Willkommen auf der Achterbahn der Gefühle - Nicole Bornhak - E-Book
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Willkommen auf der Achterbahn der Gefühle E-Book

Nicole Bornhak

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Beschreibung

 Menschen, die von Ängsten und Selbstzweifeln geplagt werden, wünschen sich oft, diese negativen Gefühle endlich abstellen zu können, um ein unbeschwertes Leben zu führen. Die sechsundzwanzigjährige Nicole Bornhak hatte selbst einen langen Leidensweg hinter sich, bis sie ihre Gefühle in den Griff bekam, denn Nicole ist Asperger Autistin. In »Willkommen auf der Achterbahn der Gefühle« lässt sie ihre Leserinnen und Leser an ihrem besonderen Weg aus der negativen Gedankenspirale teilhaben und zeigt wie man mehr Selbstwirsamkeit erlangt. 

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Seitenzahl: 250

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Impressum

© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Angela Gsell

Lektorat: Alexandra Bauer (textwerk, München), Karin Leonhart für textwerk, München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

eBook-Herstellung: Viktoriia Kaznovetska

ISBN 978-3-8338-8162-6

1. Auflage 2021

Bildnachweis

Coverabbildung: Renate Bornhak

Fotos: Renate Bornhak

Syndication: www.seasons.agency

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GRÄFE UND UNZER VERLAG Grillparzerstraße 12 81675 München

Wichtiger Hinweis:

Die Informationen in diesem Buch stellen die Erfahrungen und die Meinung der Autorinnen dar. Sie wurden von ihnen nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Weder die Autorinnen noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Eine ganz wichtige Erkenntnis der letzten Jahre ist die, dass ich ein gutes Stück weit selbst dafür verantwortlich bin, ob ich die Hilfe bekomme, die ich brauche. Es gibt eine große übergeordnete Infrastruktur für ein doch ziemlich breites Angebot an Hilfen, und natürlich kann es eine große Herausforderung sein, sich darin zurechtzufinden. Aber vor allem muss man sich in sich selbst zurechtfinden und sich selbst durchschauen und erkennen, an welchem Punkt man jetzt welche Unterstützung gebrauchen könnte. Jeder kennt sich selbst am besten, ich kann nicht von anderen erwarten, dass sie besser über meine Bedürfnisse Bescheid wissen als ich. Ich habe so viel über mich gelernt in den letzten Jahren – auch dank der Hilfe, die ich von außen bekommen habe. Und doch kann ich mich nicht ausruhen auf dem, was ich gelernt habe, denn ich entwickle mich ja ständig weiter. Und ich habe gute und schlechte Tage. Oder Wochen. Oder Monate. Ich muss mich ständig aufs Neue fragen, ob ich die Unterstützung, die ich letztes Mal hatte, auch dieses Mal wieder brauche.

Mein Eindruck ist, dass sich viele von uns sehr, sehr schwer damit tun, andere Menschen um Hilfe zu bitten. Dass wir immer weiter versuchen, allein zurechtzukommen – und uns damit in Wirklichkeit keinen Gefallen tun. Sind wir zu stolz? Haben wir Angst, uns eine Blöße zu geben? Schämen wir uns, nicht alles ganz allein zu schaffen? Oder wissen wir vielleicht gar nicht, wie man um Hilfe bittet? Haben wir es nie gelernt? Oder haben wir es seit »Mama, bindest du mir eine Schleife?« wieder verlernt?

Vorwort

Wenn ich in den letzten Jahren anderen Menschen von meinen Schwierigkeiten erzählte, reagierten diese häufig mit Kommentaren wie »Uff, ja, ich finde das auch superlästig, wenn im Supermarkt umgeräumt wurde.« Oder »Mich nervt das auch, wenn jemand zu spät kommt.«

Ja, genau, das kennt doch irgendwie jeder. Und wenn jemand so etwas zu mir sagt, dann ist das ganz bestimmt »gut gemeint«: Es geht darum, einen gemeinsamen Nenner mit mir zu schaffen. Eine Verbindung. Darum, Verständnis zu zeigen.

Aber ganz ehrlich: Bei solchen Kommentaren fühle ich mich immer total unverstanden. Es kommt mir so vor, als würden andere meine Probleme bagatellisieren oder sie nicht ernst nehmen. Als würde mein Gegenüber meinen, dass ich mir das alles nur einbilde oder einfach nur übertreibe. Die meisten verlieren dabei aus dem Blick, dass das, was sie »lästig« und »nervig« finden, für mich viel weitreichendere Konsequenzen hat als für sie. Denn für mich ist der umgeräumte Supermarkt nicht einfach nur superlästig, sondern ein kolossaler Stresstest, der mich derart unter Druck setzen und schlauchen kann, dass ich entweder den Einkauf abbreche oder hinterher stundenlang ermattet auf dem Sofa liege. Und mich nervt es nicht einfach nur, wenn jemand zu spät kommt, sondern es bringt mich vollkommen aus dem Konzept – mitunter auch so sehr, dass ich die Verabredung überhaupt nicht mehr wahrnehmen kann. Das sind nur zwei kleine Alltagsbeispiele aus einem ganzen Katalog …

Andererseits: Wenn es wirklich so viele Menschen gibt, die ähnliche Situationen wie ich als Herausforderung erleben – nur eben nicht so extrem wie ich –, dann ist das ja vielleicht doch unser gemeinsamer Nenner? Und womöglich wäre es diesen Menschen eine Hilfe, etwas über meinen Umgang mit diesen Herausforderungen zu erfahren? Vielleicht können sie etwas davon auf sich selbst übertragen, da, wo es für sie passt.

Das waren die Überlegungen, die diesem Buch vorausgingen. Deshalb werde ich hier von vielen kleinen und größeren tagtäglichen Stolpersteinen erzählen – und davon, wie ich sie (inzwischen) überwinde. Meistens jedenfalls. Denn die jahrzehntelange Anpassung hat natürlich auch bei mir Spuren hinterlassen, und es wird lang dauern, bis ich sie alle ausgelöscht habe. Aber ich bin schon richtig gut dabei, ich habe bereits große Fortschritte gemacht und bin weiterhin zuversichtlich!

Apropos Asperger: Mir ist bewusst, dass Hans Asperger, nach dem diese Form des Autismus in den 1940ern benannt wurde, in der Zeit des Nationalsozialismus eine umstrittene Rolle gespielt hat. Der Begriff ist aber derzeit in Literatur und Gesellschaft so eingeführt, dass ich mich dennoch dafür entschieden habe, ihn in meinem Buch zu verwenden. Ab 2022 gilt die neue, elfte Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) der WHO, in der nur noch allgemein von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) die Rede sein wird. Wann die ICD-11 in Deutschland eingeführt wird, steht noch nicht fest.

I. Ich &mein ganz normales Leben

Bitte einsteigen!

Hallo Nicole. Ich hoffe, du bist gut nach Hause gekommen.

Ja, danke, bin ich.

Bin ich dir eigentlich irgendwie auf den Schlips getreten?

???

Hast du dich über mich geärgert?

Nein, wieso?

Weil du vorhin im Café dauernd meinem Blick ausgewichen bist. Eigentlich hast du die meiste Zeit aus dem Fenster geschaut.

Das ist bei mir normal, nimm es bitte nicht persönlich.

Hm. Und der ruppige Abschied?

Was meinst du?

Na ja, ich fand, du warst dann ziemlich abrupt einfach weg, ich hatte mich noch gar nicht richtig von dir verabschiedet.

Das ist auch normal bei mir, so bin ich einfach.

Aha.

Ich bin nicht gut darin, Treffen zu beenden.

[Pause]

Okay. Ich dachte nur. Weil als du weggegangen bist, da hast du dir eine Sonnenbrille und fette Kopfhörer aufgesetzt. Das kenne ich nur von Leuten, die sich abschotten wollen, die irgendwie keinen Bock auf die Welt haben oder die sich gerade geärgert haben … darum …

Ich hatte mich nicht geärgert, und es hat nichts damit zu tun, dass ich keinen Bock auf die Welt oder auf dich habe. Ich will mich auch nicht abschotten, aber manchmal muss ich mich abschirmen, weil ich die vielen Reize nur schwer verarbeiten kann.

Welche Reize?

Die ganzen Geräusche um mich herum. Das Licht.

Okay.

Darf ich noch was fragen?

Klar.

Wo musstest du eigentlich so dringend hin?

Nach Hause.

Und wieso? Du kamst mir fast ein bisschen gehetzt vor …

Es fällt mir schwer, mich längere Zeit in der Stadt aufzuhalten, da wirkt so viel auf mich ein. Ich weiß, dass ich das nicht lang aushalte, und darum achte ich sehr genau darauf, rechtzeitig wieder nach Hause zu gehen. Da fühle ich mich sicher.

Hast du denn mal irgendwelche traumatischen Erfahrungen gemacht?

Nein. Ich bin einfach so.

Okay.

Ich bin Asperger-Autistin.

Mit diesem kleinen Chat seid ihr schon mittendrin in meinem Leben, denn er verdeutlicht ganz gut, was meine Diagnose Asperger-Autismus im täglichen Umgang mit Menschen bedeutet: Ich ticke irgendwie anders. Auf den ersten Blick ist mir das nicht anzusehen. Manchen fällt es aber trotzdem auf. Andere fragen nach. Und ich versuche zu antworten, zu erklären. Das ist auch völlig in Ordnung. Aber ganz ehrlich: Manchmal nervt es auch. Schließlich bin ich ja nicht nur Asperger-Autistin, ich bin noch so vieles mehr: Ich bin 27 und vor sieben Jahren von München nach Dänemark ausgewandert. Ich habe in einem fremden Land und in einer fremden Sprache ein Studium absolviert. Ich bin total verliebt und frisch verheiratet mit Flemming. Ich habe über Jahre diverse psychische Probleme gehabt und bin jetzt endlich auf einem guten Weg. Ich blogge, instagramme und facebooke über mein Leben. Wie jeder Mensch habe auch ich viele Facetten. Der Asperger-Autismus ist eine davon, er ist ein durchaus wesentlicher Teil von mir. Aber letztendlich bin ich doch auch einfach nur eine junge Frau, die sich mit genau denselben Herausforderungen konfrontiert sah und sieht wie so viele andere junge Menschen auch. Aufgrund meines Autismus habe ich vielleicht früher als andere lernen müssen, mit gewissen Schwierigkeiten umzugehen, ganz einfach, weil ich viel heftiger auf Probleme reagiere als Nichtautisten und weil diese starken Reaktionen mir nicht guttun. Ich musste mir nach der Diagnose, die ich erst mit 22 bekam, quasi im Schnellverfahren einige Strategien aneignen, um diese Achterbahnfahrt der Gefühle auszuhalten. Und ich bin noch längst nicht damit fertig! Es geht immer weiter: langsame Auffahrten, schnelle Abfahrten, Kurven, Hügel, Tunnel, Buchten, Engpässe, Nebel, Dunkelheit, aufspritzendes Wasser und unterschiedlichste Loopings am laufenden Band – genau wie das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Niemand ist davor gefeit, nach einem Höhenflug auch wieder einen Absturz zu erleben – aber das Wichtige ist ja, dass auch das Umgekehrte gilt: Nach einem Absturz, nach einer Krise geht es irgendwann auch wieder bergauf!

Wir kennen das alle – und wir müssen alle lernen, das auszuhalten und damit umzugehen. Und darum bin ich überzeugt, dass die Strategien, die ich mir in den letzten vier Jahren angeeignet habe, nicht nur für Autisten nützlich sind, sondern dass jeder und jede von ihnen profitieren kann. Je früher man mit diesen Strategien anfängt, desto eher hat man das Gefühl, den Launen des Lebens nicht vollkommen hilflos ausgeliefert zu sein. In einer Achterbahn würde man sich vielleicht eine warme Mütze aufsetzen oder sich bewusst ganz vorn, ganz hinten oder in die Mitte setzen, man würde sich gut festhalten, dafür sorgen, dass eine bestimmte Person neben einem sitzt, und man würde vor Fahrtbeginn sicherstellen, dass alle Taschen geschlossen sowie Schals und Bänder gut verknotet sind … Die Kräfte, die dann während der Fahrt auf einen einwirken, sind immer noch dieselben – aber man übersteht sie vielleicht insgesamt ein bisschen besser. Und so kann man sich auf der Achterbahnfahrt durchs Leben womöglich einiges an Frustration ersparen, wenn man rechtzeitig aufmerksam ist und vorbeugt.

Ich habe mich durch meine späte Asperger-Diagnose schlagartig selbst besser kennengelernt. Seither habe ich – durchaus mit Hilfe von außen – viele Strategien entwickelt, um mit schwierigen Situationen besser umzugehen. Wenn es ganz toll läuft, kann ich sogar eine Krise verhindern, indem ich ein Problem rechtzeitig erkenne und dann auch rechtzeitig handle. Entweder kann ich selbst direkt etwas tun oder jemand anderen um Hilfe bitten. Selbstverständlich können wir nicht alles im Leben verhindern – doch wir können es bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Wir können aktiv zur Bewältigung unserer Schwierigkeiten und Krisen beitragen – wir müssen nicht alles taten- und hilflos ertragen. Eine Reihe von Erfolgserlebnissen, die ich in den letzten Jahren hatte, bestätigen mich darin. Und weil ich weiß, wie wichtig es ist, von solchen Erfolgserlebnissen anderer zu hören und zu lesen, um auch selbst an diese eigene Kraft, an diese Selbstwirksamkeit zu glauben, habe ich dieses Buch geschrieben. Ich hoffe, mit meiner Geschichte anderen zu helfen, sich ebenfalls ganz bewusst besser kennenzulernen und aktiv hilfreiche Strategien zu entwickeln.

Im Zeitraffer: Kindheit und Jugend

Meine Lebensgeschichte fing eigentlich genauso gemächlich an wie die erste Auffahrt bei einer Achterbahn. Aus meiner Sicht verliefen die ersten Jahre völlig normal, wie es wohl bei den meisten der Fall ist.

Ich wurde im August 1994 in Berlin geboren. In meinen ersten zehn Lebensjahren ist meine Familie ziemlich oft innerhalb Deutschlands umgezogen. Meine Eltern trennten sich, als ich noch klein war. Von 2004 bis 2014 wohnte ich mit meiner Mutter und meinem Bruder in der Nähe von München.

Dann kam so was wie die erste Talfahrt, aber die ging nicht rasant vonstatten, sondern eher ruckelnd: Als ich 15 war, bekam ich immer mehr psychische Probleme. Niemand hatte eine Ahnung, woher sie kamen. Mit 17 hatte ich die ersten Termine in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mit 18 fing ich eine Therapie bei einer Kinder- und Jugendtherapeutin an. Ich fehlte immer häufiger in der Schule, aber das Abi mit Schwerpunkt Sprachen habe ich trotz der vielen Fehlzeiten in den letzten beiden Schuljahren mit 2,1 geschafft. Gleich danach, im Juli 2013, machte ich mit einer Freundin einen 14-tägigen Interrail-Trip durch Europa. Kaum wieder zu Hause, stellte mir meine Mutter die Frage, die wohl alle Eltern ihren Kindern zu diesem Zeitpunkt stellen: »Was willst du denn jetzt mit deinem Leben anfangen?« Während andere dieser Frage wohl eher mit einer Portion Gelassenheit, Ironie oder Trotz begegnen, reagierte ich gestresst. Ich hatte gehofft, noch etwas Zeit zum Nachdenken zu haben, schließlich war ich gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen.

Wie so viele andere wollte ich erst mal gern für eine Weile ins Ausland gehen. Bei meinen Recherchen stieß ich recht schnell auf Skandinavien und das dänische »Højskole«-Konzept. Bereits im Januar 2014 saß ich dann im Zug nach Dänemark. Eigentlich plante ich, nur ein halbes Jahr zu bleiben, aber als der Sommer nahte, beschloss ich, doch noch weitere sechs Monate dranzuhängen.

Als schließlich ein ganzes Jahr um war, wollte ich nicht mehr nach Deutschland zurück. Ein halbes Jahr lang jobbte ich, dann begann ich im Sommer 2015, mit knapp 21 Jahren, an der International Business Academy in Kolding »Entrepreneurship and Design Management« zu studieren, Unterrichtssprache war Englisch. Die ganze Zeit über hatte ich psychische Probleme gehabt, inklusive Essstörungen und zwischendurch sogar Suizidgedanken – es war ein ständiges Auf und Ab. Aufgrund eines weiteren heftigen Tiefs brach ich das Studium nach mehr als einem Jahr ab, was mich stark deprimierte und verängstigte. Doch dann bekam ich meine Asperger-Diagnose – das war bizarrerweise ein Höhepunkt –, und von da an wurde vieles besser. Ich suchte mir ein Studienfach, das besser mit meinen Bedürfnissen vereinbar war, nämlich Informatik, das ich inzwischen auch erfolgreich abgeschlossen habe.

Außerdem beschloss ich in den Wochen, in denen sich mein Diagnoseverdacht erhärtete, damit an die Öffentlichkeit zu gehen und die Website »unbemerkt.eu« zu starten. Dort und über die sozialen Medien erzähle ich seit April 2017 von meinen tagtäglichen Herausforderungen.

Und verliebt habe ich mich auch! Im Studium lernte ich Flemming kennen, mit dem ich nach nicht einmal einem Jahr Beziehung zusammenzog und mit dem ich inzwischen sogar glücklich verheiratet bin.

Ich finde, das sind ganz normale Meilensteine für die ersten 25 Lebensjahre: Kindergarten, Schule, Pubertät, Abnabeln, Ausbildung, sich orientieren, neue Verbindungen knüpfen, Berufstätigkeit, seinen Platz im Leben finden.

Und ja, ich hatte eine zusätzliche Herausforderung in Form des Asperger-Autismus im Gepäck. Aber solche zusätzlichen Päckchen schultern wohl viele Menschen. Wer kann schon ernsthaft von sich behaupten, vollkommen problemlos durch die ersten 25 Jahre gekommen zu sein?

Mir ist es jedenfalls wichtig, dass ich nicht ausschließlich als Autistin wahrgenommen werde. Denn: Die Diagnose ist ein Teil von mir – aber ich bin nicht nur meine Diagnose.

Kindergarten und Schule: vom »kleinen Zicklein« über erste ungewollte Lügen bis zur Selbstverletzung

Ein Ereignis aus der frühen Kindheit ist mir heute noch deutlich in Erinnerung: Ich kam nach einem weiteren Umzug in einen neuen Kindergarten. Laut meiner Mutter dauerte die Eingewöhnung ziemlich lang, sie sagt, ich hätte anfangs immer sehr viel geweint. Aufgrund der Arbeitszeiten meiner Mutter musste ich im Kindergarten zu Mittag essen. Einmal gab es Schweinebraten mit Knödeln, zum Nachtisch Schokopudding. Braten und Knödel fand ich grauenvoll, Schokopudding habe ich geliebt. Also habe ich im Essen herumgestochert und es kaum angerührt. Um Nachtisch zu bekommen, musste ich aber aufessen. So lange durfte ich den Tisch nicht verlassen. Irgendwann kam ein Mädchen dazu und fragte die Erzieherinnen, ob ich nicht spielen dürfte. Das durfte ich nicht, weil ich nicht aufgegessen hatte. Und Schokopudding bekam ich selbstverständlich auch nicht. Zum Glück holte meine Mutter mich dann bald ab und »erlöste« mich. Ich weinte und war kreuzunglücklich. Danach wollte ich überhaupt nicht mehr in den Kindergarten.

Meine Mutter hat damals eine gute Lösung gefunden: Sie meldete mich vom Mittagessen im Kindergarten ab und gab mir fortan eine Brotzeit mit. Das war prima, so wusste ich, was ich mittags essen würde und dass ich alles mochte.

Grundsätzlich war ich ein introvertiertes und schüchtern wirkendes Kind – aber zum einen ist das bei Mädchen ja oft nichts Ungewöhnliches (ich komme später darauf zurück), und zum andern war meine Mutter als Kind auch schüchtern. Darum hinterfragte meine Mutter mein Verhalten nicht weiter.

Im Großen und Ganzen hatte ich jedoch, in meinen Augen, eine völlig normale Kindheit und Jugend. Gut, wir sind anfangs relativ oft umgezogen, und dass meine Eltern sich trennten, als ich noch klein war, war nicht schön, aber letztlich auch nicht besonders außergewöhnlich. Man könnte da jetzt instabile Familienverhältnisse wittern. Sowohl wegen der Umzüge als auch wegen der Umbrüche in der Familienkonstellation. Aber aus meiner Sicht hatte ich eine schöne Kindheit, mit fürsorglichen Eltern, die immer ein offenes Ohr für mich hatten. Und auch mit den jeweiligen neuen Lebensgefährten meiner Eltern bin ich gut zurechtgekommen. Über viele Jahre verbrachte ich jedes zweite Wochenende bei meinem Vater. Mit seiner Partnerin und deren Tochter habe ich damals mit großer Begeisterung viel gebastelt.

Laut meiner Mutter war ich ein sehr sensibles Kind – auf gute, aber auch auf weniger gute Weise. Weniger gut war, dass ich immer alles auf mich bezog, dass ich sehr viel sofort als negative Kritik an mir persönlich auffasste und recht schnell eingeschnappt war. Da galt ich dann als »unser kleines Zicklein«. Aber ich war auch für andere sensibel: Ich hatte sehr feine Antennen für meine Mitmenschen und merkte schnell, wenn es jemandem nicht gut ging.

Außerdem war ich stets ehrlich, aufrichtig und erstaunlich ordentlich. Und ich habe mich immer an sämtliche Regeln gehalten. Wenn ich um 17 Uhr daheim sein sollte, war ich Punkt 17 Uhr daheim. Wenn meine Mutter gesagt hat, ich soll aufräumen, habe ich aufgeräumt. Wenn ich ins Bett sollte, bin ich ins Bett. Was das anging, war ich eigentlich ein »Traumkind«, denn ich habe nie Stress gemacht.

Etwas schwieriger war es mit der Freizeitgestaltung. Meine Mutter wollte natürlich gern, dass ich nach der Schule etwas Sinnvolles machte. Ich war acht oder neun, als sie mich zum Hip-Hop-Tanzen anmeldete. Als ich da nicht mehr hinging, stand mit zehn Basketball auf dem Programm. Als ich das nicht mehr wollte, versuchte meine Mutter, mir Jazztanz und Geige schmackhaft zu machen. Erst mit 14 fand ich endlich etwas, bei dem ich mich wohlfühlte und das ich dann machte, bis ich 18 war: Turnen. Da waren ein paar meiner Freundinnen dabei, die Abläufe waren klar, und es wurden keine großen Leistungserwartungen an mich gestellt.

In der Schule war ich unauffällig, fleißig, hatte gute Noten, und daheim machte ich immer gleich meine Hausaufgaben. Ich besaß eine Jahreskarte fürs Freibad, die ich auch häufig nutzte. Und natürlich traf ich mich mit meinen Freundinnen. Wobei mir da dann, ich war ungefähr zwölf, doch mal etwas Ungewöhnliches an mir aufgefallen ist: Plötzlich habe ich eine Freundin, die sich mit mir verabreden wollte, angelogen und gesagt, ich hätte keine Zeit. Ich hatte sehr wohl Zeit, wusste aber einfach nicht, wie ich das Treffen mit ihr beenden sollte, wenn ich wieder allein sein wollte oder einfach keine Lust mehr hatte, bei ihr zu sein. Ich wollte sie nicht verletzen, aber ich wollte auch nicht lügen – und so log ich bereits vorher, damit ich gar nicht erst in das Dilemma geraten konnte.

All diese Episoden und Beobachtungen ergeben jetzt, mit dem heutigen Wissen, einen ganz neuen Sinn. Aber damals war das alles nicht so deutlich. Ich hatte ein paar Spleens, wie jedes Kind, aber ich hatte auch meine guten Seiten, und unterm Strich fand meine Mutter mich jedenfalls »pflegeleicht«. Ganz im Gegensatz zu meinem Bruder, der schon mal über die Stränge schlug.

Dass ich so pflegeleicht wirkte, lag, wenn ich jetzt zurückblicke, vielleicht auch daran, dass meine Mutter unseren Alltag sehr gut durchstrukturiert hatte – und genau das meinen »besonderen Bedürfnissen«, von denen damals noch niemand etwas wusste, entgegenkam. Und solange um mich herum alles auf meine Bedürfnisse zugeschnitten war, kam es natürlich nicht zu Reibereien.

Zu Hause lief also durch klare Abläufe und Absprachen für mich immer alles rund. Und wenn ich wieder mal in eine neue Schule kam, wurde ich in der Regel neben ein freundliches Mädchen gesetzt, das mir am Anfang half, mich zurechtzufinden. In der vierten Klasse gab es sogar offizielle »Buddys«, die den »Neuen« als Starthilfe zugeteilt wurden – das waren in der Regel Mädchen. Aber auch die anderen Kinder in der Klasse begegneten mir stets mit freundlicher Neugier und umringten mich anfangs geradezu. Dadurch habe ich mich immer gut aufgehoben gefühlt. Weil ich die Neue war, wurde mir immer alles genau erklärt. Das hat mir Sicherheit gegeben. Als ich zehn war, sind wir dann nicht mehr umgezogen. Da konnte ich wunderbare enge Freundschaften schließen, und ich fühlte mich wohl in der Schule und mit dem festen Stundenplan, der meinen Tag regelte. Selbst wenn es mal zu Abweichungen kam – eine Stunde ausfiel oder ein Vertretungslehrer übernahm –, konnte mir das nichts anhaben, weil ich ja meine fixen Bezugspersonen, meine Freundinnen, um mich hatte. Sie waren mir eine große, wichtige Stütze – wie sehr, wurde mir erst klar, als ich sie nach dem Wechsel in die Oberstufe nicht mehr täglich um mich hatte … Zumal es leider auch zutraf, dass ich in meiner gesamten Schullaufbahn und vor allem im Gymnasium keinen einzigen Lehrer hatte, der mich positiv geprägt hätte. Ich war ja immer so zurückhaltend, dass mich die Lehrer einfach ignoriert und überwiegend in Ruhe gelassen haben. In der Grundschule war das ja noch in Ordnung, aber im Gymnasium wurden meine Probleme tatsächlich einfach ignoriert. Den Lehrern schien es immer nur um Noten zu gehen, für das Wohlergehen der Schüler interessierten sie sich nicht, soweit ich das sehen konnte.

Tatsächlich hat mir damals durchaus ein Erwachsener zum Reden gefehlt. Jemand, der nicht zur Familie gehörte. Aber ich muss zugeben, ich bin solchen Erwachsenen auch selbst aus dem Weg gegangen.

Als dann der Endspurt fürs Abitur anbrach und der Klassenverband aufgelöst wurde, waren meine Stützen, meine Freundinnen, auf einmal weg. Plötzlich saß ich in jeder Stunde mit anderen Mitschülern zusammen. Das hat mich zutiefst verunsichert, ja geradezu verstört. Ich denke, in der Oberstufe stecken so ziemlich alle noch immer tief in der Phase, in der sie grundsätzlich sehr unsicher sind und viel darüber nachdenken, was andere von ihnen halten. Mir kam es immer so vor, als wären meine Freundinnen die einzige Gruppe, die keinerlei Vorurteile gegenüber irgendjemandem hatte und jeden genau so annahm, wie er war. Mit den anderen dagegen – mit den »Coolen« – habe ich mich stets unsicher gefühlt. Da habe ich nicht dazugepasst. Ich hatte ständig diese leise Grundangst, was sie wohl über mich denken könnten. Nicht, dass ich tatsächlich wie eine Außenseiterin behandelt worden wäre – aber gefühlt habe ich mich schon manchmal so. Ich verstand die Regeln einfach nicht, nach denen das Miteinander funktionierte.