Willensfreiheit ? - Michael Roth - E-Book

Willensfreiheit ? E-Book

Michael Roth

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Beschreibung

Der Begriff der Willensfreiheit ?wird in Theologie und Philosophie stark diskutiert. In jüngerer Zeit bestreitet die Neurowissenschaft das Vorkommen der Willensfreiheit ?. Das bereitet Unbehagen und zieht viele Fragen nach sich. Können wir uns nur noch als willenlose Maschinen verstehen? Ist es noch möglich, Menschen für ihre Taten verantwortlich zu machen und nach persönlicher Schuld zu fragen? Welchen Sinn haben Moral und Ethik, wenn der Mensch nicht frei ist? Sind Theologie und Kirche im Interesse der Würde des Menschen nicht dazu aufgerufen, die Willensfreiheit ?zu verteidigen? In verständlicher und unterhaltsamer Weise stellt sich der Theologe Michael Roth diesen Fragen. Er verdeutlicht, dass das Theorem der Willensfreiheit ?in Wahrheit nur dem menschlichen Bedürfnis dient, in selbstgerechter Weise über die Schuld anderer und die eigene Schuld zu reden. Und er fragt nach einer Ethik, die der Illusion vom freien Willen nicht bedarf.

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CMZ. Wir machen die guten Bücher. Seit 1979.

Michael Roth, Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Klärungen im Vorfeld

1.1 Vorbemerkung

1.2 Scheinalternativen

1.3 Worum geht es?

1.4 Die Libet-Experimente

1.5 Die reformatorische Behauptung des »unfreien Willens«

1.6 Fazit

2. Handlungsfreiheit und Willensfreiheit

2.1 Vorbemerkung

2.2 Freiheit: Tun können, was man will

2.3 Phänomenale Evidenz der Willensfreiheit?

2.4 Unterscheidung zwischen Handlungsgrund und Handlungsursache

2.5 Warum wir uns nicht als Objekte behandeln können

2.6 Selbstbestimmte Menschen und selbstbestimmte Handlungen

2.7 Zwei Argumente für das Theorem der Willensfreiheit?

2.8 Fazit

3. Rechtsprechung, Schuld und Strafe

3.1 Vorbemerkung

3.2 Umgang mit dem Phänomen Schuld durch Schuldausschließungsund Entschuldigungsgründe

3.3 Schuld und Reaktion auf Schuld

3.4 Willensfreiheit als Voraussetzung der Rede von Schuld?

3.5 Strafrechtliche Modelle zur Begründung von Strafe

3.6 Begründung von Recht und Strafe aus den zwingenden Notwendigkeiten des menschlichen Zusammenlebens

3.7 Selbstgerechtes Reden von Schuld

3.8 Selbstgerechtes Strafen

3.9 Ein abschließendes Plädoyer gegen die Überhöhung des Rechts, der Rechtsprechung und seiner Vertreter

3.10 Fazit

4. Sünde und Willensfreiheit

4.1 Vorbemerkung

4.2 Sünde – ein unbrauchbar gewordener Begriff?

4.3 Sünde als Beschreibung der existentiellen Not des Menschen

4.4 Selbstinteresse, Unfreiheit des Willens und Selbsterfahrung

4.5 Fazit

5. Theologische Ethik als Skeptische Ethik?

5.1 Vorbemerkung

5.2 Skeptische Ethik?

5.3 Gesetz und Evangelium

5.4 Moralkritik als Aufgabe der Theologischen Ethik

5.5 Was ist mir gegeben? – Die Grundfrage der Theologischen Ethik

5.5 Fazit

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einführung

Das Thema »Willensfreiheit« steht nicht erstmals auf der Tagesordnung. Seit der Antike beschäftigt die Philosophie das Problem der Willensfreiheit1 und es war seither stets in der wissenschaftlichen Diskussion präsent.2 Allerdings hat sich die Lage insofern geändert, als im Unterschied zu früheren Zeiten die Diskussion um das Theorem der Willensfreiheit seit geraumer Zeit auch öffentliches Interesse erregt. Ganz offenkundig sind hierfür die Befunde der Hirnforschung und der experimentellen Psychologie verantwortlich. Die geradezu hitzige Diskussion ist nur allzu gut zu verstehen, denn die Auswirkungen des Problems betreffen das substantielle Interesse unseres Selbstverständnisses als freie und bestimmungsfähige Personen. Vor allem aber scheinen sie unsere alltägliche Praxis des intersubjektiven Umgangs zu betreffen.

Ist zu befürchten, dass der Zweifel am Theorem der Willensfreiheit unsere alltägliche Praxis in Frage stellt, andere Menschen für ihre Taten verantwortlich zu machen und nach persönlicher Schuld zu fragen? Wenn man nicht mehr von Freiheit und Verantwortung sprechen kann, ist es dann überhaupt berechtigt, eine Person für ihr Handeln zu loben oder zu tadeln? Welchen Sinn machen Moral und Ethik, wenn unser Wille nicht frei ist? Muss man nicht – im Interesse von Moral und Ethik – das Theorem der Willensfreiheit geradezu voraussetzen?

Vor allem scheinen die Rechtsprechung und das Instrument des Strafens und der Schuldzuschreibung in Frage gestellt zu sein. Wird diese Praxis nicht aus den Angeln gehoben, wenn man die Freiheit des Willens bestreitet? Auch wird in der Auseinandersetzung um die Willensfreiheit immer wieder auf das Selbsterleben des Menschen verwiesen: Widerspricht unser Selbsterleben nicht der Bestreitung der Willensfreiheit, insofern wir uns als ja auch frei erleben? Müssen wir unser Erleben von Freiheit als Selbsttäuschung verstehen? Andererseits: Erleben wir uns tatsächlich frei in dem Sinne, dass wir autonom darüber entscheiden können, was uns als begehrenswert erscheint und was wir in unserem Wollen intendieren? Gibt es nicht auch die Erfahrung, im eigenen Wollen »festgehalten«, ja in gewisser Weise ihm »ausgeliefert« zu sein?

Im Blick auf diese Fragen drängt sich die Rede von der Sünde auf; denn die Sünde wird als »Synthese von Schicksal und Schuld«3 zur Sprache gebracht, als ein Zugleich von Unfreiheit und Verantwortlichkeit. Aufschlussreich ist die Rede von der Sünde vor allem deshalb, weil sie ihren Ort in der Selbsterfahrung der Person hat.

Ich werde in diesem Essay erstens zu zeigen versuchen, dass es bei dem Streit um das Theorem der Willensfreiheit nicht darum geht, ob von menschlicher Freiheit geredet werden kann oder nicht, sondern darum, wie von menschlicher Freiheit gesprochen werden kann: ob Freiheit als Selbstmächtigkeit zu verstehen ist oder ob von einer Freiheit die Rede ist, die der Abhängigkeit menschlicher Existenz Rechnung trägt.

Zweitens werde ich versuchen zu verdeutlichen, dass das Theorem der Willensfreiheit keineswegs unsere alltägliche Praxis der Zuschreibung von Schuld und Verantwortung legitimiert, sondern im Gegenteil dieser entgegensteht.

Und drittens werde ich die These vertreten, dass das Festhalten an dem Theorem der Willensfreiheit nicht in der Legitimation unserer alltäglichen Praxis der Zuschreibung von Schuld und Verantwortung begründet ist (wie dies immer behauptet wird), sondern in unserem Bedürfnis, in selbstgerechter Weise über die Schuld anderer und die eigene Schuld zu reden. Dass ich mich dabei vor allem dem Strafrecht zuwende, ergibt sich angesichts der Fragestellungen von selbst. Abschließend werde ich viertens erörtern, inwiefern die Einsicht in die Unfreiheit des Willens die Grundfrage der Ethik bestimmt.

Der vorliegende theologische Essay hat den Anspruch, Überlegungen in ihrer Form »essayistisch« und in ihrer Art »denkerisch« zu entfalten und zu erörtern. Mit dem Adjektiv »theologisch« ist die Richtung der folgenden Gedanken angedeutet. Auffallend mag sein, dass ich (neben Kap. 1.5) erst in den letzten Kapiteln (Kap. 4 und Kap. 5) ausführlicher auf die theologische Tradition zu sprechen komme. Gleichwohl handelt es sich im gesamten Buch um theologisches Denken; denn die Theologie kann ihren Gegenstand nur innerhalb der allgemeinen Verstehensbemühungen und Denkbewegungen zur Sprache bringen.

Anders als jene theologische Denkrichtung, die die Theologie als Wissenschaft für ein internes Forum versteht, auf dem »[u]nbefangen theologische Begriffe […] gebrauch[t]«4 werden können, wird in dem vorliegenden Essay davon ausgegangen, dass auch der Theologe nicht auf Offenbarung und Glaube verweisen kann statt zu argumentieren. Weil auch der Theologe vernünftig Rechenschaft ablegt, indem er methodisch nachdenkt, Gründe für seine Überlegungen angibt und argumentativ um Zustimmung wirbt, sucht er keinen internen Zirkel, der seine Aussagen abnickt, weil er bestimmte (theologische) Reizworte ausspricht. Die Gefahr eines solchen internen Zirkels, in dem die Theologie »unbefangen« ihre Begriffe gebrauchen kann, ist groß: Sie besteht darin, dass die Theologie dann »in dogmatischen Sprachspielen kommuniziert, denen selbst für professionelle Insider die Aura des Immerschon-Unverständlichen eignet«5.

Mein Anliegen ist daher, Einsichten des Glaubens innerhalb des allgemeinen Diskurses zur Geltung zu bringen und darin auch den christlichen Glauben als »denkende Religion«6 zu verantworten. Das vom Glauben inaugurierte Denken steht nicht neben oder über den unterschiedlichen Verstehens- und Kommunikationszusammenhängen, in denen wir uns immer schon befinden, sondern wird in, mit und unter ihnen aktuell.7

1 Vgl. Dihle 1985; Seebaß 2003.

2 Vgl. Pauen/ Roth 2008, 7.

3 Elert 1952, 25.

4 Gegen Sauter 2002, 102.

5 Graf 2004, 262.

6 Harnack 1927, 2. Vgl. auch: Tanner 2002, 87 f.; Roth 2009b; Moltmann 2009, 534 f.

7 Vgl. Roth 2005b; Roth 2009c.

1. Klärungen im Vorfeld

1.1 Vorbemerkung Ist es so ohne weiteres möglich, Argumente für und gegen das Theorem der Willensfreiheit zusammenzustellen? Ganz offensichtlich fällt es bereits schwer zu formulieren, was mit dem Begriff »Willensfreiheit« eigentlich gemeint ist. Ich werde daher in diesem Kapitel zunächst einige Klärungen vornehmen, um den folgenden – mit Kap. 2 einsetzenden – Gedankengang zu entlasten. Diese ersten Klärungen sollen – entgegen einer falschen Darstellung des Streites – zunächst einige Scheinalternativen kritisch in den Blick nehmen (Kap. 1.2), um im Anschluss eine erste Antwort auf die Frage zu geben, worum es bei dem Streit um das Theorem der Willensfreiheit eigentlich geht (Kap. 1.3). Zu dieser Klärung gehört es auch, die in der Diskussion immer wieder auftauchenden Libet-Experimente einzuordnen und ihren Stellenwert zu bestimmen (Kap. 1.4).

Schließlich ist auch ein erster Blick auf die protestantische (vor allem lutherische) Tradition zu werfen (Kap. 1.5), auf die ich am Ende dieses Buches im Zusammenhang der Sündenlehre (Kap. 4) und unserer Frage nach der Bedeutung der Frage nach der Willensfreiheit für die Ethik (Kap. 5) zurückkommen werde. Ist es tatsächlich so, dass Theologen von Hause aus dazu aufgerufen sind, den Befürwortern der Willensfreiheit Beistand zu leisten? Mit Matthias Petzoldt formuliert: »Muss der Glaube die Willensfreiheit verteidigen?«8

1.2 Scheinalternativen Wenn wir uns der Frage nähern, um was es bei dem Streit um das Theorem der Willensfreiheit eigentlich geht, so ist zunächst der auffällige Umstand zu konstatieren, dass bei der Diskussion um die Willensfreiheit teilweise mit Alternativen und Frontstellungen gearbeitet wird, die für ein diszipliniertes Nachdenken äußerst hinderlich sind. Gerade in der öffentlichen Diskussion werden gerne Begriffe wie bspw. »Willensfreiheit«, »alternative Handlungsmöglichkeiten« oder auch »Auch-anders-handeln-Können« gebraucht, ohne genauer geklärt zu werden. Stattdessen wird mit Scheinalternativen und Scheinselbstverständlichkeiten gearbeitet, die suggerieren, die Rede von einem »Auch-anders-handeln-Können« und »alternativen Handlungsmöglichkeiten« sei nur möglich, wenn man das Theorem vom freien Willen akzeptiere.

Ein gutes Beispiel bietet der Artikel »Der Mensch ist verführbar« im Rheinischen Merkur (10/2009, Spezial 9), in dem Hans Michael Heinig, Professor für Öffentliches Recht und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, für die Willensfreiheit plädiert und formuliert: »Menschliche Freiheit ist die Voraussetzung, um überhaupt vom Bösen oder vom Recht sprechen zu können. Ohne die Möglichkeit alternativen Handelns macht die Rede von beidem keinen Sinn. Deshalb wirken naturwissenschaftliche Debatten über menschlichen Determinismus auf Rechtswissenschaftler, Theologen und Moralphilosophen häufig ausgesprochen beunruhigend«. An diesem Satz ist vieles begrifflich unscharf.

Erstens: Dass die menschliche Freiheit die Voraussetzung dafür ist, von Recht zu sprechen, ist nicht zu bestreiten (vgl. Kap. 3). Die entscheidende Frage ist, was jeweils unter menschlicher Freiheit verstanden wird (und dann auch, welche Konsequenz dies für das Verständnis des Rechts hat). Auch deterministische Positionen entwickeln ein Verständnis von menschlicher Freiheit (vgl. Kap. 2). Die Alternative lautet daher nicht Determinismus versus Freiheit, sondern deterministisches versus nicht-deterministisches (bzw. indeterministisches) Freiheitsverständnis. Heinig erweckt den falschen Eindruck, dass deterministische Positionen die Rede von Freiheit ablehnen und man daher deterministische Positionen ganz leicht aushebeln könne, indem man auf die Notwendigkeit verweist, von Freiheit zu sprechen – dies ist unseriös.

Zweitens: Zu bestreiten ist auch nicht, dass wir nur dann von Freiheit sprechen können, wenn wir auch anders handeln könnten, das heißt »alternative Handlungsmöglichkeiten haben«. Wer nicht seinem eigenen Willen gemäß handeln kann, weil er etwa von einem anderen zu etwas gezwungen wird und daher keine Handlungsalternative hat, ist nicht frei und fühlt sich auch nicht so (vgl. Kap. 2.1). Das ist völlig unstrittig und bedarf daher eigentlich auch keiner genauen Auseinandersetzung. Heinig ist aber im Irrtum, wenn er die Rede von Handlungsalternativen durch den Determinismus bestritten sieht; denn auch unter deterministischen Voraussetzungen wird von Handlungsalternativen gesprochen (vgl. Kap. 2.1). Nun ist es selbstverständlich denkbar und auch legitim, dass jemandem das Verständnis von Freiheit, wie es in deterministischen Konzeptionen entwickelt wird, nicht ausreicht und er auch Gründe gegen dieses Verständnis von Freiheit geltend macht. Keinesfalls darf man aber so tun, als würden deterministische Positionen jede Rede von alternativen Handlungsmöglichkeiten bestreiten; denn dies ist schlichtweg falsch.

Drittens: Auch die Zusammenstellung von Rechtswissenschaftlern, Theologen und Moralphilosophen überrascht. Sie sind keineswegs alle »beunruhigt«, vor allem nicht in gleicher Weise. In der Tat finden sich (immer weniger werdende) Moralphilosophen, die für die Willensfreiheit plädieren. Größer schon (aber ebenfalls immer geringer werdend) ist die Zahl der Rechtswissenschaftler, die durch die »Debatten über menschlichen Determinismus« »beunruhigt« sind. Warum sie es sind und inwiefern diese Beunruhigung vielleicht als sehr erfreulich zu beurteilen und ihnen durchaus zu gönnen ist, werden wir in Kap. 3 ausführlich erörtern. Gänzlich überrascht aber, dass Theologen »beunruhigt« sein sollen, wie Heinig ohne weitere Differenzierung behaupten zu müssen meint. Dies kann ja nur für solche Theologen der Fall sein, denen Luthers Schrift »De servo arbitrio« genau so unbekannt ist wie die entsprechenden Aussagen in den Bekenntnisschriften und die zudem die Unterschiede zwischen der katholischen und der protestantischen Tradition nicht kennen, sondern letztere mit ersterer verwechseln. Nicht erst Sigmund Freud hat dem Theorem der Willensfreiheit widersprochen und dem humanistischen Menschenbild eine tiefe »Kränkung«9 zugefügt, sondern auch Martin Luther und Philipp Melanchthon wussten darum, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist und haben diese Kränkung dem Humanismus ihrer Zeit (vor allem in Gestalt von Erasmus von Rotterdam) nicht erspart. Gegen die Rede vom freien Willen (liberum arbitrium) haben sie vom unfreien Willen (servum arbitrium) gesprochen. Es geht es mir hier nicht darum zu kritisieren, dass jemand eine andere als in diesem Essay vorgetragene Interpretation von Luthers Schrift oder den entsprechenden Aussagen in den Bekenntnisschriften hat. Wünschenswert wäre aber, wenn deutlich gemacht würde, dass man um die genannte Differenzierung zwischen römisch-katholischer und protestantischer Lehrbildung wenigstens rudimentär weiß und zu erkennen gibt, dass das reformatorische Menschenbild mit dem aufgeklärthumanistischen Bild vom Menschen nicht einfach zusammenfällt, sondern sich mit diesem kritisch auseinandersetzt. Luthers Schrift gegen Erasmus enthält – so der Philosoph Herbert Schnädelbach – »die denkbar schärfste Abgrenzung von jedem Humanismus«10, der Theologe Oswald Bayer spricht in Bezug auf Luthers Schrift gar von einem »Attentat auf das humanistische Bild des Menschen«11. Diese reformatorische Kritik an dem aufgeklärt-humanistischen Bild vom Menschen ist keine Randerscheinung des Protestantismus, sondern in dieser Kritik entfaltet der Protestantismus seinen Kern. Pointiert formuliert: Der Protestantismus ist etwas anderes als das religiöse Sahnehäubchen aufgeklärt-humanistischer Anschauungen. Wer dies verkennt, bringt den Protestantismus um seine Kraft.

1.3 Worum geht es? Was bedeutet die Infragestellung des Theorems der Willensfreiheit für unsere alltägliche Praxis der Zurechnung von Handlungen, der Schuldzuschreibung und Strafbemessung? Ist es gar nicht mehr möglich, von Schuld und Verantwortung zu sprechen? Vertreter des Theorems der Willensfreiheit setzen »Szenarien des moralischen Chaos in die Welt und lehren die Menschen das Fürchten vor dem Naturalismus der Hirnforschung« bspw. mit dem Szenarium, »dass die an die Willensfreiheit gebundene Schuldfähigkeit von Straftätern mit dem Verlust des freien Willens zur Tat ebenfalls wegfallen müsse«12. So behauptet bspw. Gottfried Seebaß, dass »Überlegungen und Handlungen, die ihrem Sinn nach darauf ausgerichtet sind, etwas geschehen zu machen oder Geschehen aktiv zu beeinflussen«, unter der Voraussetzung des Determinismus und der Bestreitung des Theorems der Willensfreiheit »sinnlos« sind.13 Aber nicht nur Befürworter des Theorems der Willensfreiheit wie Seebaß, sondern auch die Bestreiter dieses Theorems leisten nicht selten mit provokativen Aussagen diesen Horrorszenarien Vorschub, insofern sie unsere alltägliche Praxis der Zuschreibung von Schuld in Frage stellen: So behauptet Franz M. Wuketits, dass uns die Einsichten der modernen Hirnforschung nahelegen, »uns von althergebrachten Konzepten von Schuld und Strafe zu verabschieden«14, Wolf Singer sieht es als verfehlt an, »Menschen mit problematischen Verhaltensdispositionen als schlecht oder böse abzuurteilen« und »von Freiheit zu sprechen«15. Von daher empfiehlt Singer dem deutschen Strafrecht auch eine neue Terminologie, die nur noch äußerlich von dem Wort »Verantwortung« Gebrauch macht, in Wahrheit aber »Gefährlichkeit« meint.16 In dieser Weise formuliert auch Wolfgang Prinz: »Wir könnten aber [...] auch ein anderes Rechtssystem etablieren. Etwa eines, das nicht auf dem Schuld- oder Verantwortungsprinzip beruht, sondern darauf, daß man für Handlungen, die anderen schaden, zahlen muß, ohne daß man den Handelnden Freiheit und Schuldfähigkeit unterstellt.«17 Auch Ulrich Pothast denkt in diese Richtung, wenn er die übliche Praxis von Tadel, Schuldzuschreibung und Strafzumessung kritisiert und die Forderung aufstellt, dass an ihre Stelle therapeutische Eingriffe treten sollen.18

Im Blick auf ein solches Plädoyer wird Jan Philipp Reemtsmas Befürchtung verständlich, der er in einem Streitgespräch mit Hans Markowitsch Ausdruck verleiht: »Wovon Sie träumen, die Ersetzung des Rechts durch die Psychiatrie, das wird hoffentlich Utopie bleiben. Es setzt ein Menschenbild voraus, bei dem wir alle wie ferngesteuerte Maschinen durch die Gegend laufen. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft wären katastrophal« (Der Spiegel 31/2007, 123). In der Tat ruft die Vorstellung der Ersetzung des Rechts durch die Psychiatrie, auch wenn sie sich zunächst sehr human anhört (»Der Übertreter des Gesetzes darf nicht bestraft, sondern muss therapiert werden«), ungute Gefühle hervor. Es stellt sich die Frage, ob hier die »Grenzen der Staatsgewalt«19 überschritten werden. Man bedenke nur, dass auch das kommunistische China den letzten Kaiser in ein »Umerziehungslager« gebracht hat, weil er offenkundig Hilfe brauchte, da er die Größe der kommunistischen Ideen nicht zu sehen in der Lage war und auch nicht fähig zu sein schien, ein Leben im Sinne des Kommunismus zu führen (ich werde auf diese Frage in den Kap. 3.5 und 3.8 zurückkommen).

Sowohl die Szenarien des moralischen Chaos, die die Befürworter des Theorems der Willensfreiheit malen, als auch die provokativen Aussagen von einigen Gegnern dieses Theorems setzen als selbstverständlich voraus, dass die Bestreitung des Theorems der Willensfreiheit unsere Praxis der Zuschreibung von Schuld und Verantwortung außer Kraft setzt. Ist das aber tatsächlich der Fall? Es ist nicht zu übersehen, dass die abendländische Geistesgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre die Vorstellung eines freien Willens und die Zuschreibung von Schuld und Verantwortung fest miteinander verknüpft hat, so dass es nicht verwundert, dass vor allem Strafrechtler am Postulat der Willensfreiheit festhalten.20 Sie sind häufig davon überzeugt, dass ein Mensch »nur dann […] für die Handlung verantwortlich« ist, wenn er aus »eigenem, freien Willen gehandelt hat«21. Als typisch kann hier die Argumentation von Ansgar Beckermann gelten: Strafe setzt Verantwortlichkeit und Schuld voraus, Verantwortlichkeit und Schuld wiederum die Willensfreiheit.22 In der Tat stellt sich die Frage, wie man eine Person für eine Normverletzung bestrafen will, an der sie keine Schuld trägt, und wie man der Person die Schuld an einer gesetzes- oder normwidrigen Handlung anlasten kann, wenn sie im Vollzug der Handlung nicht frei war und daher gar nicht anders handeln konnte. Ganz offenkundig ist unsere alltägliche Praxis der Schuldzuschreibung, aus der die strafrechtliche Praxis der Schuldzuschreibung erwachsen ist, von der Beurteilung der in unserem Handeln waltenden Freiheit nicht zu lösen (vgl. Kap. 3). In diese Richtung argumentiert bspw. Michael Pauen: Versuche, die Bindung von Strafe an Schuld bzw. von Schuld an Freiheit zu lockern, um so die Legitimität des staatlichen Strafens von der Existenz der Willensfreiheit unabhängig zu machen, konnten sich nach Pauen deshalb nicht etablieren, weil der Zusammenhang von Strafe und Schuld bzw. von Schuld und Strafe äußerst plausibel ist.23 Allerdings dürfen hier nicht zu schnell Alternativen aufgestellt werden: Argumente, die die Notwendigkeit der Rede von menschlicher Freiheit einsichtig machen (wie bspw. in diesem Fall das Argument des plausiblen Zusammenhangs von Strafe, Schuld und Freiheit) sind keineswegs Argumente für das Theorem der Willensfreiheit (vgl. Kap. 1.2). Dies ist – so habe ich behauptet – deshalb nicht der Fall, weil die Gegner und Befürworter des Theorems der Willensfreiheit sich nicht darin unterscheiden, dass die einen die Rede von menschlicher Freiheit ablehnen, während die anderen ihre Notwendigkeit hervorheben, sondern in der Frage, wie von menschlicher Freiheit geredet werden muss. Diesem gilt es auch hier Rechnung zu tragen: So ist die Frage zu stellen, von welcher Freiheit die Rede ist, wenn von dem Zusammenhang von Schuld und Freiheit gesprochen wird. Es geht somit nicht um die Frage, ob von Freiheit, Schuld und Verantwortung geredet werden kann, sondern wie Freiheit, Schuld und Verantwortung zu bestimmen sind. Dies muss mit aller Entschiedenheit festgehalten werden, damit nicht die Notwendigkeit der Rede von Schuld und Verantwortung allzu kurzschlüssig zur Unterstützung des Theorems der Willensfreiheit herangezogen wird.

Was ist nun aber das Theorem der Willensfreiheit? Ich habe bisher immer wieder den Terminus »freier Wille« gebraucht, ohne diesen zu klären. In der Tat fällt es schwer zu beantworten, was mit diesem Theorem eigentlich gemeint ist. Dass wir unserem Willen entsprechend handeln können, kann nicht die Pointe dieses Theorems sein, dies ist unstrittig. Gemeint sein kann auch nicht, dass wir das (wirklich) wollen, was wir wollen; denn natürlich wollen wir, was wir wollen, weil wir es ja wollen. Auch die Rede davon, dass Willensfreiheit bedeutet: »Ich kann frei entscheiden, was ich will«, ist erklärungsbedürftig. Läuft es nicht darauf hinaus zu sagen, dass mein Wollen mein Wollen bestimmt? Zu fragen wäre auch, was das Ich ist, das den Willen bestimmt. Ist es nicht immer auch durch den Willen geprägt? Inwiefern unterscheidet sich ein solcher Satz in der Konsequenz dann von dem bekannten Satz von Wolf Singer: »Keiner kann anders, als er ist.«24? Wenn man verstehen will, was es mit dem Theorem der Willensfreiheit auf sich hat, so empfiehlt es sich, es als Alternative zum Determinismus zu begreifen.

Der Determinismus verweist auf die geschlossenen Kausalverläufe, weil er von der Erfahrung der Regelhaftigkeit aller Ereignisse der physischen Welt getragen ist, wie auch immer die einschlägigen Regularien genauer beschreibbar sein mögen. In dieser Weise definieren auch Michael Pauen und Gerhard Roth den Determinismus: »Als determiniert bezeichnen wir ein Ereignis, wenn dessen Eintreten durch vorangegangene Umstände vollständig festgelegt wird, so dass bei der Wiederholung der vorangegangenen Umstände auch das Ereignis immer wieder eintreten wird. Ist unsere Welt determiniert, dann gelten die genannten Bestimmungen für sämtliche Ereignisse in dieser Welt. In einer solchen Welt kann man also niemals sagen, daß etwas anderes hätte eintreten können, als faktisch eingetreten ist.«25 Auch wenn der Determinismus nur eine These ist, so ist er doch die Voraussetzung aller empirischen Wissenschaften, die davon ausgehen, dass alle Vorgänge in der physischen Welt von einem universalen nomologischen Kausalprinzip beherrscht werden: Sie fragen nach den Ursachen und versuchen diese möglichst umfassend zu beschreiben. Auf Grund unserer Erfahrung der Regelhaftigkeit aller Ereignisse der physischen Welt ist auch unser alltägliches Handeln von einer deterministischen Vorstellung getragen: Wir gehen davon aus, dass die uns widerfahrenden Ereignisse eine Ursache haben, nach der wir fragen können. Insofern ist der Determinismus die Voraussetzung dafür, dass unsere Welt eine verständliche Welt ist. In dieser Weise argumentiert auch Peter Bieri: »Es ist die Idee einer Welt, in der wir verstehen können, warum etwas geschieht. Zwar gibt es darin vieles, was wir nicht verstehen, und vermutlich wird das immer so bleiben. Trotzdem, denken wir, ist die Welt eine Gesamtheit von Phänomenen, in die wir Licht bringen können, indem wir uns erklären, warum die Phänomene so sind, wie sie sind. Selbst wenn dieser Gedanke eine Täuschung wäre: Anders können wir über die Welt nicht denken. Phänomene zu erklären und dadurch verständlich zu machen, heißt, die Bedingungen zu entdecken, von denen sie abhängen. Wenn sie erfüllt sind, und nur wenn sie erfüllt sind, tritt das Phänomen auf. Für jede einzelne Bedingung gilt, daß sie notwendig ist: Wäre sie nicht erfüllt, würde das betreffende Phänomen nicht auftreten. Zusammengenommen sind die Bedingungen jeweils hinreichend: Wenn sie alle erfüllt sind, kann es nicht ausbleiben, daß sich das Phänomen einstellt. Wenn wir die Bedingungen kennen, die das Phänomen möglich machten, und die Bedingungen, die zusammen sein Eintreten festlegten, haben wir den Eindruck zu verstehen, warum es vorliegt. Wenn uns das Phänomen rätselhaft erscheint, dann deshalb, weil wir nicht wissen, welche Bedingungen es waren, die es ermöglichten und die zusammen dafür sorgten, daß es auch wirklich eintrat. […] Für diese Idee hat man das Wort Determinismus gewählt.«26 Diese geschlossenen Kausalverläufe, die unser Verstehen ermöglichen, gelten auch für den Menschen; denn »auch die Menschen gehören zur Welt, und das bedeutet: Auch für das, was sie tun, gibt es Bedingungen, die gesondert notwendig und zusammen hinreichend für ihre Taten sind«27. Wohlgemerkt: Mit »Determinismus« ist hier – wie auch an anderen Stellen des Essays – ausschließlich die kausale Bestimmtheit im Sinne kausaler Netze gemeint, nicht der strenge Begriff des Determinismus, wie er in der Physik (bspw. der Newtonschen Mechanik) verwendet wird, wo er reversible Naturgesetze bezeichnet.

Das Theorem von der Willensfreiheit bestreitet diese geschlossenen Kausalverläufe für das menschliche Handeln. In diese Richtung könnte man Immanuel Kant verstehen: »Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister (animus sui compos) und über sich selbst Herr zu sein (imperium in semetipsum), d. i. seine Affekte zu zähmen und seine Leidenschaft zu beherrschen«28. Für Kant bedeutet Willensfreiheit »das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte«29. Menschen, die in dieser Weise den Begriff »Willensfreiheit« benutzen, gehen davon aus, dass der Wille dann frei ist, wenn er aus sich heraus, selbstinitiiert und ohne außer ihm liegende Gründe eine Handlung bestimmt.30 Zwar mögen äußere und innere Bedingtheiten jeglicher Art, Ansichten, Wünsche oder Motive vorliegen, welche die Handlung einer Person in die eine oder andere Richtung drängen – die Letztentscheidung darüber, wie gehandelt wird, liegt jedoch bei diesem freien Willen.

Der Determinismus ist – wie auch der Indeterminismus – eine These. Festzustellen bleibt allerdings, dass ein solcher den Determinismus bestreitender Begriff der Willensfreiheit in Erklärungsnotstände gerät. Die Einsicht in die Geschlossenheit der Kausalverläufe auf makrophysikalischer Ebene auf Grund unserer Erfahrungen von der Regelhaftigkeit aller Ereignisse prägt spätestens seit dem 18. Jahrhundert das Bewusstsein nicht nur der Gebildeten der Zeit (wohlgemerkt: seit dem, nicht bloß im 18. Jahrhundert)31. Alle empirischen Wissenschaften sind dem Kausalitätsprinzip verpflichtet und insofern »deterministisch«. Auch Immanuel Kant, der ein Vertreter der Willensfreiheit ist, hat sich dieser deterministischen Sicht nicht verschlossen. Dass die physikalische Welt durch Kausalverläufe geprägt ist, die für eine nicht-deterministische Idee der Willensfreiheit keinen Raum lässt, ist für Kant selbstverständlich32 – im Unterschied zu vielen, die sich (zu Unrecht) auf Kant berufen, wie etwa Hans-Peter Müller, der meint, den freien Willen im bewussten Abwägen von Handlungsmöglichkeiten nachweisen zu können.33 So formuliert Kant: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.«34 Dennoch will Kant die Rede von dem freien Willen aufrechterhalten. Die Idee der Freiheit ist daher für Kant eine transzendentale, keine empirische.35 Mit der Frage, was man sich unter der transzendentalen Idee der Freiheit, selbstinitiiert eine Kausalkette zu beginnen, vorzustellen habe, hält Kant sich nicht auf, sondern erklärt: »Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine rein transzendentale Idee, die ernstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann, weil es ein allgemeines Gesetz, selbst der Möglichkeit aller Erfahrung, ist, daß alles, was geschieht, eine Ursache, mithin auch die Kausalität der Ursache, die selbst geschehen, oder entstanden, wiederum eine Ursache haben müsse; wodurch denn das ganze Feld der Erfahrung, soweit es sich erstrecken mag, in einen Inbegriff bloßer Natur verwandelt wird.«36 Willenshandlungen sind entsprechend für Kant nur der Idee nach, nicht aber empirisch frei. Daraus folgt für Kant auch, dass der Versuch, Willensfreiheit empirisch nachweisen zu wollen, absurd ist. Argumentationsfiguren wie die von Hans-Peter Müller sind für Kant ausgeschlossen. Freilich überzeugt Kants »Zwei-Welten-Theorie«, die zwischen einer transzendentalen und einer empirischen Welt unterscheidet, schon deshalb nicht, weil sie nicht erklären kann, wie ein indeterminierter Wille in die ansonsten herrschende Naturdeterminiertheit eingreifen kann. Ich wage es daher auch zu bezweifeln, dass die Probleme der Willensfreiheit durch eine kritische Rückbesinnung auf Kant zu lösen sind.37

Ich halte fest: Strittig zwischen den Befürwortern und Bestreitern des Theorems der Willensfreiheit ist nicht, ob von Freiheit geredet werden kann oder nicht, sondern wie davon geredet werden muss. Ist der Mensch ein unbewegter Beweger, der Kausalketten initiieren kann, diesen aber selbst nicht unterworfen ist, oder ist der Mensch Teil der Welt und damit auch ihrer Wirkmechanismen? Die deterministische Einsicht in die Geschlossenheit der Kausalverläufe auf makrophysikalischer Ebene prägt spätestens seit dem 18. Jahrhundert unser Denken; alle empirischen Wissenschaften sind diesem Kausalitätsprinzip ebenso verpflichtet wie unser Alltagsdenken. Demgegenüber ist ein Theorem wie das der Willensfreiheit, das diese geschlossenen Kausalverläufe in Bezug auf menschliches Handeln bestreitet, fast nicht denkmöglich. Im Blick auf diese Problemlage halte ich es für die sinnvollste Aufgabe, der Frage nachzugehen, wie Freiheit und Determination mit einander vereinbar sind. Wohlgemerkt: Es wird nicht darum gehen, Reste von Indetermination in einer determinierten Welt aufzuspüren, sondern zu fragen, wie unter den Bedingungen des Determinismus menschliche Freiheit zu verstehen ist. Bevor ich hiermit in Kap. 2 einsetze, werde ich zunächst zwei weitere Klärungen im Vorfeld vornehmen: hinsichtlich der Libet-Experimente (Kap. 1.4) und der reformatorischen Behauptung des »unfreien Willens« (Kap. 1.5).

1.4 Die Libet-Experimente Offensichtlich sind die Neurowissenschaften für das verstärkte Interesse an der Diskussion um das Theorem der Willensfreiheit verantwortlich. Die so genannten Libet-Experimente haben vor fast 30 Jahren eine ganze Lawine von Publikationen ausgelöst.38 Dies überrascht, denn das Problem der Willensfreiheit beschäftigt die Philosophie seit der Antike und ist seither stets in der wissenschaftlichen Diskussion präsent. Die Vorstellung von einer Selbstmächtigkeit des Menschen, die den Menschen als »unbewegten Beweger« versteht, der es vermag, »aus eigener Kraft«, »selbstverursacht« oder »selbstinitiiert« eine Kausalkette zu beginnen, ist schon lange vor der Neurowissenschaft als Illusion bezeichnet worden. So spricht Sigmund Freud von drei Kränkungen der menschlichen Eigenliebe: der mit dem Namen Kopernikus verknüpften »kosmologischen Kränkung«, der mit dem Namen Darwin verknüpften »biologischen Kränkung« und der von Freud selbst dem menschlichen Narzissmus zugefügten »psychologischen Kränkung«, die sich daraus ergebe, »daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden«. Solche Auffassung komme »der Behauptung gleich, daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«39.

Aber bereits vor Freud hatte die entstehende physiologische und psychologische Forschung das Theorem von der Willensfreiheit kritisiert. Ein gutes Beispiel für den unaufgeregten Umgang mit der Frage der Willensfreiheit bietet die Schrift des evangelischen Pfarrers Oskar Pfister aus dem Jahr 1903 »Die Willensfreiheit. Eine kritisch-systematische Untersuchung«, die dieser als Beitrag für ein Preisausschreiben über die Willensfreiheit der »Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion« verfasste. Die Frage des Preisausschreibens lautete: »Kann man sich für die Theorie des Indeterminismus (Kants transzendentale Willensfreiheit) mit Recht auf Tatsachen des Seelenlebens berufen? Ist diese Theorie aufrecht zu halten gegenüber den neueren wissenschaftlichen Untersuchungen über die Regelmäßigkeit in den menschlichen Willenstaten, den Zusammenhang zwischen physiologischen und psychologischen Erscheinungen u.s.w.? Welche Bedeutung hat sie für Religion und die Sittlichkeit?«40

Nachdem Pfister in einem ersten Hauptteil auf die Beziehung des Willens zur Außenwelt eingegangen ist und gezeigt hat, dass Nationalität, bürgerliche Sphäre, Erziehung, Heredität und Leiblichkeit (Untersuchung der Physiologie, Psychopathologie und der Kriminalanthropologie) den Willen bedingen, geht er in seinem zweiten Hauptteil auf die Tatsachen des Seelenlebens ein.41

Menschliche Handlungen – so behauptet Pfister – stehen in »direktem Abhängigkeitsverhältnis zu den vorhandenen Gefühlen«42. Aus Friedrich Jodls Lehrbuch der Psychologie aus dem Jahre 1896 übernimmt Pfister den Satz: »Gefühle sind immer der Realgrund, aus dem der Wille hervorwächst.«43 Und so fährt Pfister mit eigenen Worten fort: »Die Erfahrung zeigt uns den Willen stets durch Triebfedern, durch Interessen bestimmt. Die Gefühle enthalten den eigentlichen Grund der Tätigkeit. Ohne böse Lust gibt es keine Sünde, ohne heilige Begierde, Liebe, Pflichtgefühl keine edle und große Tat.«44 Der Wille ist nicht in die autonome Selbstentscheidung des Menschen gestellt, vielmehr ist er durch das Gefühl motiviert und so im Horizont des Interesses der Person geprägt. »Die empirische Psychologie bestätigt uns, daß auch die Beschaffung neuer Vorstellungen durch den Willen nicht von dessen Willkür abhängig sei und gleichzeitig in dieser oder auch jener Weise geschehen könne. Immer ist der Wille abhängig von peripheren Reizen (Empfindungen und Wahrnehmungen) oder zentral bedingten Prozessen (sinnlichen Gefühlen, Erinnerungsbildern und ihren gefühlsmäßigen Begleitern) also von Vorgängen, an deren Determiniertsein auch der Indeterminist nicht zu zweifeln wagt.«45 So ist für Pfister auch deutlich, auf welche Weise der Wille durch das Gefühl seine Motivation erfährt:

»Die Motivbewegung ist [...] durch die Assoziationsbedingungen und die mit den Vorstellungen auftretenden Gefühlswerte bestimmt«. Motiviert ist der Wille des Subjektes somit durch das an die Vorstellung gebundene Gefühl. »Unsre Analyse der Gefühlsund Willensprozesse führt zur Annahme eines hinter der Bildfläche des Bewußtseins liegenden Mechanismus, in welchem die Gefühlsintensität wie die Reproduktion der Vorstellungen begründet liegt. Wir haben nirgends Veranlassung, den Willen als selbständiges Wesen anzusehen, das, abgesehen von seinen Beziehungen zu Vorstellungen und Gefühlen, bewußt entscheidet.«46 Diese feste Willensrichtung entfaltet Pfister als »Anlage und Charakter«47: »Wo im Laufe der Jahre und Jahrzehnte eine unveränderliche Willensrichtung entstand, reden wir von einem Charakter. Im Begriff des Charakters liegt seine Stabilität enthalten.«48 Und so kommt Pfister in Bezug auf den Determinismus zu dem Schluss: »Nichts spricht gegen einen organischen Determinismus, der die Persönlichkeit als gestaltende Einheit anerkennt, als Prinzip, welches nicht duldet, daß irgend eine ihm von außen kommende Bestimmung in seinem Lebenskreis etwas unmittelbar wirke, sondern sie in seine innere Tiefe versenkt, um sie, verwandelt und seinem eigentümlichen Wesen assimiliert, daraus neu hervorquellen zu lassen.«49

Nun bedurfte es jedoch weder der Einsichten der Neurowissenschaften, um das Theorem der Willensfreiheit zu kritisieren, noch der Psychoanalyse Freuds oder das mit dem Namen Wilhelm Wundt verbundene Entstehen der experimentellen Psychologie, vielmehr haben auch philosophische Analysen das Theorem der Willensfreiheit einer Kritik unterzogen (von theologischen Betrachtungen – vgl. Kap. 1.5 – ganz zu schweigen). Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann Paul-Henri Thierry d’Holbach formulieren: »Aus allem, was bisher […] gesagt wurde, geht hervor, daß der Mensch keinen Augenblick seines Lebens frei ist. Er ist nicht Herr über seine natürliche Körperbildung; er ist nicht Herr über seine Ideen oder über diejenigen Modifikationen seines Gehirns, die durch Ursachen bedingt sind, die unabhängig von ihm und ohne sein Wissen fortwährend auf ihn wirken. […] Die Freiheit des Menschen ist nur die in ihm selbst enthaltene Notwendigkeit.«50 Aber auch d’Holbach vertritt damit nur eine Position, die schon in der Antike vertreten werden konnte.

Die kurzen Hinweise zeigen, dass – ob zu Recht oder zu Unrecht, mag zunächst dahingestellt sein – bereits lange vor den Neurowissenschaften das Theorem der Willensfreiheit in Zweifel gezogen wurde. Nun sind aber nicht nur Zweifel am Theorem der Willensfreiheit altbekannt, sondern auch die Neurowissenschaft, die die Frage nach der Willensfreiheit ins Zentrum der gegenwärtigen Überlegungen gerückt hat, ist keineswegs eine neue Disziplin. Neurowissenschaftliche Forschung gibt es nicht erst seit den Libet-Experimenten. Die Anfänge der modernen Lokalisationslehre, die davon ausgeht, dass es verschiedene, voneinander abgrenzbare Zentren im Gehirn gibt, und zwar sowohl für physische Funktionen (z. B. Regulation der Atmung oder auch Koordination der Motorik) als auch für psychische Qualitäten (z. B. Sprache und Emotionen), reichen ungefähr zweihundert Jahre zurück.51 Dass alle perzeptiven, kognitiven, emotionalen und exklusiv motorischen Leistungen des Menschen neuronal realisiert werden, gilt seit langer Zeit als unumstritten. Die Arbeiten, die neuronale Grundlagen von unterschiedlichen psychischen und physischen Qualitäten zu ermitteln suchen, haben daher auch keinen grundsätzlichen Widerspruch herausgefordert, sondern sind, insofern sie öffentlichkeitswirksam aufbereitet waren, von einer interessierten Öffentlichkeit dankbar aufgenommen worden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die in den 1980er Jahren populären Bücher von Oliver Sacks, der Neurologie am Albert Einstein College of Medicine in New York lehrte. Besonders bekannt wurde Sacks Buch »Zeit des Erwachens«, das 1990 mit Robert DeNiro und Robin Williams in der Hauptrolle – wenn auch etwas allzu sentimental – verfilmt wurde. Sacks Bücher enthalten interessante Fallgeschichten von Menschen, die aus der Normalität »herausgefallen« sind, weil aufgrund neurologischer Störungen scheinbar Selbstverständliches verloren gegangen ist. So erzählt Sacks in seinem Buch »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« bspw. die Krankheitsgeschichte seiner Patientin Christina, bei der jede Eigenwahrnehmung ausgefallen ist, weil sie ihren Körper nicht mehr als ihren eigenen Körper fühlt,52 oder einer Patientin, die ihre Hände nicht mehr als ihre eigenen Hände, sondern als fremde Fleischklumpen53 erlebt. Sacks Geschichten vermittelten in den 1980er Jahren einer interessierten Öffentlichkeit, dass uns eine winzige Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der zerebralen Chemie, in eine andere Welt geraten lässt. Seine Fallberichte zeigen, wir fragil unsere Normalität ist. Nur eine kleine Veränderung auf neuronaler Ebene und die Gewissheit, dass etwas eine Hand oder (durchaus komplexer) dass diese Hand meine Hand ist, ist dahin und wir fallen aus der »Normalität« heraus. Auch das Gefühl, dass »ich es bin, der etwas tut«, besitzt eine komplexe neurobiologische Grundlage, die gestört werden kann, so dass sich scheinbar Selbstverständliches plötzlich nicht mehr von selbst versteht. Die neueren neurowissenschaftlichen Forschungen haben gezeigt, dass natürlich auch die Selbstzuschreibung von Willenshandlungen eine komplexe neurobiologische Grundlage besitzt: Auch das Gefühl, dass ich es bin, der diese oder jene Bewegung veranlasst, lässt sich (selbstverständlich) neuronal realisieren. Für die Selbstattribution einer Bewegung ist es hinreichend, dass es eine normale sensomotorische Rückmeldung von dem bewegten Körperteil ins Gehirn gibt; wird diese Rückmeldung unterbrochen (z. B. durch Verletzungen), kommt es zum Gefühl der Fremdbestimmtheit der Bewegung.54 Vor allem kann es für eine Selbstattribution auch ausreichen, dass die nur scheinbar von meinem Körper ausgeführte Bewegung vom Gehirn so verarbeitet wird, dass bei mir der Eindruck entsteht, ich hätte sie vorgenommen.55

Im Blick auf die heutige Gesprächslage ist überraschend, dass – um bei den populären Büchern von Sacks zu bleiben – niemand auf die Idee kam, sich zu empören. Weder die Einsicht, dass alle perzeptiven, kognitiven, emotionalen und exklusiv motorischen Leistungen des Menschern neuronal realisiert sind, noch die Prämisse, dass alle Vorgänge im Gehirn im Rahmen bekannter Naturgesetze ablaufen, rief Widerspruch hervor. Seit einigen Jahren zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Offenbar waren die Positionen und Voraussetzungen der Neurowissenschaften doch nicht so stark verankert, wie es den Anschein hatte. Vor allem aber mag die Ursache darin zu sehen sein, dass sich die Neurowissenschaftler nicht explizit zum Thema »Willensfreiheit« geäußert hatten und man so über die Konsequenz (bzw. Voraussetzung) ihrer Arbeit im Unklaren bleiben konnte.

Auslöserfunktion für die Debatte um den freien Willen innerhalb der Hirnforschung und Neurophysiologie hatten Experimente, die der US-amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libet in den 1980er Jahren durchgeführt hatte.56 Libet griff dabei auf eine Entdeckung des deutschen Neurologen Hans Helmut Kornhuber zurück, der in den 1960er Jahren herausfand, dass menschlichen Bewegungen ein »Bereitschaftspotential« des Gehirns vorausgeht, ein elektrisches Potential, das sich mit Elektroden über den prämotorischen Kortex von der Kopfhaut ableiten lässt und die Aktivität der beteiligten Nervenzellen widerspiegelt. Dieses Potential beginnt sich eine bis eine halbe Sekunde vor dem Start der Bewegung zu zeigen und wird dann immer stärker.57