Wie wollen wir leben? - Hans-Jochen Vogel - E-Book

Wie wollen wir leben? E-Book

Hans-Jochen Vogel

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Beschreibung

Hans-Jochen Vogel und Sandra Maischberger: Ein Gespräch

Was hält unser Land in Zukunft zusammen? Das ist die zentrale Frage, auf die Hans-Jochen Vogel, der die Bundesrepublik als Politiker und engagierter Bürger im Laufe von Jahrzehnten mitgeprägt hat, der angesehenen TV-Journalistin Sandra Maischberger Rede und Antwort steht. Ein tief gehendes, auch persönliches und unterhaltsames Gespräch über Geschichte und Gegenwart, Politik und bürgerliche Verantwortung, über Familie und Religion. Hochaktuell und zugleich weit über die Tagespolitik hinausweisend.

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Seitenzahl: 326

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Sandra MaischbergerVorwort von Hans-Jochen VogelÜber das Googeln, die Beschleunigung der Welt und Seehofer & Co.Über die Zukunftsangst der Menschen, eine gesetzliche Begrenzung der Gehälter und LuxusÜber eine merkwürdige Atompolitik, arabische Revolutionen und das Grundgesetz als unverzichtbaren WertCopyright

Vorwort von Sandra Maischberger

Warum Hans-Jochen Vogel? Warum ein Gesprächsbuch mit einem Politiker, der heute nicht mehr regiert und der in seiner aktiven Zeit nie die höchsten Staatsämter bekleidete, nicht Bundeskanzler oder Bundespräsident war? Warum einen Fünfundachtzigjährigen, der vor fünf Jahren seinen Wohnsitz in ein Altenwohnheim verlegt hat, über die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft befragen?

Ich habe mir diese Frage gar nicht gestellt, als der Verlag mit dem entsprechenden Vorschlag an mich herantrat. Weil es gar nicht viele Persönlichkeiten gibt, die dafür in Frage kommen, in unübersichtlichen Zeiten verlässlich Orientierung zu geben.

Das ist zum einen dem großen Erfahrungsschatz geschuldet, den Hans-Jochen Vogel jahrzehntelang in seinen vielen politischen Ämtern gesammelt hat. Das ist vor allem aber seinem unverwechselbaren Wesen, seinem Charakter zu verdanken, seiner schon sprichwörtlichen Detailversessenheit, der rigiden Unbestechlichkeit und der beständigen Prinzipienfestigkeit, denen er sein Denken und Handeln immer unterworfen hat. Er lässt sich von Werten und Moralvorstellungen leiten, wo anderen die Maßstäbe des Handelns verrutscht oder ganz abhandengekommen sind. Deshalb war sein Ansehen über Parteigrenzen hinweg besonders hoch, hatte sein Wort immer Gewicht. Diese klare Sicht auf die Dinge hat auch die vielen Gesprächsstunden geprägt, die wir zwischen März und Juni 2011 miteinander im Augustinum oder in einem nahe gelegenen Konferenzraum verbracht haben.

Neben der Grundfrage, was eine Gesellschaft zusammenhält, beschäftigte uns die Atomkatastrophe von Fukushima und die Energiewende; die Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten und den Abgang des konservativen Hoffnungsträgers zu Guttenberg; die Nachwirkungen der Integrationsdebatte zwischen Sarrazin und Wulff; die Revolution in der arabischen Welt und vor allem und alles bestimmend: die Finanz- und Eurokrise, deren Ausgang auch an unserem letzten Gesprächstag nicht einmal im Ansatz abzusehen war.

Hans-Jochen Vogel hat das Gewirr unwichtiger und epochaler Nachrichten ruhig sortiert, kenntnisreich und mit Liebe zum Detail alle Fragen beantwortet. Seine Standpunkte hat er mit einer Leidenschaft verteidigt, die selbst auf Papier gedruckt noch spürbar bleibt. Der Gesprächsverlauf wurde im Buch weitgehend beibehalten und damit auch das nicht immer Gradlinige, das Wiederaufnehmen von Themen, das Eingehen auf das, was gerade persönlich interessiert.

Immer wieder zeigte sich übrigens auch, dass Hans-Jochen Vogel einer Generation angehört, in der Dinge noch gewusst und nicht im Internet nachgelesen wurden. Für mich war bald klar: statt googeln – Vogel fragen.

Berlin, im Juli 2011

Sandra Maischberger

Vorwort von Hans-Jochen Vogel

Dieses Buch bietet keine umfassende Analyse der Verhältnisse, unter denen wir gegenwärtig leben. Und erst recht keinen kompletten Zukunftsentwurf. Und es ist auch keine biografische Schilderung meines politischen Lebens. Vielmehr versuche ich in diesem Buch Fragen, die bedeutsam erscheinen, aus der Sicht eines älteren – nein!, eines alt gewordenen – Zeitzeugen zu beantworten. Eines Zeitzeugen, der sich jahrzehntelang in verschiedenen Funktionen für das Gemeinwesen engagiert und dabei einen beträchtlichen Vorrat an Erfahrungen gesammelt hat. Und der auch auf Eindrücke und Erlebnisse aus Zeiten zurückgreifen kann, die für die große Mehrheit der heute Lebenden unendlich weit zurückzuliegen scheinen.

Bei den Fragen, die Frau Maischberger sehr klug zusammengestellt, präzise formuliert und mitunter hartnäckig zugespitzt hat, geht es zunächst um die großen aktuellen Probleme. Um den Atomausstieg, um die Finanz- und die Eurokrise. Und um die arabische Revolution zum Beispiel. Auch um die zunehmende Beschleunigung aller Entwicklungen. Die könnte übrigens dazu führen, dass manche Feststellungen und Einschätzungen, die zum Zeitpunkt der Freigabe des Manuskripts – also Ende Juli 2011 – zutrafen, inzwischen auch schon wieder überholt sind.

Die Fragen betreffen ebenso die generellen Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben. Also beispielsweise die Globalisierung, die Ökonomisierung, die ökologischen Gefahren, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und nicht zuletzt das Bild, das die Politik und ihre Akteure – dazu rechne ich auch die Mächtigen in der Wirtschaft und in den Medien – derzeit bieten.

Und schließlich geht es um die Werte, die uns Orientierung geben sollen, und um deren Begründung. Und damit auch darum, was unser Land zusammenhält oder, besser gesagt, zusammenhalten soll und wie wir leben wollen oder auch sollen. Dies nicht im Sinne einer Meinungserforschung, sondern eher im Sinne von verallgemeinerungsfähigen eigenen Vorstellungen. Damit werden dann die Antworten zum Teil auch sehr persönlich.

Das sind sie überhaupt. Sie wollen auch nicht apodiktisch sein. Vielmehr sollen sie zum Nachdenken und durchaus auch zum Widerspruch einladen. Und noch etwas wollen sie: nämlich Mut machen. Und mit Blick auch auf unsere Nachkriegsgeschichte das Gefühl verstärken, dass wir die neuen Herausforderungen bewältigen können.

Bleibt noch zu danken. Frau Maischberger vor allem. Denn es ist ihr Verdienst, dass dabei nicht ein Verhör, sondern ein Gespräch herauskam. Ich danke weiter dem Verlag und insbesondere Herrn Dr. Winstel und Frau Carstensen. Beide haben zur endgültigen Fassung des Textes und zu seiner vernünftigen Ordnung wesentlich beigetragen. Dank verdient schließlich auch meine Frau, weil sie in den Wochen, in denen ich mitunter schwer ansprechbar war, verständnisvoll mit mir umgegangen ist. Und Frau Marlies Hirt, weil sie alle meine handschriftlichen Korrekturen entziffert und die mehreren Hundert Seiten in Rekordzeit geschrieben hat.

München, im Juli 2011

Hans-Jochen Vogel

Über das Googeln, die Beschleunigung der Welt und Seehofer & Co.

Eigentlich hätten wir, Herr Dr. Vogel, in Zeiten moderner Kommunikation miteinander chatten sollen.

Dazu müssten wir miteinander fliegen. Aber wohin sollen wir denn zusammen fliegen?

Ich meine nicht jetten, sondern chatten – im Internet chatten, so wie man im Netz E-Mails verschickt und Begriffe googelt.

Ach so, schwätzen, quatschen … Nun ist mir alles klar.

Man kann auch simsen. Politik per SMS wird ja nicht nur von Angela Merkel gemacht, auch der amerikanische Präsident Barack Obama nutzt diesen Weg. Wir leben in einer beschleunigten Welt, in einer Welt hoher Geschwindigkeiten. In einem aktiven politischen Leben wäre man wohl ohne Handy und Internet vollkommen aufgeschmissen. Oder kann man sich dieser Entwicklung noch entziehen?

Wahrscheinlich nicht. Dennoch halte ich es auch in heutigen Zeiten für möglich, dass man nicht während einer wichtigen Kabinettssitzung ständig die Mobiltelefone bedient und eine SMS nach der anderen verschickt. Die Kanzlerin könnte als Vorsitzende sagen: »Herrschaften, während wir hier beraten, werden die Handys ausgestellt. Wir machen alle fünfzig Minuten zehn Minuten Pause, dann könnt ihr simsen oder was immer ihr wollt. Aber dann ist wieder Schluss.« Und es wäre nicht nur eine Sekundärtugend, würde man die Mobiltelefone ausschalten. Denn letztlich überfordert es das menschliche Denk- und Reaktionsvermögen, wenn man gleichzeitig zuhören, diskutieren und seine verschiedenen Geräte bedienen will. Und auch Herrn Obama gegenüber würde ich mir einen Ratschlag erlauben: »Hören Sie, Sie haben eine Weltverantwortung von höchstem Gewicht. Sie müssen doch um Gottes willen auch mal für eine Stunde diese Dinger ausschalten können, um nachzudenken und mit Ihren Vertrauten zu reden.« Ich halte diese technischen Errungenschaften nicht für eine Fehlentwicklung oder gar Katastrophe – zu diesen Menschen gehöre ich nicht –, aber man sollte sich nicht von ihnen beherrschen lassen. Besonders dann nicht, wenn man große Verantwortung trägt. Dass in einer Fraktionssitzung unter meinem Vorsitz gesimst worden wäre, kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Das hätte ich nicht geduldet.

Sehen Sie das Internet als ein Instrument der heutigen Aufklärung, oder ist es auch ein moderner Pranger?

Da muss ich mich aus einem – wie ich glaube – einleuchtenden Grund sehr zurückhalten. Denn ich gehöre zu der schrumpfenden Minderheit, die nicht am Internet teilnimmt. Ich habe dafür auch einen ganz individuellen Grund. Ich fürchte nämlich, wenn ich erst einmal am Netz wäre, dann würde ich Stunden mit Googeln zubringen, um irgendetwas immer noch genauer herauszufinden. Es ist besser, wenn ich das nicht tue. Gelegentlich ist die Einführung des Internets mit der Erfindung der Buchdruckkunst verglichen worden. Diese Parallele kann ich einigermaßen nachvollziehen. Hinzu kommen aber andere Aspekte. So die jederzeitige Erreichbarkeit, die Möglichkeit der ständigen Einflussnahme, die Möglichkeit, dass man nicht nur zwei oder drei Leute mit einer brieflichen Nachricht erreichen kann, sondern über das Internet plötzlich Zehn-, ja Hunderttausende von Menschen, um auf deren Meinung Einfluss zu nehmen. Auch die Versuchung, sich selbst schutzlos der Öffentlichkeit preiszugeben. Das sind alles Faktoren, die man bedenken muss. Andererseits bestreite ich nicht: Für die Entwicklung in Ägypten beispielsweise, aber auch in anderen arabischen Ländern spielten und spielen die elektronischen Medien eine substanzielle Rolle. Es wäre gut, wenn wir den gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Neuerung noch mehr Aufmerksamkeit widmen würden.

Ihre Suchtgefahr besteht also in einem Informationshunger?

Meine Suchtgefahr ist verbunden mit der von mir eingestandenen Pedanterie. Ich will es immer genau wissen, und ich will es so genau wissen, dass mich keiner widerlegen kann, was Fakten und Richtigkeit angeht. Jetzt macht sich das bemerkbar, indem ich im Papierbereich nachforsche. Aber wenn ich bei Google dranhängen würde, wäre das sicher noch viel schlimmer.

Haben Sie die Aufnahmen am Tag des Rücktritts von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gesehen? Sie zeigen Kanzlerin Angela Merkel auf der CeBIT in Hannover, in ihrer Hand ihr Handy. Angeblich empfing sie in diesem Moment die Nachricht über den Rücktritt und reichte das Handy dann weiter an die neben ihr stehende Bildungs- und Forschungsministerin Annette Schavan. Viele dachten beim Betrachten der Fotos: Die scheinen ja ganz zufrieden zu sein über das, was sie da gerade auf dem Handy gelesen hatten. So wurde gleich wieder eine neue Nachricht in die Welt gesetzt. Wie unmittelbar und global Informationsvermittlung heute passiert, zeigten die Ereignisse in Fukushima. Durch die fast zeitgleich per Satellit übertragenen Bilder des Atomwracks, in dem die Kernschmelze stattfand, hatten wir den Eindruck, unmittelbar dabei zu sein. Ganz anders noch bei dem Reaktorunfall 1986 in Tschernobyl, von dem wir erst Tage später erfuhren, und zwar erst auf Nachfrage. Ist diese Unmittelbarkeit ein Vor- oder ein Nachteil für politisches Handeln?

Sowohl als auch. Die Reaktion von Frau Merkel auf die Nachricht vom Rücktritt des Herrn zu Guttenberg ließ vermuten, dass sie darüber nicht sehr unglücklich war. In manchen Fällen können Bilder starke emotionale Eindrücke hervorrufen und so die rationale Auseinandersetzung mit dem konkreten Problem erschweren. Aber solche Aufnahmen können auch Informationen vermitteln, die sich mit dem Ohr allein so nicht wahrnehmen lassen. Nicht immer reicht das gesprochene oder das geschriebene Wort aus. Mit meiner Frau habe ich mehrere Spezialsendungen über die Katastrophe in Japan gesehen. Und ich muss sagen, dass diese Berichterstattung insgesamt eher hilfreich war. Auf jeden Fall hat die Unmittelbarkeit von Bildern dieser Art einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung von Ereignissen und das Urteil, das sich der Betrachter dann bildet.

Man kann jedenfalls vermuten, dass die Bilder aus Japan einen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen im März 2011 in Baden-Württemberg hatten, obwohl wir weit entfernt von diesem Inselstaat leben. Welchen Herausforderungen sind in Zukunft Landespolitiker unterworfen, wenn damit zu rechnen ist, dass der sprichwörtlich gewordene umgefallene Sack Reis in China die eigenen politischen Konzepte völlig über den Haufen wirft?

Was Sie da ansprechen, zeigt, wie weit die Globalisierung der Welt fortgeschritten ist und wie sehr sie auch uns erfasst hat. Nicht die Entfernung, in der ein Ereignis stattfindet, sondern die Wirkungen, die von ihm ausgehen können, sind entscheidend. Das müssen auch Landespolitiker im Bewusstsein haben. Wir werden wohl unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung darauf noch näher zu sprechen kommen.

Darf eigentlich ein einzelner Unglücksfall herangezogen werden, um eine ganze Technologie zu verdammen, die vielleicht Industrienationen bei ihrer Weiterentwicklung helfen würde?

Erste Bemerkung: Fukushima war nicht der erste atomare Unglücksfall. Davor gab es die Beinahe-Kernschmelze in Harrisburg, und es gab Tschernobyl. Trotzdem tut die schwarz-gelbe Koalition so, als wäre Fukushima etwas ganz Neues. Zweite Bemerkung: Die Anwendung einer Technik, die einen GAU mit schrecklichen Auswirkungen verursachen kann, ist nur zu verantworten, wenn die Verantwortlichen sagen: »Es wird auf diesem Gebiet nie ein menschliches Versagen und nie einen technischen Fehler oder einen Materialfehler und folglich auch keinen GAU geben.« Damit beanspruchen Menschen aber auf diesem Gebiet Allwissenheit und Allmacht. Und das ist in meinen Augen gotteslästerlich. Meine Zweifel, was die Kernenergie betrifft, waren schon vor Tschernobyl gewachsen. Erhard Eppler hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Hätten wir auf ihn gehört, hätte es vielleicht die Grünen nicht gegeben. Und als sich dann der GAU in Tschernobyl ereignete, habe ich am 14. Mai 1986 in einer Bundestagsrede ganz konkret den Ausstieg gefordert. Den hat meine Partei dann im August 1986 auf einem Parteitag in Nürnberg beschlossen. Schon damals hat sie dargetan, wie das vor sich gehen soll, ohne die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes zu gefährden.

Bundeskanzlerin Merkel hat ihren Richtungswechsel in der Atompolitik mit den Bildern aus Fukushima begründet. Ist es nicht lobenswert, die eigene Meinung zu ändern?

Diese Bilder waren in der Tat eindrucksvoll und haben die Menschen sehr bewegt. Aber wie gesagt: Was war denn an dem dortigen Atom-GAU wirklich neu? Und warum wurde erst jetzt eine Ethikkommission eingesetzt und nicht schon vor der Laufzeitverlängerung?

Einen interessanten Hinweis auf die Überlegungen, die angestellt wurden, verdanken wir übrigens Herrn Brüderle, damals noch Bundeswirtschaftsminister. Nach einem schriftlichen Protokoll des BDI soll er auf einer Zusammenkunft dieses Verbands der Deutschen Industrie gesagt haben, die sieben älteren Atommeiler habe man wegen der bevorstehenden Landtagswahlen abgeschaltet. Ausschließen kann man das nicht.

Genau das wurde bis zu diesem Zeitpunkt vehement bestritten, obwohl es offensichtlich war. Für wie dumm halten die Politiker die Bürger mittlerweile?

Ihre Frage generalisiert mir zu stark. In Bezug auf Herrn Brüderle hätte ich damals zunächst gesagt, er sei der erste Anwärter auf einen Wahrheitspreis, sollte je ein solcher verliehen werden. Aber diese Chance hat er durch merkwürdige Dementis wieder zunichtegemacht.

Aber die Konsequenz aus der Tatsache, dass ein Repräsentant des Volkes die Wahrheit sagte, ja beim Wahrheit-Sagen ertappt wurde, ist die, dass er als Wirtschaftsminister nicht mehr im Dienst ist.

Das mag eine Rolle gespielt haben. Aber der Fraktionsvorsitz, in den er wechselte, ist ja durchaus auch einflussreich. Hauptgrund für diesen Wechsel war wohl der Wunsch des neuen FDP-Vorsitzenden Rösler, der besseren Außenwirkung wegen das Bundesgesundheitsministerium mit dem Bundeswirtschaftsministerium zu vertauschen.

Welchen Schaden hat Rainer Brüderle dem politischen System durch sein Handeln zugefügt?

Er hat denen Auftrieb gegeben, die ohnehin politikskeptisch sind und deshalb Erklärungen, wie sie Brüderle zugerechnet werden, eigentlich schon für mehr oder weniger selbstverständlich halten. Und die deshalb sagen: »Ach, die Politik richtet sich sowieso nicht nach zuverlässigen Kriterien. Die entscheidet nicht anhand abgewogener Argumente, sondern sie blickt nur auf Umfrageergebnisse und die nächsten Wahlen.« Das, so meinen sie, sei in der Politik ähnlich wie bei Zeitungsverlagen, die nach ihren Auflagen schauen, und bei Fernsehanstalten, die stets die Einschaltquoten im Visier haben.

Warum unterlaufen drei Parteien, die schon in unterschiedlichsten Konstellationen lange an der Macht waren und überhaupt nicht als unerfahren gelten dürfen, so viele Fehler in so kurzer Zeit? Sind wir in eine Phase getreten, in der sich die Schlagzahl der Geschehnisse für bedachtes und überlegtes politisches Handeln zu sehr erhöht hat? Man braucht sich nur die Weltereignisse anzuschauen – die Erdbeben und die schon erwähnten havarierten Atomkraftwerke in Japan, die Revolutionen im arabischen Raum, die neu die Frage nach Krieg und Frieden stellen, die Finanzkrise, die mittlerweile ganze Staaten bedroht –, all das geschieht in einer hohen Geschwindigkeit, mit einer ungeheuren Vehemenz. Sind Sie froh, nicht mehr in der Verantwortung zu stehen und jeden Tag eine Antwort finden zu müssen?

Zum Teil schon. Doch würde ich deshalb nicht aus der Politik davonlaufen, wenn ich noch jünger wäre. Übrigens: Auch in der Vergangenheit gab es Zeitabschnitte mit hohen Schlagzahlen. Da muss ich nur an den 11. September 2001 denken, an die Wochen vor dem Irakkrieg, an die RAF-Anschläge im Herbst 1977. Und wir dürfen auch nicht verdrängen, dass das Verhältnis zwischen Ost und West bis 1989 keineswegs spannungsfrei war. Die Sorge, dass das auch in einem atomaren Konflikt münden könnte, war durchaus gegenwärtig. Ich gebe aber zu, dass die Akzeleration großer Ereignisse und Probleme zugenommen hat.

Doch sie taugt nicht als Entschuldigung für Fehler?

Nein, keineswegs. Meines Erachtens ist eine gewisse Kurzatmigkeit insbesondere bei den Regierungsparteien eingetreten. Sie handeln und entscheiden oft von heute auf morgen. Und zwar auch in Fällen, in denen die Umstände nicht dazu zwingen. Dabei geht es doch um Herausforderungen, für deren Bewältigung man zuverlässige und belastbare Fakten und Kriterien braucht. Auch sind Diskussionen nötig, die sich nicht im Austausch von Vorwürfen oder kleinen Bosheiten erschöpfen, sondern wirklich versuchen, Argumente zu erfassen, um zu einer möglichst breiten Einigung zu kommen. Ich will ein Beispiel nennen: Die Ostpolitik Willy Brandts war ursprünglich außerordentlich umstritten. Aber mehr und mehr ist diese Ostpolitik doch zu einer gemeinsamen Politik geworden. Hans-Dietrich Genscher rechne ich hoch an, dass er die Linie der Ostpolitik auch nach dem Koalitionswechsel im Jahre 1982 durchgehalten hat. Und das hat nicht nur uns geholfen, sondern auch dem Frieden in Europa.

Wenn eine politische Führung unter dem Eindruck einer größeren Zahl von Nachrichten durch die Globalisierung steht, es mit einer Beschleunigung durch das Internet und einer verstärkten Emotionalität durch die Macht der Bilder zu tun hat, benötigt sie dann nicht ein tragfähiges Gerüst, um Entscheidungen treffen zu können? Braucht sie nicht einen inneren Kompass oder Kriterien, die auch dann standhalten, wenn es mal unübersichtlich wird?

Ja, das braucht die Politik in jedem Fall. Und sie muss ihre Kriterien den Menschen auch mitteilen und sie dann durchhalten. Generelle Urteile über das politische Handeln – meist negativer Art – sind in diesem Zusammenhang unangemessen. Es gibt auch genug positive Beispiele. Ich könnte auch Namen von Politikern nennen, die solche Beispiele gegeben haben, verzichte aber darauf, weil ich keinen der nicht Genannten verletzen will. In jedem Fall hat von den noch Lebenden Helmut Schmidt so gehandelt.

Na gut, aber der regiert schon lange nicht mehr.

Das stimmt. Aber er äußert sich immer wieder zu den zentralen politischen Problemen und gibt auf seine Weise Orientierung. Und das ebenso pointiert wie klar. Man muss ihm nicht immer zustimmen, aber man muss sich mit seinen Positionen und seinen Argumenten beschäftigen. Übrigens: Es ehrt unser Volk, dass ein Mann wie Helmut Schmidt das höchste Ansehen überhaupt genießt.

Ich möchte aber ganz bewusst über die jetzige Politikergeneration reden. Wer aus dem aktuellen politischen Personal, ich beharre darauf, flößt Ihnen persönlich Vertrauen ein? Bei wem haben Sie das Gefühl, das ist jemand, der auch über den Augenblick hinaus denkt?

Also gut, dann nenne ich doch auf der Bundesebene ein paar Namen. Allerdings betone ich, dass es sich nur um eine Auswahl handeln kann. So nenne ich Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück oder Wolfgang Thierse. Dann Wolfgang Schäuble, mit dem ich zu meiner Zeit manch harten Strauß ausgefochten habe. Oder Thomas de Maizière. Auch der Bundestagspräsident, Herr Lammert, gehört dazu. Und Herrn Trittin würde ich allmählich auch nennen.

Und was halten Sie von Ursula von der Leyen?

Das ist eine gewandte Politikerin, die sich selbst wirksam zu präsentieren weiß. Und zudem als siebenfache Mutter in der Politik eine Ausnahmeerscheinung. Auch ihr billige ich eine bestimmte Grundorientierung zu. Imponiert hat mir übrigens Annette Schavan durch eine ehrliche Äußerung während der Guttenberg-Wochen. Da antwortete sie auf die Frage, ob sie sich heimlich für ihren Kabinettskollegen schäme: »Als jemand, der selbst vor einunddreißig Jahren promoviert hat und in seinem Berufsleben viele Doktoranden begleiten durfte, schäme ich mich nicht nur heimlich. «

Wie stehen Sie zu dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer?

Nun bringen Sie mich fast dazu, Noten zu verteilen. Ich empfand Achtung für ihn, als er 2004 als Sozialpolitiker die von der CDU und CSU präsentierten Gesundheitskompromisse heftig kritisierte und von seiner Funktion als Vizefraktionsvorsitzender zurücktrat. Das hat mir gefallen. Dann hatte er aber als bayerischer Ministerpräsident eine Phase, in der es schwer vorauszusagen war, was er wohl zu ein und derselben Sache am Nachmittag des gleichen Tages oder am nächsten Morgen sagen würde. In der Frage des Atomausstiegs hat er sich allerdings wohl endgültig festgelegt. Leider ohne wenigstens einmal klipp und klar zu sagen, dass er sich in dieser Sache über Jahrzehnte hin geirrt hat.

Kommen wir noch einmal auf die Kriterien zurück. Welche hätten Ihnen geholfen, um sich zum Beispiel eine Meinung zu den Unruhen in Libyen zu bilden, um zu wissen, ob man den Rebellen in diesem Land Unterstützung zusichern sollte oder nicht? Wäre Ihnen Bündnistreue wichtiger oder das Prinzip der Nichteinmischung in innere Belange eines souveränen Staats?

Unter dem Gesichtspunkt des Schutzes von Menschenrechten verdienen die Rebellen Unterstützung gegen einen Diktator, der auch vor massenhaften Tötungen von Zivilpersonen nicht zurückschreckt. Diese Unterstützung hat ihnen der UN-Sicherheitsrat durch einen Beschluss über die Durchsetzung einer Flugverbotszone gewährt und damit zugleich das Völkerrecht in dieser Richtung weiterentwickelt. Dass sich die Bundesrepublik bei diesem Beschluss der Stimme enthalten und damit ihre westlichen Verbündeten brüskiert hat, ist mir unverständlich. Zu einer Mitwirkung an militärischen Maßnahmen hätte uns dieses Stimmverhalten nämlich keineswegs verpflichtet. Wir hätten vielmehr darauf verweisen können, dass unsere militärischen Möglichkeiten durch Afghanistan und weitere laufende Einsätze schon voll in Anspruch genommen sind und die Bundeswehr sich außerdem in einer Strukturreform befindet. Vielleicht hat die Enthaltung ja auch auf die damals bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz gezielt. Außerdem: Dass man militärische Hilfe für die Aufständischen in Libyen ablehnt, kurz darauf aber Panzer an die Machthabenden in Saudi-Arabien liefert, lässt sich wohl kaum unter einen Hut bringen.

Als Christ kann man sich wiederum die Frage stellen, ob man Leid verhindern kann, indem man neues Leid hinzufügt. Denn Bomben aus der Luft sind sicherlich ein zugefügtes Leid.

Dazu hat sich der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz Robert Zollitsch 2010 in einem Gastbeitrag der Frankfurter Rundschau sehr abgewogen geäußert: »Für die katholische Kirche gilt dabei, dass sie das Konzept des ›gerechten Friedens‹ in den Mittelpunkt der Friedensethik stellt. Nicht die immer auch notwendige Klärung der Legitimität von vielleicht noch hinnehmbarer Anwendung militärischer Mittel ist deren Zentrum. Vielmehr versucht sie, jene Handlungsweisen zu bestimmen, die eine Überwindung von Gewalt ermöglichen und den Frieden unterstützen. In diesem Zusammenhang kann militärischem Handeln unter gewissen Voraussetzungen eine Gewalt eindämmende und damit für eine gewisse Zeit notwendige Rolle zufallen.« Dem stimme ich zu.

Ich wäre gespannt zu erfahren, nach welchen Kriterien Sie eine Entscheidung in einer schweren Finanzkrise treffen? Durch verschuldete Länder wie Griechenland, Portugal oder Italien rückt sie immer wieder ins Zentrum. Nun hat etwa ein Land wie Griechenland seine »Hausaufgaben« im Sinne einer finanzpolitischen Stabilität nicht ordentlich gemacht, und in diesem Fall stehen zwei Aspekte zur Disposition. Einerseits die Solidarität im europäischen Raum, die Ihnen wichtig ist, andererseits ist die Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen in Deutschland nicht zu vernachlässigen, will man ihnen doch keine Schulden in einer Höhe aufhalsen, die nicht mehr bezifferbar wäre. Wie würden Sie entscheiden?

Das ist in der Tat eine schwierige Abwägung. Im Gegensatz zum Ausstieg aus der Atomenergie gibt es hier für mich kein absolutes Argument. Zuerst muss aber einmal Klarheit darüber geschaffen werden, was die Summen, die häufig genannt werden, eigentlich bedeuten. Zunächst geht es nämlich im Wesentlichen »nur« um Kredite und Bürgschaften. Inwieweit sie in Anspruch genommen werden, kann heute niemand mit Sicherheit voraussagen. Dennoch: Wenn auch die mögliche Belastung sehr hoch sein könnte, ist die Übernahme dieses Risikos in meinen Augen geboten. Denn ein Auseinanderbrechen der Eurozone würde gerade uns als Exportnation besonders hart treffen. Das schon deswegen, weil eine nationale deutsche Währung, zu der wir dann ja wohl zurückkehren müssten, sogleich intensiv aufgewertet und unser Export entsprechend verteuert würde. Auch für die Europäische Union wäre eine solche Entwicklung ein fundamentaler Rückschlag. Aber »Schirme« allein genügen nicht. Notwendig ist eine europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik. Diese Erkenntnis beginnt sich ja inzwischen durchzusetzen. Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank, hat ja sogar einen europäischen Finanzminister gefordert.

Über die Zukunftsangst der Menschen, eine gesetzliche Begrenzung der Gehälter und Luxus

Ich erlebe Sie als einen Menschen, der sich mit tagespolitischen Fragen auseinandersetzt, Detailkenntnisse hat, sodass ich mich wiederum frage, wie Sie das herstellen? Telefonieren Sie viel? Führen Sie Gespräche, um sich ein Bild zu machen? Wie bilden Sie sich Ihre Meinung heute?

In erster Linie, indem ich seit sechzig Jahren eine Zeitung lese, die ich für zuverlässig halte, und das ist die Süddeutsche Zeitung. Wenn man die sorgfältig liest, wenigstens den politischen und den Wirtschaftsteil, dann ist man schon einigermaßen im Bilde. Seit einiger Zeit lese ich auch wieder den Spiegel, und ein guter Bekannter schickt mir ziemlich regelmäßig per Fax Kopien anderer aktueller Zeitungsausschnitte. In Abständen korrespondiere oder telefoniere ich über grundsätzliche Themen mit Erhard Eppler oder mit Jürgen Schmude, der 1982 mein Nachfolger als Bundesjustizminister war. Regelmäßig tausche ich mich auch mit Klaus Bölling aus. Und wenn es um ganz konkrete Fragen geht, dann beschaffe ich mir auch zusätzlich Informationen; etwa im Willy-Brandt-Haus oder bei der Bundestagsfraktion.

Aber innerhalb der SPD sind Sie nicht in irgendwelchen Gremien, sitzen Sie nicht in dem, was man heute Think-Tanks, also Denkfabriken, nennt?

Nein. Aber ich lese regelmäßig die von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Monatszeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Die ist auf ihre Weise auch eine Art Denkfabrik.

Wie findet man aber Kriterien – das ist jetzt eine Frage der persönlichen Wertvorstellungen –, mit denen man in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, die eine gewisse Nachhaltigkeit haben? Helmut Schmidt hat in seinem Gespräch mit Fritz Stern zum Beispiel festgestellt, dass sich die heutige Politikergeneration relativ wenig für Geschichte interessiert. Stimmen Sie dem zu?

Das würde ich so generell nicht sagen. Wenn ich – und das geschieht ja noch immer recht häufig – zu Veranstaltungen eingeladen werde, dann zumeist, weil man mich als Zeitzeugen befragen oder von mir generell etwas über Geschichte hören will. Andererseits habe ich Anfang der neunziger Jahre mit anderen zusammen die Vereinigung Gegen Vergessen – Für Demokratie gegründet, um die Erinnerung an die Ursachen und Ursprünge des NS-Gewaltregimes, an den Widerstand und die Opfer jener Zeit und auch an die zweite Diktatur auf deutschem Boden wachzuhalten. Sie vermittelt Geschichte im Sinne des »Nie wieder! Nicht noch einmal !« und stärkt so die Demokratie.

Ist Geschichtsbewusstsein eine unbedingte Voraussetzung für Politik?

Ja. Wer nicht weiß, woher er kommt, der weiß auch nicht, wo er sich befindet und wohin ihn sein Weg führen wird. So lautet eine alte Volksweisheit. Der amerikanische Philosoph und Schriftsteller George de Santayana hat sogar einmal gesagt: »Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.« Es muss ja nicht jeder Politiker gleich ein ausgebildeter Historiker sein. Aber über die Geschichte des eigenen Landes, gerade über die des letzten Jahrhunderts, sollte man schon einigermaßen im Bilde sein.

Man könnte aber meinen, dass der Politiker der Gegenwart nicht nur die Geschichte kennen sollte, sondern im besten Fall auch Wirtschaftswissenschaften studiert haben, wenn möglich noch Finanzwissenschaften, um Einschätzungen treffen zu können.

Und natürlich auch Jura! Aber das ist ja utopisch und wäre eher kontraproduktiv. Es genügt, wenn er auf einem Gebiet Fachkenntnisse besitzt und weiß, wo und wie er sich auf den anderen Gebieten die jeweils notwendigen Informationen beschaffen kann.

Wenn Sie abwägen sollten: Wie wichtig ist dann zum Beispiel das Wirtschaftswissen gegenüber dem geschichtlichen Wissen?

Man braucht in beiden Richtungen eine Art Grundwissen. Wirtschaftliches Wissen kommt übrigens nicht ohne einen Blick in die Vergangenheit aus. Man braucht Kenntnisse über den »reinen« Kapitalismus und die soziale Marktwirtschaft, über den Kommunismus und über die Planwirtschaft. Man muss sich mit den Gedanken des amerikanischen Volkswirtschaftlers John Kenneth Galbraith und den Theorien eines John Maynard Keynes auseinandersetzen. Und es gibt im Kapital von Karl Marx, seinem Hauptwerk, Darlegungen über die Globalisierung, die sich auch heute noch zu lesen lohnen. Aber das sind nur Beispiele.

Bei all den einschneidenden Veränderungen, die wir in letzter Zeit erlebt haben, einschließlich der Schuldenkrise – wenn Sie eine Prognose wagen würden: Wohin wird uns diese Zäsur führen? In welcher Art und Weise wird sie unsere Gesellschaft, unser Land verändern?

Der Staat wird seine Verpflichtungen und Möglichkeiten wieder deutlicher wahrnehmen. Man wird den Markt weiter als sinnvolles Instrument nutzen, aber man wird ihm, weil er für die ökologischen und sozialen Folgen seiner Entscheidungen blind ist, präzise Rahmenbedingungen setzen. Und vor allen Dingen wird die Finanzkrise dazu führen, dass die Frage der Staatsverschuldung ganz oben auf der Tagesordnung bleibt – und zwar nicht nur wegen der Fälle in Europa, über die man aktuell redet, sondern beispielsweise auch wegen einem Land wie den Vereinigten Staaten. Man wird die Rating-Agenturen, die eine große Mitschuld an der Krise tragen, unter die Lupe nehmen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man den gegenwärtigen Zustand, bei dem private Gesellschaften ohne wirkliche Eigenhaftung über Wohl und Wehe von Staaten durch ihre Herab- oder Heraufstufung entscheiden, so einfach weiterlaufen lässt. Und man wird sich um die noch immer fortbestehenden Steueroasen wie die Cayman Islands oder die Grenadinen kümmern müssen. Also, der Druck in Richtung Rahmensetzung und der Druck in Richtung internationaler Zusammenarbeit wird sich verstärken. Ich bin ja überhaupt der altmodischen Meinung, dass Krisen auch immer einen Anstoß zur Besserung geben können.

Sie glauben an eine Renaissance der Politik?

Daran glaube ich. Die Menschen haben erkannt: Überlässt man alles dem Markt, dann treten solche Krisensituationen ein, unter denen die Menschen bitter leiden. Dabei spüren wir das ja gar nicht so stark wie viele andere Völker in der Welt. Der Staat, der in der Vergangenheit immer geschwächt werden sollte – man bevorzugte das Private vor dem Staatlichen –, wird wieder eine Rolle spielen müssen, die seiner Verantwortung entspricht. Und das heißt: Er muss handeln.

Nehmen wir aber einmal den Worst Case an: Es könnte auch eine negative Entwicklung eintreten, bei der es nicht zu einer Renaissance der Politik kommt, sondern im Gegenteil zum chronischen Versagen ihrerseits. Wenn die Staaten zum Beispiel nicht gemeinsam und koordiniert gegen die Schuldenlast vorgehen, könnten, etwa durch eine hohe Inflation, überall in Europa die Menschen ihr Erspartes verlieren, ihren Wohlstand. Halten Sie das für überhaupt nicht möglich?

Ich schließe es nicht aus. Es ist durchaus denkbar, dass die Dinge sich zum Schlechteren wenden. Aber ich sehe deutliche Anzeichen dafür, dass diejenigen, auf die es ankommt, die Tragweite dessen, was jetzt zu entscheiden und zu bewegen ist, erkannt haben – und zwar nicht nur in den unmittelbar betroffenen Ländern.

Sicher gibt es auch bei uns Leute, die wieder zur D-Mark zurückkehren wollen, die die Euro-Gruppe einfach auflösen wollen. Das ist ein abenteuerlicher und außerordentlich gefährlicher Gedanke. Und soweit ich das verfolgen kann, sehen das auch diejenigen so, die jetzt die Verantwortung tragen.

In diesem Zusammenhang zitiere ich Jürgen Habermas, der der politischen Klasse – und die ist es ja, die das Heft in die Hand nehmen müsste – viel zu wenig Gestaltungskraft beimisst. Seiner Analyse zufolge sieht er die europäischen Regierungen eher als Getriebene an, ohne ein Gestaltungsziel.

Darf ich vorweg eine kleine Fußnote anbringen?

Schon jetzt?

Der Begriff »politische Klasse« stört mich. Er unterstellt, dass diejenigen, die in der Politik Verantwortung tragen – übrigens von Menschen dazu gewählt –, dass die völlig abgesondert sind und eine Klasse für sich bilden. Ganz so, wie man früher zwischen der Klasse der Arbeiter und der Klasse der Kapitaleigentümer unterschieden hat. Das ist bei aller berechtigter Kritik eine unzulässige Übertreibung. Deswegen habe ich den Finger gehoben.

Welchen Begriff nehmen Sie denn? Sprechen Sie von Regierungen?

Ich spreche von Verantwortlichen. Verantwortung tragen Menschen, die auf die Gestaltung des Gemeinwesens Einfluss haben – und das sind nicht nur Politiker. Mächtige Unternehmer, aber auch Verleger, Fernsehintendanten oder Redakteure haben mitunter mehr Macht als manche Politiker. Aus diesem Grund habe ich nicht nur etwas gegen das Wort »Klasse«, sondern auch gegen das Adjektiv »politisch«. Ich spreche deshalb lieber von den für das Gemeinwesen Verantwortlichen. Unter ihnen kann und muss man natürlich die Politiker besonders betrachten.

Jetzt aber zu Ihrer Frage. Habermas hat da sehr bedenkenswerte Gedanken geäußert. Ich habe ihn eher so verstanden, dass es in der Demokratisierung der Europäischen Union einen Rückstand gibt, insbesondere dass es noch immer an einem gemeinsamen Bild öffentlicher Meinung fehlt. Und da hat er völlig recht. Was erfahren oder lesen wir denn über die durchaus beachtlichen und manchmal schwierigen Verhandlungen des Europäischen Parlaments? Die gemeinsame öffentliche Meinung samt ihren Diskussionen und Konfrontationen würde auch durch eine zusätzliche europäische Liste neben den nationalen Listen bei den Europawahlen gefördert.

Getrieben sind die Regierungen gegenwärtig von der aktuellen Finanz- und Schuldenkrise. Aber da haben sie bisher insgesamt nicht so unvernünftig reagiert, wie häufig behauptet wird. Manches steht allerdings noch aus. So beispielsweise eine wirklich gerechte Beteiligung der Gläubiger an der Finanzierung der Schutzmaßnahmen, eine Finanztransaktionssteuer, eine stärkere Kontrolle der Rating-Agenturen und eine härtere Verschuldungsgrenze. Natürlich dürfen wir darüber das Ziel einer weiteren Integration Europas und eines einheitlicheren Auftretens nach außen nicht aus den Augen verlieren.

Können Sie den Menschen die Angst vor einer Inflation nehmen?

Ich würde mich übernehmen, wenn ich behaupte, ich wäre in der Lage, ihnen diese Angst zu nehmen. Aber die ermutigenden Zeichen sind stärker als die beängstigenden. Und die Europäische Zentralbank ist gerade in diesem Zusammenhang kaum zu kritisieren.

Die Bürger haben den Eindruck, dass die Verursacher der Krise immer noch nicht ordentlich zur Bewältigung herangezogen worden sind. Sie gehen davon aus, dass die Gewinne weiter privatisiert bleiben, die Verluste und die Risiken jedoch sozialisiert werden. Können Sie ihnen den Eindruck nehmen?

Nein. Alle Anstrengungen, die in diese Richtung unternommen wurden und werden, sind noch ungenügend. Da fange ich mal bei den Managern selbst an. Dass Leute, die in erster Linie an der Krise beteiligt waren oder sie sogar verursacht haben, irrsinnige Abfindungen erhalten oder weiterhin extrem hohe Vergütungen bekommen – das ist ein Punkt, den ich heftig kritisiere. Das hat mit Leistung nichts mehr zu tun, das ist offenbar ein Ansehenswettbewerb in dieser – jetzt verwende ich das Wort bewusst – Klasse. Derjenige in dieser Klasse, der die meisten Millionen erhält, kann die Brust am breitesten machen. Da würde ich viel stärker eingreifen.

Wie denn? Gehälter gesetzlich begrenzen?

Indem man einerseits auf das Instrument einer Höchstbegrenzung zurückgreift. Das hat man ja bei den Banken, die staatliche Hilfen erhielten, auch getan. Andererseits könnte ich mir ab einer bestimmten Millionensumme auch einen entsprechend höheren Steuersatz vorstellen. Ja, das könnte ich mir durchaus vorstellen.

Wie hoch? Das würde mich interessieren.

Da müsste ich noch mal genau das Verfassungsrecht studieren, ob es da wirklich eine Grenze gibt. Aber ich hätte gar keine Bedenken dagegen, dass ab einer Million und erst recht ab zwei Millionen dem Betreffenden nur noch 30 bis 35 Prozent verbleiben.

Also ein Steuersatz von 65 bis 70 Prozent?

Ja. Aber nicht für die Gesamteinnahme, sondern ab diesem von mir genannten Betrag. Das würde den Lebensstandard dieser Menschen in keiner Weise einschränken. Es würde dem einen oder anderen vielleicht verbieten, eine weitere Yacht oder ein weiteres Anwesen zu kaufen. Aber das ist keine Kränkung der Menschenwürde, die wird dadurch nicht berührt. Im Gegenteil, die Betroffenen könnten sogar Freude empfinden, dass sie in dieser Weise zum Gemeinwohl beitragen. In Amerika haben Microsoft-Gründer Bill Gates und der Investor Warren Buffett Milliardenbeträge für gemeinnützige Zwecke gestiftet.

Sie würden tatsächlich gesetzlich an Managergehälter rangehen?

Das würde ich mir erlauben. Wobei es natürlich sinnvoll wäre, wenn man das in der ganzen Eurozone durchsetzen könnte. Solch immense Gehälter schaffen Verbitterung. Wenn Sie das mit den Augen eines Mannes sehen, der ohne sein Zutun Arbeitslosengeld-2-Empfänger geworden ist, dann haben wir ein Beispiel dafür, wie diese gesellschaftliche Kluft Wut und Verbitterung erzeugen kann. Auch bin ich dafür – ich sagte es schon –, an den Rettungsschirmen die Gläubiger zu beteiligen, die Anleihen angeschlagener Staaten der hohen Zinsen wegen gekauft haben und so bewusst Risiken eingegangen sind.

Warum glauben Sie, dass die nationale Politik, in diesem Fall die der Regierung, sich mit dem Heranziehen großer Vermögen so schwertut?

Weil sich die FDP dem entschieden widersetzt und die Union die christliche Soziallehre nicht ernst genug nimmt. Ihre Repräsentanten sollten öfter die Schriften von Oswald von Nell-Breuning lesen und auf Norbert Blüm hören, der neulich den Oswald-von-Nell-Breuning-Preis bekommen hat.

Die größte Steuersenkung der letzten zwanzig Jahre, soweit ich es überblicke, kommt von der SPD, von Schröder & Co.

Ich würde die Vokabel »größte« streichen. Ich würde aber zugeben, dass es damals eine Steuersenkung gab, die von heute her betrachtet problematisch erscheint. Aber das gehört ja auch zur Politik, dass man sich besserer Erkenntnis folgend korrigiert.

Würden die von Ihnen angesprochenen Manager, Banker und internationalen Finanzmarktjongleure auf demselben Wertefundament stehen, das Sie in Ihrem privaten und beruflichen Leben für sich errichtet haben, hätten diese Personen es dann überhaupt so weit kommen lassen? Anders gefragt: Würde man es schaffen, wieder einen Teil dessen, was Ihnen an Kriterien wichtig ist, in deren Köpfe zu bekommen?

Sie sprechen einen ganz entscheidenden Punkt an. Es ist nicht allein mit gesetzlichen Maßnahmen getan, sondern man muss diese Leute auch als Menschen ansprechen. Man muss sie fragen: »Seid ihr mit euch wirklich im Reinen?« Und wenn Sie nach der Wertorientierung fragen, ja dann ist hier das Gebot der Nächstenliebe, ins Säkulare übersetzt, das Gebot der Solidarität bedeutsam. Darin steckt auch der Wert der Mitverantwortung, eben nicht nur für das eigene Wohlergehen, sondern ebenso für das Wohlergehen der Mitmenschen. Als Christ kann man sogar auf die berühmte Stelle bei Matthäus Kapitel 25, Vers 40 verweisen: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir« – also dem Herrgott – »getan«, heißt es dort. Man sollte sie auch fragen, ob sie gelegentlich daran denken, dass sie am Ende ihres Lebens in irgendeiner Form Rechenschaft abzulegen haben.

Da könnten Sie in Bayern anfangen. BMW-Chef Norbert Reithofer soll 2010 rund 4,3 Millionen Euro bekommen haben.

Das ist immerhin weniger, als andere verdienen, so etwa Herr Ackermann bei der Deutschen Bank. Hat er nicht ein Gehalt von ungefähr neun Millionen Euro? Davon könnte er mehr als vierzig Bundesminister bezahlen.

Neun Millionen Euro erhielt Ackermann nicht im Nachkrisenjahr 2010, da waren es »nur« 6,3 Millionen Euro. 9,3 Millionen Euro erhielt VW-Chef Martin Winterkorn, und Peter Löscher, Vorstandsvorsitzender von Siemens, war mit 8,9 Millionen Euro auch nicht weit davon entfernt. Aber diese Bezüge werden mit guten Argumenten vertreten, mit einer Gewinnsteigerung, einer Absatzsteigerung, einer Produktionssteigerung, manchmal auch einer moderaten Lohnsteigerung für die Mitarbeiter.

Einspruch! Der Unternehmensgewinn ist nicht allein Verdienst eines Vorstandschefs, Hunderte oder sogar Tausende haben daran mitgewirkt. Das ist doch kein Ein-Mann-Erfolg. Aus der Sicht des Grundgesetzes – es ist auch meine Auffassung – sind Unternehmen übrigens soziale Verbände und nicht nur Konstrukte zur Gewinnmaximierung. Also, über dieses Argument würde ich mit denen, die so denken, gern streiten. Sicher können Vorstandsbezüge auch einmal steigen. Und wenn ein Mann wie Josef Ackermann glaubt, seine internationale Bedeutung durch die Höhe seines Einkommens unterstreichen zu müssen, dann in Gottes Namen. Aber was fließt davon als Steuer an den Staat, und was macht er mit dem Geld, das ihm verbleibt? Und kann man die Bedeutung von Menschen wirklich in erster Linie an ihrem Einkommen messen? Da wären die in der Politik Tätigen ja geradezu völlig bedeutungslos.

Ja.

Ja? Gelegentlich könnte man ja die Einkünfte einmal konkret vergleichen. Ich leide jedenfalls nicht unter irgendeinem Minderwertigkeitskomplex, weil meine gegenwärtigen Bezüge etwas über 110 000 Euro liegen. Das verschafft mir die Freiheit, anderen gegenüber auf diesem Gebiet kritisch aufzutreten. Die hätte ich nicht, wenn auch meine Einkünfte siebenstellig wären.

Haben Sie in Ihrer aktiven Zeit das Gespräch mit diesen Firmenlenkern gesucht?

Damals gab es dieses Problem so noch gar nicht. Es gab eine Faustregel, nach der der Vorstandsvorsitzende das Zwanzigfache von dem bekommt, was ein durchschnittlicher Facharbeiter in seinem Unternehmen verdient.

Nicht das Zweihundertfache?

Nein, das Zwanzigfache. Das war in Ordnung. Da sah ich keinen Anlass, darüber zu reden. Gerade deshalb denke ich gern an Bertold Beitz und an andere erfolgreiche und verantwortungsbewusste Unternehmer aus meinem Bekanntenkreis. Jetzt, da haben Sie völlig recht, bekommen die Leute das Zweihundertfache oder sogar das Dreihundertfache. Warum eigentlich?

Was ist für Sie eigentlich Luxus?

Jetzt muss ich einen Moment nachdenken. Luxus? Wir, meine Frau und ich, führen ein Leben, das im Grunde luxusfrei ist. Vielleicht mal ein besonderes Geschenk für meine Frau, aber das will ich auch nicht als Luxus bezeichnen. Da müssen wir über den Luxusbegriff reden. Ist Luxus etwas, bei dem eine gewisse Geldsumme überschritten werden muss – oder ist Luxus etwas, was man sich üblicherweise nicht leistet? Wenn man im Urlaub in ein besonderes Lokal geht? Sie sehen, ich stottere bei Luxus.

Mit einem Haus in den Bergen, einem Landhaus, einer Yacht auf dem Mittelmeer oder einem großen Auto könnte man Sie nicht locken?

Wir haben uns locken lassen von einem alten Bauernhaus nebst einem schönen Garten und einem Obstanger. Das Haus war über neunzig Jahre alt und liegt in Niederbayern. Als wir es kauften, war es in einem sehr herabgekommenen Zustand. Wir haben es dann herrichten lassen und auch selbst verbessert. Da haben wir uns wohlgefühlt. Und sind immer dort hingefahren, wenn es die recht engen Freizeitverhältnisse erlaubten. Der Gedanke, dass mein Selbstwertgefühl davon abhängt, ob ich auf einer Yacht herumfahre …

Waren Sie jemals auf einer Yacht?

Ich glaube … einmal in Kiel. Da ging es aber um die Vorbereitung der olympischen Segelwettbewerbe im Jahr ’72.

Über eine merkwürdige Atompolitik, arabische Revolutionen und das Grundgesetz als unverzichtbaren Wert

Wir sind etwas vom Thema abgekommen, aber trotzdem war es interessant, etwas über Ihr Verhältnis zum Luxus zu erfahren. Nun gut. Die Finanzkrise war eine der einschneidenden Veränderungen, die Sie in Bezug auf die Zukunft unseres Landes angeführt haben, die Atomkatastrophe in Fukushima und die Positionsveränderung der Bundesregierung eine weitere. Auch da eine Nachfrage: Können Sie die letzten Veränderungen in der Atompolitik nachvollziehen?

Nur sehr mühsam. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist vor zehn Jahren unter der Verantwortung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer in einer durchaus befriedigenden Weise geregelt worden. Und zwar nicht allein durch ein entsprechendes Gesetz der rot-grünen Koalition, das gegen den lebhaften Widerstand von Union und FDP durchgesetzt werden musste, sondern auch durch eine Vereinbarung mit der Atomwirtschaft. All die Fragen, die jetzt wieder eine Rolle spielen, etwa, ob wir Strom aus anderen Ländern einführen müssen, inwieweit die Strompreise steigen würden und wie und in welchem Umfang die erneuerbaren Energien zu fördern sind, waren beantwortet.

Dann hat die schwarz-gelbe Bundesregierung das alles im September 2010 über den Haufen geworfen und die Laufzeiten verlängert. Jetzt dreht sie sich ein knappes halbes Jahr später um 180 Grad und will noch schneller aussteigen, als Rot-Grün das beschlossen hat.

Ich kann mich an keine derart kurzfristige und zugleich politisch totale Kehrtwende erinnern. Und das alles ohne eine ausreichende Befassung des Parlaments. Ja, die Union hat das Thema noch nicht einmal für wichtig genug gehalten, um es auf einem eigenen Parteitag zur Diskussion zu stellen.

Warum hat die Regierung Merkel den rot-grünen Ausstieg aufgekündigt? War das eine Geldfrage, weil die neue Brennelemente-Steuer die Staatsfinnazen aufbessern sollte?

Nein, das denke ich nicht. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass einige andere europäische Länder die Kernenergie stark nutzen, so etwa Frankreich, und man sich von ihnen nicht zu sehr unterscheiden wollte. Aber letzten Endes war es wohl der Druck, den die vier großen Energieunternehmen in Deutschland – E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW – auf die Regierung ausübten. Auch wollte man wohl zeigen, dass man die Dinge besser beurteilen könne als Rot-Grün, dass Rot-Grün eigentlich nur Panik verbreite.

Ist die Energiewende, die kommen soll, nur positiv, oder sehen Sie darin für den Bürger kurz- und mittelfristig auch eine finanzielle Last, die er gar nicht tragen möchte?

Zwischenzeitlich sind ja alle politischen Kräfte in der Bundesrepublik für den Ausstieg aus der Atomenergie. Es ist sogar ein Wettlauf in Gang gekommen darüber, wer früher aussteigt. Das ist ein einmaliger Vorgang, und das sehe ich insgesamt positiv. Natürlich wird es bei der Realisierung noch genügend Probleme geben. So bei der Aufstellung von Windrädern, beim Bau von Fernleitungen und in finanzieller Hinsicht. Das wissen die Bürger. Aber diese Probleme sind lösbar, wenn das Mögliche rechtzeitig getan wird.

Und Sie halten den Ausstieg für unumkehrbar?

Es würde der Politik einen schlimmen Schlag versetzen, wenn die Union oder die FDP noch einmal einen Purzelbaum schlagen würde. Nein, das nehme ich nicht an. Und das will ich auch niemandem unterstellen. Angela Merkel und Umweltminister Norbert Röttgen schon gar nicht. Sie würden ja damit auch ihre eigene Partei völlig ruinieren.

Noch etwas: Der Ausstieg wird den Ausbau der erneuerbaren Energien, der bei uns ja schon erheblich fortgeschritten ist, weiter beschleunigen. Unsere jetzt bereits weltweit führende Rolle auf diesem Gebiet wird deshalb noch zunehmen und sich auch in wirtschaftlichen Erfolgen niederschlagen.

Wird das Jahr 2011, was unsere Haltung zur Energie betrifft, eine nachhaltige Zäsur bedeuten?

Ja, und zwar über unser Land hinaus. Wenn uns der Atomausstieg gelingt, wird das in ganz Europa, ja sogar weltweit die Diskussion beleben. Ich bin sicher, dass wir da etwas anstoßen können, aber nicht im Sinne einer Belehrung der anderen, sondern im Sinne: »Kommt zu uns und schaut es euch an.« Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen in anderen Ländern sensibler werden, was Atomenergie anbelangt. So hat sich der Schweizer Bundesrat im Mai 2011 für einen langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie mit dem Ziel entschieden, das letzte Schweizer Atomkraftwerk 2034 stillzulegen. Und selbst in Japan sind erstmals Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Kernkraft zu demonstrieren.

Übrigens: Wir sollten nicht vergessen, dass Österreich das erste Land der Welt war, das sich schon 1978 in einem Volksentscheid gegen die Nutzung der Atomkraft – ein schon gebautes Werk in Zwentendorf durfte deshalb nicht in Betrieb genommen werden – aussprach. Und kaum einer wird wissen, dass Italien nur neun Jahre später, also 1987, den Ausstieg ebenfalls in einem Volksentscheid beschlossen hat. Der Plan Silvio Berlusconis, dennoch vier neue Atomkraftwerke zu bauen, wurde erst vor wenigen Monaten durch einen weiteren Volksentscheid mit überwältigender Mehrheit zurückgewiesen.

Weiter einschneidend, Sie haben das angesprochen, sind die Veränderungen in der arabischen Welt, die friedlichen Revolutionen in Nordafrika, aber auch – damit verbunden – der Bürgerkrieg in Libyen. Diese Entwicklungen haben gezeigt, dass die Sehnsucht nach Freiheit, nach Menschenrechten oder auch nur nach Wohlstand lang bestehende Strukturen über den Haufen werfen kann. Sind die damit verbundenen Auswirkungen auch eine Gefahr für uns, weil sie einhergehen mit einer, im besten Fall, vorübergehenden Destabilisierung, mit Flüchtlingsströmen, von der Ölproblematik ganz zu schweigen?

Ein Skeptiker würde sagen: »Mit der Hoffnung seid bitte vorsichtig, denn ihr wisst ja noch gar nicht, was da am Ende wirklich herauskommt.« Ich bin in dieser Hinsicht eher ein Optimist. Allein die Tatsache, dass die Tunesier und die Ägypter in friedlicher Weise einen solchen Wechsel herbeiführen konnten, verdient große Hochachtung. Es ist ermutigend, dass sie sich tage- und wochenlang auf der Straße aufgehalten und demonstriert haben. Sie haben sich eingesetzt für mehr Freiheit, für Meinungsfreiheit, für Versammlungsfreiheit, für wirkliche Wahlen und für Demokratie. Sie wollten keine Präsidenten mehr, die als Diktatoren agieren und sich zudem bereichern. Das hat so doch noch vor kurzem niemand vorausgesehen. Libyen ist ein Sonderfall, und das hängt wohl mit der Person von Gaddafi zusammen. Muammar al-Gaddafi kann man nicht ohne Weiteres mit dem ägyptischen Staatschef Husni Mubarak oder mit dem tunesischen Präsidenten Ben Ali vergleichen. Aber auch da kann ich nur hoffen, dass am Ende Gaddafi auf der Verliererseite steht, denn sein Umgang mit seinem eigenen Volk und mit dem internationalen Terrorismus hat mich in der Vergangenheit manchmal sogar an seinem Geisteszustand zweifeln lassen. Aber selbst da, wo Machthaber mit Waffen und Gewalt gegen ihr Volk vorgehen, erheben sich Menschen, und das finde ich ganz außerordentlich. Syrien ist auch ein solcher Fall. Hier folgen die Mächtigen gegenwärtig eher dem Beispiel Gaddafis. Im Jemen ist die Lage schwer zu beurteilen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich nochmals unterstreichen: Die Vereinten Nationen haben als Sicherheitsrat seit einiger Zeit militärisches Eingreifen von außen erlaubt, wenn schwere Verletzungen der Menschenrechte vorliegen. Im Fall Libyen ist das besonders deutlich geworden. Und dass sich Russland und China dabei des Vetos enthielten, also ein solches Vorgehen möglich gemacht haben, ist unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten sehr bemerkenswert.

Ist das eine gute Entwicklung? Die Frage ist doch, wo denn die Grenze liegt. Muss man jetzt auch bei Baschar Hafiz al-Assad in Syrien eingreifen? Muss man die Chinesen zu einer besseren Politik gegenüber Tibet zwingen, und das mit militärischen Mitteln? Wenn man damit anfängt, das Prinzip der staatlichen Souveränität zu ignorieren, das ja nun schon sehr lange gilt – wohin führt uns das? Und wer soll am Ende entscheiden, was gutes Eingreifen ist und was nicht?

Die Notwendigkeit, Dinge abzuwägen und Präzedenzfälle im Auge zu behalten, das gehört einfach zur menschlichen Entwicklung. Die Entscheidung hat letzten Endes immer der Weltsicherheitsrat zu treffen. Er wird dabei das Ausmaß und die Intensität der Menschenrechtsverletzungen zu beachten haben. Alles, was man an China kritisieren kann und muss, lässt sich kaum mit dem vergleichen, was in Libyen geschieht. Aber da wir in einer realen Welt leben, ist auch zu berücksichtigen, gegen wen man solche Überlegungen anstellt. Libyen und China sind Länder völlig unterschiedlichen Gewichts. Das kann nicht außer Acht gelassen werden. Zudem hoffe ich, dass die Entwicklung in China zu weiteren Veränderungen führen wird. Wenn man bedenkt, welchen Weg China auf dem Gebiet der Menschenrechte seit Mao Zedong bis heute zurückgelegt hat, ist das doch ermutigend. Im Falle Syrien haben die Erörterungen im Weltsicherheitsrat bisher leider zu keinem positiven Ergebnis geführt.

Sie glauben also an einen Aufschwung der Menschenrechte – und zwar international?

Dass sich der Weltsicherheitsrat bei seinen Begründungen auf den Schutz der Menschenrechte stützt, das finde ich jedenfalls hoffnungsvoll.

Ihrer Meinung nach haben wir somit die Möglichkeit einer echten positiven Veränderung?

Ja. Nach den genannten Ereignissen kann wirklich eine neue Epoche beginnen, wobei ich natürlich nicht in der Lage bin, die weitere Entwicklung im Einzelnen vorauszusagen. Es kommt darauf an, wie wir alle mit dieser Chance umgehen und dass sich alle im Klaren sind, dass es eine solche ist.

Ganz leise füge ich noch hinzu: Diese ganzen Veränderungen zeigen auch, dass wir Menschen in bestimmter Hinsicht an unsere Grenzen gelangt sind. In technischer Hinsicht haben wir es schon erörtert, aber auch was das Wachstum angeht, haben wir Grenzen erreicht. Allmählich wird dies den Menschen bewusst. Die neuesten Entwicklungen sind somit auch eine Chance, unsere Lebensbedingungen insgesamt zu ändern. Damit sind nicht nur die eigenen gemeint – wir sind ein ganz kleiner Teil, wir machen gerade 1,3 Prozent der Weltbevölkerung aus –, sondern die der gesamten Menschheit. Diese ist nicht mehr nur ein abstrakter Begriff, mit dem man sich in edlen Stunden beschäftigt, sie ist auf einmal ganz konkret geworden.

Wie meinen Sie das?

Es gibt immer weniger Vorgänge, bei denen man sagen kann: Das betrifft uns doch überhaupt nicht. In Goethes Zeiten gab es nichts Schöneres, als an Sonn- und Feiertagen vor den Toren der Stadt zu promenieren und ein Gespräch über Krieg und Kriegsgeschrei zu führen, »… wenn hinten fern in der Türkei die Völker aufeinander schlagen«. So schildert es Goethe im Faust in seinem berühmten »Osterspaziergang«. Auch Kriege in der »Ferne« sind heute für uns regelmäßig Ereignisse, die auch uns angehen. Und weil Sie von Flüchtlingen gesprochen haben: Wenn wir die Kluft zwischen den Lebensverhältnissen der Menschen in weiten Teilen der Welt und unseren Lebensverhältnissen weiter anwachsen lassen, wenn wir die Klimakatastrophe nicht abwenden, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich Millionen von Menschen gerade in Richtung Europa in Bewegung setzen. Sie können ja inzwischen auch im Fernsehen täglich sehen, wie wir leben.

Diese sehr schnellen Entwicklungen im arabischen Raum, die auch etwas mit der Kommunikationsveränderung zu tun haben, mit dem Internet, das die Dinge beschleunigt, lassen, ich sage es mal vorsichtig, die Politiker nicht alt, aber etwas langsam aussehen. Kann man von ihnen mehr verlangen, als nur auf die Entwicklungen zu reagieren? Sollte man von ihnen auch fordern, dass sie Orientierung geben, selbst in solch beschleunigten Zeitabläufen?

Ja, das sollte man. Es ist gut, wenn politisch Verantwortliche ihre Arbeit in dem Sinne tun, dass sie mit der Entwicklung Schritt halten und dass sie zu vernünftigen Lösungen kommen, aber sie sollen auch Orientierung geben. Ein gutes Beispiel dafür war die Ostpolitik von Willy Brandt. Und in der Frage des Atomausstiegs haben die Grünen und die SPD weiß Gott auch Orientierung gegeben. International fällt mir zur Klimafrage als Beispiel Al Gore ein.

Der leider nicht amerikanischer Präsident geworden ist.

Ja, leider.

Es ist also keine Überforderung der Politiker, ihnen zu sagen: »Wir möchten, dass ihr nicht nur verwaltet, sondern dass ihr uns Orientierung gebt«?

Das ist keine Überforderung. Es muss erkennbar gemacht werden, woran Politiker sich orientieren, und man muss die Kriterien benennen können, an denen sie sich selbst messen. Daran sollen sie dann auch von den Bürgerinnen und Bürgern gemessen werden.

Sie selbst sind als Jurist in den Politikerberuf gekommen. Wo hatten Sie am Anfang Ihre größten Lücken? Wo hatten Sie das Gefühl, dass Sie nicht auf der Höhe sind und nacharbeiten müssen?

Eine deutliche Lücke hatte ich im wirtschaftlichen Bereich und auch in der Finanzpolitik. Wenn ich das Stichwort »Umwelt« nenne, dann war das eine Lücke, die ich anfangs mit meiner ganzen Generation geteilt habe. Noch bis in die sechziger Jahre hinein wurde der Begriff »Umwelt«, wenn überhaupt, jedenfalls ohne besondere Betonung benutzt. Ich erinnere mich, dass das Thema bei unserer Entscheidung für den Ausbau eines Schienenschnellverkehrssystems in München in der Abwägung mit dem Individualverkehr wegen der Schadstoffbelastung durchaus eine Rolle spielte, der Begriff selbst aber noch kaum verwendet wurde. Erst im Laufe der Zeit habe ich mich dann konkret mit der Umweltpolitik befassen müssen. Und da die Außenpolitik in der Bundesrepublik von Anfang an ein ganz wichtiges Gebiet war, musste man sich auch hier auf dem Laufenden halten und durch Auslandsreisen seine Kenntnisse vertiefen. Im Übrigen sind juristische Grundkenntnisse in der Politik durchaus hilfreich. So zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Ermittlung des Sachverhalts und Beurteilung des Sachverhalts. Das wird in der Politik zu oft vermischt. Juristische Kenntnisse können auch dazu beitragen, die Bedeutung einer intakten Rechtsordnung und eines angemessenen Umgangs mit ihr ernster zu nehmen.

Aber ohne ein Wertefundament ist das alles nichts …

Richtig. Denn letzten Endes kann man nur etwas beurteilen, wenn man sich darüber im Klaren ist, worin das eigentlich Maßgebende besteht. Ist es der materielle Erfolg, die Macht, die Selbstdarstellung, das Wahrgenommenwerden? Oder das Gemeinwohl? Was ist entscheidend, wenn man am Ende des eigenen Lebens Bilanz ziehen will?

Sicher haben Sie sich damit in den letzten Jahren intensiv beschäftigt, und wahrscheinlich ist es nicht einfach, Ihre Wertordnung in wenigen Sätzen zu fassen. Versuchen Sie es trotzdem: Was sind für Sie die allgemeingültigen Werte, auf die man nie verzichten darf?

Die finden Sie im Grundgesetz. Das Grundgesetz regelt nämlich nicht nur die Gewaltenteilung und die föderale Gliederung unseres Staats. Und es ist auch nicht nur eine Sammlung von Verfahrensnormen und Zuständigkeitsbestimmungen. Vielmehr liegt ihm eine Wertordnung zugrunde, die sich in ihm auch ausdrückt. Sie war die Antwort des Parlamentarischen Rats auf die Ideologie des NS-Gewaltregimes. Ein zentrales Element dieser Wertordnung findet sich gleich im ersten Absatz des ersten Artikels, der lautet: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Diese Formulierung trifft den Wertcharakter der Eingangsnorm des Grundgesetzes wesentlich deutlicher als der im Parlamentarischen Rat zunächst an dieser Stelle auch als Antwort auf das Vorausgegangene vorgesehene Satz, dass der Staat für die Menschen und nicht die Menschen für den Staat da seien. Jedenfalls ist die unantastbare Menschenwürde für mich der Hauptgrundwert, aus dem sich weitere Werte ergeben. Etwa die Handlungsfreiheit, die durch die Handlungsfreiheit des anderen eingegrenzt wird, und die Meinungs- und Religionsfreiheit. Aber auch die Gerechtigkeit und die soziale Solidarität.

Die dem Text zugrundeliegenden Gepräche fanden zwischen März und Juni 2011 statt. Redaktionsschluss war Anfang Juli.

Erste Auflage

Copyright © 2011 by Siedler Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Regina Carstensen, München

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

eISBN 978-3-641-06567-6

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