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Das packende, reich illustrierte Buch über eine vom Aussterben bedrohte Tierart und die Schönheit des Meeres. Kenntnisreich und begeistert erzählt der Tiefseeforscher und Taucher Sarano von seinen Begegnungen "Schulter an Flosse" mit Haien, von Momenten absoluter Glückseligkeit. Und davon, wie er – der im Team von Jacques-Yves Cousteau arbeitete – das Bild vom mörderischen Raubtier revidierte. Haie zählen zu den ältesten und langlebigsten Tieren, der Grönlandhai kann bis zu 500 Jahre alt werden. Bis heute bevölkern 536 Arten die Ozeane, vom Walhai über den Zitronenhai bis zum Weißen Hai. Sie verfügen über einen außergewöhnlichen Geruchssinn und orientieren sich auf ihren weltumspannenden Reisen am Magnetfeld der Erde – wäre da nicht der Mensch, der ihre Existenz ernsthaft bedroht. Im Namen der Haie. Ein Plädoyer für die Herrscher der Ozeane. Mit Unterwasserfotos und QR-Codes zu Videoclips der Tauchgänge
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Seitenzahl: 289
Veröffentlichungsjahr: 2023
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FRANÇOIS SARANO
EINE LIEBESERKLÄRUNG
Illustrationen von Marion Saranound Farbfotos von Pascal Kobeh
Aus dem Französischen von Ingrid Ickler
EinführungDen „Sprachlosen“ eine Stimme geben
Kapitel 1
Geschichte eines Missverständnisses: von Plinius zu Disney
Kapitel 2
Hai? Welcher Hai?
Kapitel 3
Die Entstehung neuen Lebens
Kapitel 4
Im Kopf des Hais
Kapitel 5
Der Persönlichkeit auf der Spur
Kapitel 6
Der Hai und sein Platz in der Rangordnung
Kapitel 7
Im Ozean zu Hause
Kapitel 8
Unscharfe Umrisse
Kapitel 9
Die Konfrontation
Kapitel 10
Versöhnung
Anhang
Anmerkungen
Ergänzende Bibliografie
Dank
Inspiration für dieses Buch war mein Tête-à-Tête mit Lady Mystery, der ich am 12. November 2006 in den Gewässern vor Mexiko begegnete.
Fünf Meter Muskelmasse, eine Tonne Eleganz – Lady Mystery war ein gewaltiger Weißer Hai (Carcharodon carcharias), der dem Protagonisten des Films Der weiße Hai von Steven Spielberg1 ausgesprochen ähnlich sah. Bei den Dreharbeiten zu Unsere Ozeane2 waren die Lady und ich friedlich Seite an Seite geschwommen, Schulter an Flosse, Auge in Auge, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Zwei Minuten absoluter Glückseligkeit, ein nicht enden wollendes Hochgefühl. Meine Tauchkameraden und die Regisseure Jacques Perrin und Jacques Cluzaud schauten ungläubig zu, dieser Moment der Harmonie war für sie ein Wendepunkt in ihrer Einschätzung dieses gefürchteten Tieres. Die Bilder dieser Begegnung, wunderbar eingefangen von David Reichert und Didier Noirot, gingen um die Welt und haben die Meinung von Millionen Kinobesuchern verändert.
Trotzdem herrscht weiterhin die Meinung vor, Haie seien Menschenfresser, die ruhig ausgerottet werden können. Dabei haben sich die Allermeisten noch nie einem Hai genähert. Den Wenigen, denen es wie mir vergönnt war, einem Hai in seinem Lebensraum zu begegnen, ist dieses Vorurteil unverständlich.
Und noch mehr erschreckt uns die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber dem dramatischen Rückgang der Zahl der Haie und der drohenden Ausrottung ganzer Arten.
Dieses Buch ist ein Plädoyer für Lady Mystery, für alle Haie und Wildtiere, die wir fürchten, weil sie uns fremd erscheinen. Aber auch ein Plädoyer an uns selbst, die wir ahnen – wie Romain Gary es treffend in seinem Brief an den Elefanten3 beschrieben hat –, dass der Mensch seine Menschlichkeit preisgibt, wenn er versucht, Lady Mystery ihre Freiheit als Wildtier zu nehmen.
Ein angemessenes Plädoyer ist nur auf der Basis fundierten Wissens möglich. Man muss sich in denjenigen, den man verteidigt, hineinversetzen und zulassen, sich mit allen Sinnen in seiner Welt zu verlieren, sich seiner Umwelt anzunähern. Umwelt im Sinne Jakob Johann von Uexkülls, der in seinem Buch Umwelt und Innenleben der Tiere das dialektische Verhältnis zwischen der sinnlichen Wahrnehmung der Umgebung und der aktiven Gestaltung der eigenen Umwelt beschrieben hat. Ein Lebewesen ist immer auch seine je besondere Umwelt.
Neben den Eindrücken Hunderter Tauchgänge in allen Weltmeeren möchte ich in diesem Buch die jüngsten Forschungsergebnisse über die Biologie der Haie und ihr außergewöhnliches Sinnessystem vorstellen. Es geht vor allem um Erkenntnisse der Verhaltensforschung und Neurobiologie, die – so unglaublich es klingen mag – zeigen, dass jeder Hai seine eigene Persönlichkeit hat.
Es geht aber auch um die Männer und Frauen, die mit Haien tauchen und für ihren Schutz kämpfen. Sie haben mit Tabus gebrochen, um unvoreingenommen die wahre Natur der Haie zu ergründen. Mein Buch möchte auch dem Leser ermöglichen, sich ein eigenes Bild zu machen, ungeachtet immer wieder aufgewärmter Vorurteile und Paradigmen, die niemand mehr hinterfragt.
Tag für Tag kolonialisieren wir die Territorien der anderen Geschöpfe unserer Erde ein Stück mehr, ohne uns um die Regeln ihrer Ökosysteme zu kümmern, und erhöhen damit das Risiko dramatischer Konfrontationen. Es ist Zeit, innezuhalten und umzudenken. Wir brauchen eine neue Diplomatie, wie Baptiste Morizot4 es nennt, die uns erlaubt, in Frieden zusammenzuleben.
Dieses Buch ist unseren Verwandten in den Ozeanen gewidmet, aber auch eine Reflexion über unsere Beziehung zur Welt und zur Andersartigkeit. Der Hai, Symbol für „die wilde Bestie“, die unseren Regeln nicht gehorcht, die uns Angst macht, weil wir sie nicht verstehen, ist auch ein Sinnbild für das Entbehrliche und Lästige; er steht für alle, die andere Verhaltensweisen, andere Traditionen, Religionen oder Kulturen leben. Das „wilde Tier“ kennenzulernen, um eine „diplomatische“ Beziehung zu ihm aufzubauen, kann auch eine gute Schule für das Leben in der Gesellschaft sein.
Jeder Hai ist einzigartig. Diese Erkenntnis zwingt uns, über seinen Status als Individuum und damit über seine Existenzberechtigung nachzudenken. Und unseren Platz im Herzen des globalen Ökosystems auf den Prüfstand zu stellen, Seite an Seite mit unseren wilden Mitbewohnern. Der Planet gehört allen Lebewesen.
Die Axt dringt tief in den sich windenden Körper ein. Wieder und wieder schlägt sie zu. Eine ungeheure Grausamkeit, die die ganze Aversion der Menschen gegen ein monströses Tier auszudrücken scheint: den Hai. Wir sind im Jahr 1954, mitten im Indischen Ozean, auf der Brücke der Calypso, dem Schiff von Jacques-Yves Cousteau, der lapidar bemerkte: „Alle Seeleute dieser Welt hassen die Haie. Für uns Taucher ist der Hai ein tödlicher Gegner.“1
Im Jahr 1989, also 35 Jahre später, auf demselben Schiff im selben Ozean, nehmen wir Kurs auf die geheimnisvolle Inselkette der Andamanen. Ziel der Expedition ist eine Bestandsaufnahme der marinen Fauna der Region, die nie zuvor erforscht wurde und bisher nicht ins Visier des industriellen Fischfangs geraten ist. Nachdem wir die Karibik, den Pazifik und die Gewässer rund um die Marquesas-Inseln und das Great Barrier Reef erkundet haben, hoffen wir, endlich ein noch jungfräuliches Ökosystem vorzufinden, in dem viele Haie zu Hause sind. Einen Ort, den Jules Verne in seinem Roman 20.000 Meilen unter dem Meer wie folgt beschrieben hat: „Zwar scheuen die Eingeborenen in bestimmten Gegenden, vor allem auf den Andamanen, nicht davor zurück, mit Dolch und Schlinge den Hai zu attackieren, aber schließlich bezahlen viele von ihnen ihren Mut ja auch mit dem Leben!“2
Im Jahr 1989 hat sich die Welt definitiv geändert: Das Thema der Bedrohung der Ökosysteme erreicht die breite Öffentlichkeit. Am 2. Januar 1988 kürte das Times-Magazin die „Bedrohte Erde“ zur „Person des Jahres“. Die Ausbeutung der „marinen Ressourcen“ hat ein Maximum erreicht: Mehr als 90 Millionen Tonnen Fisch werden weltweit aus den Meeren geholt, eine kritische Schwelle, die nie wieder erreicht werden wird.3 Der Hai ist kein Feind mehr, er ist in Gefahr. Und Cousteau, der sich vom Meeresforscher zum Umweltaktivisten gewandelt hat, will vor dem rasant schnellen und massiven Rückgang der Zahl der Haie warnen. Vielleicht will er aber auch unbewusst die Szenen aus seinem Film Die schweigende Welt wiedergutmachen, in denen Haie als Ungeheuer dargestellt worden sind?
Am 4. April 1989 ankern wir mit der Calypso auf 11°8’ nördlicher Breite und 93°31’ östlicher Länge unterhalb des Flat Rock an der Invisible Bank. Es ist fünf Uhr morgens. Kamera, Unterwasser-Schreibtafel, Probenbehälter, alles ist für den ersten Erkundungstauchgang fertig. Erst allmählich bricht der Tag an. Meer und Himmel verschwimmen zu einer grauen Einheit. Die „unsichtbare Bank“ ähnelt oberhalb der Wasserfläche einem Schädel aus Vulkangestein mit einer Schaumkrone: Es ist gerade Ebbe. Wir lassen uns ins Wasser gleiten und haben noch nicht einmal den ersten Zug aus dem Sauerstoffgerät genommen, als drei Silberspitzenhaie (Carcharhinus albimarginatus) und zwei große Graue Riffhaie (Carcharhinus amblyrhynchos) zu uns aufsteigen. Wie habe ich sie identifiziert, ohne sie richtig zu sehen? Die Körper sind nahezu unsichtbar, nur die Ränder der Flossen zeichnen sich schemenhaft in der dunklen Tiefe ab. Ruhige Kreise ziehend, tanzend, wie lodernde Flammen. Dann halten sie inne, kommen nach oben, und der erste nähert sich. Als würde das Meer einen Hai gebären. Zuerst das schwarze Halbrund des Mauls im Kontrast zur weißen Schnauze, dann der mächtige Körper, verankert zwischen den Brust- und den Rückenflossen. Das kreisrunde Auge, die goldfarbene Iris, in der Mitte die dunkelgraue Pupille. Er fixiert uns unverwandt. Die fünf Kiemenspalten, die aussehen wie Ausrufezeichen. Die Muskeln, die sich unter der mal körnig, mal glatt wirkenden Haut bewegen. Eine schlummernde, kontrollierte Kraft, die jeden Moment explodieren kann. Schließlich die beeindruckende Schwanzflosse, die wie ein weißes Banner wirkt.
Wir lassen uns zwischen einem Korallenriff und einer roten Gorgonie auf den Meeresboden sinken. Der größte Hai kommt noch näher, ein ausgewachsenes Graues Riffhai-Weibchen von mindestens 2,80, vielleicht drei Meter Länge, ein auffälliges Exemplar, denn meistens werden Riffhaie höchstens 2,50 Meter lang. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es hier keine professionelle Fischerei gibt. Das Ökosystem ist jungfräulich. Denn diese seltenen Riesen wären die Ersten, die verschwinden würden, gleich zu Beginn der Ausbeutung des Meeres. Und sie könnten nicht ersetzt werden, denn der Rhythmus der Abfischung ist so hoch, dass Jungtiere keine Zeit haben auszuwachsen. Das neugierige ältere Hai-Weibchen zeigt tiefe Bisswunden an den Körperseiten und einen langen Riss in der linken Brustflosse, ein Zeichen für mehrere Paarungen. Es hätte bestimmt eine lange Geschichte zu erzählen, von einer Welt, wie sie früher war, bevölkert von wilden Horden und gigantischen Monstern, die in Ruhe altern durften. Ich ignoriere meine Probenbehälter und vergesse meine Notizen auf der Schiefertafel, das sind Eindrücke, die sich nicht in Worte fassen lassen …
Nach diesem ersten Tauchgang fällt die Entscheidung, den Schutzkäfig einzusetzen, da es von großen Haien nur so wimmelt. In solch unerforschten Gewässern will Cousteau kein Risiko eingehen. Nach seiner lebensgefährlichen Begegnung mit einem gewaltigen Weißspitzen-Hochseehai (Carcharhinus longimanus) vor den Kapverdischen Inseln im Jahr 1948 ist er vorsichtig geworden. Dieses Erlebnis lässt sich nicht so leicht abschütteln und hat ihn tief geprägt, denn der sonst eher schweigsame Abenteurer hat uns die Geschichte an Bord der Calypso bereits mehrere Male erzählt, sie aber auch in Büchern beschrieben, mit Varianten, die mit der Zeit immer dramatischer werden:
„Wir waren kaum im Wasser und fünf oder sechs Meter unter der Oberfläche, als wir König Longimanus sahen, den Häuptling langer Arm, wie wir ihn bald nannten.. Er war völlig anders als all die Haie, die wir zuvor gesehen hatten. Sein gedrungener, graubrauner Körper hob sich scharf gegen das klare Blau des Wassers ab; sein Kopf war sehr groß und rund, und seine Brustflossen hatten enorme Ausmaße; seine Rückenflosse endete in Rundungen […] Mit großem, allzu großem Selbstvertrauen ließen wir die Leine, die uns noch mit unserem Schiff verband, fallen und schwammen geradewegs auf den Hai zu. Es dauerte lange, viel zu lange, bis wir begriffen, dass der Häuptling Langer Arm uns mit sich fortlockte und sich nicht im geringsten vor uns fürchtete. Sobald wir uns darüber klar waren, ergriff uns lähmende Angst, und wir wollten nur noch zu unserem Schiff zurück. Dazu war es aber zu spät. […] Zwei riesige Blauhaie mit formvollendeten Raubfischkörpern schlossen sich dem Weißspitzen-Hochseehai an, und die drei Haie begannen einen sich allmählich einengenden Kreis um uns zu ziehen. Zwanzig endlos scheinende Minuten lang versuchten die drei Haie mit großer Schläue und Entschlossenheit, jedesmal nach uns zu schnappen, wenn wir ihnen den Rücken kehrten oder wenn einer von uns an die Wasseroberfläche stieg, um (…) unserem weit entfernten Schiff ein Zeichen zu geben. […] Kurz bevor wir aus dem Wasser gezogen wurden, war ich drauf und dran, dem Weißspitzen-Hochseehai die Kamera an den Kopf zu schlagen, in der verzweifelten Hoffnung, seinen Angriff abwehren zu können und ein wenig Zeit zu gewinnen.“5
Auch wenn wir in keiner vergleichbaren Situation waren, wir hatten keine drei Kilometer Wasser unter uns, sondern lediglich 15 Meter, wollten wir nicht über Cousteaus Anweisungen diskutieren, um nicht überheblich zu wirken und mögliche Gefahren zu vermeiden.
Der Schutzkäfig, der am Heck der Calypso an einem Kran hing, wirkte ein wenig wie eine der Pappmaschee-Puppen, die man am Faschingsdienstag auf öffentlichen Plätzen an einen Galgen hängte und verbrannte, um das Ende des Winters zu feiern. Ein verwirrendes Gefühl. Die penibel gelb gestrichenen Eisengitter, hinter denen die Unterwasserforscher sich schützten, wenn sie in die mit Haien „verseuchten“ Gewässer nach unten gelassen wurden, erschienen mir in diesem Moment fehl am Platz. Die zahlreichen Begegnungen mit den Haien hatten unseren Blickwinkel auf die ungeliebten „Bestien“ bereits verändert. Gleichzeitig aber verband mich dieser Käfig, den Millionen Fernsehzuschauer gesehen haben, mit den Helden meiner Jugend, den berühmten Pionieren der Calypso.
Um 9 Uhr 30 wurde der Käfig feierlich in das Zodiac-Schlauchboot hinabgelassen und einige Hundert Meter entfernt am Ort des Tauchgangs ins Wasser geworfen. Und was alle vermutet hatten, trat ein: Die Silberspitzenhaie hielten Abstand und überließen das Feld den Jungfisch-Schwärmen, die die Gewässer rund um das Riff bevölkerten. Nur einige Weißspitzen-Riffhaie (Triaenodon obesus) und ein Ammenhai (Nebrius ferrugineus) kamen so nah, dass sie Didier Noirots Kamera berührten. Es gab absolut keinen Grund, sich hinter Gittern zu verstecken!
Das war der letzte Einsatz des Schutzkäfigs. Er wurde noch am selben Abend abgebaut und verstaut und hat nie wieder einen gelben Akzent in Cousteaus Filmen gesetzt. Die Leuchtfarbe, die uns als furchtlose Froschmänner der Calypso gekennzeichnet hatte, gehörte der Vergangenheit an. In der Geschichte der Beziehung zwischen Hai und Mensch wurde eine neue Seite aufgeschlagen.
Frustriert ging ich in der Abenddämmerung noch einmal tauchen, dieses Mal allein. Die Nasendoktorfische (Naso hexacanthus) und die Füsiliere (Pterocaesio pisang), die sonst das Riff bevölkerten, waren schon in den Felsspalten verschwunden und schliefen. Ich traf die Silberspitzenhaie wieder. Etwa ein Dutzend, sie waren auf der Jagd. Wie schon am Morgen konnte ich ihre grauen Körper, die mit den Korallenriffen verschwammen, nur schwer ausmachen. Aber trotz des Dämmerlichts – oder vielleicht gerade deswegen – leuchteten die weißen Ränder der Flossen besonders hell. Das Ballett der tanzenden weißen Flammen wirkte hypnotisierend und ließ mich zur Ruhe kommen. Ich fühlte mich in eine wilde Welt vor unserer Zeit zurückversetzt, wie ein Zeitreisender im Austausch mit anderen Lebewesen, nicht nur Haien, auch anderen Fischen und Korallen. Ich fühlte mich lebendig wie selten, als winziger Teil dieses großen Ganzen, dem Geheimnis des Lebens auf der Spur. Ich gehörte dazu, zu dieser Welt der Sinne, ursprünglich, ohne komplexes Denken, intuitiv und unverfälscht. Ich träumte, selbst ein Hai zu sein … oder eines dieser ambivalenten Wesen, die die Verbindung zwischen den Menschen und den „anderen“ darstellen, halb Mensch, halb Tier, Werwolf oder Kynokephale. Ich wurde von dem tiefen Bedürfnis erfüllt, ein Vermittler für die Haie zu werden, ihr Dolmetscher zu sein, ihr Botschafter bei meinen Artgenossen. Ich wollte den Frieden weitergeben, den sie ausstrahlen.
Der letzte Tauchgang mit dem Schutzkäfig in den Gewässern der Andamanen war genau wie wir ihn uns vorgestellt hatten: umgeben von Silberspitzenhaien.
„Frieden“, „Ruhe“, „Gelassenheit“ sind die Begriffe, mit denen sich die Atmosphäre bei einer Begegnung mit den Haien am besten beschreiben lässt. 30 Jahre später kann ich das Privileg und das Glück dieser seltenen Momente noch besser würdigen und verstehen.
Welch ein Kontrast zu der Angst, die allein der Name hervorruft! Warum ist die Angst so tief in unserer kollektiven Fantasie verankert, selbst bei Menschen, die noch nie das Meer, geschweige denn Haie gesehen haben? Das Vorurteil scheint weltweit verbreitet zu sein, ob bei Bewohnern überfüllter Metropolen oder bei Rinderzüchtern in den Weiten der USA.
Im Zuge der erfolgreichen Fernsehserie Geheimnisse des Meeres entschloss sich Cousteau 1970, einen Dokumentarfilm zu drehen, der sich ausschließlich mit Haien beschäftigte. Er hatte verstanden, dass die Haie mehr als alles andere das Interesse der Zuschauer an seiner Serie6 weckten, mehr als verborgene Schätze, untergegangene Städte, Delfine und Wale. „Der erste Film dieser Serie sollte nach unseren Plänen derjenige werden, der das Interesse des Fernsehpublikums am meisten reizt – und welches Meerestier wäre für den Menschen faszinierender als der Hai? Er ist ein legendäres Lebewesen, das jeder kennt, auch wenn man sehr weit vom Meer entfernt lebt.“7
Und genau das ist der Kern des Problems: ein Tier, das alle kennen, aber von dem wir kaum mehr wissen als von den Dinosauriern, die vor über 65 Millionen Jahren ausgestorben sind.
Woher kommt diese Vertrautheit mit einem Tier, das uns eben nicht vertraut ist? In der westlichen Welt findet man in Legenden und Märchen keine Spur von Haien. Sie erzählen eher von Wölfen, Bären, Hexen oder Drachen. Eine Ausnahme ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Lamia, die Enkelin Poseidons, wurde von Zeus in einen Hai verwandelt, damit sie sich für das Massaker an ihren Kindern rächen und die Kinder anderer Mütter verschlingen konnte.8
Im Gegensatz zur Mythologie haben antike Philosophen und Naturforscher die Haie durchaus realistisch dargestellt. Bereits 343 v. Chr. hat Aristoteles in seiner Tiergeschichtemehrere Arten beschrieben: den Weißen Hai, den Fuchshai, den Hammerhai (Sphyrna zygaena), den Blauhai, den Dornhai (Squalus acanthias), den Katzenhai und den Hundshai (Galeorhinus galeus).9
300 Jahre später übernimmt Plinius der Ältere die Schriften von Aristoteles und ergänzt wichtige Hinweise zur Fortpflanzung einer „Art von platten Fischen, die statt des Rückgrats einen Knorpel hat … […] Während die üblichen Fische Rogen legen, bringt diese Art (die Knorpelfische), so wie das Geschlecht der Walfische, lebendige Junge.“10 Plinius beschreibt detailliert die Gefahr, die Haie für die Schwammfischer darstellen: „Diese Taucher sagen auch, daß sich eine gewisse Wolke, den platten Fischen gleich, über ihren Häuptern verdicke. […] Diese fallen den Unterleib, die Ferse und alles, was am Leib weiß ist, an. Die einzige Rettung ist, ihnen gerade entgegen zu gehen und sie von ihrer Seite zu erschrecken: dann sie erschrecken vor dem Menschen, so wie sie ihn in Schrecken setzen. In der Tiefe ist die Parthey gleich, so bald sie aber zur Fläche des Wassers kommen, ist darselbst die Gefahr verdoppelt, da, indem der Mensch sich herauszukommen bemühet, der die Mittel, dem Thiere zu begegnen verlieret, und allein bey seinen Mitgesellen Rettung findet.“11
Über mehrere Jahrhunderte hinweg gibt es keine neuen Erkenntnisse und auch nur wenige Beschreibungen von Meerestieren, insbesondere von Haien. Wissenschaftler, Philosophen und Gelehrte sind nun mal keine Seeleute. Sie sind nicht auf den Ozeanen unterwegs, wo sich „die Hölle“ befinden soll. Das überlassen sie einigen Wagemutigen, die eigentlich keine Menschen sind, nicht mehr ganz lebendig, aber auch noch nicht tot, die sich tollkühn in die Fluten stürzen, wie der skythische Philosoph Anacharsis (etwa 600 v. Chr.) schreibt, als er sich über die Eleganz des Schiffskörpers äußert, der die „Welt der Lebenden von der der Toten“ trennt.12
Im Mittelalter verändert sich die Sicht auf die Meere noch einmal dramatisch. Die Erde, die der griechische Philosoph und Gelehrte Anaximander von Milet bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. als Kugel definiert hatte und deren Umfang vom griechischen Philosophen und Gelehrten Eratosthenes von Kyrene im 3. Jahrhundert v. Chr. berechnet worden war, wird wieder zur Scheibe!
Eine Scheibe, deren zentrales Festland von einem Ozean umgeben ist, an dessen Rändern man ins Jenseits stürzt.13 In diesem Zusammenhang liegt es auf der Hand, dass die Geschichte der „Erdmenschen“ geschrieben wird, ohne dass die Haie überhaupt auftauchen, selbst nicht in der Liste der Monster.
Das ändert sich auch 1539 nicht, als der schwedische Erzbischof Olaus Magnus nach zwölf Jahren intensiver Arbeit den Wissenschaftlern der Renaissance seine Carta marina vorlegte, eine Landkarte Nordeuropas und komprimierte Darstellung des Wissens, das der Westen damals über die Welt der Meere hatte. Haie waren nicht mal eine Fußnote in der unglaublichen Fauna, die diese Welt bevölkerte, in der Sirenen, Meerschweine, Wale, Einhörner, Seeschlangen, Riesenkraken und andere Ungeheuer lebten.
Selbst der berühmte Naturforscher Pierre Belon führt in seiner Histoire naturelle des estranges poissons marins14 aus dem Jahre 1551 diese Verschmelzung aus Realität und Legende fort. Man findet dort eine detaillierte Beschreibung des „Meeresmonsters, das wie ein Mönch aussieht“, was ziemlich genau dem entspricht, was die Fischer über die Haie berichten. Adriaen Coenen zeigt 1577 in seinem wunderbaren Buch der Wale realistische Skizzen von Haien, die man in holländischen Häfen gesichtet hat: Dornhai, Hundshai, Hammerhai oder Gefleckte Meersau (Oxynotus centrina). Aber auch er legte das Schwergewicht auf die „Meeresmönche“ und die Sirenen, die mit dem Pottwal und den Riesenkraken die gefährlichsten Monster des Meeres blieben.15
Nur Guillaume Rondelet vertrat 1554 in seinem Werk De Piscibus Marinis die Meinung, dass der Leviathan, der Jonah verschluckt hat, kein Wal, sondern ein gewaltiger Hai gewesen sei, ein Blauhai. „Dieser Fisch ist sehr gierig. Er verschluckt Menschen im Ganzen, wie wir aus Erfahrung wissen. In Nizza und in Marseille hat man früher Blauhaie gefangen, in deren Magen sich ein Ritter samt seiner Rüstung befunden hat …“16 Spielt Rondelet auf die Sagengestalt Lamia an? Auf jeden Fall wird dieser Name von den Fischern im Mittelmeer bis ins 20. Jahrhundert für den Weißen Hai benutzt.
Zur gleichen Zeit verehren die Polynesier auf der anderen Seite der Erdkugel die Haie als Götter. Diese hervorragenden Seeleute waren wochenlang mit ihren Kanus unterwegs, manchmal sogar in großen Gruppen, und dank ihrer Gabe, mithilfe des Sternenhimmels zu navigieren, legten sie große Strecken zurück. Ihre „Mutter Erde“ war der Ozean. Die Mythologie dieses Volkes und seine Legenden sind von Meeresgeschöpfen bevölkert. Ihre Götter sind Pottwale, Riesenschildkröten und natürlich Haie. Es sind Schutzgötter, die die Seeleute bei ihren gefährlichen Fahrten begleiten. Kamohoalii ist der Herrscher des Pantheons der Haigötter. Er kann auch menschliche Gestalt annehmen. Seine Gehilfen sind Kane-i-kokala und Ka’ahupahau, eine Haigöttin, die als Mensch geboren wurde. Zusammen mit ihnen beschützt er die Seeleute und rettet die Schiffbrüchigen.17
Die Maori-Legende, die von der zum Scheitern verurteilten Liebe zwischen Kawariki, der Tochter des Zauberers Matakite, und dem Bauernsklaven Tutira handelt, der sich in einen Hai verwandelt hatte, erinnert an die Geschichte von Romeo und Julia. Aber da es sich ein Volk von Seeleuten nicht mit dem Meer verscherzen darf, geht die Geschichte dank der Meeresgöttin Hinemoana gut aus.18
Bei den „Festlandsbewohnern“ in Europa, Asien und Afrika tauchen der Hai und andere Meeresungeheuer erwartungsgemäß nicht in Volkslegenden auf. Hier herrschen Tiger, Löwe, Schildkröte und Wolf vor. In der skandinavischen Mythologie ist der Wolf Fenrir der Böse, der Menschen, Ritter und selbst die Götter terrorisiert. Bei den Irokesen und den Sioux führt der Wolf dagegen als „Guter“ die Seele der Krieger über die Weiten des Großen Geistes. Der Wolf ist der Vater des mongolischen Volkes, dessen Könige, Dschingis Khan an der Spitze, vom Blauen Wolf, Börte-a-Tchino, abstammen, dem Symbol des Himmels. Eine Wölfin ist sogar für die Gründung Roms verantwortlich, da sie Romulus und Remus säugte. Der Wolf ist omnipräsent, geradezu prädestiniert für außergewöhnliche Geschichten.
Bis zum 19. Jahrhundert gab es in Frankreich noch fast 20.000 Wölfe. Die Geschichte der „Bestie des Gévaudan“ verbreitete sich deshalb in Windeseile und versetzte das ganze Land in Angst und Schrecken. Sowohl die nationale als auch die internationale Presse griff jede Attacke genüsslich auf. Zum ersten Mal spielten die Medien bei der Schöpfung eines übernatürlichen Wesens eine wichtige Rolle. Sie pflanzten die Bestie in alle Köpfe. Aus dem Volksglauben ging der Wolf direkt ins Pantheon der diabolischen Kreaturen ein.
Meerestiere spielten damals in der öffentlichen Darstellung keine große Rolle. Trotz Schilderungen schrecklicher Erfahrungen oder heldenhafter Taten der Seeleute interessierte sich die Stadt- und Landbevölkerung Europas nicht für den Hai. Erst ein Gemälde des Malers John Singleton Copley aus dem Jahr 1778 mit dem Titel Watson und der Hai veränderte die Situation. Auf diesem Bild sieht man einen Hai, der versucht, den jungen Brook Watson zu verschlingen. Brook Watson ist tatsächlich von einem Hai gebissen worden und wurde später Oberbürgermeister von London. Dieses Gemälde bildet jedoch eine Ausnahme in der marinen Malerei.19
Paradoxerweise sind es die Haie, die im 19. Jahrhundert den Fischern im Mittelmeer beibringen, wie man Thunfische fängt. Der Naturforscher Marcel de Serres berichtet folgendermaßen davon: „Wir sehen, wie die Makrelen die Sardinen fressen und die Thunfische wiederum die Makrelen. Die Thunfische werden ihrerseits von den Haien gefressen, die sie mit einer solchen Hartnäckigkeit und Inbrunst jagen, dass sie sich eher an die Küsten treiben lassen, als den grausamen Tod zwischen den scharfen Zähnen der ‚Tiger des Meeres‘ zu erleiden, die von unersättlicher Gier sind. Die Fischer an den Küsten des Mittelmeers machen sich das zunutze. Sind Haie in der Nähe, ist das ein günstiges Zeichen für den Thunfischfang.“20
Durch die Erzählungen einiger großer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts lernen auch die Bewohner der westlichen Welt die fantastische, durchaus reale Tierwelt der Ozeane kennen. Zum Beispiel den Pottwal Moby Dick, den Herman Melville als Protagonisten präsentiert, und den Riesenkraken, den Victor Hugo wie folgt beschreibt: „Der Krake hat keine Muskelpakete, keinen bedrohlichen Schrei, keinen Panzer, kein Horn, keinen Giftstachel, keine Scheren, keinen Wickelschwanz, keine scharfen Flossen, keine Krallenflügel, keine Nadeln, kein Schwert, keine elektrische Entladung, kein Gift, keine Krallen, keinen Schnabel, keine Zähne. Und doch ist der Krake unter allen Tieren das mit den schrecklichsten Waffen. Was ist also der Krake? Er ist eine Saugglocke.“21
1869 will Jules Verne die Leser mit seinem Roman 20.000 Meilen unter dem Meer auf ein Abenteuer mitnehmen und ihnen gleichzeitig die neuesten Erkenntnisse über Kraken präsentieren. Damit steigert er die herrschende Abscheu der Öffentlichkeit noch: „Vor meinen Augen räkelte sich ein schauderhaftes Monstrum, eine wahre Ausgeburt der Natur. Es handelte sich um einen Kalmar von gigantischen Ausmaßen, gut und gerne acht Meter lang […], er glotzte uns aus seinen riesigen meergrünen Augen an. Seine acht Arme, oder besser gesagt seine acht Füße, die mit dem Kopf verwachsen waren und diesen Tieren die Bezeichnung Kopffüßler eingetragen haben […], krümmten sich wie die Haare der Furien.“22
Auf dem Einband der Originalausgabe von 20.000 Meilen unter dem Meer sieht man zwei Riesenkraken, einen Wal, einen Narwal, einen Aal und zwei Taucher, aber keinen Hai. Hatte Jules Verne ihn auch aus seinem Repertoire der Meeresungeheuer verbannt? Nein, ganz im Gegenteil. Er nutzt die Anwesenheit des Naturforschers Professor Aronnax und seines Assistenten Conseil auf der Nautilus, um den Leser zu belehren: „[…] die Selachier mit Kiemen, die denen der Rundmäuler ähneln, aber deren Unterkiefer beweglich ist. Diese Ordnung, die bedeutendste ihrer Klasse, umfasst zwei Familien. Typische Vertreter: Rochen und Haifisch.“23 Kapitän Nemo lässt nicht zu, dass der Forscher sich seines angelesenen Wissens rühmt, und fordert ihn heraus, Haie in ihrer natürlichen Umgebung zu jagen: „Auf eine Einladung, in den Schweizer Bergen einen Bären zu erlegen, wird man vielleicht freudig antworten: ‚Sehr schön! Morgen geht’s auf Bärenjagd!‘ Wird man gefragt, ob man im Atlas-Gebirge Löwen oder im Indischen Dschungel Tiger jagen möchte, wird die Reaktion etwa so ausfallen: ‚Ein Löwe oder ein Tiger? … Nun ja.‘ Soll man aber bewogen werden, dem Hai in seinem ureigensten Element nachzusetzen, dann wird man sich vielleicht doch Bedenkzeit ausbitten, bevor man der freundlichen Einladung folgt.“24
Daraufhin verlässt Conseil, gut geschützt in einem Taucheranzug, an Nemos Seite die Nautilus: „Mir stockte das Blut in den Adern, als ich erkannte, dass zwei furchterregende Blauhaie mit gewaltigem Schwanz und kalten, glasartigen Augen über uns kreisten. Aus den Löchern, die um ihre Mäuler herum angeordnet waren, sonderten sie eine phosphoreszierende Substanz ab. Ihre Mäuler ähnelten riesigen Fangeisen, mit denen sie einen Menschen ohne weiteres zermalmen konnten.“25 Einige Seiten später werden sie Zeuge eines Haiangriffs auf einen Perlenfischer: „Das gefräßige Ungetüm stürzte sich mit einem gewaltigen Schlag seiner Schwanzflosse auf den Inder, der sich zur Seite warf und den Zähnen des Hais ausweichen konnte. Jedoch wurde er von dem peitschenden Schwanz an der Brust getroffen, so dass er auf den Grund hinabsank.“26
Solche populären Heldengeschichten begeistern die Leser, verursachen aber keine reale Angst. Die dramatischen Schilderungen und homerischen Zweikämpfe festigen nur den Ruf der Helden, wie Nemo auf seiner Nautilus oder der unbarmherzigen Kontrahenten Ahab und Moby Dick, Gilliatt und der Riesenkrake, ähnlich wie in der Antike Herkules die vielköpfige Hydra besiegte, Theseus den Minotaurus und der Heilige Georg den Drachen niederstreckte. Halbgötter wie sie sind den Menschen nicht nahe genug, um sich mit ihnen zu identifizieren. Die Angriffe der „Bestie des Gévaudan“ im Frankreich des 18. Jahrhunderts dagegen hat die Gemüter nachhaltig elektrisiert, weil sie Menschen wie du und ich attackierte und jeder ein Opfer hätte werden können. Aber die Zeit, in der Meeresungeheuer die Rolle des Wolfs übernehmen konnten, war noch nicht reif.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden Wälder und Moore von Menschenhand umgestaltet, die wilden Tiere werden aus den kultivierten Gebieten verdrängt und bedrohen die Menschen nicht mehr. Wölfe, Bären, Tiger werden gejagt und nahezu ausgerottet. Die Landungeheuer machen keine Angst mehr, selbst die Kinder glauben nicht mehr an sie … Jetzt braucht man Ersatz, wahrhafte Monster, die eine wirkliche Bedrohung für den Menschen darstellen.
Die Sensationspresse veröffentlicht auf ihren Titelseiten immer wieder Bilder von Abenteurern auf dem Meer oder von Sträflingen, die, auf Holzflößen zusammengepfercht, den Angriffen von Haien ausgesetzt sind. Aber ihr Schicksal interessiert die Bevölkerung nicht. Um den Lesern das Blut in den Adern gefrieren zu lassen, müssen die Ungeheuer wie ein Blitz aus heiterem Himmel in ihren Alltag einbrechen.
Genau das geschieht im Juli 1916 an der Küste New Jerseys, südlich von New York. Obwohl alle wissen, dass zahlreiche Haie die Küstengewässer bevölkern, ist der Badebetrieb in vollem Gange. Tausende genießen unbeschwert das Vergnügen, sich im Kreise der Familie ins kühle Nass zu stürzen. Noch nie hatte es dramatische Vorfälle gegeben. Aber jetzt bricht das Unglück über sie herein: Innerhalb weniger als zwei Wochen werden vier Menschen von Haien getötet und ein weiterer verstümmelt.
Am Samstag, den 1. Juli, spielt der 23-jährige Charles Epting Vansant, der mit seiner Familie aus Philadelphia ans Meer gekommen ist, im Wasser mit seinem Hund, nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Er wird gebissen, und die Retter kommen zu spät, um die Blutung zu stillen. Fünf Tage später wird der 27-jährige Charles Bruder, Angestellter in einem Luxushotel, etwa 100 Meter vom Ufer entfernt angefallen. Auch er verblutet. Danach sterben der 11-jährige Lester Stillwell, der 24-jährige Watson Stanley Fisher und der 14-jährige Joseph Dunn. Plötzlich fühlt sich jedermann vom Tod, der unter der Wasseroberfläche lauert, bedroht. Menschen wie du und ich sterben: Die Vorfälle lösen in den USA eine bis dahin unbekannte Welle der Panik aus. Die Regierung organisiert Jagden, um die menschenfressenden Monsterhaie auszurotten.
Le Petit Journal Illustré, 20. Mai 1906, Sträflinge auf einem Floß, den Haien ausgesetzt
Die starke Medienpräsenz verändert die öffentliche Meinung, die Haie bislang für harmlos gehalten hatte, radikal. Jetzt werden sie als Mordmaschinen gebrandmarkt. Politische Karikaturisten nutzen den Hai als Symbol für Grausamkeit und Perversion.27
Endgültig besiegelt wurde die Verknüpfung des Hais mit dem Bösen schlechthin 30 Jahre später, mit dem Schiffbruch der USS Indianapolis. Am 30. Juli 1945 wurde der Kreuzer der amerikanischen Kriegsmarine von einem japanischen U-Boot torpediert. Das Schiff sank binnen zwölf Minuten und riss viele der 1197 Männer starken Besatzung in die Tiefe. Die Überlebenden schwammen vier Tage und vier Nächte im Wasser. Nur 300 konnten sich retten. Obwohl ihre Berichte die Haie in Schutz nahmen, die nur etwa 50 bereits erfrorene oder an Unterkühlung gestorbene Seeleute gefressen hatten, ließen die öffentlichen Verlautbarungen der Marine und die Presse keinen Zweifel an den Schuldigen: Es waren die Haie! Ja, die Haie waren beinahe ebenso schrecklich wie der Schiffbruch selbst. Der japanische Angriff und das Grauen des Pazifikkriegs rückten in den Hintergrund.
Von nun an war der Siegeszug der Haie an die Spitze der Monsterrangliste nicht mehr aufzuhalten. Keine Meeresexpedition, kein Hochseeabenteuer, in dem der Held nicht mit Haien kämpfen muss. Selbst Tim zeigt sich auf dem Umschlag des Comics Der Schatz Rackhams des Roten in einem U-Boot in Form eines Hais.28
Im Jahr 1952 betritt der Hai mit Der alte Mann und das Meer des Literaturnobelpreisträgers Ernest Hemingway den Olymp der Literatur. Der epische Kampf des alten Mannes gegen den riesigen Marlin und sein verzweifeltes Ringen gegen die blutrünstigen Haie trifft es genau: „Der Hai kam achtern angeschossen und stieß den Fisch an, und der alte Mann sah sein Maul aufgehen und seine seltsamen Augen und hörte das Knacken, mit dem er seine Zähne in das Fleisch oberhalb der Schwanzflosse hieb. Der Kopf des Hais war aus dem Wasser, und sein Rücken kam nach […] Es gab nur den spitzen schweren blauen Kopf und die großen Augen und das knackende, drängende, alles verschlingende Maul […].29
Die Angst vor den Haien hat drei Hauptursachen: die Entdeckung des Meeresgrundes, das Verschwinden wilder Landtiere und die weltweite Verbreitung durch die Medien.
1956 führte der riesige Erfolg des Films Die schweigende Welt, der die Goldene Palme von Cannes und den Oscar gewann, die Zuschauer ins Herz der unbekannten Welt der Ozeane. Die noch heute schockierende Szene, in der Haie abgeschlachtet werden, sorgte damals bei Millionen, die das menschenfressende Ungeheuer gerade mit angstvollem Schaudern, aber auch unterschwelligem Vergnügen kennengelernt hatten, für klammheimliches Wohlbehagen. Der Hai ersetzte den Wolf und andere wilde Tiere, die der Mensch ausgerottet hatte.
Das Publikum entdeckte plötzlich eine ganz neue Welt. Cousteau wird sagen: „Die Amerikaner fliegen zum Mond, aber ich erobere das Meer.“ Die Calypso durchquert die Ozeane. Die Zahl der Tauchgänge steigt, ebenso wie die Begegnungen mit Haien. Und die Haie geraten zum allerersten Mal ins Blickfeld einer weltweiten Öffentlichkeit. Cousteau, die Calypso und die Haie profitieren vom Siegeszug des Fernsehens, das in jedes Haus einzieht und konkurrenzlos die Welt erobert. Jede Folge von Cousteaus Sendereihe „Geheimnisse des Meeres“ wird von einem Millionenpublikum verfolgt. Die Haie, bewundert, gefürchtet oder verachtet, werden zu Stars. Sie tauchen sogar in den Regalen für Strandspielzeuge auf.
Le Dauphiné libéré, 18. Juli 1958. Der Autor mit einem Blauhai im Arm
Ich erinnere mich noch heute an den wunderbaren aufblasbaren Hai, den mir meine Mutter im Sommer 1958 für unseren Urlaub am Meer gekauft hatte. Er war viel größer als ich, was André Deval, den Fotografen des Dauphiné Libéré, inspirierte, ein Bild von mir zu machen und unter dem Titel „Mit einem Blauhai im Arm …“ zu veröffentlichen.
Die allgegenwärtige mediale Präsenz erhöht den Druck noch. Als die Calypso 1967 aufbricht, um den Film über Haie zu drehen, fürchten sich selbst erfahrene Taucher vor einem Zusammentreffen: „Am Vorabend der Abfahrt […] können sich meine Gedanken nicht von diesem Fabelwesen lösen, diesem Furcht einflößenden Menschenfresser, diesem rätselhaften Ungeheuer von metallisch grauer Schönheit, dessen Attacken unabwendbar sind: der Hai. Kein anderer Meeresbewohner […] hat mir jemals eine so irrationale Angst eingeflößt wie der Hai“, schreibt Philippe Cousteau in sein Tagebuch.30
Schließlich setzen drei Bestseller dem Ganzen die Krone auf. 1972 wird der Dokumentarfilm Blaues Wasser, weißer Tod von James Lipscomb und Peter Gimbel in Frankreich von der Kritik begeistert aufgenommen: „Zweimal 15 Minuten faszinierende Bilder: Taucher inmitten von hungrigen Haien, der Angriff eines gewaltigen Weißen Hais (Carcharodon carcharias), zehn Meter lang, drei Tonnen schwer, auf einen Aluminiumkäfig, in dem sich ein Mensch befindet. Diesen Dokumentarfilm zu machen, erforderte sicher viel Mut und Kaltblütigkeit. Er ist ganz den ‚Killern des Meeres‘ gewidmet.“31