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Sibylle Anderl macht auf den revisionsfähigen Status aller normalwissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten aufmerksam. In ihrem Beitrag geht sie den Fragen nach, warum wir der Wissenschaft glauben sollen oder ob das, was Wissenschaftler für »normal« halten, letztlich auch nichts anderes als eine soziale Konstruktion ist.
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Seitenzahl: 21
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Inhalt
Sibylle AnderlWie normal ist Wissenschaft?Eine kritische Selbstreflexion
Die Autorin
Impressum
Sibylle AnderlWie normal ist Wissenschaft?Eine kritische Selbstreflexion
0. »Finden Sie das normal?«
Es muss irgendwann im Frühjahr 2002 gewesen sein, als ich mit meinen Kommilitonen im großen Hörsaal des Physikgebäudes der TU Berlin saß und der Einführung unseres Professors in die Quantenmechanik lauschte. Es ging um das berühmte Doppelspaltexperiment, bei dem Licht durch zwei Schlitze auf einen dahinterstehenden Schirm fällt. Der Professor erklärte uns, dass sich Licht gleichzeitig wie ein Teilchen und wie eine Welle verhält: Bei geringer Lichtintensität konnte man per Messung nachweisen, dass ein einzelnes Lichtteilchen immer durch den einen oder anderen Schlitz hindurchläuft und auf dem Schirm entsprechend auf der einen oder anderen Seite ankommt. Sobald man aber aufhörte, zu prüfen, durch welchen Schlitz sich das Licht bewegte, schien es durch beide gleichzeitig zu laufen: Auf dem Schirm erschien statt des vorher beobachteten doppelten Streifens ein für Wellen typisches Interferenzmuster. Wir schrieben das alles bereitwillig in unsere Blöcke und schreckten erst hoch, als der Professor seinen Erklärstrom unterbrach, um uns entgeistert direkt anzusprechen: »Teilchen und Welle gleichzeitig! Haben Sie das verstanden? Gibt es hier keinen Widerstand von Ihnen? Finden Sie das nicht unerhört? Finden Sie das etwa normal?«
Dass wir zu diesem Zeitpunkt die Ungeheuerlichkeiten der Quantenmechanik tatsächlich nicht sonderlich unnormal fanden, lag nicht nur an unserem insgesamt eher niedrigen Konzentrationsniveau. Für uns war im Laufe des sehr arbeitsintensiven Grundstudiums so vieles neu und ungewohnt, dass wir noch gar keinen festen Untergrund physikalischer Normalität besaßen, um darauf aufbauend weitere Grade des Unnormalen unterscheiden zu können. Dass das eine wissenschaftstheoretisch interessante Beobachtung war, fiel mir erst einige Semester später auf, als ich in einem philosophischen Proseminar eine Bezeichnung für das an die Hand bekam, für das die Vorlesung: »Einführung in die Theoretische Physik« die Vorbereitung gewesen war: die Normalwissenschaft.