Windeln, Wahnsinn, Wochenbett - Juliane Lauterbach - E-Book
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Windeln, Wahnsinn, Wochenbett E-Book

Juliane Lauterbach

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Beschreibung

Juliane Lauterbach, Journalistin und selbst Mutter, befasst sich in Windeln, Wahnsinn, Wochenbett kurzweilig und mit sehr ansprechender Situationskomik mit Müttern in ihrem ersten Jahr mit Kind. In 12 Geschichten aus dem wahren Leben – für jeden Monat des ersten Jahres eine – zeigt sie, wie verrückt, verwirrend und schwer das erste Jahr mit Baby manchmal sein kann. Dabei stellt das Buch einen dringend benötigten Gegenpol zu den zahlreichen Schönfärbe-Ratgebern dar, die den Markt bevölkern. Indem die Autorin humorvoll aufzeigt, mit welchen alltäglichen Problemen und teils skurrilen Situationen die Frauen konfrontiert sind, verschafft sie gestressten Müttern Erleichterung und relativiert die hohen Ansprüche, die diese oft an sich stellen. Die Wahrheit über die vielfältigen Sorgen, Probleme und Stolpersteine des neuen Alltags mit Baby wird ehrlich ausgesprochen und damit der Druck, den die Gesellschaft mit Aussagen à la: "das ist doch die glücklichste Zeit" ausübt, erheblich gemildert. Eine hilfreiche Vorbereitung in der Schwangerschaft und ganz sicher ein Anker in den ersten verrückten Monaten mit dem ersten Säugling.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Januar. Päckchen packen

Februar. Wandertage

März. Musikgarten

April. Große Freiheit

Mai. Das erste Mal

Juni. Patatas Bravas

Juli. Hören und Sagen

August. Bella Fontanella

September. Die Stufen

Oktober. Die Sirene

November. Struktur

Dezember. Aramsamsam

 

Experten-Tipps zum Stillen, zur Paarbeziehung als Eltern und zur Baby-Gesundheit

Weiterführende Adressen

Vorwort

Liebe Leserin, 

zuallererst: herzlichen Glückwunsch! Denn wenn du dieses Buch in den Händen hältst, dann bist du wahrscheinlich schwanger oder dein Baby ist vor Kurzem auf die Welt gekommen.

Vor dir liegt nun eine ganz besondere Zeit und das vielleicht aufregendste Jahr deines Lebens. Auch bei mir ist das noch gar nicht so lange her (obwohl es stimmt: Die Zeit geht so schnell vorbei). Ich habe die ersten zwölf Monate mit meinem Baby als sehr intensiv empfunden. Nie hat sich mein Leben so radikal verändert wie in dieser Phase, in der Tränen der unsagbar großen Freude und der ebenso großen Erschöpfung so nah beieinanderlagen.

Aus dieser ganz besonderen Lebensphase möchte ich in diesem Buch erzählen. Und zwar in zwölf Geschichten – eine für jeden Monat des neuen Lebensjahres als Mama. Ob sich die Geschichten alle genau so zugetragen haben? Nein, das haben sie nicht. Also alles frei erfunden? Auch das wäre falsch. Denn: Die Geschichten haben einen wahren Kern, haben reale Momente und Erlebnisse als Grundlage.

Viel wichtiger ist aus meiner Sicht aber: Alle meine Protagonistinnen sind Heldinnen, auch wenn sie Ängste haben, helikoptern, aufgeregt und verunsichert sind, über das Ziel hinausschießen, manchmal gegen Wände laufen, sie sich verzetteln und ihre Rolle in diesem verrückten neuen Leben manchmal noch finden müssen. Gemeinsam haben sie, dass sie alle ihr Bestes geben. Und ich finde, dass das sehr viel ist!

Juliane Lauterbach

Januar. Päckchen packen

Sie hatte sich ja so einiges vorgestellt. Aber dass man am Ende an so einer Art Päckchenstation landen würde, das hatte sie irgendwie nicht gedacht. Obwohl das mit dem „am Ende“ natürlich Quatsch ist. Rabea ist schließlich erst am Anfang. Ganz am Anfang.

Und so muss sie sich gerade sehr konzentrieren, um sich das alles zu merken. Die Hebamme neben ihr beginnt jetzt jedenfalls damit, eine Stoffwindel um Lenny zu wickeln. Und weil das offenbar doch komplizierter ist, als Päckchen zu packen, hatte die Hebamme ihr empfohlen, das Ganze mit derVideokamera des Handys festzuhalten. Rabea drückt auf „aufnehmen“ und verfolgt auf dem Display, wie die Hebamme den rechten Zipfel der Stoffwindel stramm zieht und über Lennys Körper spannt. Pucken heißt das, wie sie gerade gelernt hat.

Das Prinzip: Man wickelt das Kind stramm in die Stoffwindel ein, erzeugt so Enge und Begrenztheit und damit ein Gefühl wie im Mutterleib. Das soll Babys ruhiger machen, sagt man jedenfalls. Und weil Rabea hofft, dass das stimmt, steht sie jetzt hier im Hebammenzimmer der Neugeborenenstation, kneift die Augen zusammen und versucht, sich die Bewegungen einzuprägen. Für später, wenn sie wieder zu Hause ist. Falsch. Wenn sie wieder zu Hause sind.

„Sie müssen bei so einem wilden Kind, das nicht zur Ruhe kommt, wirklich immer aufpassen. Das fällt ihnen sonst vom Wickeltisch runter“, sagt die Hebamme, während Lenny Stück für Stück in der Stoffwindel verschwindet und bald nur noch sein brüllender, hochroter Kopf oben rausguckt.

Ein wildes Kind, das nicht zur Ruhe kommt. Ist Lenny das wirklich? Kann man das jetzt überhaupt schon sagen? Er ist doch noch keine drei Tage alt. Aber immer wenn die Hebamme oben mit dem Einwickeln fertig ist, hat sich Lenny unten schon wieder freigestrampelt.

Rabea hat das Gefühl, dass irgendwas nicht richtig rundläuft. Das fing schon bei der Geburt an. Auch die hatte sie sich anders vorgestellt. Bei der Geburtsanmeldung im Krankenhaus vor einigen Wochen sollte sie jedenfalls sagen, was sie sich für eine Geburt wünscht. Also mit Schmerzmitteln oder ohne? Mit PDA? Darf Lachgas eingesetzt werden? Gibt es eine Beleghebamme, die dazukommt? Oder, besonders schön: Ist die „Turnhalle“ gewünscht?

Turnhalle? Da musste Rabea dann doch nachfragen. Sie erfuhr, dass das der Spezial-Kreißsaal mit XXL-Bett ist, über dem eine hübsche Auswahl Taue und Seile gespannt sind. So seien alle Gebärpositionen möglich, wirklich alle.

Wenn sie dann am Tag X unter Schmerzen in den Kreißsaal käme, wäre es jedenfalls gut, wenn alles hinterlegt sei, damit sich alle gut und schnell auf die Situation einstellen könnten. Und natürlich hatte sich Rabea schon ein paar Gedanken gemacht und ein wenig gelesen. Aber wie bei absolut jeder Frage in der Schwangerschaft schien auch die Art der Geburt eine Grundsatzfrage zu sein oder vielmehr eine Glaubensfrage.

Also entweder ist man gegen die Einnahme von Schmerzmitteln („Kann ja nicht sein, dass man die ganze Schwangerschaft über keine Kopfschmerztablette nehmen darf und in den letzten zwei Stunden ist es dann egal?!“) oder man sagt von Anfang an, dass man hier echt niemandem was beweisen muss und dass das Kind zum Zeitpunkt der Geburt schon so robust ist, dass es ungefährlich ist und man bitte alles bekommen möge, was nicht ausdrücklich verboten ist, um die Schmerzen zu lindern.

Rabea fand es schwer, das alles für sich zu beantworten, was vor allen Dingen daran lag, dass es in der ganzen Rechnung eine große Unbekannte gab: den Grad der Schmerzen. Ausschließen konnte sie im Grunde nur die „Turnhalle“, weil sie nicht wusste, warum sie gerade unter der Geburt mit dem Turnen anfangen sollte, was sie immer gehasst hatte. Sie versuchte also, logisch vorzugehen und stellte sich sehr starke Menstruationsschmerzen plus Blasenentzündung vor und überlegte, wonach ihr dann wäre, und dann fragte sie die Ärztin, die das Vorgespräch führte, was denn von einer Wassergeburt zu halten sei.

„Bravo“, sagte die Ärztin, „das ist eine tolle Sache, und drei unserer Kreißsäle haben spezielle Geburtswannen, die Sie sehr gerne nutzen können.“ Das warme Wasser würde die Schmerzen nämlich erträglicher machen, die Geburten würden in der Regel schneller und meist ohne irgendwelche fiesen Schnitte und Risse verlaufen. „Klingt super“, sagte Rabea, „aber wieso genau machen das dann nicht alle?“

„Es gibt auch Nachteile bei der Wassergeburt“, sagte die Ärztin dann. „Zum Beispiel ist dann eine PDA nicht möglich, also dieser Schmerzkatheter über das Rückenmark.“ Allein die Vorstellung, dass Rabea jemand eine ziemlich lange und dicke Nadel ins Rückenmark stechen würde, bewirkte, dass ihr Bauch steinhart wurde. „Dann nehm ich doch die Badewanne!“, sagte sie. „Sehr gut“, meinte die Ärztin. „Wir freuen uns immer, wenn Patientinnen sich für die Wassergeburt entscheiden.“ Als Rabea das Krankenhaus verließ, fühlte sie sich, als hätte sie gut beraten eine richtige Kaufentscheidung getroffen, und sah vor ihrem inneren Auge schon, wie ihr Sohn ihr mit einem leichten Lächeln im warmen Wasser entgegentauchen würde.

Als sie rund sechs Wochen später wieder ins Krankenhaus kam, sah sie das etwas anders. Rabea war sofort nach dem Blasensprung mit ihrem Freund Tobi ins Auto gestiegen. Die 20-minütige Fahrt ins Krankenhaus war ihr vorgekommen wie eine nicht enden wollende Irrfahrt. Immer wenn die Wehen kamen, hatte sie das Gefühl zu zerspringen, und das Auto fühlte sich an wie ein Korsett, zu klein und zu eng, um die Schmerzen auszuhalten. Jede rote Ampel und jeder noch so gemütliche und korrekte Fahrradfahrer schien ihr ein Hindernis, das man einfach umfahren sollte.

Zum Glück fanden sie direkt vor dem Krankenhauseingang einen Parkplatz und warteten im Auto erst mal das Ende der nächsten Wehe ab. Dann hakte Tobi sie unter und führte sie in Richtung Kreißsaal. Immerhin hatte er sich den Weg gemerkt. Rabea sah nämlich nichts mehr, konnte nicht mehr denken, geschweige denn, sich auf den Krankenhausfluren orientieren. Sie drückte an die Klingel an der Kreißsaaltür und eine Hebamme ließ sie rein. Name? Alle Unterlagen da? „Rabea Bauer“, keuchte sie, „liegt alles vor.“ „Ach, Frau Bauer, dann sind Sie das mit der Wassergeburt?“, strahlte sie die Hebamme an, als wäre sie die 100 000. Besucherin und würde gleich als Preis in ein Sprudelbad gelassen werden.

In dem Moment durchfuhr Rabea eine Wehe einer bisher ungeahnten Intensität. „Wassergeburt?!“, schrie sie. „Was auch immer da steht. Ich bin nicht die mit der Wassergeburt. Ich bin die mit der PDA.“ Und so war Lenny ihr dann doch nicht im warmen Wasser entgegengetaucht. Und alles andere war auch exakt so, wie sie es nicht hatte haben wollen, mit Saugglocke und allem Drum und Dran.

Und deshalb hat Lenny nun auch diesen Saugglockenkopf, der so aussieht, als würde ihm ein zweiter Kopf auf seinem Kopf wachsen. Die Krankenhausfotografin war jedenfalls gar nicht erst zu ihr ans Bett gekommen, um ihr das erste Babyfoto-Shooting anzubieten.

Dieser ganze Fragequatsch war einfach verdammt sinnlos, findet Rabea im Nachhinein. Es ist, als ob man jemanden, der noch nie in einem Flugzeug geflogen ist, fragen würde, ob er Beruhigungstabletten brauche, eine Spucktüte oder einfach nur eine Nackenrolle.

Sollte sie sie jemals ein zweites Kind bekommen, würde sie sich jedenfalls irgendeine Geburtsideologie zulegen, die das Potenzial hat, stärker zu sein als der Schmerz. So viel stand mal fest. Hypnobirthing vielleicht, das ist soweit sie das verstanden hatte, eine Methode, mit der man sich selbst unter der Geburt durch Konzentrationsübungen und Atmung in einen tranceähnlichen Zustand versetzt. Eine Bekannte hatte ihr neulich von einer Bekannten erzählt, die eine Bekannte hatte, die das gemacht hat. Bei der habe das super geklappt. Sie wäre in einem Zustand völligen Friedens mit sich und der Welt gewesen und gleichzeitig hoch konzentriert auf ihre Atmung. Es habe bisweilen sogar „Spaß gemacht“, das Kind „auf seinem Weg auf die Welt zu begleiten“. Ja, das soll sie wirklich so gesagt haben.

Rabea würde definitiv noch eine Weile brauchen, bis sie Sätze, die die Wörter Spaß UND Geburt beinhalten, ertragen könnte. Bei längerem Darübernachdenken hält sie es im Grunde für wahrscheinlicher, dass das Bundesfamilienministerium Frauen durchs Land schickt, um solche Propagandageschichten zu verbreiten und dadurch die Geburtenrate zu erhöhen, als dass die Sache mit dem Spaß und der Geburt wirklich wahr sein könnte.

„Frau Bauer, sind Sie noch bei uns?“ Rabea hatte nicht bemerkt, dass sie offenbar eine ganze Weile schon ihre Fußnägel und nicht Lenny gefilmt hat. Schnell richtet sie das Objektiv wieder auf den Wickeltisch. Aber allem Anschein nach hat sie keine entscheidende Sequenz für ihr „YouTube-Tutorial: Pucken Schritt für Schritt“ verpasst. Statt eines zufrieden verpackten Babys sieht sie auf dem Display, wie sich die Hebamme ein paar Schweißperlen von der Stirn wischt. „Du bist aber ein kleiner Wilder“, sagt sie, atmet schwer aus und fängt noch mal von vorne an.

Rabea steht einfach da und würde gerne etwas dazu sagen, etwas Entschuldigendes oder Hilfreiches, aber sie weiß einfach nicht, was. Sie fühlt sich in diesem Moment wie eine Säule mit einem Fehler in der Statik. Sie wankt leicht und schaut an sich herunter. Die Satinhose und das Stilltop hat sie sich kurz vor der Geburt gekauft, weil sie sich schnell wieder schön fühlen wollte. Und um ein Zeichen zu setzen: Ich bin keine Mama, die sich gehen lässt. Ich bin eine Frau, die auf sich achtet, auch wenn ich jetzt ein Kind habe.

Und so war Rabea dann losgezogen und hatte diese Hose gekauft für 80 Euro und das Top mit Spitze für 50 Euro, und weil sie nicht wusste, wann sie wieder in die Innenstadt kommen würde, hatte sie sich auch noch rasch ihre Fußnägel machen lassen in einem dieser Pedikürestudios, deren Existenzberechtigung ihr erst in der Spätschwangerschaft so richtig klar geworden war. Dann, als ihre eigenen Füße längst in unerreichbare Ferne gerückt waren. Also nahm sie auf einem Pedikürestuhl Platz und ließ sich die Fußnägel erst schneiden und feilen und dann mit „Classic clear Strawberry“ bepinseln.

Kaum, dass der Lack trocken war, hatten die Wehen eingesetzt. Und jetzt steht sie da, in ihrem 130-Euro-Postgeburtslook im Hebammenzimmer und kommt sich vor, als stehe sie in einem bodenlangen Abendkleid auf einer Baustelle.

Bevor sie Mutter war, also noch gerade eben, hatte sie gedacht, Babys seien einfach so, wie Babys halt so sind; ziemlich verpennt, ziemlich schrumpelig, und vor allem irgendwie unbeschrieben. Ein Vakuum, in das man bloß ganz viel Liebe pumpen muss und dann würde der Rest schon irgendwie funktionieren. Aber das mit Lenny, das klingt gerade nicht nach Vakuum. Sondern nach Problem.

Besonders für ihre pedikürten Fußnägel schämt sie sich jetzt. Was soll man denn bloß mit solchen Nägeln, wenn dein Kind immer schreit, denkt sie. Die andere Mutter, mit der sie sich das Zimmer teilt, trägt eine ausgebeulte Trainingshose. Und pedikürte Fußnägel hat sie auch nicht.

Die würde bei ihr sowieso niemand sehen, denn ihre Zimmergenossin liegt eigentlich immerzu im Bett neben ihrem schlafenden Baby und ruht sich aus. Mit ihrem Yin-Yang-Anhänger und ihrem milden Blick. Genau so einen Yin-Yang-Anhänger hat sie neulich noch gesehen bei irgendjemandem und weiß noch ganz genau, wie erstaunt sie war, dass es dieses Accessoire ganz offenbar noch irgendwo zu kaufen gibt.

Die Yin-Yang-Frau liegt jedenfalls immer in ihrem Bett, als wäre sie zum Spaß hier, wie zur Ayurveda-Kur in Indien oder als ob gleich die Chinamassage-Frau für sie reinkäme. Oder hat sie es mit dem Hypnobirthing vielleicht einfach etwas übertrieben und ist aus der Hypnose noch nicht wieder aufgewacht?

Rabea hat jedenfalls das Gefühl, dass sie im Gegensatz zu ihr irgendwie ständig irgendwas zu erledigen hat. Seitdem Lenny da ist, ist sie jedenfalls immerzu auf den Beinen, um irgendein Problem zu lösen. Jetzt zum Beispiel würde sie am liebsten das Problem mit diesem peinlichen Strawberry-Lack lösen und die Hebammen fragen, ob sie vielleicht auch Notfall-Nagellackentferner auf der Station haben.

Die Hebamme, die seit einer halben Stunde versucht, aus Lenny ein Päckchen zu machen, sieht mittlerweile irgendwie abgekämpft aus. „Also Frau Bauer, das wird hier nichts“, sagt sie und legt die Stoffwindel beiseite. „Eigentlich sollte das Kind jetzt so eingepackt sein“, sagt sie und zeigt auf ein kleines Bild, das über dem Wickeltisch hängt. Ein Baby mit geschlossenen Augen und einem leichten Lächeln, zu einem hübschen Päckchen verpackt. Schleife drum und fertig.

„Wir versuchen das morgen noch mal“, sagt sie, und Rabea ist sich nicht ganz sicher, ob das nach einem freundlichen Angebot oder einer Drohung klingt. Sie müsse sich aber keine Sorgen machen, sagt die Hebamme. „Nicht alle Kinder mögen das Pucken. Ihr Lenny braucht jetzt vor allen Dingen Sie und ganz viel Wärme und Ruhe.“

Rabea nimmt ihren strampelnden Lenny hoch. Er schreit wieder. Oder immer noch. Rabea lächelt die Hebamme verunsichert an und legt ihren Sohn in ihre Armbeuge. Und dann bloß schnell raus aus diesem Hebammenzimmer, raus auf den Flur, Richtung Teeküche. Sie setzt bewusst einen Schritt vor den anderen. Lenny brüllt. Auf diesen paar Metern bis zur Teeküche der Entbindungsstation lernt Rabea das, was sie in den nächsten Monaten noch oft machen wird – durch Menschen hindurchzuschauen. Rabea öffnet die Tür der Teeküche und ist froh, dass keine andere Mutter da ist. Sie setzt sich und öffnet ihr Stilltop, als hätte sie im Leben nie etwas anderes gemacht, und dockt Lenny an. An die Milchbar, so sagen die meisten Mütter hier. Milchbar. Ist das die Art Humor, die sie noch lernen muss?

Irgendwann wechselt Rabea die Brust, und als auch auf der linken Seite nichts mehr geht, klippt sie ihr 50-Euro-Top zu und nimmt Lenny wieder auf den Arm. Er beginnt wieder zu weinen. Ganz ohne Tränen, aber mit einem Gesicht, so hilfesuchend und verzweifelt, dass sie nun auch weinen muss. So kann sie auf keinen Fall zurück auf ihr Zimmer. Sie will nicht, dass die Yin-Yang sie so sieht. Und sie will auch das Yin-Yang-Baby nicht sehen, das so normal verpennt ist. Und schrumpelig. Und so lässt sie das Abendessen verstreichen und holt noch einmal die rechte Brust heraus.

Es muss einige Zeit vergangen sein, als Rabea aus ihrem Dämmerzustand von einem lähmenden Schmerz im rechten Arm aufwacht. Sie sitzt immer noch in der Teeküche. Ihre Tränen kleben trocken auf der Wange. Lenny ist beim Trinken eingeschlafen. Jetzt nur nicht bewegen, sonst wacht er wieder auf.

Ach was, denkt sie dann: Sie braucht den Schlaf ja auch. In Millimeterarbeit hievt sie sich aus dem Stuhl hinauf in den Stand. Rabea hält den Atem an. Immer noch kein Weinen. Es ist kurz vor Mitternacht. Jetzt, wo es dunkel ist und ihr Baby ruhig, traut sie sich in ihr Zimmer zurück. Wieder nur einen vorsichtigen Schritt vor den anderen, immer schön darauf bedacht, den Armwinkel nicht zu verändern.

Eierlaufen konnte ich schon früher sehr gut, denkt sie fast ein bisschen stolz, als es ihr gelingt, ohne sichtbare Lageveränderung ihres Babys die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen. Sie tapst hinein, Schritt für Schritt zu ihrem Bett am Fenster. Vom Nebenbett hört sie das andere Neugeborene atmen, seine Mutter schnarcht, leise und erschöpft. Rabea setzt sich auf die Bettkante, dreht sich und lässt sich langsam nach hinten gleiten. Sie kommt auf dem Rücken zum Liegen. Lennys Lage ist weiterhin unverändert in ihrer Armbeuge. Das Kopfteil des Bettes ist noch auf Schräglage gestellt, aber sie ist zu müde, um sich zu erinnern, wie man das ändert. Durch die Fenster kann sie nun den Vollmond sehen. Und als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, reicht das Mondlicht, um das Gesicht von Lenny sehen zu können. Er atmet so ruhig und sein kleiner Körper ist so schwach und krumm, dass ihr jetzt alles leidtut, ihre ganze eigene Hilflosigkeit.

Am nächsten Morgen liegen Rabea und Lenny noch genauso da, wie sie eingeschlafen waren. Sie rückt ihren rechten Arm etwas zurecht und genießt das Kribbeln, als mit dem einströmenden Blut das Gefühl zurückkehrt. Von der Nacht hat sie nicht viel mitbekommen. Nur ab und zu hatte sich im Nebenbett etwas gerührt. Das Yin-Yang-Baby war wohl aufgewacht und Hypno-Mama war dann mit ihrem Nachwuchs raus. Wahrscheinlich in diesen Stillraum. Sehr rücksichtsvoll, dachte Rabea, dass sie ihr etwas Ruhe gönnte. Auch, wenn Rabea das nur im Halbschlaf mitbekommen hatte, konnte sie sich ein kleines, gemeines Lächeln nicht verkneifen. Andere Babys quengeln also auch, na bitte, und ihr eigenes schläft immerhin schon durch. Mit dem wohligen Gefühl, dass sich am Ende doch irgendwie alles zurechtruckelt, war sie jedenfalls immer wieder eingeschlafen.

Und deshalb fühlt sie sich tatsächlich nun einigermaßen erholt. Lenny schlummert immer noch. Sie rechnet kurz nach. Sieben Stunden, dann lächelt sie wieder und dann noch mal, als sie ihre pinken Fußnägel unter der Decke hervorlugen sieht. Bringen die Hebammen eigentlich auch Kaffee? Oder gar einen schönen Latte macchiato? Oder wo bekommt man den her? Sie strotzt plötzlich vor Kraft und freut sich, als die Tür aufgeht. Vielleicht ihr Mann Tobi? Sie hat ganz vergessen, aufs Handy zu schauen, und hofft, dass er es ist.

Er würde sich sicher über den Erfolg der Nacht freuen. Und Kaffee bringen könnte er ihr auch. Aber es ist nicht Tobi, sondern diese Hebamme, Martha oder Margit oder wie die heißt.

Aber Martha oder Margit schaut nicht freundlich. Und sie steuert leider geradewegs auf sie zu. Rabea blickt auf Lenny, der sich gerade aus ihrem Arm zu schälen versucht.

Oh mein Gott, ich bin mit meinem Baby auf dem Arm eingeschlafen, denkt Rabea. Das ist bestimmt nicht erlaubt, weil er hätte runterfallen können. Das haben sie einem bestimmt irgendwann gesagt, und sicher hängt neben dem Bett sogar ein Schild mit einem durchgestrichenen Baby drauf oder so.

„Ich bin einfach eingeschlafen, aber ich hatte ihn immer fest im Arm“, sagt Rabea vorauseilend. Die Hebamme schaut irritiert. „Frau Bauer, wo waren Sie denn die ganze Nacht?“ Rabea versteht die Frage nicht. Das hatte sie doch gerade gesagt. „Also in der Disko jedenfalls nicht“, sagt Rabea und bereut den Satz sofort. „Wann haben Sie Ihr Kind zuletzt gestillt? Die Nachtschwestern sagen, Sie hätten sich kein einziges Mal gemeldet?“

Das war gestern Abend in der Teeküche, denkt Rabea. „Ja, das muss so um 23 Uhr rum gewesen sein, aber seitdem hat er prima geschlafen.“ Eigentlich würde Rabea gerne noch davon erzählen, dass auch sie fabelhaft geschlafen hat, aber sie wird das Gefühl nicht los, dass die Hebamme das nicht hören möchte. „Sie können doch nicht Ihr Kind sieben Stunden lang nicht stillen“, sagt Martha oder Margit und klingt dabei so streng, als wäre Rabea mit Lenny ohne auf den Verkehr zu achten über eine sechsspurige Straße gelaufen. „Sonst kommt doch der Milchfluss nicht in Gang, Frau Bauer!“ Die Hebamme reißt die Augen auf und auch Yin-Yang blickt wieder so wissend rüber.

In was für einem Kurs waren die eigentlich alle? Was habe ich an „Stillen nach Bedarf“ nicht verstanden? Und wieso müssen die mich jetzt so angucken?

Der einzige Erfolg, den Rabea bis gerade eben noch verbuchen konnte – nämlich den einer ruhigen Nacht –, ist zerplatzt. Stattdessen eine weitere Niederlage. Und wenn Tobi gleich kommt, kann sie ihm auch nichts von der Nacht erzählen, weil wahrscheinlich sogar er wusste, dass Babys alle zwei Stunden gestillt werden müssen.

Rabea ist froh, als bei der Hebamme nun irgendwas piept, was wohl bedeutet, dass noch irgendetwas ähnlich Schlimmes oder gar etwas noch Schlimmeres passiert sein muss als ein Säugling, der die Nacht durchgeschlafen hat. Jedenfalls verlässt sie nun eilig das Zimmer.

Die Yin-Yang schaut immer noch. Und plötzlich erinnert sich Rabea, woher sie den Anhänger und den Blick dazu kennt. Aus dem Geburtsvorbereitungskurs. Kein Wunder, dass Rabea nicht gleich drauf gekommen ist. Sie war zwar tatsächlich jede Woche da, aber oftmals auch nur so halb anwesend. Meine Güte, was war das für ein hektischer Haufen. Und was die für Fragen gestellt haben. Obwohl – eine von den Fragen war ja garantiert, ob man sein schlafendes Kind zum Stillen weckt und ob man darüber dann am besten jede diensthabende Stationsschwester informieren sollte, damit keiner denkt, man habe einfach gepennt.

Irgendeine in dem Kurs hatte jedenfalls allen Ernstes gefragt, ob sie nach der Geburt noch etwas länger im Kreißsaal bleiben könnte, um ein Geburtsmandala für ihr Kind zu legen, eine andere, ob sie den Mutterkuchen mit nach Hause nehmen dürfte, und das Küken im Kurs, eine Studentin (irgendwas mit Medien) wollte wissen, ob es eine Höchstzahl für die Angehörigen und Freunde gäbe, die bei der Geburt dabei sein können. Je mehr, desto besser, meinte sie. Wegen der Insta-Story und so.

Die Kursleiterin hatte darauf keine Antwort gehabt. Obwohl sie sich erinnern konnte, dass eine ihrer Schützlinge mal einen Chor mit in den Kreißsaal genommen hatte, aber sie wusste nicht mehr, ob es ein Quartett oder ein Gospelchor gewesen war.

Und wenn Rabea jetzt nicht ganz danebenliegt, dann hatte Yin-Yang die Frage mit der Räucherkerze gestellt. Also, ob man die nach der Geburt im Zimmer anmachen könnte. Auch darauf hatte die Kursleiterin keine Antwort parat gehabt. Rabea atmet tief durch die Nase ein und schnuppert in den Raum. Die Antwort ist – zum Glück – ganz offensichtlich: nein.

Im Grunde wäre ihr das jetzt aber auch egal. Dass die Yin-Yang immer so gucken musste, war einfach schlimm. Da war ihr die Mitbewohnerin, die bis gestern da war, ja noch lieber. Die hatte zwar auch ein Baby, das keine Geräusche machte, aber dafür einen Freund, der sich ziemlich häufig zu Wort meldete. Der saß nämlich ab dem Moment, wo sie vom Kreißsaal auf die Station geschoben worden war, am Fußende ihres Bettes und machte Notizen. Und weil er so viel schrieb, dachte Rabea erst, er würde eine Art Wochenbett-Tagebuch schreiben. Doch dann passierte Folgendes: Ihre Zimmernachbarin nahm ihr immerhin auch mal leise quakendes Baby aus dem Beistellbett, knöpfte sich die Bluse auf und wollte es gerade anlegen, als der Schreiberling vom Fußende das Notizbuch in die Luft riss und Stopp rief.

„Stopp, was?“, fragte sie.

„Falsche Seite!“, sagte er.

Sie fauchte: „Wieso falsche Seite?“

Wieder hielt er das Buch hoch.

„Als du das letzte Mal vor einer Stunde gestillt hast, hab ich mir ,rechts‘ notiert, dann müsste jetzt doch links drankommen. Von daher hast du gerade die falsche Seite rausgeholt.“

Es war einer der seltenen Momente, in dem Rabea ganz froh darüber war, dass ihre einzige Sorge ein brüllendes Baby war. Das schien ihr im Vergleich bewältigbar. Und es war einer der seltenen Momente, in denen Rabea auch mal doof rüberguckte. Die Situation war wie im Zoo oder auf RTL2. Das musste man ja mal gesehen haben. Einen Milchbürokraten, einen Stillstreber, einen Brustkontrolleur.

Die Frage war doch: Hatte er sich das vorgenommen? Buch über die Brustzuführung der Mutter seines Kindes zu führen, oder wie gerät man da rein? Man durfte doch davon ausgehen, dass die meisten Männer normalerweise kein Moleskine-Notizbuch in der Tasche haben, das sie spontan für die Dokumentation der Milchrationen zur Hand nehmen können. Das wiederum heißt, dass er sich das Heftchen mit der Absicht gekauft hat, Buch über das Stillverhalten seiner Frau zu führen. Aber wer weiß, worüber er womöglich schon vor der Geburt alles Buch geführt hat. Vielleicht war das ja das geringere Übel.

Am nächsten Tag zogen der Buchführer und seine neue kleine Familie jedenfalls aus. Kurz vorher hatten sie sich allerdings noch darüber gestritten, ob sie, also die Kindsmutter, ihr Neugeborenes ein paar Minuten allein lassen könne, um sich die Haare zu waschen und die Zähne zu putzen. Er fand nein, sie ja. Und dann sagte sie, dass ihr das egal sei und dass das außerdem keine Frage gewesen sei, sondern eine Ansage und dass sie ihm rate, sich das in sein – verficktes – Buch einzutragen.

Rabea fragte sich, ob es grundsätzlich eine Marktlücke ist, dass neben Hebammen und Kinderärzten keine Paartherapeuten auf der Neugeborenenstation arbeiten. Dabei könnten sie hier für die Situationen einen Grundstock legen, die später noch tausende Male wiederkehren würden. Außerdem haben hier einige Typen offenbar sowieso ein Notizbuch bei sich, um sich endlich mal ein paar Dinge aufzuschreiben, die sie schon immer mal schwarz auf weiß geregelt haben wollten.

Jetzt gerade ist Rabea ganz froh, dass sie nirgends aufgeschrieben hat, welche Brust bei ihr dran ist. Hauptsache, es ist die, mit der sie sich von Yin-Yang wegdrehen kann. Solange die immer so wissend rüberguckt, wird sich Rabea garantiert nicht mehr umdrehen. Außerdem verzieht Lenny auch schon wieder so komisch das Gesicht. So, als würde er gleich ansetzen, den Tag mit einem kräftigen Schrei zu begrüßen, und das sollte Yin-Yang auf keinen Fall sehen.

Also dreht sich Rabea gleich zur Seite und legt ihn an, streicht ihm über den Arm und flüstert: „Gleich geht’s wieder zur Paketstation.“ Und dann sieht es aus, als ob Lenny ein ganz kleines bisschen lächeln würde. Na, immerhin hat er Humor.

Februar. Wandertage

Nur ein kleines Loch zum Atmen hat sich Maria in ihrer Höhle gelassen. Sie will ja niemanden wecken. Es ist 3.45 Uhr in der Nacht und Maria liest auf dem Handy unter der Decke, wie so oft in letzter Zeit. Sophia ist gerade wieder neben ihr eingeschlafen, nachdem Maria ihr die Flasche gegeben hat, ihr Mann Jan liegt am äußersten Rand des Bettes und es klingt, als ob auch er gerade eben eingeschlafen sei.

Manchmal, wenn sie so daliegt zwischen ihrer kleinen neuen Familie, stellt sie sich vor, wie das wohl von oben aussieht. Im Film geht die Kamera ja manchmal hoch und zeigt Vater, Mutter und Kinder, die kreuz und quer gemeinsam im Bett liegen, Arme und Beine so verknotet, dass unklar ist, wem die Gliedmaßen jeweils gehören. Dass dabei alle selig schlafen, versteht sich von selbst. Sie mochte diese Bilder immer.

Und jetzt versucht sie, in ihrer Erinnerung alle diese Szenen durchzugehen, aber sie ist sich ziemlich sicher, dass in den Filmen nie ein leeres Beistellbett danebensteht, in dem das Kind eigentlich schlafen sollte. Bei ihnen schon.

Maria und Jan hatten das Beistellbett noch vor der Geburt von ihren Freunden Richard und Beate übernommen. „Das ist wirklich ein super Bett. Unsere Tochter hat es sehr geliebt“, haben sie gesagt. Ihre Tochter sei nur leider rausgewachsen. Da sie das Bett aber immer pfleglich behandelt hätten, sei es im Grunde noch fast wie neu.