandeln, ist Leonore die Einzige, mit der ich ausgehen kann. Sie wiederum kann mit mir so tun, als wäre sie jung und Single und nicht alt und mit Gerhard verheiratet, dem beigen Mann, wie ich ihn nenne (allerdings nicht vor ihr).

Leonore kommt aus England und hat einen Sohn im Kindergartenalter, der aus irgendeinem Grund eine Augenklappe tragen muss. Der beige Mann leitet die Finanzabteilung von Red Bull, was bedeutet, dass Leonore nie mehr wird arbeiten müssen und ihre ganze Zeit der Produktion, Regie und Aufführung von Stücken widmen kann, in denen sie selbst die Hauptrolle spielt. Letztes Jahr im Februar spielte sie im Rahmen des von der amerikanischen Botschaft gesponserten »Black History Month« den Malcolm X. Nein, schwarz ist Leonore nicht.

»Arbeitet Mike immer noch bei euch?«, fragt Leonore.

Ich nicke und nehme einen Schluck von meinem Wodka Tonic. Scheiß auf Stephen King!

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm eine Rolle bei meinem nächsten Stück geben soll«, sagt Leonore. »Ich will ›Closer‹ von Patrick Marber inszenieren. Er könnte Larry spielen, die Rolle, die in der Verfilmung von Clive Owen gespielt wird.«

Ich rühre mit dem durchsichtigen Kunststoffstäbchen in meinem Glas zwischen den Eiswürfeln herum. Meine Gedanken kreisen immer noch um die bittere Tatsache, dass ein gewisser Stephen King vor fast vierzig Jahren ›Shining‹ geschrieben hat, eine Kleinigkeit, die mir einfiel, als ich schon die Hände auf die Tastatur setzte, um mit dem Schreiben zu beginnen.

»Ich hab Mike heute getroffen und bin mir ziemlich sicher, dass er das Unterrichten leid ist«, sage ich. »Er würde sich bestimmt über ein Engagement freuen. Es gibt einfach eine Grenze dafür, wie oft man Leuten den Unterschied zwischen Present Tense und Present Progressive klarmachen kann. Wenn ich noch ein einziges Mal erklären muss, warum der McDonald’s-Slogan I’m lovin it vollkommen daneben ist, renn ich mit dem Kopf gegen die nächstbeste Mauer. Kannst du dir vorstellen, dass ich McDonald’s dafür hasse? – Also ja, ich finde, dass du Mike eine Rolle geben solltest.«

Wenn ihre Stirn nicht so voll Botox wäre – zwischen uns liegen eben doch elf Jahre –, würde Leonore sie jetzt runzeln, um mir zu zeigen, dass ich sie langweile.

»Ich weiß nicht, ob die Chemie zwischen uns stimmt«, sagt sie, und ich bin mir nicht sicher, ob wir immer noch von Mike reden.

»Nein, die Chemie zwischen euch stimmt sehr wahrscheinlich nicht«, murmle ich und nehme einen Schluck von meinem Drink.

 

Von der Cocktailbar gehen wir in die Passage. Der Klub ist schon voller Leute, und wir müssen hinter drei dunkelhaarigen Mädchen mit winzigen Röckchen und weißen hochhackigen Schuhen warten, bis wir unsere Mäntel an der Garderobe abgeben können.

»Findest du nicht, dass die Mädchen hier drinnen wie Luxusprostituierte vom Balkan aussehen?!«, schreie ich Leonore über die Musik hinweg zu.

»Ich hoffe, du meinst damit auch uns!«, schreit Leonore zurück.

Bevor ich antworten kann, zieht sie mich zur Theke. Wir bestellen unsere Drinks und tun so, als würden wir miteinander reden, während wir uns in Wirklichkeit die Männer anschauen. Eigentlich habe ich keine Ahnung, warum wir immer in der Passage landen. Der DJ spielt nervige Musik, die Drinks sind mit Wasser gestreckt, die Toiletten schmutzig, und man kann nirgends sitzen. Dazu kommen alle Typen hier aus Deutschland und haben feste Freundinnen. Während einer halben Stunde reden wir jede für sich mit einem von ihnen. Meiner hat lachende Schweißflecken unter den Armen und Augenbrauen, die zusammenwachsen, aber er ist nicht komplett unattraktiv.

»Woher kommst du?«, fragt er auf Deutsch.

»Aus Schweden«, antworte ich auf Englisch.

Ich kann Deutsch (wenngleich mit einer eigenen Auslegung der Grammatik), aber ich entschließe mich, Englisch zu sprechen, damit ich die Sache von Anfang an im Griff habe. Er reißt die Augen auf und schenkt mir ein breites Lächeln.

»Warst du schon mal in Schweden?«, frage ich.

»Nein«, sagt der Typ und schüttelt den Kopf. »Aber ich hab so viele schwedische Krimis gelesen, dass es mir fast so vorkommt. Schweden ist für mich Wallanderland.«

»Wallanderland klingt wie ein Vergnügungspark«, sage ich. »Nur einer zum Sterben.«

Ich sehe, dass Leonore versucht, Augenkontakt mit mir aufzunehmen, wahrscheinlich weil der Kerl, mit dem sie redet, einen Kopf kleiner ist als sie und eine Halskette mit einem Mercedesstern trägt. Wenn man in Österreich in einen Klub geht, fühlt man sich oft in eine Zeit zurückversetzt, in der Achtzigerjahreschmuck noch nicht aus ironischen Gründen getragen wurde und Ace of Base angesagt waren. Ich ignoriere Leonore und wende mich wieder meinem Typ zu.

»Ich hab mal einen Schweden getroffen, der meinte, in Ystad gibt’s so gut wie gar keine Kriminalität«, sagt er.

»Weil Kurt Wallander schon alle Verbrechen aufgeklärt hat«, sage ich.

Der Typ lacht, und in mir keimt Hoffnung auf, dass sich etwas zwischen uns ergeben könnte.

»Woher kommst du?«, frage ich.

»Aus München«, antwortet er, und ich mache ein Kreuz ins erste Nein-Kästchen.

»Hast du eine Freundin?«, frage ich weiter.

Er sieht überrascht aus, dann lächelt er jungenhaft.

»Ja«, sagt er. Um nach ein paar Sekunden hinzuzufügen: »Entschuldigung!«

Ich mache ein Kreuzchen ins zweite Nein-Kästchen. Trotzdem gebe ich ihm meine Telefonnummer, als er danach fragt.

Als ich nach Hause komme, schaue ich mir auf RedTube einen Achtzigerjahreporno an und verschaffe mir selbst einen Orgasmus, um besser einschlafen zu können. Es hilft nur leider nicht. Ich liege auf der Seite und starre an die dunkle Wand. Am nächsten Wochenende werde ich meine Bücher nach Farben sortieren.

3

Es ist Montag, und ich beginne die Arbeitswoche mit einer neuen AMS-Gruppe. Als ich den Raum betrete, sitzen sie dort schon wie Wachsfiguren: eine Frau mit Doppelkinn und Goldringen, die tief in ihre geschwollenen Finger einschneiden, ein junges Mädchen mit weißblonden Haaren überm dunklen Haaransatz, das an seinen Nagelhäuten knabbert, und ein Mann mit Schnurrbart im karierten Hemd. Alle haben den gleichen abwesenden Blick, aber der Mann hält immerhin einen Stift bereit.

»Hallo!«, sage ich. »Ich heiße Julia und bin Ihre Lehrerin.«

Niemand erwidert den Gruß.

Ich hatte auch mal einen Job, den ich mochte. Als Matthias und ich nach Wien gezogen waren, arbeitete ich für eine Weile als Journalistin. Das Magazin, für das ich tätig war, hieß VIenna frOnT,und die Schreibweise des Namens stand für den Nonkonformismus der Macher in Bezug auf die österreichische Gesellschaft. Wir saßen in einem winzigen Büro im 15. Bezirk und kultivierten unsere ironische Distanz zu Almdudler und Leberkässemmeln. Ich selbst war für die Inlandsnachrichten zuständig und schrieb nebenbei Kolumnen, in denen es um die Vorliebe rechter Politiker für lose um die Schultern geschlungene Pullover und den Verbrauch von Joghurtgetränken in deutschsprachigen Ländern ging. VIenna frOnT sollte der Welt einen Spiegel vorhalten, damit sie über sich selbst erschrak. Nach fünf Monaten waren wir bankrott.

»Wie heißen Sie?«, frage ich die Frau mit den Wurstfingern.

»Bettina«, antwortet sie.

»Ich heiße …«, korrigiere ich sie freundlich.

»Ich heiße Bettina«, sagt sie.

In der Pause freue ich mich, als ich Rebecca im Lehrerzimmer sehe. Sie kommt mit weit aufgerissenen Augen auf mich zu und packt mich am Arm.

»Ich glaube, einer meiner AMS-Schüler ist besoffen«, flüstert sie mir zu.

»Ich habe eine AMS-Schülerin, die jeden Morgen um vier Uhr aufsteht, nur damit sie mal ihre Ruhe hat«, flüstere ich zurück. »Warum schläft sie nicht einfach weiter, wenn sie ihre Ruhe haben will?«

»Um vier?«, flüstert Rebecca.

Ich nicke.

»Und was macht man um vier Uhr morgens?«, fragt Rebecca in normaler Lautstärke.

»Sie liest wahrscheinlich Zeitung und macht Sudokus«, antworte ich ebenfalls in normaler Lautstärke. Rebeccas Gegenwart hebt zuverlässig meine Stimmung. Wäre ich Dorothy aus dem schon erwähnten ›Zauberer von Oz‹, wäre sie meine gute Hexe aus dem Norden und Leonore die böse Hexe aus dem Westen. Rebecca und ich haben uns während der Berlitz-Ausbildung kennengelernt, und mein Beschluss, sie zur Freundin zu nehmen, stand fest, als ich hörte, dass sie gelernte Geigenbauerin ist. Jemand, der Geigen baut, kann nur ein guter und gescheiter Mensch sein, vergleichbar höchstens noch mit jemandem, der Leprakranke pflegt. Leider verdient man mit dem Geigenbau so gut wie nichts, weshalb Rebecca Englischlehrerin geworden ist. Aber überhaupt so jemanden zu kennen! Meine Traumfreundinnen und -freunde wären übrigens ein lesbisches Mädchen, ein Computernerd und irgendwer aus Brooklyn. Dazu Elfriede, klar.

»Wie viele Stunden hast du heute?«, frage ich.

»Nur drei«, sagt sie. »Mit derselben Gruppe. Und du?«

»Zehn«, sage ich.

Rebeccas Augen verengen sich.

»Hör auf, so viele Stunde zu machen!«, sagt sie. »Nimm dir die Zeit, Bücher oder Zeitungsartikel zu schreiben und Leute zu interviewen! Wolltest du nicht in Wallraffs Fußstapfen treten?«

»Aber ich mach ja schon den Wallraff«, verteidige ich mich. »Ich arbeite bei Berlitz und tu so, als wäre ich Englischlehrerin.«

Dann läutet es, und ich muss zur vierten und letzten Stunde mit Bettina, Steffi und Hans.

 

Mit zwei Tüten voller Einkäufe erklimme ich langsam die Treppe des Jugendstilhauses im 7. Bezirk, in dem ich wohne. Im zweiten Stock setze ich die Tüten ab und schaue, wie immer, auf die Wohnungstür zu meiner Linken. Die Wohnung dahinter liegt zur Straße hin, nicht zum Hinterhof wie meine eigene im vierten Stock. Normalerweise riecht es auf dem Treppenabsatz schwach nach Zigarettenrauch und Kaffee, und ein paarmal habe ich hinter den Milchglasscheiben der Tür einen Schatten gesehen. An der Klingel hängt ein kleines Schild, auf dem in schnörkeligen Buchstaben »E. Jelinek« geschrieben steht. Es hat ein paar Monate gedauert, bis mir aufging, wer sich dahinter verbergen könnte, woraufhin ich den serbischen Hausmeister befragte.

»Ja, ja«, sagte er eifrig nickend. »Eine große Dame. Aber furchtbar scheu. Geht nicht viel raus. Sehr besonders.«

Seitdem warte ich verzweifelt darauf, mit meiner berühmten Nachbarin zufällig zusammenzustoßen, bisher leider vergebens. Von der Straße aus kann ich erkennen, dass ihre Fenster schmutzig sind. Man sieht das, obwohl ein paar blühende Topfpflanzen dahinter stehen. Manchmal versuche ich, mir Elfriede Jelinek bei der liebevollen Pflege ihrer Azaleen vorzustellen, aber es gelingt mir nicht. Es ist, als wollte mein Unterbewusstsein sie nur als jemanden akzeptieren, der Kakteen mag und fleischfressende Pflanzen mit Fliegen füttert.

Manchmal denke ich, dass es nur an ihr liegt, dass ich noch keine Schriftstellerin bin. Dass Elfriede daran schuld ist. (In meiner Wut rede ich sie immer nur mit dem Vornamen an.) Dass mit Elfriede die Literaturquote im Haus erfüllt und folglich für mich kein Platz mehr ist. Dass, anders gesagt, wenn Elfriede nicht im Haus wohnen würde, ich mindestens schon drei Romane geschrieben hätte. In besseren Momenten träume ich davon, wie wir Freunde werden. Sie klingelt dann an meiner Tür, um nach einer Tasse Essig zu fragen.

»Ich bin auch Schriftstellerin!«, würde es aus mir herausbrechen, und Elfriede würde überrascht die Augenbrauen heben, dass eine leibhaftige Kollegin – und mögliche Seelenverwandte – im selben Haus wohnt. Dann würde ihr Gesicht wieder ernst.

»Die Dinge zu betrachten ist ein männliches Privileg«, würde sie sagen.

»Hm«, würde ich sagen und bedächtig nicken.

»Mein Schreiben richtet sich gegen die Tyrannei der Wirklichkeit.«

»Aber warst du schon mal im Prater? Das kann richtig Spaß machen, Elfie«, würde ich sagen, um möglichst schnell einen Kosenamen einzuführen.

»Folge meinen Tränen, und das Meer wird dich verschlingen«, würde Elfriede sagen.

»Das versteh ich jetzt nicht, aber komm doch rein, Fifi!«, würde ich sagen und einen anderen Kosenamen benutzen, falls ihr der erste nicht gefallen hätte.

Bei vielen Tassen Tee – oder vielleicht auch Whisky – würden wir dann bei mir zusammensitzen und darüber reden, wie anstrengend es ist, Schriftstellerin zu sein.

Mit einem kleinen Seufzer nehme ich meine Tüten und schleppe mich weiter die nach Scheuermittel und kaltem Stein riechende Treppe hinauf.

4

Für den Rest der Woche hoffe ich, dass der deutsche Typ aus der Passage anruft. Aber natürlich tut er das nicht. Woraufhin ich beschließe, dass es keine Rolle spielt, und mich anderweitig beschäftige, will sagen: unterrichte, ins Fitnessstudio gehe und mir beim langweiligen Abendessen »Die Simpsons« und »Grey’s Anatomy« auf Deutsch anschaue. »Verdammt noch mal, Meredith, hör auf mich!« Ich fahre mit dem Zug in einen Vorort und adoptiere einen kastrierten obdachlosen Kater mit dem schönen Namen Optimus. Mit Optimus langweile ich mich weiterhin beim Abendessen, während attraktive junge Ärzte in Seattle Leben retten und etwas über die großen Wahrheiten des Lebens erfahren.

Manchmal mache ich mir Sorgen, dass solche Fernsehserien für mich wirklicher sind als mein eigenes Leben. Dass mir die Liebes-, Familien- und Karriereprobleme von Meredith aus »Grey’s Anatomy« näher sind als meine eigenen. Ich ertappe mich schon dabei, dass ich mich für Meredith Grey halte, und frage mich, warum ich irgendwelchen Leuten den Unterschied zwischen some und many erkläre, statt im Operationssaal zu stehen und eine beschädigte Mitralklappe zu reparieren. Einmal habe ich Rebecca angeschaut und war ein paar Sekunden lang verwirrt, dass sie nicht Cristina Yang war. Und immer noch kann ich mich darüber echauffieren, dass George O’Malley, Lexie Grey und Derek Shepherd tot sind. Kein Erdbeben in der Türkei und keine eingestürzte Fabrik in Bangladesch treibt mir so die Tränen in die Augen wie die Tragödie, dass Denny Duquette starb, ohne dass Izzie bei ihm war. Er starb, ohne dass Izzie bei ihm war. Starb einfach. Ohne Izzie.

Eines Abends saß ich an meinem Laptop und war kurz davor, mir die Krankenhauskleidung aus »Grey’s Anatomy« im Internet zu bestellen. Erst als mir klar wurde, welche Art Freak ich gerade zu werden drohte, klappte ich den Laptop zu und rief Leonore an, um sie zu fragen, ob sie mit mir ausgehen will. Manchmal träume ich immer noch davon, mir die Kleidung zu bestellen, insbesondere den hellblauen Halbarmkasack mit zwei aufgenähten Taschen vorne und einer verborgenen innen für Stifte.

 

Heute feiert Rebecca ihren Geburtstag im O’Malley’s am Schottentor. Als ich ankomme, ist das Pub schon voll. Die Wände sind dunkelgrün und mit Guinness-Plakaten beklebt. Ich finde Rebecca im klaustrophobisch engen Keller und setze mich neben Jakob, ihren Mann. Jakob ist auch Geigenbauer und sieht aus wie Jesus. Sogar Jakobs Bruder ist Geigenbauer, und auch er sieht aus wie der Bibel entstiegen.

»Ich muss dir was erzählen«, sagt Rebecca und lehnt sich an Jakob vorbei zu mir herüber. »Ich hab Matthias in der Kaiserstraße gesehen.«

Erst sage ich nichts. Jakob, der Jesus, starrt weiter nur nach vorn.

»Was hat er gemacht?«, frage ich.

»Er ist die Straße runtergegangen«, sagt Rebecca.

»Wie?«, sage ich mit schwacher Stimme. »Einfach so?«

»Ich weiß«, sagt Rebecca. »Das geht gar nicht.«

Dann werden wir von einem von Rebeccas Freunden unterbrochen. Ich bleibe neben Jakob, dem Jesus, sitzen und denke an Matthias.

 

Matthias und ich waren vier Jahre zusammen. Erst war alles gut zwischen uns, dann wurde es schlecht. Wir stritten uns darüber, dass er zu viel Gras rauchte und mir nie beim Putzen half. Jedes Mal, wenn wir uns gestritten hatten, kaufte mir Matthias eine Tüte Lakritz, weil er wusste, wie sehr ich Lakritz mag. Es war ein Friedensangebot.

Der letzte Versuch, unsere Beziehung zu retten, war der Umzug in seine Heimatstadt Wien. Und alles wurde wieder gut. Ich lernte »Grüß Gott« sagen, entdeckte die Sonntage wieder und erwarb die Fähigkeit, nicht von der Straßenbahn überfahren zu werden. Matthias wurde an einer Schule für Fotografie angenommen, und da die Schüler dort Verständnis für die handwerkliche Seite des Fotografierens entwickeln sollten, wurde unser kleines Bad in eine Dunkelkammer verwandelt. Die Fenster wurden mit schwarzen Müllsäcken abgeklebt, und meine Schminksachen fanden bei den Putzmitteln Unterschlupf. Unzählige Male stieß ich mir den Kopf an dem riesigen Vergrößerungsapparat, der zwischen Toilette und Dusche stand. Aber es war in Ordnung, weil Matthias endlich ein Ziel in seinem Leben hatte. Er gab einen Großteil unseres spärlichen Monatsbudgets für Bücher von und über Mapplethorpe, LaChapelle oder Corbijn aus, und während seines ersten Studienjahres war ich ein williges Model, wenn er mit unterschiedlichen Bildkompositionen und Kontrasten experimentierte. Er kiffte nicht mehr jeden Tag, und seine Augen wurden wieder klar. Alles war okay. Es war sogar okay, dass VIenna frOnT bankrott machte, weil Matthias’ Glück über alles ging. Es war die Zeit, als ich noch glaubte, echte Liebe bedeute Selbstaufgabe, und deshalb bereit war, als Mond um einen Planeten zu kreisen. Die Zeit, als ich noch glaubte, ich müsse Matthias retten und ihn dazu bringen, sein volles Potenzial zu entfalten, bis er das vollendete Geschöpf war, das außer mir keiner in ihm zu sehen schien.

Bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte, befand er sich im zweiten Ausbildungsjahr. Ich sah beim Nachhausekommen eine seiner Vinylplatten herumliegen, wo sie, als wir die Wohnung zusammen verlassen hatten, noch nicht herumgelegen hatte. Ohne groß darüber nachzudenken, blies ich kleine Tabakkrümel von der Hülle und stellte die Platte zurück an ihren Platz. Dann bemerkte ich öfter, dass die Tür nur einmal abgeschlossen war statt doppelt, und ich schloss immer doppelt ab. Plötzlich stritten wir uns auch wieder fast täglich, und das Küchenregal quoll bald über von Lakritz.

Dann kam der Anruf. Ich lag mit geschwollenen Mandeln zu Hause und wollte gerade ein Nickerchen machen, als das Telefon klingelte und eine Frau mit einer Samtstimme sagte, man habe noch eine von Matthias’ Fotomappen, ob er nicht vorbeikommen und sie abholen wolle.

»Er ist ja nun schon länger nicht mehr bei uns«, fuhr sie fort.

Von der Frau erfuhr ich, dass Matthias die Schule schon seit Oktober nicht mehr besuchte, sie ihn aber erst vor einem Monat offiziell aus der Schülerkartei gestrichen hatten. Jetzt war März. Fast sechs Monate lang hatte er so getan, als ginge er jeden Tag zur Schule. Fast sechs Monate lang hatte er darüber gesprochen, wie viel Spaß ihm die Ausbildung mache und dass er sich schon darauf freue, eines Tages als Fotograf zu arbeiten. Mit dem Hörer in der Hand hätte ich mich fast übergeben.

Danach begann ich, die Wohnung nach Indizien abzusuchen. In einer Plastiktüte, die hinter seinem Computer versteckt lag, fand ich massenhaft Kippen von Joints. Die Tüte war sorgfältig mit mehreren Gummiringen verschlossen. Warum er die Kippen nicht einfach weggeschmissen hatte, war mir ein Rätsel. Weniger rätselhaft war, dass sämtliche seiner Schulbücher seit Anfang des Schuljahres unverändert im Regal standen und sich auf den Entwicklerschalen im Badezimmer eine dicke Staubschicht angesammelt hatte.

Als Matthias um Viertel nach sechs – »War ein echt harter Tag heute!« – nach Hause kam, konfrontierte ich ihn mit meinen Entdeckungen. Er leugnete nichts.

»Aber warum?«, fragte ich ihn.

»Ich wusste, wie sauer du werden würdest«, sagte er, womit das Ganze sich im Handumdrehen in einen Fehler meinerseits verwandelte.

Sechs Monate lang war er in ein Café im 16. Bezirk gegangen, dessen Besitzer die Kunden kiffen ließ. Wenn das Café geschlossen hatte, kam er, sobald ich zur Arbeit gegangen war, zurück in die Wohnung und verließ sie, kurz bevor ich nach Hause kam. Es zeigte sich, dass Matthias doch ein Ass im Putzen war, zumindest wenn es darauf ankam, die Spuren seines Aufenthalts in der Wohnung zu beseitigen.

Wenn ich jemandem vom Ende unserer Beziehung und seinem Doppelleben erzählte, versuchte ich es anfänglich auf die witzige Tour: »Ich bin nur froh, dass er nicht auch noch meine Unterwäsche angezogen und sich Samantha genannt hat!« Ich hab’s gelassen, weil niemand darüber lachen konnte. An der Geschichte von Matthias und mir ist einfach nichts lustig.

 

Nach zwei Stunden bei O’Malley’s entschuldige ich mich.

»Du gehst aber nicht, weil ich von Matthias erzählt habe?«, fragt Rebecca beunruhigt.

»Nein, um Gottes willen, nein!«, sage ich.

Zu Hause weine ich dann in Optimus’ Fell, bis er flüchtet und sich hinterm Sofa versteckt.

5

Ich dusche in der Küche, nicht weil ich es so möchte, sondern weil dort hinter einer kleinen Trennwand die Dusche eingebaut ist. Mit Bädern und Toiletten ist in Wiener Altbauwohnungen an den überraschendsten Stellen zu rechnen. Claire zum Beispiel muss sich in ihrem Haus im 16. Bezirk eine unbeheizte Toilette auf dem Treppenabsatz mit den Nachbarn teilen.

Nachdem ich geduscht und mich angezogen habe, gehe ich in die Mariahilfer Straße. Ich bin die einzige Lehrerin, die sich freiwillig für den Samstagsunterricht meldet. Der Grund ist, dass ich am Wochenende sowieso nichts vorhabe. Heute werde ich eine Gruppe von vier Zehnjährigen unterrichten, die alle das Unglück haben, als Kinder ehrgeiziger Eltern auf die Welt gekommen zu sein.

»Der Samstag ist der Muscheltag«, sagt ein kleines Mädchen kryptisch. Dann beginnt sie, allerlei Muschelschalen aus ihrer Tasche hervorzukramen.

Da ich die Gruppe noch nicht unterrichtet habe, habe ich keine Ahnung, warum Samstag Muscheltag ist. Für den Rest der Stunde liegen die Muschelschalen jedenfalls auf dem Tisch und erinnern mich daran, dass ich mir ein bisschen Mühe hätte geben sollen