Wie künstlich ist Intelligenz? - Andreas Eschbach - E-Book

Wie künstlich ist Intelligenz? E-Book

Andreas Eschbach

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Beschreibung

Seit einiger Zeit beschäftigen sich Wissenschaftler, Journalisten und Politiker immer intensiver mit dem Thema der künstlichen Intelligenz. Für die Science-Fiction ist es nichts Neues: Ob Positroniken oder MechWarriors, ein Leben im Cyberspace oder in der Virtuellen Realität – seit Jahrzehnten zählen künstliche Intelligenzen verschiedenster Ausprägung zum Kern der Science-Fiction. Wie sieht es die Science-Fiction heute? Neun Erzählungen und ein Artikel werfen ganz unterschiedliche Blicke auf künstliche Intelligenzen: Science-Fiction von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, mal erdverbunden, mal im All, mal satirisch, mal sehr ernsthaft. Gewinner des Deutschen Science-Fiction-Preises 2021 in der Kategorie "Kurzgeschichte" mit "Wagners Stimme" (Platz 1) und "Die Sapiens-Integrale" (Platz 3).

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· Andreas Eschbach · Klaus N. Frick · Stefan Lammers ·· Gundel Limberg · Michael Marrak · Carsten Schmitt ·· Nele Sickel · Janis Radeleff · Judith C. Vogt ·

WIE KÜNSTLICH IST

INTELLIGENZ

Science-Fiction-Geschichtenvon Morgen und Übermorgen

Herausgegeben vonKlaus N. Frick

Mit einem Nachwort vonReinhard Karger,DFKI – Deutsches Forschungszentrumfür Künstliche Intelligenz GmbH

Inhaltsverzeichnis

Vorwort· Klaus N. Frick

Andreas Eschbach · Alles Geld der Welt

Judith C. Vogt · Ausstieg

Klaus N. Frick · Der Reigen der Sandteufel

Stefan Lammers · Johanna

Jannis Radeleff · Crashtestdummys

Nele Sickel · Eine völlig legale Kiste

Carsten Schmitt · Wagners Stimme

Gundel Limberg · Daheim

Michael Marrak · Die Sapiens-Integrale

Nachwort· Reinhard Karger, M.A.,

Deep Future – Erzählte Zukunft

ohne weiße Kaninchen · Unternehmenssprecher, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, DFKI

Autorenporträts

Vorwort

KLAUS N. FRICK

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

zu den Themen, die in den vergangenen Jahren immer wieder neu hochgekocht worden sind, zählt die künstliche Intelligenz. Längst ist der Begriff ebenso wie seine Abkürzung KI in der allgemeinen Medienwelt angekommen, er wird in Zeitungsartikeln ebenso selbstverständlich eingesetzt wie in Fernsehberichten. Und wenn man genau betrachtet, wie der Begriff in all seinen Schattierungen benutzt wird, fällt schnell auf, dass es keine allgemeingültige Definition zu geben scheint.

Die meisten Menschen stellen sich unter einer KI offensichtlich einen besonders guten Computer vor, einen jener Riesenrechner, die viele Daten sammeln und daraus Verknüpfungen ableiten. Ob man bereits von einer künstlichen Intelligenz sprechen kann, wenn einfach nur viele Daten – Stichwort »Big Data« – in einem immer größeren Zusammenhang erfasst werden, ist allerdings fraglich.

Vielleicht kann man wirklich erst von einer KI sprechen, wenn diese in der Lage ist, sich selbst zu optimieren und in ihre eigenen Programmzeilen einzugreifen. Davon sind wir in der wirklichen Welt nach wie vor sehr weit entfernt.

Immerhin arbeiten die großen Konzerne an entsprechenden Programmen und betreiben Grundlagenforschung. Es ist sicher nur eine Frage der Zeit, bis es Computer gibt, neben denen die bisherigen Computer so wirken wie die Rechenmaschinen der Fünfzigerjahre. Bis zu einem selbstständig »denkenden« Rechnersystem dürfte trotzdem noch einige Zeit vergehen.

In der Science-Fiction ist das allerdings – wie so oft – ganz anders. Riesige Roboter und ebenso gigantische Rechengehirne spielen in dieser Literaturgattung seit ihren Anfängen immer wieder eine Rolle.

Die Science-Fiction passte sich dabei stets an die Realität an: Mal waren die riesigen Rechner eine Gefahr für die Menschheit, dann wieder wurden sie positiv geschildert, mal wurden sie dämonisiert, mal verherrlicht. Häufig dienten künstliche Intelligenzen in der Science-Fiction – sei es im Film oder im Roman – auch dazu, als Spiegelbild einer Entwicklung zu dienen: Wie würde sich die Menschheit beispielsweise verändern, wenn ihnen eine KI das Denken abnähme oder wenn alle Tätigkeiten des alltäglichen Lebens von einer KI gesteuert würden?

Dabei ist die Science-Fiction kein Mittel, die Zukunft vorauszusagen. Science-Fiction ist kein wissenschaftlicher Blick in die Zukunft, sondern eine »Spiegelung« der Gegenwart. Autorinnen und Autoren versuchen aus ihrer Gegenwart heraus, eine mögliche Zukunft oder eine sonst wie orientierte fiktive Welt zu beschreiben. Dabei greifen sie auf wissenschaftliche Grundlagen zurück, variieren aktuelle Erkenntnisse oder verlagern die Geschichte gleich in eine Siedlung auf dem Mars.

Wie wäre es denn beispielsweise, wenn sich eine KI in das internationale Geldgeschäft einmischen und ihrer eigenen Agenda folgen würde? In seiner Geschichte »Alles Geld der Welt« macht sich Andreas Eschbach seine Gedanken darüber.

Wie würde es sich anfühlen, wenn eine KI in der medizinischen Betreuung an großem Einfluss gewänne? Carsten Schmitt zielt in seiner Geschichte auf ein vergleichbares System, der man sich nicht unbedingt bis zum Ende ausmalen möchte. Und natürlich darf auch eine KI an Bord eines Raumschiffes nicht fehlen, wie sie Michael Marrak in seiner Geschichte »Die Sapiens-Integrale« zeigt.

So unterschiedlich wie die Autorinnen und Autoren sind, so verschieden und abwechslungsreich präsentieren sie ihre Geschichten. Lassen Sie sich auf die Texte und Visionen ein, die Andreas Eschbach, Judith C. Vogt, Klaus N. Frick, Stefan Lammers, Jannis Radeleff, Nele Sickel, Carsten Schmitt, Gundel Limberg und Michael Marrak entwickelt haben. Und lesen Sie auch das Nachwort von Reinhard Karger – er blickt aus wissenschaftlichem Blickwinkel auf dasselbe Thema wie die Autorinnen und Autoren, kommt aber wegen dieses Blickwinkels auf völlig andere Schlussfolgerungen.

Ich lade Sie ein, sich auf die unterschiedlichste Weise dem Thema zu nähern. Lassen Sie sich auf die Visionen ein, die wir in diesem Buch präsentieren. Die Wirklichkeit wird ohnehin – da bin ich mir sicher – einmal ganz anders aussehen. Aber mit Geschichten von morgen oder übermorgen können unsere Gehirne ein wenig Mentaljogging betreiben und somit vielleicht mehr über die potenzielle Wirklichkeit erfahren.

Viel Vergnügen mit unserer Anthologie wünsche ich!

Ihr Klaus N. Frick

Alles Geld der Welt

ANDREAS ESCHBACH

»Mann, Alan – du glaubst nicht, was ich grade gehört habe!«

Alan hob die Hände von der Tastatur und versuchte, den Gedanken wiederzufinden, den Robs plötzliches Hereinplatzen vertrieben hatte. »Ich kenn dich halt zu gut, um dir alles zu glauben«, sagte er.

Rob warf sich in den Sessel neben ihn. »Aber das hier wirst du mir glauben müssen. Es geht um deine Tammy. Um Tammy und Martha, um genau zu sein. Unsere Lieblingskonkurrenten.«

Natürlich. Im Informatikbereich des MIT gab es derzeit nur ein Thema, nämlich den großen KI-Wettbewerb, den einer der Silicon-Valley-Giganten ausgelobt hatte. Mehrere Dutzend Teams waren angemeldet, aber nach Stand der Dinge hatten Rob und er, die momentan anerkannt begabtesten Nerds, nur eine ernsthafte Konkurrenz, nämlich Tamara »Tammy« Lyman, die Tochter des Hedgefonds-Magiers und Milliardärs Jesse Lyman, und ihre Freundin Martha Soames. Die anerkanntermaßen beide ebenfalls höchst begabt waren, aber keine Nerds. Vielmehr hatten sie so etwas wie ein Sozialleben. Was immer das sein mochte.

Alan gab es auf, den Geistesblitz zurückholen zu wollen, und wandte sich seinem Freund zu. Rob Mitchell sah überhaupt nicht wie ein Nerd aus, eher wie ein Footballspieler, der sich ins falsche Gebäude verirrt hatte: groß, breitschultrig, topfit, Waschbrettbauch. Nur seine verhangenen Koboldaugen passten nicht recht dazu.

»Also gut«, sagte Alan. »Ich höre dir zu.«

»Tammy und Martha«, wiederholte Rob. »Hast du eine Vorstellung, was die bauen?«

»Du wirst es mir sicher gleich sagen.«

»Einen Poker-Assistenten.«

»Tammy?« Alan lachte auf. »Tammy hat null Ahnung von Poker.«

Rob nickte wissen. »Aber Marthas Bruder dafür ‘ne Menge. Der hat schon professionell gespielt, in Vegas. Und der hat ‘nen Kumpel, Tim. Von dem weiß ich das.«

Alan schüttelte den Kopf. »Und wie soll ich mir das vorstellen?«

»Also, pass auf.« Rob rückte näher, wechselte in den Vortragsmodus. Vorträge halten, das konnte er wirklich gut. »Alles, was sie brauchen, ist eine Kamera, die auf den Spieltisch schaut. Die ist mit der KI verbunden, die sie trainiert haben, und die macht alles Weitere. Die erkennt die Karten, die ausgespielt werden, die weiß, welche Karten, sagen wir, Tammy in der Hand hat, und gibt ihr über eine App auf dem Smartphone Anweisung, welche Karte sie strategisch am besten ausspielt. Wobei das Smartphone in der Tasche bleiben kann, die Anweisung geht akustisch per Bluetooth an ihre drahtlosen Ohrhörer. Damit sieht sie aus wie jemand, der so cool ist, dass er beim Pokern nebenher Musik hört.«

Alan war ganz anders geworden bei dieser Vorstellung. Und zwar ganz anders.

Ihr eigenes Projekt lief unter dem Titel »Automatischer Administrator«. Sie entwickelten eine KI, die Computernetzwerke administrieren sollte, die notwendige Updates entdeckte und selbstständig durchführte, Back-up-Strategien überprüfte, Platten auf Schreibfehler untersuchte, Engpässe in Datenleitungen fand, auf Lücken in den Sicherheitsmaßnahmen hinwies und so weiter.

Entschieden unsexy, verglichen damit.

»Oh, verdammt«, stieß er hervor. »Verdammt, ist das eine geile Idee.« Er sah sich um, war schwer versucht, irgendwas an die Wand zu schmeißen, am besten die Tastatur. »Warum ist uns das nicht eingefallen? Wenn sie das hinkriegen, haben sie den Preis in der Tasche.«

»Es sei denn, wir kriegen was noch Besseres hin«, meinte Rob.

»Vergiss es.« Das machte ihn richtig fertig. »Wir kriegen nicht mal was Vergleichbares hin. Nicht in der Zeit, die uns noch bleibt.«

Rob hob ungerührt die Schultern. »Wir arbeiten einfach vierundzwanzig Stunden pro Tag. Und wenn das nicht reicht, nehmen wir die Nächte dazu. Außerdem, hey – es geht schließlich nur um einen hässlichen Pokal aus Plexiglas.«

Alan spürte, wie Wut in ihm aufwallte, jene hilflose Wut, die ihn seit seiner Kindheit begleitete.

»Du nimmst das nicht wirklich ernst, oder?«, blaffte er seinen Freund an. »Es geht eben nicht nur um diesen blöden Pokal. Es geht darum, dass an dem Sieg in diesem Wettbewerb Fördergelder hängen. Da hängen unsere Karrieren dran, verdammt!« Er warf sich so heftig gegen die Rückenlehne seines Stuhls, dass er ein paar Meter weit über das Linoleum rollte. »Shit– wozu braucht die Tochter eines Milliardärs eine Karriere? Ich brauche eine Karriere! Sie kann später machen, was immer sie will. Aber wenn ich die Kurve nicht kriege, dann dreh ich mit vierzig noch Burger auf dem Grill herum.«

Rob schnaubte unwillig. »Jetzt geh mal bisschen vom Gas, ja? Du bist Alan Cleveland, der Einser-Mann vom MIT. So jemand dreht mit vierzig keine Burger mehr herum, so viel steht fest.«

»Alan Cleveland, der Einser-Mann vom MIT, dreht heute schon Burger herum.« Er spähte auf die Uhr, zuckte zusammen. »Ach, Mist! Ich muss los!«

Er sprang auf, zerrte seine Jacke unter einem Berg anderer Klamotten hervor, vergewisserte sich, dass die Autoschlüssel noch darin steckten, und war im nächsten Moment zur Tür hinaus.

Der Stau unterwegs hielt sich in Grenzen, trotzdem war Alan achtzehn verdammte Minuten zu spät dran, als er mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz von Joey’s Burger einbog. Wie es Vorschrift war, parkte er ganz hinten – die guten Plätze vorne mussten die Angestellten den Kunden lassen: noch einmal zwei Minuten mehr.

Das Gebäude mit dem roten Dach sah aus wie ein riesiger Fliegenpilz, über dem sich ein unsagbar kitschiger Burger aus Plastik drehte, Tag und Nacht und bei Nacht beleuchtet. Der Eingang vorne war immer sauber, der Eingang für die Angestellten nie: Schon die Türklinke fühlte sich fettig und schmierig an, und drinnen lief man über eine in Jahrzehnten gewachsene Schicht abgelagerter Fettdünste.

Während Alan hastig die Jacke aus- und die Kittelschürze anzog, hörte er das Klappern aus der Küche, die ungeduldigen, bellenden Rufe: Es herrschte Hektik, wie immer um diese Tageszeit. Dann machte er die Tür zur Küche auf, trat ein in die alles durchdringende Wolke aus Bratfettgeruch und wusste, dass seine Verspätung mal wieder Ärger geben würde.

Und tatsächlich – kaum stand er am Grill, schoss Joey schon auf ihn zu, mit hochrotem Kopf, Blutdruck 180.

»Mister Cleveland!«, fauchte er. »Das ist das dritte Mal in diesem Monat, dass du zu spät kommst! Und gleich fast ‘ne halbe Stunde! Im Arbeitsvertrag steht ausdrücklich –«

»Ja, Mister Miller.« Alan hob die Hände. »Sie haben völlig recht, ich hab’s versiebt. Ich, ähm … Das Studium, wissen Sie? Da ist man manchmal so in irgendwas vertieft, dass man alles um sich herum vergisst. Bitte entschuldigen Sie.«

Das nahm Joey ein bisschen den Dampf raus. Er atmete geräuschvoll aus, musterte Alan von oben bis unten, die Hände in die Seiten gestützt.

»Es heißt immer, Studenten seien klug«, grummelte er schließlich. »Du kannst nicht zu blöd sein, um einen Wecker zu benutzen. Also tust du es absichtlich nicht.«

Alan holte tief Luft. Doch, normalerweise stellte er sich einen Wecker – nur heute hatte er es vergessen!

Mist. Er brauchte diesen Job. Besser gesagt, er brauchte das Geld und hatte gerade absolut nicht die Zeit, sich einen anderen Job zu suchen.

Die Tammys dieser Welt mussten sich nie mit solchen Problemen herumschlagen, sondern konnten sich ganz auf ihre Projekte konzentrieren. Kein Wunder, dass sie besser waren und schneller vorankamen! Kein Wunder, dass ihnen richtig geile Projekte einfielen.

Wobei – zu spät dran zu sein, das war sozusagen das Drama seines Lebens. Dass er heute zu spät zu seinem Job kam, war ja nichts verglichen damit, dass sie mit ihrem Projekt für den Wettbewerb zu spät dran waren, viel zu spät!

»Es tut mir leid, Mister Miller«, sagte Alan. »Ich bleibe selbstverständlich dafür nach Schichtende länger. Kein Problem.«

Joey gab ein Grollen von sich, das wie ein fernes Erdbeben klang. »Das nützt mir gar nichts. Jetzt ist Rushhour. Jetzt warten die Leute auf ihr Essen. Nach Schichtende, pff – da ist nichts mehr los. Was hab ich davon, wenn du dann noch dumm herumstehst?«

Er drehte sich um, zupfte einen Bestellzettel von der Klemmleiste und drückte ihn Alan in die Hand. »Hier. Die warten, weil du nicht da warst. Also machst du diese Bestellung jetzt fertig, legst für jeden noch ein Schokodessert dazu und bringst das Ganze an den Tisch. Aber presto, verstanden?«

»Ja, Mister Miller«, sagte Alan und überflog den Zettel. Viermal Chicken Spezial, vier Salate, drei Cola und ein Wasser.

»Und die Desserts zieh ich dir vom Lohn ab, klar?«

Alan seufzte. »Klar.«

Er beeilte sich. Sich beeilen, das konnte er zum Glück gut. Griff ein Tablett vom Stapel, warf vier Chicken-Pattys auf den Grill, röstete die Brötchen vor, ließ nebenher die Getränke in Pappbecher laufen und holte die vier verdammten Schokodesserts aus der Kühlbox. Parallelverarbeitung nannte man das bei Computern.

Und eigentlich wäre das hier auch ein Job für einen Computer gewesen. Für einen Roboter.

Aber jemand wie er war billiger als ein Roboter.

Noch jedenfalls.

Irgendwie bizarr, dass Leute wie er – Studenten der Informatik – im Grunde daran arbeiteten, Roboter immer billiger und besser zu machen. Und waren die Roboter erst einmal billiger und besser, würden in Zukunft Studenten hier keinen Job mehr finden.

Er sägte an dem Ast, an dem solche wie er künftig hätten sitzen können.

Aber das war ein Problem, über das er gerade lieber nicht nachdenken wollte. Letzten Endes war auch das nur eine Frage des Geldes. Wie alles.

Was hatte er Burger früher geliebt! Als Kind war es immer ein großes Fest gewesen, sich einen leisten zu können.

Nicht, dass er nicht froh war über die Erlaubnis, übrig gebliebene Burger mitzunehmen, solange sie es nicht übertrieben. So bekam er auch mal etwas anderes in den Bauch als immer nur Pizza.

Aber wenn er es eines Tages geschafft haben würde … Wenn er eines Tages nicht mehr jeden Cent umdrehen musste, sondern so viel Geld hatte, dass er sich jederzeit einen Besuch in einem richtigen Restaurant leisten konnte …

Dann, das hatte er schon lange beschlossen, würde er nie wieder im Leben einen Burger essen. Nie. Wieder.

Endlich waren die Pattys soweit. Alan machte die Burger fertig, mit dem Dressing, dem Salat und den anderen Zutaten, hurtig, hurtig, wickelte sie in das Papier ein, das aufwendig bedruckt und beschichtet war und in zehn Minuten im Abfall liegen würde, versammelte alles auf dem Tablett und trug es eilig hinaus zu Tisch 4.

An dem vier höllisch aufgetakelte Mädchen saßen, von denen eine niemand anders als Tamara »Tammy« Lyman war.

Die ihn natürlich erkannte.

»Hallo, Alan«, sagte sie verwundert. »Du hier?«

Da er nicht aufwachte und erleichtert feststellte, dass alles nur ein böser Traum war, und sich auch die Erde nicht auftat, um ihn gnädig zu verschlingen, blieb ihm nur eine Strategie übrig: Vorwärtsverteidigung.

»Hallo, Tammy«, gab er also zurück und bemühte sich, so amüsiert-locker wie möglich zu klingen. »Dasselbe könnte ich dich auch fragen. Ja, ich jobbe hier ein bisschen. Scheißjob, denkt man, nicht wahr? Aber es ist interessanter, als es aussieht. Und … man muss jetzt reinschnuppern. Ehe Leute wie du und ich Roboter bauen, die den Job für weniger Geld machen, nicht wahr?«

Damit hatte er ihr zumindest Stoff zum Nachdenken gegeben. Er konnte förmlich sehen, wie es hinter ihren schlauen, rauchbraunen Augen ratterte. Wie sie überlegte, ob das womöglich sein Projekt war. Ein kommerziell verwertbares Projekt, auf das Investoren sofort anspringen würden …

Ja. War sogar eine Idee. Aber keine, die Rob und er in der verbliebenen Zeit noch hinkriegen würden.

Was tat sie hier? Wollte sie sich mal unters gewöhnliche Volk mischen? Und wo war Martha?

»Die Desserts«, wandte sich Alan an die anderen Mädchen, »hab ich euch dazugeschmuggelt – lasst euch nichts anmerken, okay?«

»Oh, danke!«, flötete eine, eine Blondine mit hochtoupierten Locken und einem Glitzerpullover, der wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als Alan in zwei Monaten hier verdiente. »Das ist aber nett.«

»Du hast uns nie gesagt, dass du so nette Jungs kennst, Tammy«, sagte eine andere, die auch auf Fotomodell gestylt war, in vorwurfsvollem Ton.

»Das ist Alan«, erklärte Tammy und musterte ihn mit einem abschätzigen, aber etwas ratlosen Blick: Sie schien auf einmal nicht mehr genau zu wissen, was sie von ihm halten sollte. »Er ist im selben Kurs wie ich. Künstliche Intelligenz.«

»Ah«, machte die Brünette, die bis dahin noch nichts gesagt hatte. Es klang wie: Bitte, Tammy, fang nicht wieder davon an, das interessiert uns absolut null.

Nerds hatten es einfach schwer. Weibliche Nerds womöglich noch schwerer. Selbst weibliche Nerds, die hochbegabt waren und einen Milliardär zum Vater hatten.

Das war das allergrößte seiner Probleme: dass er heillos in Tammy Lyman verliebt war. Obwohl er wusste, dass er keine Chancen bei ihr hatte, absolut keine. Nada, niente, zero.

Und wenn das schon so war, wollte er sich nicht auch noch von ihr in diesem Wettbewerb schlagen lassen!

Wobei … Sie sah ihn immer noch so nachdenklich an. Das gefiel ihm.

Und brachte ihn auf eine Idee.

Er beugte sich über den Tisch, vorgeblich, um die Salzstreuer zu überprüfen, und meinte dabei wie nebenher: »Ach, sag mal, Tammy, wollten wir beide nicht mal zusammen ins Kino gehen?«

»Was?«, schnappte sie verblüfft.

»Am Freitag«, schlug er vor. »Da läuft dieser japanische Film, in dem sich ein Roboter in einen Menschen verliebt. Wir könnten uns amüsieren und hinterher stundenlang drüber reden, was Filmemacher über KI alles falsch verstehen.«

»Der geht ganz schön ran«, kicherte die Blonde mit den hochtoupierten Haaren.

Tammy hatte ihre Fassung wiedergefunden, zeigte wieder ihre übliche, leicht hochnäsige und überaus distinguierte Haltung. Die Alan anzog wie verrückt und zugleich schier wahnsinnig machte.

»Rasend interessanter Vorschlag«, sagte sie. »Aber wir vier gehen am Freitag schon in den … Na, wie heißt er noch mal? Viel Krach und Katastrophe, und die Welt geht unter?«

»Ich weiß, welchen Film du meinst«, erwiderte Alan milde enttäuscht, kam aber gerade auch nicht auf den Titel.

»Er kann doch mitkommen«, schlug das Fotomodell vor. »Dann hättest du jemand, mit dem du Computerslang reden kannst, wenn’s dich überkommt.«

»Ein Date mit Anstandsdamen«, kicherte die Blonde.

»Ja, warum nicht?«, meinte Tammy zu Alans Überraschung. »Falls du keine Angst hast, der Hahn im Korb zu sein …?«

Alan sah sie an. Er hatte nicht damit gerechnet, mit seiner Frage mehr zu erreichen, als sie zu belustigen, und eigentlich hatte er auch absolut keine Zeit, ins Kino zu gehen, aber … Aber jetzt konnte er natürlich nicht mehr zurück.

»Kein Problem«, sagte er also tapfer.

»Aber nicht, dass er uns irgendwas in die Cola mischt, das uns außer Gefecht setzt«, sagte die Brünette und schnupperte demonstrativ an ihrem Becher. »Ich hoffe doch, da hinten gibt es ein Sicherheitssystem, das so was verhindert?«

Auf Tammys ebenmäßigem Gesicht erschien ein wunderbar feines, höchst amüsiertes Lächeln. »Paige, das hätte keinen Zweck«, meinte sie. »Alan knackt jedes Sicherheitssystem.«

Dann sah sie ihn an und nickte hoheitsvoll. »Also gut. Freitag. Wir holen dich um sieben Uhr am Institut ab, okay?«

»Okay«, sagte Alan und konnte es immer noch nicht fassen. »Freitagabend um sieben.« Er deutete nach hinten. »Ich muss wieder. Ihr kennt ja den Slogan. Feed the world. Und jemand muss es schließlich tun. Lasst’s euch schmecken!«

»Danke für die Desserts«, zwitscherte die Blonde.

»Das hat aber lang gedauert«, maulte Joey, als Alan zurück in den hinteren Bereich kam.

»Dafür sind die vier Kundinnen jetzt wieder völlig versöhnt«, gab Alan zurück. »Da musste ich schon ein bisschen meinen Charme spielen lassen.«

»Hmm«, machte Joey, sagte aber nichts mehr.

Alan ging an seinen Grill und kratzte ihn sauber, während das Gespräch von gerade eben in seinem Kopf noch einmal ablief wie eine heimlich mitgeschnittene Aufnahme.

Alan knackt jedes Sicherheitssystem, hatte Tammy gesagt.

Also hatte sie ihn doch schon wahrgenommen, wenn sie das über ihn dachte! Und immer nur so getan, als wisse sie grade mal seinen Namen!

Mädchen!

Er spähte auf den nächsten Zettel an seinem Klemmbord. Zwei Doppel-Cheeseburger. Okay. Er warf vier Pattys auf den Grill, legte zwei noch eingepackte Scheiben Schmelzkäse bereit …

Alan knackt jedes Sicherheitssystem.

Er hielt inne, starrte auf die glühend heiße Fläche des elektrischen Grills und merkte gerade noch rechtzeitig, dass er fast dabei war, die Pattys zu verbrennen.

Alan knackt jedes Sicherheitssystem.

In Windeseile machte er die Cheeseburger fertig, dann wischte er sich die Finger ab, so gut es ging, holte sein Handy aus der Tasche und tippte Rob hastig eine Mitteilung: Um 11 p.m. Im Labor. Ich hab DIE Idee!

Rob war leicht angesäuert. »Ich wollte heute mal früher schlafen gehen.«

»Schlaf wird überschätzt«, erwiderte Alan, während er sich aus seiner Jacke schälte und sich eine lange, heiße Dusche wünschte, um den Bratfettgestank loszuwerden.

»Nun spuck’s schon aus«, grummelte Rob und machte sich über einen der drei Burger her, die Alan mitgebracht hatte. »Deine Idee.«

Alan legte die Hände zusammen. »Unser Ansatz ist zu langweilig. Eine KI, die Computersysteme analysiert und bewertet und Schwachstellen auflistet – das ist nützlich, aber ungefähr so nerdy wie die Big Bang Theory.«

»Mmh.« Rob nickte kauend. »Keine Chance bei der Jury. Von denen hat niemand je Big Bang Theory gesehen. Jede Wette.«

»Wir können aber auch nicht mehr von vorne anfangen, dafür reicht die Zeit nicht«, fuhr Alan fort. »Wenn wir jetzt auch noch, was weiß ich, Mustererkennung und Bildanalyse und so weiter dazu nehmen, sind wir in fünf Jahren noch nicht fertig.«

»Meine Rede.« Rob deutete auf die anderen beiden Burger. »Isst du die nicht?«

»Hab schon. Greif ruhig zu.«

Rob griff zu. »Die sind echt nicht übel.«

Alan bahnte sich zwischen Stapeln leerer Pizzakartons, von Büchern, die er längst hätte zurückgeben müssen, und von Kopien, die er längst hätte lesen sollen, einen Weg ans Fenster. »Wir haben unsere KI darauf trainiert, Computersysteme zu analysieren«, resümierte er. »Das haben wir gemacht, weil wir den Vorteil ausnutzen wollten, dass wir es mit einer komplett definierten Umgebung zu tun haben. Tammy und Martha gehen auf die real world los – das heißt, sie müssen sich mit Problemen herumschlagen wie, was sie machen, wenn ihre Bilderkennung ein Karo mit einem Herz verwechselt, oder wenn sie gar nichts erkennt, weil jemand ungewöhnliche Spielkarten verwendet, und so weiter. Die Probleme haben wir nicht, weil es für unsere KI nur andere Computer gibt, Server, Leitungen, Endgeräte und so weiter. Es ist eine komplexe Welt, aber die Anzahl der verschiedenen Elemente ist überschaubar, und jeder Zustand ist definiert.«

»Wie beim Schach«, warf Rob kauend ein. »War mein Argument. Wie du dich erinnerst.«

»Genau. Die von Google haben ihrem Alpha Zero nur die Regeln für Schach beigebracht und ihn dann gegen sich selbst spielen lassen. Und nach vier Stunden … nach vier Stunden! … war die KI besser als der beste bisherige Schachcomputer. Der sowieso schon besser war als der beste menschliche Schachspieler.«

Rob griff nach dem dritten Burger. Wenn er mal Hunger hatte, dann richtig. »Ich merke, du übst schon für den Vortrag vor der Jury.«

»Im Moment denke ich nur laut nach. Und ich denke, wir können zwar unsere KI nicht mehr umtrainieren, damit sie was ganz anderes macht, aber wir können sie so umbiegen, dass sie was Knalligeres macht. Sagen wir, etwas Hollywoodreifes.« Alan breitete die Hände aus. »Und – was machen die in Hollywood gern mit Computersystemen …?«

»Uh-oh«, machte Rob. »Alan! Das ist die Idee …!«

Alan grinste. »Und wenn man’s genau nimmt«, sagte er, »war es sogar Tammys Idee!«

Im Grunde hatte die Idee nahe gelegen: Ihre KI war darauf trainiert, Schwachstellen in Computersystemen zu finden – alles, was noch fehlte, war, ihr als Optimierungsziel vorzugeben, diese Schwachstellen auch auszunutzen. Oder, wie es Hollywoodfilme nannten: sie zu hacken.

Das war in gewisser Weise sogar das einfachere Ziel, denn es gab ein eindeutiges Kriterium für den Erfolg: Entweder, man kam rein – oder eben nicht. Deswegen – und weil die Zeit ohnehin nicht dafür gereicht hätte – gaben sie ihrer KI keinerlei Strategien, Tricks oder Kniffe mit, wie man in fremde Server eindrang, sondern überließen es ihr, selber herauszufinden, wie das ging. Was Alpha Zero mit dem Schachspiel geschafft hatte, nämlich, sich alles selber beizubringen, sollte ihr Programm im Hinblick auf das Hacken von Computersystemen auch können.

Oder es zumindest versuchen.

»Also, angenommen, es klappt und das Programm kommt in einen Server rein«, überlegte Alan, »dann sollte es auch einen Beweis hinterlassen. Nur eine Logdatei zu führen, in der am Ende steht, ›Ich war drin‹, das ist nicht richtig cool.«

Sie würden es zuerst auf das Geflecht der Computernetze des MIT ansetzen. Deren Admins kannten sie, die meisten von ihnen zumindest.

»Spontan hätte ich gesagt, wir kopieren jeweils das Centerfold aus dem PLAYBOY ins Root-Verzeichnis«, sagte Rob. »Aber bei den Architekten sind die Admins Frauen, das käme wahrscheinlich schlecht.«

»Bei den Sozialwissenschaften auch«, meinte Alan. »Aber die Idee ist gut. Pass auf, wir kopieren das PDF mit der Ausschreibung des Wettbewerbs. Das taugt auch als Beweis viel besser.«

Trotzdem wurde die Zeit schnell knapp, denn sie mussten ja nicht nur das Programm ändern, sondern auch die Präsentation ganz neu aufziehen, die Schautafeln für den Ausstellungsraum abändern und die Dokumentation überarbeiten: All das musste pünktlich vorliegen, damit ihr Projekt überhaupt für die Auswahl durch die Jury zugelassen wurde. So wirbelten sie am Dienstag bis nachts um zwei, am Mittwoch bis nachts um vier, und am Donnerstag arbeiteten sie durch und genehmigten sich nur am Vormittag zwei Stunden Schlaf. Ihr Labor, ohnehin noch nie ein Tempel der Ordnung und Sauberkeit, verwandelte sich währenddessen immer mehr in eine Art Notunterkunft.

»Mann, und heute Abend soll ich mit Tammy und ihren Freundinnen ins Kino«, ächzte Alan, als er sich gegen Mittag von dem Matratzenlager in der Ecke hochstemmte. Er schleppte sich zum Waschbecken, um sich mit kaltem Wasser frisch zu machen. »Bestimmt schlaf ich mitten im Film ein.«

»Sag doch einfach ab«, schlug Rob vor.

Alan gluckste. »Du spinnst wohl. Einer Tamara Lyman sagt man doch nicht ab!«

»Also, wenn du mich fragst, lässt man sich mit einer Tamara Lyman erst gar nicht ein«, erwiderte Rob. »Aber was weiß ich schon?«

»Eben. Was weißt du schon.«

Immerhin, ein Dutzend Tassen starken Kaffees später war zumindest das Programm fertig.

»Wie wollen wir sie nennen?«, fragte Rob.

Alan blinzelte. »Wen?«

»Na, unsere KI! Sie muss irgendeinen coolen Namen kriegen. Einen, der alle Zeitungen heißmacht, ihn zu drucken.«

»So was wie Alpha Zero?«

»Genau.«

»Hmm«, meinte Alan. »Dann nennen wir sie doch Omega. Alpha und Omega, das passt.«

»Omega One«, schlug Rob vor.

»Okay. Omega One.«

Rob hob den Daumen, trug den Namen ein und verkündete dann: »Omega One ist startklar.« Er ließ den Finger über der Entertaste kreisen. »Willst du noch ein paar salbungsvolle Worte sagen, ehe sie losgeht?«

Alan schüttelte den Kopf. »Lass das. Nicht jetzt. Wir starten morgen früh in aller Ruhe.«

Rob verzog enttäuscht das Gesicht. »Haben wir die Zeit?«

»Wir nehmen sie uns«, sagte Alan. »Jetzt heißt es, volle Konzentration auf das Projekt Tammy One.«

Er ignorierte Robs Augenrollen und ging duschen. Er schaffte es sogar, was Frisches anzuziehen, ehe um sieben Uhr abends das Telefon klingelte: Tammy, die in ihrem schicken roten Sportcoupé vorgefahren war und Alan wissen ließ, er müsse ihnen mit dem eigenen Wagen zum Kino folgen, alle vier Plätze seien besetzt.

»Ich fahr mit«, erklärte Rob kurz entschlossen. »Einer muss ja auf dich aufpassen.«

Das war Alan gar nicht so unrecht. »Können wir dann vielleicht deinen Wagen nehmen? Ich glaube, ich hab nicht mehr genug Benzin.«

»Klar, kein Problem.«