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Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie nie das Bedürfnis hatten, "dazuzugehören"?
Warum Sie sich auf großen Partys oder Veranstaltungen unwohl fühlen, aber die Gesellschaft weniger vertrauter Menschen genießen? Warum Sie ein wacher Beobachter sind, der schon immer unkonventionelle Ideen hatte, ohne sich jemals den gesellschaftlichen Normen anpassen zu müssen?
Willkommen in der Welt der Otrovertierten – der Andersdenkenden und stillen Beobachter. Während Introvertierte nach mehr Teilhabe suchen und Extrovertierte die Liebe und Anerkennung anderer brauchen, schätzt der otrovertierte Mensch seinen Platz am Rand des Geschehens. Ein Plädoyer für alle, die die eigene Individualität leben, sich auf wenige, tiefgehende Beziehungen konzentrieren und ihre Einsamkeit genießen.
Was ist mit Otrovertiert gemeint?
Ein otrovertierter Mensch ist eine Person, die zwar empathisch und freundlich ist, aber dennoch ein dauerhaftes Gefühl verspürt, nirgendwo wirklich dazuzugehören. Sie kann sich nicht mit Gruppen oder Gemeinschaften identifizieren und bleibt dauerhaft das, was man als Außenseiter bezeichnen würde. Diese Eigenschaft, die als „Otherness“ (Andersartigkeit) beschrieben wird, ist keine Störung, sondern ein besonderes Persönlichkeitsmerkmal. Die fehlende Zugehörigkeit wird dabei häufig als okay oder sogar angenehm empfunden und führt nicht zwangsläufig zu einem Leidensdruck. Problematisch für Otrovertierte ist jedoch die gesellschaftliche Erwartungsnorm, sich einer Gruppe anpassen zu müssen.
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Seitenzahl: 256
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Willkommen in der Welt der Otrovertierten – der Andersdenkenden und stillen Beobachter. Während Introvertierte nach mehr Teilhabe suchen und Extrovertierte die Liebe und Anerkennung anderer brauchen, schätzt der otrovertierte Mensch seinen Platz am Rand des Geschehens. Ein Plädoyer für alle, die die eigene Individualität leben, sich auf wenige, tiefgehende Beziehungen konzentrieren und ihre Einsamkeit genießen.
Autor
Dr. Rami Kaminski ist ein mehrfach preisgekrönter und weltweit angesehener Psychiater aus New York. Zu seinen Errungenschaften zählen unter anderem die Gründung des TIIPS-Instituts zur Optimierung verfügbarer Behandlungen in der Medizin und Psychiatrie, die Einführung des F.A.M.E.-Protokolls zur Prävention psychischer Erkrankungen bei prominenten Persönlichkeiten sowie elf internationale Patente auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie. Im Jahr 2023 gründete er außerdem das Otherness-Institute, um zu erforschen und das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie otrovertierte Menschen die Welt wahrnehmen.
Dr.Rami Kaminski
Wie schön es ist, nicht dazugehören zu müssen
Weder Intro noch Extro: Die besondere Gabe der Otrovertierten
Aus dem Englischen von Marion Zerbst
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel The Gift of Not Belonging: How Outsiders Thrive in a World of Joiners bei Little, Brown Spark, New York.
Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.
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Deutsche Erstausgabe September 2025
Copyright © 2025 der Originalausgabe: Dr.Rami Kaminski
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
This edition is published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.
Umschlag: ki 36, Editorial Design, München
Umschlagmotiv: Gettyimages / Maarten Wouters
Innenabbildungen: Adobe Stock / Vera Kuttelvaserova
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
JS∙ NN
ISBN 978-3-641-33533-5V001
www.kailash-verlag.de
Für Maya
Inhalt
Einleitung
Teil IWas es bedeutet, nicht dazuzugehören
1 Was ist ein otrovertierter Mensch?
2 Wie die Welt otrovertierte Menschen missversteht
3 Sanfte Rebellen
4 Der Pseudo-Extrovertierte
5 Der Kreative
6 Der Empath
Teil IIEine Welt für Mitläufer gemacht
7 Wir kommen alle als Otrovertierte auf die Welt
8 Eine Kultur, in der dazugehören belohnt wird
9 Der Anpassungs-Trugschluss
Teil IIIWas für Vorteile es bringt, ein otrovertierter Mensch zu sein
10 Emotionale Selbstgenügsamkeit
11 Empathie und Verbundenheit
12 Selbstvertrauen und Zufriedenheit
13 Über den Tellerrand hinausdenken
14 Ein reiches Innenleben
Teil IVWie lebt man als otrovertierter Mensch?
15 Das otrovertierte Kind
16 Der Spießrutenlauf der Pubertät
17 Liebesbeziehungen
18 Otrovertierte im Berufsleben
19 Alter und Tod
Schlusswort
Bist du ein otrovertierter Persönlichkeitstyp?
Danksagung
Einleitung
Was kann ich für Sie tun?«
»Was für Behandlungsziele sollten wir Ihrer Meinung nach festlegen?« Diese Fragen stelle ich normalerweise jedem neuen Patienten zuallererst. Die meisten Menschen wissen zunächst keine Antwort darauf; und das ist ja auch verständlich. Eigentlich erwarte ich auch gar keine Antwort, sondern möchte den Patienten mit diesen Fragen vielmehr darauf hinweisen, dass er die Verantwortung dafür trägt, was als Nächstes passiert, denn schließlich geht es um sein eigenes Leben. »Sie sind der Kapitän, und es ist Ihr Schiff«, sage ich meinen Patienten oft. »Ich bin nur der Steuermann, den Sie angeheuert haben, um Ihnen den Weg durch einen Ozean zu zeigen, den Sie nicht kennen, der mir aber sehr wohl vertraut ist, weil ich ihn schon mehrmals überquert habe.« Egal wohin die Reise geht – ich wünsche mir immer das Gleiche für meine Patienten: Am Ende unserer gemeinsamen Arbeit möchte ich, dass sie froh darüber sind, sie selbst zu sein.
Oberflächlich betrachtet mag einem dieses Ziel ziemlich bescheiden vorkommen. Aber jeder Mensch weiß, wie schwer es zu erreichen ist. So viele von uns quälen sich ihr Leben lang mit der Sehnsucht herum, wie jemand anders auszusehen, das zu haben, was jemand anders hat, oder vielleicht sogar jemand anders zu sein. Nach etwas zu streben, ist an und für sich kein Problem. Nur leider streben wir normalerweise nach Dingen, die wir für besser halten als das, was wir selbst haben; und daher sehen viele Menschen das, was sie sind, und das Leben, das sie führen, ziemlich negativ.
Manchmal wurzelt die Sehnsucht, mehr wie jemand anders zu sein, in Neid, Ehrgeiz oder einem echten Wunsch nach Selbstverbesserung. Doch wenn ein Patient zu mir kommt und sich eine Veränderung wünscht, zeigt sich bei näherer Betrachtung oft, dass er eigentlich jemand sein möchte, der gemocht und akzeptiert wird – jemand, der dazugehört. Solche Menschen haben gelernt, dass Zugehörigkeit nicht nur eine Tugend, sondern auch ein Ziel ist, nach dem alle Menschen streben sollten – dabei ist sie in Wirklichkeit weder das eine noch das andere. Zugehörigkeit ist nichts Konkretes, real Existierendes, sondern einfach nur ein Gefühl.
Darin liegt eines der größten Probleme der Menschheit: Wie geht man mit der Tatsache um, dass jeder Mensch ein unverwechselbares Individuum ist, aber trotzdem ständig einem Gefühl nachjagt, das in absolutem Widerspruch zu dieser Individualität steht?
Während meiner über 40-jährigen Tätigkeit als praktizierender Arzt und Psychiater bin ich dank meinen breit gestreuten Interessen ziemlich weit herumgekommen: Meine berufliche Reise hat mich von einem abgelegenen Gebiet in der Sinai-Wüste, wo ich als einziger Arzt nomadische Beduinenstämme behandelte, an das Mount Sinai Hospital in New York geführt (quasi von einem Sinai zum anderen), wo ich die Abteilung für Schizophrenie leitete. Später wurde ich zum medizinischen Direktor für den operativen Bereich einer in New York ansässigen Behörde ernannt, die für alle Aspekte der psychologischen Gesundheitsversorgung im Staat New York zuständig ist. Ich habe Studenten und Assistenzärzte unterrichtet, Patienten in akademischen medizinischen Zentren (zuerst am Mount Sinai und dann am Columbia Presbyterian Hospital) und auch ambulant behandelt, klinische und pharmakologische Forschung betrieben und daneben stets auch noch eine eigene Privatpraxis unterhalten. Während dieser Zeit hat meine ursprüngliche therapeutische Philosophie sich weiterentwickelt.
In meiner Privatpraxis in Manhattan habe ich mit Menschen aus allen sozialen Schichten zu tun. Dazu gehören Führungspersönlichkeiten aus aller Welt und auch berühmte darstellende Künstler und Experten, die in ihrem jeweiligen Fachbereich den Ton angeben. Viele Patienten kommen zu mir, weil sie nicht verstehen, warum sie sich den Menschen, die ihnen am nächsten stehen und die sie am besten kennen – Freunden, Kollegen, ja sogar Familienangehörigen – so fremd fühlen. Im Lauf unserer Sitzungen stellt sich dann oft heraus, dass sie eigentlich schon ihr Leben lang das Gefühl hatten, nicht »dazuzugehören«. In Gesellschaft anderer Menschen sind sie immer nur Beobachter, nehmen aber niemals richtig am Geschehen teil; und egal mit welcher Gruppe sie gerade zusammen sind – sie haben nie das Gefühl, wirklich dorthin zu gehören. Die meisten Menschen entwickeln ihr Selbstverständnis in ihren Beziehungen zu anderen Personen – sie identifizieren sich in erster Linie als Ehemann oder Mutter, Lehrer oder Führungskraft. Diese Patienten dagegen leben außerhalb jeder Gemeinschaft.
Und meistens liegt das nicht daran, dass sie an einer psychiatrischen Erkrankung leiden. Sie sind nicht neurodivergent und sind auch nicht auf dem autistischen Spektrum. Sie sind weder sozial unangepasst noch werden sie von sozialen Ängsten geplagt. Warum fällt es ihnen dann so schwer, sich anzupassen? Nur in seltenen Fällen sind ihre sozialen Probleme auf Schüchternheit oder Introvertiertheit zurückzuführen. Manchmal sind diese Menschen so »anders«, weil sie aufgrund ihrer Rasse, ihrer Geschlechtsidentität oder irgendeiner Behinderung ausgegrenzt bzw. zu einem Außenseiterdasein gezwungen worden sind. Doch in den meisten Fällen gibt es eine ganz andere Erklärung für das Anderssein dieser Menschen. Nachdem ich ihre Eigenschaften viele Jahre lang beobachtet und erforscht habe, ist mir klar geworden, dass dahinter ein ganz bestimmtes, bis dahin unerkanntes Persönlichkeitsmerkmal steckt, das bei Menschen aller Ethnizitäten, Rassen und Geschlechter weltweit vorkommt: nämlich das Fehlen eines Gemeinschaftssinns oder – anders ausgedrückt – eine angeborene Unfähigkeit, sich irgendwo zugehörig zu fühlen.
Das ist übrigens eine Wesensart, die ich rein gefühlsmäßig sehr gut nachvollziehen kann. Auch ich habe mich in meiner Kindheit oft gefragt, warum ich mir immer so anders vorkam als die anderen Kinder in meinem näheren Umfeld. Ich wurde nicht gemieden oder abgelehnt. Ich hatte Freunde, war ein witziger Typ und allem Anschein nach auch beliebt. Ich ging gerne zur Schule. Ich war nicht schüchtern oder introvertiert, litt nicht unter sozialen Ängsten und lief gerne in dem endlosen Labyrinth aus Hinterhöfen und Gebäuden in der Stadt herum, in der ich aufgewachsen war. Nach außen hin wirkte ich wie ein glückliches, ausgeglichenes Kind, doch innerlich kam ich mir vor wie ein hässliches Entlein in einer Welt aus lauter schönen Schwänen. Ich gehörte zwar stets mehreren verschiedenen Freundeskreisen an, hatte aber nie das Gefühl, irgendwo hinzupassen. Immer trennte mich eine unsichtbare Mauer von den anderen. Egal wie beliebt ich war – ich fühlte mich stets als Außenseiter.
Gruppenaktivitäten, an denen alle meine Freunde gern teilnahmen – Mannschaftssport, Ferienlager und Campingausflüge –, empfand ich ohne ersichtlichen Grund als sehr unangenehm. Aber ich hatte Angst, dass die anderen Kinder mich für komisch oder unnormal halten würden, wenn ich das zugab; also tat ich so, als würde ich mich genauso darauf freuen wie sie. Paradoxerweise war ich ein beliebter Einzelgänger, der rasch lernte, seinem Umfeld eine coole, extrovertierte Fassade zu präsentieren. Die anderen Kinder hatten den Eindruck, dass diese Fröhlichkeit meinem wahren Naturell entsprach; dabei stimmte das gar nicht.
Mit Beginn der Pubertät fiel es mir immer schwerer, dieses Theater weiterzuspielen. Denn jetzt litt ich nicht nur unter den typischen emotionalen Turbulenzen aller Jugendlichen, sondern zusätzlich auch noch unter meiner Unfähigkeit, mich für die Dinge zu interessieren, die den anderen in meinem Alter große Freude bereitet haben. Das empfand ich als verwirrend und frustrierend. Wie gerne hätte ich die gleiche enge Verbundenheit mit meiner sozialen Gruppe genossen wie alle anderen Jugendlichen! Ich sehnte mich nach diesem Gefühl der »Zusammengehörigkeit« und hätte so gern alles mit meinen Freunden und Schulkameraden geteilt: den Klatsch, die Geschichten über sexuelle Eroberungen, die fanatische Begeisterung für bestimmte Sportmannschaften, das enzyklopädische Wissen über sämtliche Rolling-Stones-Songs, die je geschrieben worden sind, und alles andere, wonach meine Altersgenossen – Jungs ebenso wie Mädchen – so verrückt zu sein schienen. Aber ich konnte keine echte Begeisterung, kein wirkliches Interesse dafür aufbringen. Ich führte lieber echte, vertrauliche Gespräche, statt meine Zeit mit oberflächlichem Smalltalk und Angeberei zu vergeuden – aber wie Teenager nun einmal sind, täuschte ich einfach vor, genau die gleichen Vorlieben zu haben wie alle anderen, weil man das nun einmal von mir zu erwarten schien. Ich lernte die Namen von Fußballspielern auswendig, ging auf Partys, kleidete mich wie all die coolen Jungs und ließ mir die Haare lang wachsen. Wenn das Gespräch auf ein Thema kam, das auch nur ein kleines bisschen kontrovers war – von Politik über die Frage, welches Mädchen aus unserer Klasse am hübschesten war, bis hin zur Diskussion über den neuesten Kinohit –, wartete ich ab, was die anderen darüber dachten, und schloss mich dann einfach dem Gruppenkonsens an, obwohl ich insgeheim fast immer anderer Meinung war.
Rein äußerlich unterschied ich mich nicht von den anderen Kindern in der modernen, fortschrittlichen Schule, die ich besuchte; doch innerlich fühlte ich mich dort sehr unwohl. Ich hatte nur nicht den Mut, mit jemandem darüber zu reden. Die schauspielerische Leistung, die ich damals rund um die Uhr erbrachte, mag Oscar-reif gewesen sein; aber innerlich fühlte ich mich dabei leer und ausgelaugt.
Doch mit über 20 änderte sich das bei mir allmählich. Meine eigenen krampfhaften Versuche, eine lockere, unbekümmerte Verbundenheit mit meinen Altersgenossen vorzutäuschen, wurden mir allmählich unerträglich. Während meines Grundstudiums – und auch später als Medizinstudent – hatte ich ein anspruchsvolles Arbeitspensum zu bewältigen und folglich immer weniger Lust, meine knapp bemessene Freizeit mit Aktivitäten zu verbringen, die mir keinen Spaß machten. Ich sehnte mich danach, offen meine Meinung sagen zu können und enge Zweierfreundschaften zu pflegen, die nicht durch gruppendynamische Zwänge belastet waren. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, die Zustimmung der Gruppe als Bestätigung für meine Existenzberechtigung zu brauchen, und wollte mich in meinen Ansichten oder Entscheidungen auch nicht mehr von der Mehrheitsmeinung beeinflussen lassen. Nun war es endlich an der Zeit, nicht mehr »so zu tun als ob«!
Damals wurde mir auch klar, dass meine fehlende Beziehung zu den Dingen, die Gruppen von Menschen bewegt und motiviert, mich zu einem außergewöhnlich scharfen Beobachter machte: Ich versuchte stets, den Gründen von Verhaltensweisen, die ich als verwirrend empfand, auf die Spur zu kommen. Da ich nun einmal keinen echten Herdentrieb hatte, lernte ich, intensive Kontakte zu einzelnen Menschen aufzubauen, statt mich an die Stammesnormen zu halten, die tiefe, empathische Beziehungen unterdrücken und uns von Menschen isolieren soll, die als Außenseiter gelten. Da ich mich schon immer eine Armeslänge vom Kollektiv entfernt gefühlt hatte, konnte ich seine Mitglieder als Individuen betrachten, die allesamt unterschiedliche emotionale Reaktionen, Verhaltensmuster und Persönlichkeiten aufwiesen. Inzwischen wurde mir klar, dass ich durch dieses ständige (wenn auch stumme) Hinterfragen des Gruppenkonsenses zu jemandem geworden war, der außerhalb der klassischen Muster denken konnte: Ich betrachtete Probleme aus ganz neuen Perspektiven, die die anderen nicht sehen konnten oder wollten. Außerdem konnte ich mich dank meines Desinteresses an den meisten beliebten Aktivitäten, Trends und Hobbys hundertprozentig auf meine Interessen und mein Studium fokussieren.
Mit anderen Worten: Gerade diese Seite meiner Persönlichkeit – dieses »Nicht-Dazugehören«, das mein jüngeres Ich so verwirrt hatte – ermöglichte mir eine erfolgreiche und für mich persönlich äußerst befriedigende Karriere als Psychiater. Ich war weder ein hässliches Entlein noch ein Schwan, sondern eine ganz andere Vogelart. Nach einer schwierigen Phase in der Pubertät eröffnete mir diese Entdeckung eine faszinierende neue Chance: Statt der Herde hinterherzurennen, konnte ich meinen eigenen Weg gehen.
Ich begann die oben beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale intensiv zu beobachten und zu studieren – an mir selbst, an anderen Menschen, die so ähnlich waren wie ich, und auch an Patienten, deren Gefühl des »Andersseins« sich durch keine bekannte psychische Erkrankung erklären ließ. Und durch meine eingehende Beschäftigung mit diesem Phänomen stieß ich mit der Zeit auf bestimmte Eigenschaften, die wir alle miteinander gemeinsam hatten. Als ich anfing, meine neue Entdeckung in wissenschaftlichen Fachartikeln zu beschreiben, suchte ich nach einem treffenden Wort für solche Menschen (zu denen natürlich auch ich selbst gehörte).
Die meisten Leute kennen die von C. G. Jung geprägten Begriffe »extrovertiert« (»nach außen gewandt«) und »introvertiert« (»nach innen gewandt«), denn sie haben in der Sprache der Alltagspsychologie mittlerweile einen festen Platz. Doch Menschen wie ich sind weder nach innen noch nach außen gewandt: Unsere Orientierung ist vielmehr dadurch definiert, dass wir nur selten in die gleiche Richtung schauen wie alle anderen. So kam ich schließlich auf den Begriff »otrovertiert«. Im Spanischen (etymologisch vom Lateinischen abgeleitet) bedeutet »otro« so viel wie »anders«, und »vert« heißt »Richtung«. Wörtlich übersetzt, ist ein »otrovertierter« Mensch also »jemand, der in eine andere Richtung schaut«.
Unsere Gesellschaft legt großen Wert auf die Vorteile von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Das ist logisch – vor allem in einer Zeit, in der immer mehr Menschen über die tiefgreifenden negativen Auswirkungen von Einsamkeit, Entfremdung und einem Gefühl des Getrenntseins von ihren Mitmenschen klagen.
Es gibt genügend Belege dafür, dass soziale Bindungen sich sehr positiv auf unsere körperliche und seelische Gesundheit auswirken. Doch Bindung ist nicht dasselbe wie Zugehörigkeit, auch wenn diese beiden Begriffe in unserer Gesellschaft oft miteinander gleichgesetzt werden. Wenn wir sagen, dass wir »dazugehören«, meinen wir damit, dass wir uns mit einer Gruppe verbunden fühlen – sei es einem Freundeskreis, einem Netzwerk von Kollegen oder einer Gruppe weit voneinander entfernt lebender Individuen –, die eine gemeinsame Identität wie beispielsweise Rasse, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung usw. hat. Damit wir uns einer Gruppe wirklich zugehörig fühlen, muss uns zwar eine gewisse innere Verwandtschaft mit ihren Mitgliedern verbinden; aber wir müssen nicht unbedingt zu einer Gemeinschaft gehören, um uns mit einzelnen Personen innerhalb dieser verbunden zu fühlen. Denn wenn die Intensität unserer Verbindung zu einer Person auf einer gemeinsamen Gruppenzugehörigkeit beruhen würde, würden wir keine echte Nähe zu Menschen außerhalb dieser identitätsbasierten Gruppierungen empfinden.
In unserer modernen Welt gibt der Tribalismus (eine andere Bezeichnung für den Gemeinschaftssinn, mit dem die Evolution uns angeblich ausgestattet hat) uns nicht mehr das Gefühl, uns sicherer und unseren Mitmenschen weniger entfremdet zu fühlen oder zufriedener mit unserem Leben zu sein. Man muss sich nur unser heutiges polarisiertes politisches Leben anschauen, um zu erkennen, dass Tribalismus in Wirklichkeit genau das Gegenteil bewirkt. Und doch werden otrovertierte Menschen in einer Welt, in der man es für so positiv hält, sich anzupassen und mit anderen zusammenzutun, oft als Problem wahrgenommen. Solche Menschen werden häufig dazu ermahnt, »mit dem Strom zu schwimmen« oder »ein Teamplayer zu sein«. Mit anderen Worten: Sie sollen ihre wahre Natur – das Nicht-Dazugehören – verleugnen und sich in das soziale Puzzle einfügen. Otrovertierte Menschen können durchaus kontaktfreudig und gesellig sein, wenn es um Interaktionen mit einzelnen Menschen geht. Daher wundern ihre Mitmenschen sich oft über ihr Desinteresse an Gruppenaktivitäten oder ihre Abneigung dagegen, an Veranstaltungen teilzunehmen, bei denen sie gezwungen sind, mit vielen Menschen gleichzeitig in Kontakt zu treten.
Wenn man sich anpasst, lassen die anderen einen in Ruhe. Deshalb geben viele otrovertierte Menschen sich große Mühe, dazuzugehören. Doch all ihre Versuche, sich anzupassen, ein Insider zu sein und Gemeinsamkeitsgefühle zu erleben, sind zwecklos. Denn sie sind nun einmal keine gemeinschaftsorientierten Menschen und können sich daher eigentlich auch nicht als Mitglied einer Gruppe fühlen – selbst dann nicht, wenn man sie dazu einlädt und ermutigt. Außerdem wollen sie das auch gar nicht.
Darin liegt einer der größten Vorteile der Otroversion: Sobald man versteht und akzeptiert, wer man ist, wird man frei von dem enormen sozialen Druck, den die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit sich bringt. Wenn man keine Affinität zu einer bestimmten Gemeinschaft hat, ist das eigene Selbstwertgefühl auch nicht von der Zustimmung dieser Personen abhängig. Mit anderen Worten: Du bist nicht dazu verpflichtet, die kollektive Position, Meinung oder Sichtweise irgendeiner Gruppe gut zu finden. Du kannst die Nähe und Verbundenheit individueller Beziehungen genießen und bist von dem Gesellschaftsvertrag befreit, der von dir verlangt, dem »Wohl der Gruppe« oberste Priorität einzuräumen und die Bedürfnisse der Gruppe über deine eigenen zu stellen. Du lernst, das, was du innerlich als wahr erkennst, von dem zu trennen, was du als wahr akzeptieren musst, weil man dich dementsprechend indoktriniert hat. Und das Beste an alldem ist, dass du keine andere Denkweise kennst, als selbstständig zu denken.
Genau darum geht es in diesem Buch: Es will die große Freiheit und Erfüllung beschreiben, die man durch ein Leben abseits des gesellschaftlichen Rasters gewinnt, und gleichzeitig hervorheben, welch großen Wert die Perspektive otrovertierter Menschen für unsere Welt hat. Für eine gewisse Stabilität ist zwar auch die herkömmliche Meinung wichtig; doch für den Fortschritt braucht man revolutionäre Ideen. Deshalb müssen wir lernen, solche Ideen zu tolerieren, statt sie von vornherein von uns wegzuschieben. Schon Sigmund Freud hat gesagt, dass große gedankliche Entscheidungen und bahnbrechende Entdeckungen und Problemlösungen nur einem Individuum möglich sind, das allein im stillen Kämmerlein arbeitet.
Im Lauf meiner langjährigen Tätigkeit als Therapeut ist mir immer bewusster geworden, wie sehr die Tatsache, dass ich ein otrovertierter Mensch bin, meine therapeutische Philosophie (und damit auch meine Fähigkeit, meinen Patienten zu helfen) geprägt hat. Ich habe große Hochachtung vor dem, was die meisten Leute zu ignorieren scheinen – nämlich dem Recht jedes Menschen, sich selbst zu definieren. Wenn du wieder zu dir selber findest, nachdem du dich jahrelang über die Gruppe definiert hast, der du deiner Meinung nach angehören solltest, lernst du, deine Vorrangstellung in deinem eigenen Leben und deine Pflicht, dich gut um dich selbst zu kümmern, wieder zu schätzen. Es gibt nichts Befreienderes als die Erkenntnis, dass es sehr sinnvoll ist, den Menschen, der du bist, zu mögen und zu schätzen, weil du nun einmal nichts anderes sein kannst als du selbst.
Wenn du die Eigenschaften otrovertierter Menschen und ihre ganz besondere Art, in der Welt zu sein, kennenlernst, wirst du vielleicht feststellen, dass auch du selbst zu diesem Persönlichkeitstyp gehörst oder dass zumindest bestimmte Menschen in deinem Leben (die dir möglicherweise sogar sehr nahestehen) otrovertiert sind.
Doch egal ob du dich oder irgendjemanden aus deinem näheren Umfeld in diesem Buch wiedererkennst oder nicht, werden dir diese Seiten hoffentlich zeigen, dass die Erfahrungswelt otrovertierter Menschen die kollektive Sichtweise darüber bereichern kann, wie man in dieser Welt lebt. Ob du nun ein otrovertierter Persönlichkeitstyp bist oder nicht – die dauerhafteste Beziehung, die du führst, ist deine Beziehung zu dir selbst. Wenn du diese Beziehung stärkst, gewinnst du Zugang zu der psychischen Energie, die du brauchst, um andere Menschen intensiver und auf deine ganz persönliche Weise kennenzulernen und eine engere Verbindung zu ihnen einzugehen.
Wenn du dein Leben von einer Gruppe bestimmen lässt, verzichtest du unweigerlich auf die Kontrolle über dein eigenes Glück. Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche hat geschrieben: »Freiheit ist der Wille, Verantwortung für uns selbst zu übernehmen.« Ich hoffe, dieses Buch wird dir dabei helfen, deine innere Freiheit einzufordern!
Teil I
Was es bedeutet, nicht dazuzugehören
1Was ist ein otrovertierter Mensch?
Otrovertierter
[Substantiv; Adjektiv: otrovertiert] Ein »otrovertierter Mensch« verkörpert das Persönlichkeitsmerkmal der Nichtzugehörigkeit: In einer auf Gemeinschaftlichkeit beruhenden Welt bleibt er ein ewiger Außenseiter. Im Gegensatz zu Personen mit Beziehungsstörungen sind otrovertierte Menschen einfühlsam und freundlich; doch obwohl sie sich in ihrem Verhalten nicht von gut angepassten Menschen unterscheiden, fällt es ihnen schwer, sich wirklich zu sozialen Gruppen zugehörig zu fühlen.
»Ich kann es mir nicht erklären. Er ist ein Schatz. Ein wunderbarer Junge – innerlich ebenso wie äußerlich – und so intelligent.« So begann vor einigen Jahren eine Sitzung mit N, einer meiner langjährigen Patientinnen: Statt über sich selbst zu sprechen, wollte sie lieber von ihrem Sohn A reden. Er ging in die neunte Klasse; doch obwohl er aus einer warmherzigen, liebevollen Familie stammte und seine Eltern sich sehr um ihn kümmerten, hatte er im letzten Mittelstufenjahr soziale Probleme bekommen. Und diese Probleme waren für seine Mutter ein Buch mit sieben Siegeln. Ihr Sohn wurde nämlich weder gemobbt noch ausgegrenzt und litt auch nicht unter Gruppendruck (was in seinem Alter die häufigsten Probleme sind). Ganz im Gegenteil: »Er geht gerne zur Schule und bekommt nur Einsen«, sagte sie. »Alle lieben ihn, und er wird auch ständig zu Partys eingeladen, geht aber meistens nicht hin.«
Dieser Junge hatte weder Ängste noch Depressionen. Er gehörte zwar keiner großen Clique gleichaltriger Jungen an, hatte aber mehrere gute Freunde. Doch er lehnte fast alle Einladungen zu Ausflügen und anderen Gelegenheiten des Beisammenseins ab – und das konnte seine Mutter nicht verstehen. »Für einen Teenager ist er überhaupt nicht launisch oder wütend«, überlegte sie. »Aber er ist so verschlossen. Ich weiß nie, was er denkt, und er will auch nicht darüber reden, warum er nicht mit seinen Freunden zum Camping fahren möchte, obwohl sie ihn immer wieder dazu einladen. Anscheinend ist es ihm egal, dass er irgendwann völlig allein dastehen könnte; und das macht mir am meisten Sorgen. Wie kann es sein, dass ein 14-Jähriger kein Interesse daran hat, sich an andere Jungs anzuschließen?«
Solche Fälle hatte ich auch früher schon erlebt. Natürlich sehen Eltern es nicht gerne, wenn ihr Kind soziale Probleme hat – und diese Sorge nimmt in der Pubertät sogar noch zu, weil Ausgrenzung in diesem Alter besonders schlimme Auswirkungen auf die Stimmung, das Wohlbefinden, ja sogar die Funktionsfähigkeit eines jungen Menschen hat. Doch nach allem, was N mir erzählte, lag hier ein ganz besonderes Problem vor: Sie machte sich nämlich keine Sorgen darüber, dass A unbeliebt sein könnte, sondern es bekümmerte sie, dass ihr Sohn sich irgendwie völlig von seinen Altersgenossen unterschied, obwohl er ein intelligentes und in vielerlei Hinsicht sogar frühreifes Kind war: »Als er vier Jahre alt war, gestand die Sprechstundenhilfe seines Kinderarztes mir, dass sie manchmal den Wunsch verspürte, ihm ihre Lebensprobleme anzuvertrauen, sich aber im letzten Augenblick dann doch noch zusammenriss, weil ihr klar wurde, wie unpassend das war«, erzählte sie mir. Und diese Sprechstundenhilfe war keineswegs ein Einzelfall; auch andere Erwachsene – Verwandte, Familienfreunde, ja sogar Lehrer – hatten das Bedürfnis, sich diesem Jungen anzuvertrauen, und vergaßen dabei völlig, dass er noch so klein war. »Meine Mutter hält ihn für einen Empathen – was auch immer das bedeutet. Aber ich möchte eigentlich gar nicht, dass er etwas Besonderes ist. Er soll ein ganz normaler Teenager sein«, sagte N. Und als sie noch hinzufügte: »Und in diesem Alter kein Interesse an sozialen Kontakten mit anderen Jungen zu haben, ist doch nicht normal«, versagte ihr die Stimme.
Ich stimmte ihr zu: Seine gleichgültige Haltung gegenüber allem, was seinen Altersgenossen Spaß machte, war tatsächlich ungewöhnlich. Andererseits hörte sich das alles für mich nicht nach einer psychiatrischen Erkrankung an. Ich fragte, ob A einen Psychotherapeuten habe und ob neuropsychologische Tests mit ihm durchgeführt worden seien, und sie bejahte beide Fragen. »Seine Testergebnisse zeigen, dass er sehr intelligent und emotional reif ist und keine kognitiven Probleme hat. Die Therapeutin meint, dieser Junge sei ihr ein Rätsel; und das finde ich ehrlich gesagt schon ein bisschen beunruhigend.«
Drei Wochen später saß ich mit A in meiner Praxis. Als er hereinkam, wirkte er ein bisschen schüchtern, so wie man es von einem 14-Jährigen erwarten würde. Er sah gut aus, war salopp gekleidet, charmant und machte einen ruhigen Eindruck. »Deine Mutter macht sich Sorgen darüber, dass du offenbar gar keine Angst davor hast, etwas zu verpassen«, sagte ich, und darüber mussten wir beide lachen. Doch dann wurde er wieder ernst und sagte: »Wenn man weiß, dass man nichts verpasst, dann gibt es auch keine Angst.« Ich wollte seine Sichtweise ein bisschen besser verstehen; daher bat ich ihn, mir zu beschreiben, wie er Partys und andere soziale Anlässe erlebe. »Ich komme mir dort einfach komisch vor«, sagte er, »als ob ich gar nicht richtig dabei wäre – obwohl das eigentlich ein bisschen seltsam ist, weil das ja schließlich alles meine Freunde sind. Ich weiß, dass sie mich mögen und sich über meine Anwesenheit freuen; aber ich habe trotzdem das Gefühl, nicht dazuzugehören. Wenn ich mit vielen Menschen zusammen bin, fühle ich mich einsam oder langweile mich; doch wenn ich nur mit einem oder zwei engen Freunden zusammen oder ganz allein bin, habe ich dieses Gefühl nie.« Dann setzte er sichtlich frustriert hinzu: »Ich sage so etwas nicht gern, weil es irgendwie so klingt, als sei ich ein Alien. Glauben Sie, dass mit mir etwas nicht stimmt?«
Diesen Eindruck hatte ich zwar nicht, befürchtete aber, dass er das vielleicht glaubte, und fragte ihn, ob er das Gefühl habe, ein Alien zu sein. »Ja«, antwortete er und wiederholte damit die Worte seiner Mutter. »Ich glaube, ich bin tatsächlich nicht ganz normal. Warum kann ich dem, was meine Freunde mögen, so gar nichts abgewinnen? Es kann doch nicht sein, dass alle anderen falschliegen, nur ich nicht.«
Ich verstand seine Gefühle sehr gut. Über sämtliche Kulturen und Traditionen hinweg herrscht in Jugendgruppen stets ein hoher Anpassungsdruck. Wie können wir also Verständnis für jemanden wie A aufbringen, der sich von vornherein keine Mühe gibt, dazuzugehören? Auf diese Frage gibt es eine ganz einfache Antwort: A ist ein otrovertierter Persönlichkeitstyp.
Als ich meine Einschätzung mit A teilte, war er sichtlich erleichtert. Ich lud ihn dazu ein, noch einmal zu mir zu kommen und mit mir über dieses Thema zu reden, nachdem er etwas darüber nachgedacht hatte. Bei unserem zweiten Termin erklärte er mir, dass er durch unser vorheriges Gespräch eine gewisse innere Klarheit gewonnen habe: Dadurch sei ihm bewusst geworden, dass hinter den meisten seiner sozialen Probleme das Gefühl steckte, nicht dazuzugehören.
Er bat mich, seinen Eltern das zu erklären. Das tat ich dann auch und empfahl ihnen dringend, sie sollten ihn nicht unter Druck setzen, »so zu sein wie alle anderen Kinder«. Anfangs fiel ihnen das nicht leicht, denn die Menschen in ihrem sozialen Umfeld beharrten immer wieder darauf, dass sie ihren Sohn dazu zwingen sollten, zu Partys und in Ferienlager zu gehen und all die anderen Dinge zu tun, mit denen 14-jährige Jungen sich normalerweise die Zeit vertreiben. »Er wird euch später dankbar dafür sein«, sagten sie. »Kinder wissen nicht, was sie brauchen. Man muss es ihnen erst beibringen.« Doch das war ein Irrtum.
Inzwischen ist A zur Freude seiner Eltern richtig aufgeblüht. Er ist jetzt 24 Jahre alt, macht gerade seinen Doktor in Psychologie, hat sich vor kurzem mit seiner College-Freundin verlobt und pflegt nach wie vor eine enge Beziehung zu den besten Freunden aus seiner Kindheit. In gewisser Weise wird er innerhalb einer Gruppe stets ein Beobachter und niemals ein echter Teilnehmer sein. Doch an seinem eigenen Leben nimmt er hundertprozentig teil: Er ist sehr zufrieden mit dem, was er tut, und mit den Menschen, mit denen er zusammen ist. Das ist der optimale Weg für einen otrovertierten Menschen.
Wie sehen Otrovertierte die Welt?
In jeder Gruppe gibt es bestimmte Überzeugungen und – ausgesprochene und unausgesprochene – Regeln, über die die Mitglieder sich einig sein müssen, um in die Gruppe aufgenommen zu werden. Gemeinschaftsorientierte Menschen (zu dieser Kategorie gehören introvertierte und extrovertierte Persönlichkeitstypen ebenso wie Menschen, die zu Außenseitern geworden sind, weil man sie ausgegrenzt hat) möchten in die Gruppe eingeladen werden und bestätigen die Richtigkeit der dort herrschenden Regeln und Überzeugungen, indem sie genau das tun, was die Gruppe ihnen vorschreibt. Zwei gängige umgangssprachliche Begriffe für diese weit verbreitete Form kollektiven Denkens lauten »Herdendenken« und »Schwarmintelligenz«.
Otrovertierte Menschen dagegen können mit solchen Gedankenmustern nichts anfangen. Sie teilen die kollektive Sichtweise der Gruppenmitglieder nicht, und das Gravitationszentrum der Gruppe übt keinerlei Anziehungskraft auf sie aus.
Die Grafik auf der rechten Seite veranschaulicht, wie gemeinschaftsorientierte und otrovertierte Menschen (und deren Weltsicht) sich voneinander unterscheiden. Gemeinschaftsorientierte Persönlichkeitstypen richten ihren Blick auf den Mittelpunkt des Kreises, wo die Meinungen aller anderen Menschen zusammenlaufen. Bei otrovertierten Menschen ist es umgekehrt: Selbst wenn sie innerhalb einer Gruppe stehen, schauen sie immer nach außen.
Gemeinschaftsorientierte Menschen orientieren sich stets am Zentrum der Gruppe; doch jeder tut das aus anderen Gründen.
Introvertierten Menschen fällt es ungeheuer schwer, enge Beziehungen zu einzelnen Personen aufzubauen, und sie scheuen vor jeder Gelegenheit emotionaler Nähe zurück. Sie suchen lieber nach einer Beziehung zu einer ganzen Gruppe, weil es in einem Kreis aus vielen Menschen einfacher ist, Personen, die einem zu nahe kommen wollen, auf Abstand zu halten. Deshalb ist es introvertierten Menschen wichtig – manchmal sogar sehr wichtig –, einer Gruppe anzugehören, auch wenn sie sich innerhalb dieser meistens eher ruhig und schüchtern verhalten. Da soziale Interaktionen sie eine Menge Energie kosten, verbringen sie vielleicht nicht sehr viel Zeit mit der Gruppe. Trotzdem vermitteln die gemeinsame Identität und das Wissen, »dazuzugehören«, ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
