Winterbergs letzte Reise - Jaroslav Rudiš - E-Book

Winterbergs letzte Reise E-Book

Jaroslav Rudiš

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Beschreibung

Jan Kraus arbeitet als Altenpfleger in Berlin. Geboren ist er in Vimperk, dem früheren Winterberg, im Böhmerwald, seit 1986 lebt er in Deutschland. Unter welchen Umständen er die Tschechoslowakei verlassen hat, das bleibt sein Geheimnis. Und sein Trauma. Kraus begleitet Schwerkranke in den letzten Tagen ihres Lebens. Die Tage, Wochen, Monate, die er mit seinen Patienten verbringt, nennt er „Überfahrt“. Einer von denen, die er auf der Überfahrt begleiten soll, ist Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec, Reichenberg. Als Sudetendeutscher wurde er nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Als Kraus ihn kennenlernt, liegt er gelähmt und abwesend im Bett. Es sind Kraus' Erzählungen aus seiner Heimat Vimperk, die Winterberg aufwecken und ins Leben zurückholen. Doch Winterberg will mehr von Kraus, er will mit ihm eine letzte Reise antreten, auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe – eine Reise, die die beiden durch die Geschichte Mitteleuropas führt. Von Berlin nach Sarajevo über Reichenberg, Prag, Wien und Budapest. Denn nicht nur Kraus, auch Winterberg verbirgt ein Geheimnis.

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Zum Buch

Jan Kraus arbeitet als Altenpfleger in Berlin. Geboren ist er in Vimperk, dem früheren Winterberg, im Böhmerwald, seit 1986 lebt er in Deutschland. Unter welchen Umständen er die Tschechoslowakei verlassen hat, das bleibt sein Geheimnis. Und sein Trauma. Kraus begleitet Schwerkranke in den letzten Tagen ihres Lebens. Die Tage, Wochen, Monate, die er mit seinen Patienten verbringt, nennt er »Überfahrt«. Einer von denen, die er auf der Überfahrt begleiten soll, ist Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec, Reichenberg. Als Sudetendeutscher wurde er nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Als Kraus ihn kennenlernt, liegt er gelähmt und abwesend im Bett. Es sind Kraus’ Erzählungen aus seiner Heimat Vimperk, die Winterberg aufwecken und ins Leben zurückholen. Doch Winterberg will mehr von Kraus, er will mit ihm eine letzte Reise antreten, auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe – eine Reise, die die beiden durch die Geschichte Mitteleuropas führt. Von Berlin nach Sarajevo über Reichenberg, Prag, Wien und Budapest. Denn nicht nur Kraus, auch Winterberg verbirgt ein Geheimnis.

Zum Autor

Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und Musiker. Seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane erschienen im Luchterhand Literaturverlag und bei btb. »Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er außerdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet. Zuletzt erschien die Erzählung »Weihnachten in Prag«, illustriert von Jaromír 99. Rudiš lebt in Berlin und in Lomnice nad Popelkou im Böhmischen Paradies, wo er herkommt.

JAROSLAV RUDIŠ

WINTERBERGS LETZTE REISE

Roman

Luchterhand

Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.Die beiden Hauptfiguren reisen mit Baedekers Oesterreich – Ungarn. Handbuch für Reisende. Neunundzwanzigste Auflage. Leipzig. Verlag von Karl Baedeker 1913. Winterberg bezieht sich immer wieder auf diese Ausgabe.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2019 Luchterhand Literaturverlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt

unter Verwendung von Motiven von © plainpicture/Hanka Steidle/donkeysoho/Thao/Peter Hamel/Amadeus Waldner/Baertels

Karte auf dem Vor- und Nachsatz: © Peter Palm, Berlin

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-23126-2V012www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandlit

www.twitter.com/luchterhandlit

Für Egbert

INHALT

Von Königgrätz nach Sadowa

Die Überfahrt

Von Berlin nach Reichenberg

Die Feuerhalle

Von Reichenberg nach Königgrätz

Der Engländer

Von Königgrätz nach Jitschin

Von Jitschin nach Budweis

Von Budweis nach Winterberg

Von Winterberg nach Pilsen

Von Pilsen nach Linz

Von Linz nach Wien

Die Kaisergruft

Die Liebe

Das Arsenal

Die Tochter

Die Schlinge

Der Zentralfriedhof

Von Wien nach Brünn

Die heilige Anna

Von Brünn nach Budapest

Von Budapest nach Zagreb

Von Zagreb nach Sarajevo

Der Hai

Von Zagreb nach Berlin

Von Berlin nach Peenemünde

Der Sturm

Berlin

Dank

VON KÖNIGGRÄTZ NACH SADOWA

»Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz«, sagte Winterberg und schaute aus dem beschlagenen Fenster des Zuges. Er fasste sich so fest an seine Brust, als ob er in seiner Hand nicht nur den grauen dicken Stoff seines alten Wollmantels zerquetschen wollte, sondern auch sein neunundneunzig Jahre altes Herz.

»Die Schlacht bei Königgrätz ist der Anfang von meinem Ende«, erzählte er weiter und schaute durch seine Hornbrille auf die verschneite böhmische Landschaft, die an uns vorbeizog.

Die kleine Bahn fuhr langsam, sie wankte wie ein einsames, verlassenes Schiff ohne Kapitän auf hoher See. Die junge Schaffnerin schaute auf ihr Handy und wankte mit. So wie wir.

»Die Schlacht bei Königgrätz ist der Anfang von allen meinen Katastrophen, der Anfang von allen unseren Katastrophen, wenn man im Zeichen der Schlacht bei Königgrätz geboren wurde, ist man für immer verloren. So bin ich verloren, so ist dieses Land verloren und so sind Sie, lieber Herr Kraus, verloren, ob Sie wollen oder nicht, ja, ja, es gibt kein Entkommen, das kann man nicht so einfach überschienen wie die Alpen. Die Schlacht bei Königgrätz ist wie eine Falle, die wir uns selbst gestellt haben, in die wir uns gelockt haben, in die wir uns freiwillig begeben, die Schlacht bei Königgrätz ist eine tiefe Schlucht, in die wir alle abstürzen, die Schlacht bei Königgrätz greift nach unseren Hälsen, sie drückt an meine Kehle, sie ist wie ein Strick, wie eine Schlinge, die immer enger wird, ja, ja, wie ein Strang, an dem wir uns am Ende alle erhängen, ob wir wollen oder nicht, ja, ja, und Strangleichen sind keine schönen Leichen, wie mein Vater immer sagte«, erzählte Winterberg und schaute weiter aus dem Fenster.

»Sehen Sie, Herr Kraus, die Wildschweine dort am Waldrand, sind sie nicht schön, man möchte sie gleich malen. Früher habe ich sehr gern gemalt, vor allem die ruhigen winterlichen Landschaften, so wie diese, doch auch die Wildschweine sind verloren, ja, ja, die Schlacht bei Königgrätz ist eine wuchernde Cornus sanguinea.«

Winterberg erzählte, und ich schaute den Tieren am Waldrand nach.

»Damals eine halbe Million Soldaten, heute eine halbe Million Geister, man muss es sich nur vorstellen können, ich stelle es mir vor, ja, ja, ich schaue historisch durch, ja, ja, ich bin historisch nicht blind, mir ist egal, wie Sie dazu stehen, lieber Herr Kraus, ob Sie sich das vorstellen können oder wollen. Die Schlacht ist da, und wir sind da auch.«

»Das waren Rehe.«

»Was?«

»Dort am Wald. Es waren keine Wildschweine.«

»Genau, Wildschweine, sage ich doch.«

»Es waren aber Rehe.«

»Genau, genau, Rehe und Wildschweine und Hirsche und Füchse und Menschen und Häuser und Felder und Wälder und die winterlichen Landschaften und die malerischen Aussichten, alles ist verloren, traurig, traurig. Mein Großvater war Jäger, und er sagte, die Tiere zu töten sei nicht gut, doch wenn du schon ein Tier töten musst, dann tu es schnell, ja, ja, doch die Schlacht bei Königgrätz tötet nicht schnell, die Schlacht bei Königgrätz kennt keine Gnade, die Schlacht bei Königgrätz ist unser tiefster Abgrund, die Schlacht bei Königgrätz ist unser Untergang, und das schon über hundertfünfzig Jahre. Warum schauen Sie historisch nicht durch, lieber Herr Kraus? Sie sollten endlich etwas über Geschichte lesen, dann würden Sie verstehen, dann würden Sie mich verstehen, so wie mich der Engländer und meine Lenka verstanden haben, dann würden Sie wissen und verstehen, was ich mit Cornus sanguinea meine. Sie würden mich nicht so dumm anschauen und schweigen.«

»Das waren Rehe.«

Winterberg hustete ein wenig.

»Rehe?«

»Ja, Rehe. Die Tiere vorhin. Eine ganze Herde Rehe.«

Er hustete immer noch. Ich reichte ihm die Wasserflasche. Er wollte nicht trinken.

»Was für Rehe denn?«

»Egal.«

Er schaute mich ernst an. Dann schaute er die Schaffnerin an. Dann schaute er wieder aus dem Fenster auf verschneite Felder. Und dann erzählte er weiter.

»Die Schlacht bei Königgrätz geht nicht nur durch mein Herz, sie geht auch durch meinen Kopf und durch mein Gehirn und durch meine Lunge und Leber und den Magen, sie ist Teil meines Körpers und meiner Seele. Zwei meiner Verwandten haben hier ihr Leben verloren, lieber Herr Kraus, der eine auf der Seite von Preußen, der andere auf der Seite von Österreich, Julius Ewald und Karl Strohbach, ja, ja, ich kann mir die Seiten aussuchen, doch am Ende liege ich mit den beiden im Grab, ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, ich will es begreifen, ich will alles in meinem Leben endlich begreifen, verstehen Sie, lieber Herr Kraus, deshalb sind wir jetzt hier, um es zu begreifen, verstehen Sie, lieber Herr Kraus, hier bei Königgrätz fängt die ganze Tragödie an«, erzählte Winterberg und schaute weiter aus dem Fenster.

»Sind wir nicht schon in Sadowa? Das ist sicher schon Sadowa. Da müssen wir aus diesem verdammten kalten Zug aussteigen.«

»Nein, das ist noch nicht Sadová. Das ist … Ach, egal.«

Winterberg hörte mir nicht zu.

Winterberg hörte mir nie zu.

»Die Schlacht bei Königgrätz riss mich entzwei«, erzählte er weiter, und die Schaffnerin setzte sich auf die Bank gegenüber und machte kurz die Augen zu. »Die Schlacht bei Königgrätz raubte mir den Schlaf. Wegen der Schlacht bei Königgrätz habe ich meine erste Frau verloren, wegen der Schlacht bei Königgrätz ist meine zweite Frau verrückt geworden, ja, ja, sie wuchs in Berlin in der Stresemannstraße auf, die früher Königgrätzer Straße hieß, das kann doch kein Zufall sein, lieber Herr Kraus. Kennengelernt haben wir uns in einem Tanzlokal auf der Skalitzer Straße, ja, ja, richtig, Sie haben recht, lieber Herr Kraus, das ist alles kein glücklicher Zufall der Geschichte, das ist ein tragischer Unfall der Geschichte, ein Missverständnis, das man nie wiedergutmachen kann, ja, ja, nur wegen der Schlacht bei Königgrätz leide ich an der Geschichte und an historischen Anfällen, ja, ja, lieber Herr Kraus, ich weiß, was Sie sagen möchten, die Schlacht bei Königgrätz kann man nicht so leicht überschienen wie die Alpen, es gibt zu viele Störzonen, wenn Sie verstehen, was ich meine, lieber Herr Kraus.«

Ich wollte sagen, dass ich von den Störzonen keine Ahnung habe, doch ich wusste, es macht keinen Sinn. Sein Kopf ist eine einzige Störzone. Ich nickte, wie ich immer nickte, wenn ich ihm zuhörte, und dachte mir, was ich mir immer dachte, wenn ich ihm zuhörte. Winterberg hustete wieder ein wenig, und ich reichte ihm die Wasserflasche. Er wollte nicht trinken.

»Bei Skalitz wurde 1866 auch heldenhaft gekämpft, da müssen wir auch hin, das steht auch alles in meinem Baedeker. Und auch nach Trautenau und Jitschin, die Stadt von Wallenstein, die er zur Hauptstadt seines Reiches auswählte, ja, ja, dort müssen wir hinfahren, auch um Jitschin wurde gekämpft, viele Sachsen und Österreicher haben sich dort im Teich ertränkt und viele Preußen später im Bier, als sie die Brauerei von Jitschin gestürmt haben.«

Ich wollte sagen, dass ich mal in Jičín gewesen war, damals noch, mit meinen Eltern, doch es ging nicht, Winterberg war nicht zu bremsen.

»In der Gitschiner Straße in Berlin lebte ein guter Freund von mir, mein bester Berliner Freund, auch ein Straßenbahnfahrer, er spielte vor dem Krieg Fußball in Oberschöneweide. Sie wissen natürlich nicht, da Sie nicht historisch durchschauen, dass das Stadion lange Sadowa hieß, ja, ja, genau, nach Sadowa hier in Böhmen, wo wir gleich aussteigen müssen, ja, ja, genau, benannt nach dem glorreichen preußischen Sieg und der glorreichen österreichischen Niederlage. Doch der Sieg wurde auch für Preußen später zu einer unheldenhaften Niederlage, so wie alle Siege in der Geschichte, ja, ja, wie oft ließ ich mich dort von einem erbärmlichen Fußballspiel quälen, Fußball hat mich eigentlich nie interessiert, ja, ja, nur wegen Sadowa, nur wegen Königgrätz bin ich dorthin gegangen. Keinen anderen interessiert es, aber ich weiß es, alles hängt mit Königgrätz zusammen, ja, ja, unsere ganze Katastrophe fängt bei Königgrätz an, ich weiß, was Sie sagen möchten, lieber Herr Kraus, verrückt, alles verrückt. Sie haben recht, es ist verrückt«, erzählte Winterberg weiter und schaute mich die ganze Zeit nicht an.

Er schaute aus dem Fenster auf ein verschlafenes Feld.

Auf Landhäuser.

Auf eine alte Kirche.

Auf zwei Kinder mit dem Hund auf der Landstraße.

»Schön ist es hier, wunderschön, wirklich the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins, wie der Engländer immer sagte.«

»Der schon wieder.«

»Ja, ja.«

»Wer war das eigentlich?«

»Der Engländer schaute historisch durch, anders als Sie. Warum lesen Sie keine Geschichtsbücher, lieber Herr Kraus? Sie könnten das alles längst wissen mit Cornus sanguinea und Königgrätz und Sarajevo und mit der Eisenbahn. Nur wegen der Schlacht bei Königgrätz ist meine dritte Frau schwer erkrankt. Nur wegen der Schlacht bei Königgrätz musste ich sie dreißig Jahre lang pflegen. Nur wegen der Schlacht bei Königgrätz müssen Sie mich pflegen. Warum schauen Sie historisch nicht durch? Die Fabrik dort, ist das nicht schon die Zuckerfabrik von Sadowa, lieber Herr Kraus, wo sich die österreichischen Feldjäger so tapfer verteidigten, ja, ja, die berühmte böhmisch-mährisch-österreichische Zuckerindustrie, ich wusste lange nicht, dass Würfelzucker aus Datschitz in Mähren kommt, wussten Sie es, lieber Herr Kraus, wo bin ich hängen geblieben, ja, ja, die Österreicher waren nicht aus Zucker, sie bauten die Zuckerfabrik in eine österreichische Festung um, an die Wand schrieben sie ganz groß ›Hinter uns ist Wien‹, das habe ich alles gelesen. Doch alles war vergeblich. In drei Stunden waren alle tot.«

»Nein, das ist noch nicht Sadová, das ist keine Zuckerfabrik, das ist ein Umspannwerk«, sagte ich, doch Winterberg hörte nicht zu und zitterte wie so oft bei seinen historischen Anfällen.

»Das muss schon der Fluss Bistritz sein, der hart umkämpft war. Und das dort, da muss der berühmte Wald von Svíb sein! Ein Paradies der Cornus sanguinea, ja, ja, da müssen wir gleich hin, zur Allee der Toten, die sich durch den Wald zieht, da müssen wir hin. Womöglich finden wir gerade dort die beiden Gräber, von meinem preußischen Urgroßvater aus Tangermünde und meinem österreichischen Urgroßvater aus Ottensheim bei Linz, der eine an der Elbe groß geworden, der andere an der Donau, beide am selben Tag tot, hier, bei Sadowa, bei Königgrätz, am 3. Juli 1866, der deutsche Krieg im Böhmischen Paradies, verrückt, verrückt, ich weiß, Sie haben recht, lieber Herr Kraus, völliger Unsinn, der doch einen Sinn ergibt, Cornus sanguinea, die Allee der Toten. Da müssen wir hin.«

Ich nickte, wie ich immer nickte, und dachte, was ich immer dachte. Ich halte es nicht mehr lange mit Winterberg aus.

»Ich weiß, schon gut, jetzt ein bisschen ruhiger, alles ist gut, ja, wir sind nicht im Krieg.«

Ich machte mir ein Bier auf. Schaum spritzte auf den Boden.

»Sie sollten nicht so viel trinken, sonst sind Sie wieder benebelt, so wie gestern und vorgestern, Bierleichen sind keine schönen Leichen, sagte mein Vater, und er musste es wissen, er hat viele Bierleichen gesehen und hat selbst gerne Bier getrunken, traurig, traurig, das ist nicht schön, dass Sie so viel trinken, das ist nicht gesund, das ist nicht anständig, so werden Sie nicht neunundneunzig, so werden Sie nicht so alt wie die Tschechoslowakische Republik, so alt wie die Feuerhalle in Reichenberg, ja, ja, so werden Sie nicht so alt wie ich.«

»Das ist mir egal, ich will nicht so alt werden, ich will nicht, dass mir alles wehtut.«

»Mir tut nichts weh. Ich fühle mich immer noch jung, ich bin nicht durchsichtig.«

»Durchsichtig?«

»Durchsichtig. Für die Frauen, meine ich.«

»Ich verstehe nicht.«

»Das ist egal. Sie sollten weniger trinken.«

»Aber ich will trinken. Ich mag Bier. Und Sie sollten auch mehr trinken. Sie haben heute noch nichts getrunken.«

»Ich habe getrunken.«

»Haben Sie nicht.«

»Sie haben mir nicht zu sagen, ob ich trinke oder nicht trinke, ja, ja, ich weiß, wann ich trinke oder nicht trinke, ja, ja, ich trinke vielleicht ein bisschen wenig, aber Sie, lieber Herr Kraus, trinken zu viel.«

»Einer muss das machen. So entsteht das Gleichgewicht, sagte mein Vater immer. Die einen trinken, die anderen nicht.«

Der Zug fuhr und ich dachte daran, dass ich mit dem Trinken nicht gleich wieder anfangen wollte. Während einer Überfahrt trank ich nie. Immer erst danach.

Ich trank, um zu vergessen.

Um mich zu befreien.

Um neu anfangen zu können bei der nächsten Überfahrt.

Doch dieses Mal war es anders. Es war die erste Überfahrt, die unterbrochen wurde. Und so musste ich trinken.

Sonst wäre ich längst tot und Winterberg auch. Ohne Bier hätte ich ihn umgebracht und mich gleich danach, denn wer hätte diese bescheuerte Reise ohne Bier ausgehalten? Keiner. Nur ich.

Der Zug schnürte an einem Bach vorbei, vielleicht wirklich die Bystřička, denn plötzlich sagte die Schaffnerin:

»Sadová.«

Winterberg sprang auf.

Zwei verlassene, leicht krumme Gleise. Ein verlassenes Bahnhofsgebäude. Und ein verlassener Hund, der gegen die Wand pinkelte.

Sonst nichts.

Wir waren die Einzigen, die aus dem Zug ausstiegen. Ich half Winterberg aus dem Wagen, was ihm nicht gefiel. Die Bahn fuhr ab, ich zündete mir eine Zigarette an.

»Sie sollten nicht so viel rauchen, lieber Herr Kraus«, sagte Winterberg und hustete wieder ein wenig.

Dann atmete er die kalte winterliche Luft ein.

»Schön, so schön ist es hier. Etwas sehr Schönes liegt in der Luft, ja, ja, wir haben großes Glück mit dem Wetter, lieber Herr Kraus. Die Schlacht spielte sich zwar im Hochsommer ab, das wissen Sie hoffentlich, doch das Wetter war damals genauso wie jetzt im November, nach ein paar heißen Tagen folgte ein Tag wie im frühen Winter, ja, ja, ein Tag wie heute. Einen Wetterumsturz nennt man das, mit viel Nebel und Regen, ja, ja, dazu noch der Nebel des Krieges, ja, ja, so muss es bei einem richtigen Umsturz auch sein, schön, schön, wir haben großes Glück mit dem schlechten Novemberwetter, lieber Herr Kraus. Ich liebe schlechtes Wetter, denn dann ist man an den Orten, die man besuchen möchte, meistens allein. Ich brauche keine Touristen, nein, nein, wirklich nicht, Touristen sind historisch blind, so wie Sie, mit Ihnen ist es auch schwer, Historisches zu bereden.«

»Wollen wir nicht gehen?«

»Was?«

»Oder wollen Sie noch was erzählen?«

Winterberg schwieg kurz und schaute sich das verlassene Bahnhofsgebäude an. Die leeren, zerschlagenen Fenster. Die zugemauerte Tür. Die feuchten grauen Mauern. Ich zündete mir die nächste Zigarette an, ging ein paar Schritte weiter und schaute mir zwei Jungs in einem Auto auf der Dorfstraße an, die uns anschauten und rauchten und kicherten.

»Schön, schön ist es hier bei Königgrätz, viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe. Sehen Sie, es fängt an zu schneien. Meine letzte Frau mochte kein schlechtes Wetter, sie wollte immer in den Urlaub ans Meer fahren, traurig, traurig, von Anfang an ein Missverständnis, Sie können es sich nicht vorstellen, lieber Herr Kraus, was für ein Glück wir mit dem schlechten Wetter haben. Meine Lenka liebte schlechtes Wetter und die Einsamkeit, ja, ja, wenn man in Reichenberg geboren wurde, muss man das schlechte Wetter und die Einsamkeit lieben, immer nur Regen und Nebel und Schnee, oft von Oktober bis April nur Schnee und Wind und Einsamkeit, das liegt an den Bergen, die die Stadt wie eine hohe Mauer umstellen, ja, ja, und so ist es im ganzen Land, wenn man in Böhmen geboren wurde, muss man das schlechte Wetter und die Einsamkeit lieben, schlechtes Wetter macht viele Leute melancholisch, schlechtes böhmisches Wetter hat schon viele unserer Landsleute in die geistige Umnachtung getrieben, egal, ob sie Deutsch oder Tschechisch geredet haben, ja, ja, doch Lenka liebte das schlechte Wetter, sie liebte, wenn es schneite, so wie jetzt, ja, ja, meine Lenka, die erste Frau im Mond.«

Winterberg beruhigte sich und schaute in den Himmel. Es stimmte, die ersten feinen Schneeflocken schwebten auf uns nieder. Mir war kalt. Ich dachte, morgen würden wir beide verkühlt im Krankenhaus liegen, und ich hätte endlich meine Ruhe bei Tee mit Rum, Winterberg würde mit dem Hubschrauber zurück nach Berlin gebracht, da kann er erzählen, was er will. Und ich würde mich endlich in Bier und Schnaps ertränken wie nach jeder Überfahrt und alles vergessen.

Ich dachte, vielleicht bleibe ich hier.

In diesem Land, das ich verlassen habe.

Das ich verlassen musste.

Das mich verlassen hat.

»Wir haben Glück mit dem schlechten Wetter, schön, schön, der Bahnhof war damals natürlich nicht hier, diesen Teil von Böhmen hat man erst später überschienen lassen, davon lassen wir uns aber nicht stören und ablenken. Dort, sehen Sie, an der Hauptstraße, das muss das Gasthaus sein! Ein einfaches Gasthaus am Schlachtfeld, wie es in meinem Baedeker steht, ja, ja, alles wie damals, alles wie 1913, als mein Buch erschienen ist, alles wie 1866. Da gehen wir jetzt hin, vor der Schlacht braucht jeder Soldat Stärkung, auch ein Soldat der Armee der letzten Hoffnung, ja, ja, ein Soldat wie Sie, lieber Herr Kraus, denn mehr als ein wenig Hoffnung können Sie als Krankenpfleger nicht bieten, da haben Sie recht. Den Sterbenden die Windeln wechseln, das können Sie. Mehr nicht.«

Da hatte Winterberg ausnahmsweise recht.

So standen wir kurz danach vor dem Gasthaus auf einer dicht befahrenen Straße.

Winterberg schaute sich die ersten Gräber der Schlacht bei Königgrätz an. Er las die Namen der Toten, die Namen der Geister, wie er sagte. Die Namen der Julileichen, wie er sagte. Er las sie laut und zugleich ernst und langsam vor, so als wollte er die Geister erwecken und im gleichen Augenblick wieder beruhigen und zum Schlaf bringen. Er las sie vor und es schneite, und aus seinem Mund dampfte es.

Ein Name.

Eine kleine Dampfwolke.

Er las die deutschen und tschechischen und kroatischen und polnischen und ungarischen Namen vor, kenne ich nicht, kenne ich nicht, kenne ich nicht, fügte er immer dazu, als ob er die anderen Namen kennen würde, als wären die anderen Gefallenen seine Freunde, mit denen er gestern beim Bier saß.

Als er sich dann endlich umdrehte und die Straße zum Gasthaus überqueren wollte, wurde er beinah von einem polnischen Lastwagen überfahren.

Ich riss ihn zur Seite.

Im Gasthaus Zum Kanonier Jabůrek war es nicht voll. Wir bestellten eine Gulaschsuppe und ein normales und ein alkoholfreies Bier.

Winterberg schlug sein kleines rotes Buch auf.

Sein Geschichtsbuch.

Seine Bibel.

Seinen Reiseführer von 1913.

Den Baedeker für Österreich-Ungarn.

Den Baedeker für sein Leben.

Sein Buch, das so dunkelrot ist wie das vergossene preußische und sächsische und österreichische Blut von Königgrätz, wie er sagte. Cornus sanguinea. Sein Buch, das Winterberg und mich bis ans Ende der Welt begleiten sollte. Bis ans Ende unserer Reise, an der ich unfreiwillig teilnehme. Bis ans Ende seiner Schicksalsreise, wie er sagt. Bis nach Sarajevo.

Winterberg nahm sein Vergrößerungsglas und blätterte in seinem Buch, bis er die richtige Stelle fand, und las sie schnell und laut vor, wie vom Sturm mitgenommen, der ihn in Richtung Vergangenheit und Geschichte trieb.

So wie immer.

»In dem hügeligen Gelände nordwestlich von Königgrätz zwischen der Bistritz und der Elbe …«

Doch gleich danach blieb er stehen und schaute hoch und dachte laut nach.

So wie immer.

»Wenn man über die Monarchie redet, redet man oft über die Donaumonarchie, man vergisst dabei aber die Elbe, lieber Herr Kraus, das darf man nicht, ich mag diese Vereinfachungen nicht, ja, ja, die Geschichte ist nie einfach, die Geschichte ist kompliziert, und für Böhmen war die Elbe immer viel wichtiger als die Donau. Ja, ja, eigentlich sollte man statt der Donaumonarchie die Donauelbemonarchie schreiben. Auch die Moldau darf man nicht vergessen, ein schicksalhafter Fluss, wie mein Vater immer sagte, dann vielleicht doch besser die Elbemoldaudonaumonarchie, aber dann melden sich gleich die Kroaten und Slowenen und fragen, wo ist unsere Save geblieben, ja, ja, auch ein schicksalhafter Fluss, dann vielleicht die Elbemoldaudonausavebosnamonarchie, ja, ja, das wäre gerecht, doch dann kommen sicher noch Bosnier dazu und sagen, wo ist unsere Bosna geblieben, ja, ja, auch ein schicksalhafter Fluss, dann also die Elbemoldaudonausavebosnamonarchie? Nein, nein, ich fürchte, das kann sich keiner merken, es ist zu kompliziert, warum ist es immer so kompliziert, dann lieber doch nur die Donaumonarchie, obwohl es eine dreiste Vereinfachung ist. Wo bin ich hängen geblieben? Sie unterbrechen mich die ganze Zeit, Herr Kraus.«

»Ich?«

»Ja, wer denn sonst.«

»So kann ich mich nicht konzentrieren, ständig werde ich unterbrochen, von Ihnen, von anderen Menschen, von den Gedanken, von der Geschichte, wo bin ich hängen geblieben, hier, hier … Nordwestlich von Königgrätz … wurde am 3. Juli 1866 die Schlacht bei Königgrätz geschlagen, die österreichische Armee, Gesamtstärke 178 000 Österreicher und 20 800 Sachsen, ja, ja, die armen Sachsen, warum werden die Sachsen in der Geschichte immer vergessen, 770 Geschütze unter Feldzeugmeister Benedek, traurig, traurig, er hätte in Italien bleiben sollen. Also … Die Armee … Hatte auf dem von der Bistritz allmählich ansteigenden Hügellande eine sehr starke Defensivaufstellung genommen, die sich im Halbkreise nördlich von Račice, Hořiněves und Benátek über Sadowa südlich bis Probluz und Přím, ja, ja, sächsisches Korps, klar, klar, die Sachsen werden in der Geschichte so oft vergessen, traurig, traurig … Wo bin ich denn schon wieder hängen geblieben … ja, ja … erstreckte.«

Seine kratzige Stimme vermischte sich mit der Country-Musik aus dem Radio. Doch das störte ihn nicht.

»Der rechte Flügel der Preußen, die Elbarmee unter Herwarth von Bittenfeld, stand bei Smidar, die Erste Armee, unter Prinz Friedrich Karl, bei Hořitz, die Zweite Armee, unter dem Kronprinzen, bei Königinhof, da sind wir doch mit dem Zug durchgefahren, ja, ja, die Bahnstrecke von Reichenberg nach Königgrätz, warum war es bloß in dem Schnellzug so kalt, das verstehe ich nicht, wo bin ich denn hängen geblieben … Ja, ja, und Gradlitz, 22 Kilometer entfernt, Gesamtstärke der Preußen 220 984 Mann, ja, ja, um acht Uhr morgens begann die Schlacht, ja, ja, richtig, eine Schlacht muss immer spätestens um acht anfangen wie der Schulunterricht, die Preußen drangen gegen Sadowa und Benátek vor, hielten unter bedeutenden Verlusten das gewonnene Gelände, waren aber gegenüber der feindlichen Artillerie zu weiterem Vordringen nicht imstande, so dass mittags die Schlacht zum Stehen kam. Gegen zwei Uhr griff die Zweite Armee in die Schlacht ein … Zielpunkt des Vormarsches waren die zwei weithin sichtbaren Linden auf dem Tummelplatz bei Hořiněves, ja, ja, haben wir die Linden gesehen? Wir sind doch vorbei an Hořiněves gefahren, ich meine, wir haben die Linden gesehen, ja, ja, sicher, sicher, wir sind doch nicht blind, und Chlum, der Schlüssel der österreichischen Stellung, wurde um drei Uhr von der I. Garde-Division erstürmt und hiermit die Schlacht entschieden, haben wir die Linden gesehen, lieber Herr Kraus, oder haben wir die Linden nicht gesehen?«

»Ich weiß nicht.«

»Das macht mich ein wenig melancholisch, dass wir es nicht wissen, dann vielleicht auf dem Rückweg, aber dann wird es schon dunkel, oder morgen, wir müssen doch die Linden sehen, ja, ja, der Verlust der Österreicher betrug einschließlich der Gefangenen 1313 Offiziere und 41 499 Mann, der der Sachsen 55 Offiziere und 1446 Mann, die armen Sachsen, man vergisst immer die Sachsen, wenn man über die Schlacht bei Königgrätz redet, wenn man über die Geschichte redet, man vergisst immer die Sachsen, sowohl die lebenden als auch die toten Sachsen, warum werden die Sachsen in der Geschichte so oft vergessen, lieber Herr Kraus? Mein Buch hat die Sachsen nicht vergessen und ich auch nicht, ja, ja, die Preußen verloren 360 Offiziere und 8812 Mann, viele Denkmäler erinnern an die Gefallenen, ja, ja, the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins, wie der Engländer immer sagte.«

Seine Stimme vermischte sich mit dem nächsten Countrysong aus dem Radio, wo es um Weihnachten, eine Zugreise und eine verlassene Kirche ging. Das Lied störte Winterberg nicht. Er las und redete weiter vor sich hin.

»Der Besuch des Schlachtfeldes erfordert zu Wagen zehn, elf Stunden, ja, ja, mit Mittagsrast in Sadowa, ja, ja, der Besuch ist vorzugsweise für Militärs von Interesse, genau, genau, alles richtig, Mundvorrat angenehm, haben wir Mundvorrat, Herr Kraus?«

Er schaute kurz zu mir hoch.

Ich sagte, ich hätte nur zwei Bier und eine Schachtel Zigaretten, sonst hätten wir nichts, doch sterben würden wir nicht, wir könnten sicher noch etwas kaufen, und außerdem fände man in jedem Dorf ein Gasthaus, wir sind nicht in Sachsen oder Brandenburg, wir sind in Böhmen.

»Genau, genau, machen Sie das bitte. Und fragen Sie, lieber Herr Kraus, ob sie hier einen Kutscher haben.«

»Kutscher?«

»Ja, Kutscher, schauen Sie nicht so blöd, so steht es in meinem Buch. Fragen Sie nach dem Kutscher oder Ähnlichem, wie es hier steht.«

Die Wirtin kannte keinen Kutscher und auch keinen Taxifahrer. Sie kannte nur Josefa.

»Sie kommt um zwölf ins Gasthaus zum Mittagessen.«

Sie sagte, vielleicht könnte sie uns zum Schlachtfeld fahren, sie wohne dort.

Als ich zum Tisch zurückkam, lag Winterberg mit seinem Kopf auf dem aufgeschlagenen Buch und schlief, wie so oft nach einem historischen Anfall.

»Ist er tot?«, fragte die Wirtin.

»Er ist nur eingeschlafen. Das macht er immer so. Stöpsel raus. Luft raus. Augen zu. Gute Nacht.«

»Sagt er das so?«

»Nein, das sage ich so.«

Sie lachte.

»Ganz schön alt, dein Vater.«

»Er ist nicht mein Vater.«

»Ich dachte, er ist dein Vater.«

»Ist er nicht.«

»Ihr seid euch aber ähnlich.«

»Was? Sind wir nicht.«

»Doch.«

»Das kann nicht sein. Wir sind uns ähnlich?«

»Ja. Wie ihr euch benehmt. Wie ihr dasitzt.«

»Das kann nicht wahr sein, dass wir uns ähnlich sind.«

»Ihr seid euch einfach ähnlich.«

Ich schaute zu Winterberg. Endlich Ruhe. Ich bestellte noch ein Bier und Tee mit Rum. Ich aß meine Suppe. Ich aß seine Suppe. Und bestellte noch ein Bier. Und Winterberg schlief auf seinem Buch, auf den Seiten mit der Schlacht bei Königgrätz.

Eine Stunde später saßen wir in Josefas Kutsche, die keine Kutsche war und auch kein Auto, sondern ein alter Traktor der Marke Zetor aus Brno. Josefa war um die vierzig und arbeitete auf einem Bauernhof. Hundert Schweine und fünfzig Rinder und zwei Pferde und ein Hund. Josefa sprach ein wenig Deutsch, weil sie nach der Schule in Niederösterreich bei einem Großbauern in der Nähe von Krems gearbeitet hatte, was ihr aber nicht gefiel, weil er mit ihr schlafen wollte.

Winterberg gähnte. Er war wieder wach. Er schaute auf die hügelige Landschaft.

»Sehen Sie, lieber Herr Kraus, genau hier wurde die kaiserliche Artillerie aufgestellt und zielte auf die Preußen, ja, ja, hier hat die Schlacht angefangen, eigentlich schon kurz nach sieben Uhr morgens, bei Nebel und Regen, nicht erst um acht, wie es in meinem Baedeker steht, das hat auch kein Historiker geschrieben.«

Er gähnte wieder.

»Wir haben schon Nachmittag, doch davon lassen wir uns nicht stören, ich höre sie schon, die ersten Salven, die ersten Schreie, ich sehe schon den Angriff der Ersten Preußischen Armee. Hören Sie es auch?«

Ich hörte nichts, doch ich nickte, so wie ich immer nickte, und dachte mir, was ich immer dachte.

»Schön, schön, dass Sie es auch hören.«

Der Traktor fuhr am Rand der schmalen Straße entlang, und Josefa erzählte davon, wie ihr Mann sie vor Jahren verlassen hatte.

»Aber alles ist gut.«

Dann bog sie mit dem Traktor ab und fuhr den Berg langsam hoch. Der Traktor stöhnte und zitterte, und Josefa erzählte, wie ihre Mutter vor einem Jahr gestorben war.

»Aber alles ist gut.«

Es schneite und Josefa erzählte, dass ihr Sohn die falschen Freunde habe und Drogen nehme.

»Aber alles ist gut.«

»Sie müssen trotzdem eine sehr glückliche Frau sein«, sagte Winterberg zu Josefa. »Sie wohnen in Chlum, im Epizentrum, ja, ja, im Auge des Hurrikans der Schlacht bei Königgrätz. Ich kenne Leute, die davon träumen, in Chlum zu wohnen.«

»Wirklich?«

»Ja, ja, viele Leute träumen davon …«

»Echt?«

»Ja, ja, Leute wie ich, die historisch durchschauen. Sie müssen eine glückliche Frau sein.«

»Ich weiß nicht. Mir ist es egal.«

Sie erzählte von Schweinen und Rindern. Von Mais und Kartoffeln. Von Roggen und Weizen. Von Dürre und Feldbrand und Hochwasser. Sie erzählte, was ihr der Großvater über den Krieg erzählte, was ihm sein Großvater erzählt hatte. Sie erzählte, wie sie im Dorf die Leichen begraben mussten. Die Leichen von Menschen und auch von den Pferden. Sie erzählte, die Erde wollte die Toten nicht verdauen. Sie erzählte, wie sich die Erde jahrelang bewegte. Wie die Erde niedersank. Wie sich die Erde öffnete. Wie die Bauern und Waldarbeiter über die Knochen stolperten. Wie sie in die tiefen Schlachtengräber fielen, die sich in Wasserquellen verwandelten.

»Doch das Wasser war kein Mineralwasser, das Wasser stank und war grün und gelb und ölig, denn die Erde wollte die Toten nicht verdauen, die Erde wollte sie ausbrechen und loswerden, vielleicht wiederbeleben, sagte mein Großvater immer, doch ich weiß nicht, wie es war …«

»Doch, doch, so war es, genau so. Ja, ja, zu schwer, zu deftig war diese preußisch-österreichisch-sächsische Mahlzeit für die Wiesen und Felder und Wälder und Menschen bei Königgrätz, ja, ja, zu schwer für diese wunderschöne böhmische Landschaft, ja, ja, wirklich, the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins, wie der Engländer immer sagte«, sagte Winterberg und schaute sich Felder mit einem Denkmal in der Ferne an.

»Die Erde spuckt die Toten hier immer noch aus«, sagte Josefa. »Vor drei Jahren hat man am Rande von dem Svíber Wald ein offenes Grab gefunden. Es war fast leer. Die Toten waren weg. Man sagt, die Geister taumeln immer noch durch den Wald.«

»Sehen Sie, Herr Kraus, ich kann schweres Essen auch nicht gut verdauen, das kommt alles von dieser Schlacht«, sagte Winterberg.

»Sie müssen Schnaps trinken. Einen Becherovka, das hilft immer, sagt mein Vater. Oder einen Sliwowitz, den trinke ich nach Schweinebraten gerne«, sagte Josefa. »Aber andererseits, auf dem Feld, wo die Gräber sind, hatte man immer eine schöne Ernte, und das ist bis heute so. Nur die Geister, die sind schlimm.«

»Hören Sie, Herr Kraus, Geister.«

»Ja, die Geister. Aber daran gewöhnt man sich. Hier hat schon jeder einen Geist gesehen, im Wald oder auf dem Feld.«

»Sie auch?«

»Ich auch.«

»Die Geister, das ist doch ein Märchen«, sagte ich.

»Ja, so ist es. Und doch leben sie hier mit uns. Wo sollten sie auch leben, oder? Die Geister ziehen nicht einfach weg, sagte mein Großvater immer. Und so müssen wir mit den Geistern leben.«

»Ja, ja, genau, the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins.«

»Ich verstehe kein Englisch.«

»Es ist schön hier. Ich würde hier auch gerne leben«, sagte Winterberg, der aus dem Fenster zu einem Friedhof schaute.

»Da liegen nur Preußen. Das Feld um den Friedhof herum, das gehört meinem Onkel. Der beste Dung für die Menschen sind die Menschen selbst, sagte er immer beim Bier. Unsere Dorfkneipe, dort müssen Sie auch mal hin, sie liegt direkt auf dem Schlachtfeld. Dort zerschlug mal ein betrunkener Bauer einem anderen betrunkenen Bauern den Kopf mit dem Beil.«

»Beilleichen sind keine schönen Leichen, sagte mein Vater immer.«

»Der eine Bauer war auf der Stelle tot, und der andere Bauer wurde verrückt. Er schlug auf ihn ein, weil er ihn um sein Feld beneidete, wo ein viel schönerer Weizen wuchs als auf seinem Feld.«

Der Traktor heulte, und Josefa wich einem Schlagloch aus.

»Und so ist es bei uns bis heute. Ach, ihr müsst im Sommer kommen. Nirgends auf der Welt ist es schöner als hier, alles blüht und duftet. Und im Svíber Wald findet man die schönsten Steinpilze weit und breit, um die uns alle beneiden, das alles auch wegen der Gräber, wegen der Toten, wegen der Schlacht.«

»Und die Geister?«, fragte ich.

»Ach, mit ihnen kommt hier jeder klar.«

»Sie müssen wirklich eine sehr glückliche Frau sein«, sagte Winterberg zu Josefa. »Ich sage zu den Toten auch Geister. Sie sind unter uns, ich weiß, ich weiß.«

Josefa lachte. Es schneite immer mehr.

»Ich weiß nicht, ob ich glücklich bin … Aber ja, vielleicht haben Sie recht … Vielleicht bin ich wirklich glücklich. Woanders könnte ich nicht leben.«

Winterberg sagte, der Bauer ist vermutlich das letzte Opfer der Schlacht bei Königgrätz 1866, die letzte Frucht der Cornus sanguinea, der letzte Geist.

»Natürlich ohne mich und ohne Sie, lieber Herr Kraus. Denn wir sind als Nächstes an der Reihe, egal, ob Sie wollen oder nicht, es ist so, ja, ja, aber die Toten und die Geister tun mir nicht leid, mir tun immer nur die Überlebenden leid, ja, ja, lieber Herr Kraus, nur die Leidtragenden tun mir leid.«

»Das letzte Opfer war der alte Málek aus Mlékojedy«, sagte Josefa. »Vor zwei Jahren fand er im Svíber Wald eine alte Artilleriegranate und versuchte mit ihr den verstopften Schornstein zu putzen.«

»Eine preußische oder eine österreichische Granate?«

»Das weiß ich nicht.«

»Oder vielleicht eine sächsische Granate?«

»Das weiß ich nicht.«

»Schade. Doch eins steht fest, auch Artilleriegranatenleichen sind keine schönen Leichen, wie mein Vater immer sagte, und er musste es wissen, er hat viel mehr Leichen gesehen als wir alle zusammen.«

»Ist doch egal, welche Granate es war.«

»Ich vermute, es war eher eine österreichische Granate, ja, ja, die waren viel besser gebaut, eine preußische Granate hätte sich in der Erde längst aufgelöst.«

»Aber schön zugerichtet, das war er. Seine rechte Hand hat man nicht gefunden, die hat die Granate gefressen.«

»Vor der österreichischen Artillerie haben die Preußen Angst gehabt, ja, ja, und trotzdem haben sie die Schlacht gewonnen.«

»Bis heute will sein Haus niemand haben. Alle haben vor dem Toten Angst.«

Josefa zeigte auf ein kleines Dorfhaus mit einem niedrigen roten Dach und einem alten Apfelbaum im Vorgarten. An den Ästen ohne Blätter hingen die vergessenen und erfrorenen roten Äpfel.

»Na, ja, vielleicht können wir das Haus kaufen, lieber Herr Kraus, wenn es niemand haben will?«

»Ja, vielleicht.«

»Ich habe keine Angst.«

Ein Schneegestöber tobte über die Straße.

Und dann waren wir schon in Chlum und bogen auf eine noch engere Straße ab.

Es schneite immer mehr. Als wir ausstiegen, lag das ganze Land still vor uns. Das ganze Schlachtfeld von Königgrätz wurde unter einer feinen Schneedecke begraben, mit all den Leichen und Geistern und dem ganzen Leid. Winterberg ging zu einem Wegweiser und schaute im Schneegestöber in die Ferne. Man sah nichts.

Man hörte nichts.

»Schöne Aussicht«, sagte ich. »Es hat sich gelohnt.«

»Ja«, sagte Josefa und lachte und drehte sich zu mir um. »Hast du eine Frau?«

»Nein.«

»Entschuldigung, dass ich so blöd frage, aber ich bin einfach so, ich frage immer gleich.«

»Schon gut.«

»Hast du Kinder?«

»Nein.«

»Und die kleine Birne da?«

»Birne?«

»Er sieht doch wie eine kleine dicke Birne aus. Was hat er eigentlich?«

»Cornus sanguinea.«

»Was heißt das?«

»Krieg.«

»Krieg?«

»Krieg.«

»Alle Deutschen haben Krieg.«

»Nicht nur die Deutschen. Vielleicht wir alle.«

»Ja, alle Männer. Die Frauen nicht, obwohl, wer weiß … Du musst es hier im Sommer sehen, im Juli, wenn sich die Schlacht jährt, da kommen so viele Männer hierher und spielen wie kleine Kinder den Krieg nach. Ein paar Frauen spielen auch mit. Und dann gehen alle wieder. Im Winter kommt keiner, im Winter haben wir Ruhe und die Toten auch. Im Winter kommen nur Birnen wie der da hierher.«

Wir lachten.

Wir rauchten.

Wir verabschiedeten uns.

»Vielleicht bis später im Gasthaus«, sagte ich.

»Ja, vielleicht.«

Es schneite, und ich schaute ihrem alten Traktor nach, wie er im Schnee langsam verschwand. Ich wollte gleich zurück ins Gasthaus. Mir war kalt. Mir war nach Tee mit Rum. Nach Bier. Mir war nicht nach Krieg. Nicht nach Winterberg. Nicht nach den Toten. Nicht nach diesem ganzen Blödsinn. Ich schaute in das Schneegestöber und wünschte mir, der Schnee würde Winterberg zuschütten und verschwinden lassen.

Man sah nichts, doch dann erkannte Winterberg etwas.

»Dort, sehen Sie, Herr Kraus, dort!«

Aus Schnee und Nebel ragte ein hoher Leuchtturm. Eine Säule aus Sandstein mit einer Frauenstatue, die einen kleinen Kranz hoch in der Hand hielt. So, als segnete sie. So, als wollte sie den Kranz über das ganze Land legen.

»Austria, Göttin der Liebe, Göttin der Freiheit, Göttin des Todes, Göttin der Cornus sanguinea, ja, ja, die Königin von Königgrätz, ist das nicht schön, lieber Herr Kraus, dass wir jetzt hier sind, hier in the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins, wie der Engländer sagte, den ich in Berlin getroffen habe, ja, ja, der Engländer schaute historisch durch, the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins.«

Winterberg, der während der Fahrt hierher müde wirkte, strahlte wieder. Er marschierte in Schnee und Wind zum Denkmal, das Eis auf dem Feldweg knirschte unter seinen Stiefeln.

»Den Helden der Batterie der Toten.«

Er las laut vor, was auf der Säule des Denkmals stand.

»Auf dieser Stätte fanden nach beharrlichem Kampfe den Heldentod in der Schlacht vom 3. Juli 1866 … Kenne ich nicht … Kenne ich nicht … Kenne ich nicht … August van der Groeben, den kenne ich.« Dann schaute er lange und entgeistert hoch zu Austria, die genauso lange und entgeistert auf ihn herunterschaute.

Auf ihn.

Auf uns.

Auf das verschneite Schlachtfeld bei Königgrätz.

Auf die eingefrorenen Blumen, die auf dem Sockel lagen.

»Cornus sanguinea. Sehen Sie, lieber Herr Kraus, jemand aus Budapest war auch hier, auch er hatte hier nach seinen Toten gesucht, nach seinen Leichen, nach seinen Geistern, ja, ja, die Ungarn sind treu, sie vergessen ihre Toten nicht. Ja, ja, da fahren wir auch hin, meine Lenka war auch in Budapest, sie schickte mir eine Postkarte, ja, ja, sie war in Brünn und Wien und in Budapest und in Zagreb und in Sarajevo, nachdem sie Reichenberg verlassen musste, ja, ja, sie hat mir von überall Postkarten geschickt, ja, ja, in Sarajevo sollten wir uns treffen und von dort gemeinsam weiterfahren, nach Griechenland und dann weiter mit dem Schiff nach Palästina, das war unser Plan, lieber Herr Kraus, doch alles vergebens, alles kam anders, so kommt es im Leben, ja, ja, und jetzt ist Lenka tot, meine Lenka, genauso schön, wie die Austria auf dem Denkmal, ja, ja, die einzige Frau, die ich wirklich heiraten wollte, Lenka Morgenstern, die erste Frau im Mond, traurig, traurig, mich macht es immer noch sehr melancholisch. Wenn wir auf dem Weg nach Sarajevo sind, wir müssen unbedingt in die Budapester Kurbäder, das macht uns schön warm. In Budapest werden wir auch einen Wetterumsturz erleben, ja, ja, Sie können sich jetzt schon darauf freuen.«

Winterberg zitterte vor Aufregung und zog mich durch den Schnee in den Wald.

»Herr Kraus, ich weiß, es ist kalt, aber wir müssen durchhalten, wie die Österreicher, wie die Preußen, wie die Sachsen, ja, ja, wir müssen es uns anschauen, die Stellungen der Batterie der Toten, die sich hier völlig aufopferte, die diesen Hügel in eine heldenhafte Feuerburg und in eine Feuerhalle und schließlich auch in eine Feuergruft verwandelte, so wie mein Vater den Monstranzberg in Reichenberg in eine Feuerburg und in eine Feuerhalle und in eine Feuergruft verwandelte, ja, ja, traurig, traurig, ist es nicht schön, dass wie hier sind.«

Er zog mich tiefer und tiefer in den Wald.

»Sehen Sie, lieber Herr Kraus, da steht auch ein Denkmal. Und dort noch eins! Sehen Sie, hier, ja, ja, und hier und hier, diese Senken, das waren die Stellungen der kaiserlichen Artillerie … Die Batterie der Toten war nicht gleich tot, die Batterie der Toten schoss zum Svíber Wald und zu Sadowa, sie schoss in Richtung der Ersten Preußischen Armee, sie schoss und schoss und schoss, und sie traf, ja, ja, die Österreicher waren gute Kanoniere, das wusste man spätestens seit der Schlacht bei Solferino, wenn Ihnen Solferino ein Begriff ist, obwohl Österreich die Schlacht bei Solferino so großartig verloren hat, so wie viele andere Schlachten, so wie Königgrätz, trotzdem war die kaiserliche Artillerie allen anderen Artillerien überlegen, ja, ja, traurig, traurig, lieber Herr Kraus.«

Es schneite. Der Schnee war nicht mehr leicht, sondern schwer und nass. Winterberg zog mich weiter und weiter durch den stillen winterlichen Wald.

»Sie wusste leider nicht, dass sie die Zweite Preußische Armee im Rücken hatte, nein, nein, keiner wusste das, ja, ja, der berühmte Nebel des Krieges, sie sollten Clausewitz lesen, der Engländer hat Clausewitz gelesen, ja, ja, der Nebel des Krieges, sie haben sich alle aufgeopfert, als sie den Rückzug der österreichischen Armee zu Königgrätz mit ihrem Flammenfeuer deckten, nur ein einziger österreichischer Offizier hat die Schlacht überlebt, nur eine einzige Kanone wurde vor dem Feind aus dieser Flammengruft gerettet. Und so vergeht die Zeit, es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, oh, wie die Zeit vergeht.«

Wir standen am Waldrand unter einem morschen Hochsitz. Es hörte auf zu schneien. Wir schauten das seichte Tal hinunter. In der Ferne sah ich ein Rudel Rehe. Auf der Landstraße fuhr ein kleines grünes Auto. Ich sah drei graue Stallgebäude, vielleicht war es der Bauernhof, auf dem Josefa arbeitet.

Auch Winterberg schaute auf Hügel und Wälder und Felder.

»Sehen Sie, lieber Herr Kraus, wie sich die Schlacht bei Königgrätz durch diese Landschaft zieht? Sie zieht sich nicht durch das Land, ja, ja, sie zieht sich durch ganz Europa, alles war nach dieser Schlacht anders als vorher, alles, da, da, sehen Sie, die zwei Bäume in der Ferne, das müssen die zwei Linden in Hořiněves sein, sehen Sie?«

Ich schaute in die Richtung, in die er zeigte, doch ich sah in dem Nebel nichts.

»Da müssen wir auch hin, lesen Sie endlich etwas über Geschichte, dann verstehen Sie das alles, lieber Herr Kraus, ja, ja, sehen Sie die Narbe, fassen Sie sie doch an, Herr Kraus, alles verrückt, alles immer noch hier, die armen Sachsen, die armen Österreicher, die armen Preußen, Cornus sanguinea.«

Winterberg griff in die gefrorene Erde, in den dunkelbraunen böhmischen Lehm, der dann an seinen Fingern klebte, die er sich an seinem grauen Mantel abwischte.

»Alles, was wir sehen, alles, was wir jetzt sind, ist diese Schlacht, die sich durch mein Herz zieht wie eine Wunde, die nicht zu heilen ist, ja, ja, das macht mich ein wenig melancholisch.«

Winterberg schloss die Augen und breitete die Arme aus, als würde er die ganze Landschaft umarmen wollen. Als würde er mit dieser Landschaft eins sein wollen. Als würde er sich nichts mehr wünschen, als von der Landschaft verschluckt zu werden. Als würde er so zur Ruhe kommen wollen.

Ich schaute ihn an, schüttelte den Kopf und zündete mir eine Zigarette an und sah wieder ein paar Rehe, plötzlich ganz nah, und eins der Rehe schaute auch mich lange an. Und dann verschwand es mit den anderen Rehen im Wald.

»Sie sollten nicht so viel rauchen, lieber Herr Kraus. Dort, dort muss es sein, das ist der Wald von Svíb, die Allee der Toten, die Paradestraße dieses Waldes, die Paradestraße der Schlacht bei Königgrätz, Cornus sanguinea.«

Er zeigte auf ein verschneites Waldstück auf der anderen Seite des Tales.

Im Wald war es still. Nur irgendwo weit in der Tiefe stöhnte eine Motorsäge. Unter unseren Füßen vermischte sich Schnee mit abgefallenen Ästen und grauen Blättern. Wir gingen an einer Reihe schlanker hoher Bäume entlang und standen plötzlich vor einem einfachen Kreuz aus schwarzem Metall. Drei Meter neben ihm ragte aus dem Schnee noch ein Kreuz. Und dann noch eins. Und dann sah Winterberg ein Gebüsch.

»Cornus sanguinea, ich wusste es!«

Er riss ein paar gefrorene Äste ab und zeigte sie mir.

»Cornus sanguinea, blutroter Hartriegel, auf Tschechisch Svída krvavá, krev wie Blut, das müssen Sie doch wissen, der wächst hier überall, ja, ja, das Blut, wir müssen nochmals im Sommer oder Herbst kommen, wenn die Blätter so schön blutrot sind, ja, ja, so rot wie ihre Lippen, so rot wie ihre Ohrringe mit den böhmischen Granaten, Lenka liebte diese Farbe, ja, ja, die Farbe der Blätter hat die Soldaten hierhergelockt wie in eine Falle, alle die Sachsen und Preußen und Österreicher, die hier jetzt übereinanderliegen und die die Erde nicht verdauen kann, ja, ja, genau, genau, wie es uns Josefa sagte, dieser Wald ist nach Cornus sanguinea benannt, schon wieder kein glücklicher Zufall der Geschichte, sondern der nächste tragische Unfall der Geschichte. Die Blätter sind blutrot, so wie die Erde unter uns, ja, ja, eine Öffnung des Leichnams bei lebendigem Leibe, es gibt kein Entkommen.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Ja, ja, Sie verstehen mich die ganze Zeit nicht, weil Sie historisch nicht durchschauen, so ist es, traurig, traurig, das macht mich melancholisch.«

Wir gingen weiter, und unter unseren Füßen knirschten Schnee und Eis und Äste.

Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, jemand ist mit uns da. Jemand sieht uns. Jemand verfolgt uns. Vielleicht die Toten. Die Geister von Königgrätz, die die Erde unter uns nicht verdauen konnte.

Ich hörte die Motorsäge.

Ich schaute mich um.

Ich sah niemanden.

»Wir sollten gehen.«

»Wohin? Warum?«

»Zurück. Es wird bald dunkel.«

»Nein, nein, wir sind doch angekommen. Wir bleiben hier für immer.«

»Sie sind verrückt.«

Ich sah etwas im Gebüsch. Es bewegte sich. Vielleicht ein Tier. Ein Wildschwein oder ein Reh. Nein, es sah größer aus. Viel höher.

Wie ein Mann.

Wie ein Soldat.

Wie ein Geist.

»Da steht jemand«, sagte ich und zeigte in den Wald.

Doch Winterberg hörte nicht zu.

»Ja, ja.«

»Da ist jemand!«

Doch Winterberg war es egal. Er schaute sich ein Grab an.

»Wir sind hier.«

Ich schritt in den Wald.

»Hey! Hey!«

Ich nahm einen Ast, brach ihn entzwei und warf ihn dem großen Schatten im Gebüsch nach.

Etwas bewegte sich und rannte weg. Was das war, sah ich nicht.

Winterberg sah es auch nicht.

»Wir bleiben hier. Ist es nicht schön?«

»Nein, wir gehen.«

»Lenka, Lenka, wo bist du. Bist du hier?«

»Sie sind wirklich verrückt. Ich gehe jetzt.«

Ich schaute zum Gebüsch und sah dort nichts mehr. Mir war kalt. Ich wollte weg.

Und dann fing Winterberg an zu tanzen. Mit dem Strauß Cornus sanguinea in der Hand tanzte er von Baum zu Baum.

»Lenka, Lenka, ich weiß, du bist auch hier.«

Winterberg tanzte durch den Wald. Von Kreuz zu Kreuz. Von Grab zu Grab. Von Denkmal zu Denkmal. Der historische Anfall, dieser Sturm in seiner Seele hat ihn immer weitergetrieben, der Sturm, der kein Sturm mehr war, sondern ein Orkan. Der Wald von Svíb spielte ihm dazu Musik, die nur er hörte.

»Lenka, Lenka!«

»Lenka ist nicht hier, Lenka ist tot!«

Doch er hörte nicht zu.

»Kenne ich nicht … Kenne ich nicht … Kenne ich nicht … Ja, ja, den kenne ich … Den kenne ich nicht … Wir müssen sie finden.«

»Lenka? Lenka ist tot, Lenka liegt nicht hier.«

»Wir müssen sie finden, meine Verwandten, wenn wir sie finden, sind wir dem Mörder näher, dem Mörder, den wir suchen …«

»Welchen Mörder denn schon wieder?«

»Den Mörder von Lenka doch.«

»Aber das ist doch irgendwo in Sarajevo passiert, wenn nicht woanders.«

»Hier fängt die Geschichte an, verstehen Sie es nicht? Warum verstehen Sie es bloß nicht? Kenne ich nicht … Kenne ich nicht … Wir müssen sie finden.«

»Herr Winterberg, warten Sie … Warten Sie!«

Ich hielt ihn an seinem Mantel fest.

Er schaute mich an. Er schwitzte und zitterte.

Immer noch der historische Anfall.

»Das ist doch verrückt.«

»Ja, ja, verrückt, alles verrückt, so ist es.«

»Wir sollten gehen.«

»Alles verrückt, alles verrückt.«

»Wir gehen. Jetzt.«

»Ja, ja, alles verrückt. Sie haben recht.«

Doch er wollte nicht gehen. Er tanzte weiter von Grab zu Grab. Ich wollte ihn wieder aufhalten, doch er war nicht aufzuhalten, er war nicht zu beruhigen.

»Lenka, Lenka, Karl, Julius …«

Und dann blieb Winterberg doch an einem Baum stehen. Er atmete schwer und schaute mich an und fing an zu schreien.

»Sie haben keine Ahnung von der Geschichte, Sie haben keine Ahnung, wie es mir geht, Sie haben keine Ahnung, was mit Lenka passiert ist, Sie haben keine Ahnung, warum wir hier sind, Sie haben keine Ahnung, was sich hier abgespielt hat, bei Regen und Nebel, am 3. Juli 1866.«

»Weißt du was, dann bleib hier. Ich gehe jetzt. Hier kannst du krepieren. Ich habe die Schnauze voll. Ich brauch dein Geld nicht. Du gehörst in die Klapse, verstehst du? In die Klapse! Du bist krank. Du bist irre. Bleib bei deinen Toten. Ich gehe jetzt, sonst werde ich auch noch verrückt, leck mich am Arsch, du alter Depp.«

Er haute mir eine rein. Damit rechnete ich nicht. Und dann haute er ein zweites Mal zu. Ich spürte Blut im Mund.

»Du kannst nicht weg, das kannst du nicht machen. Du trägst für mich Verantwortung, es ist nicht meine Schuld, dass ich lebe. Ich wollte sterben, ich wollte endlich meine Ruhe haben, ja, ja, ich habe nicht darum gebeten, dass du mich rettest. Du hast mich zurück ins Leben gebracht, mich wieder geweckt, sonst wäre ich schon tot und alles wäre gut, du bist schuld, nicht ich, nur du und du und du, du Trottel. Wer hat dich darum gebeten? Ich wollte nicht mehr leben.«

Ich schaute ihn an.

Er schaute mich an.

Er schwitzte und zitterte und schwitzte und atmete schwer.

Und auch ich war erschöpft. Schon wieder hatte ich das Gefühl, jemand umarmte mich so fest, dass mich diese Umarmung zerquetscht. Mein Herz raste und brannte.

Wir standen unter dem Baum nebeneinander und lehnten uns an die kalte Baumrinde und schauten in den schon dunklen winterlichen Wald.

Es war eine alte Buche.

Wir sagten nichts mehr.

Wir schauten auf den umgefallenen Baum nach dem letzten Sturm, der vor uns lag.

Auf den verschneiten Waldweg.

Auf ein einfaches Kreuz über einem Grab.

Ich zündete mir eine Zigarette an. Ich wusste, dass Winterberg recht hatte. Ich war schuld. Als mich seine Tochter zu ihm brachte und mich für die Überfahrt bezahlte, für meine Begleitung in seinen Tod, lag er schon halbtot in seinem Bett.

Ein Satz, ein einziger Satz hat alles geändert. Ein einziges Wort.

»Es ist schon interessant, Sie heißen Winterberg und ich komme aus Winterberg, aus Vimperk in Böhmen, das früher Winterberg hieß.«

Das sagte ich ihm in jener Nacht.

Ich wusste nicht, dass er mich hörte.

Er lag da und schlief.

Doch er hörte mich.

Er machte die Augen auf.

Und danach war alles anders.

Und so sind wir jetzt hier.

Auf dem Schlachtfeld bei Königgrätz.

In diesem Wald im Schnee.

»Dann mach es, Rache für Sadowa, haben die Franzosen gerufen. Dann bring mich um«, schrie Winterberg mich plötzlich an. »Rache für Sadowa. Trau dich endlich was, du Schlappschwanz, bring mich um.«

Ich schaute ihn an.

Er schaute mich an.

Der Wald um uns herum war still, kalt und dunkel.

Und noch jemand schaute uns an. Ein Geist. Ein toter Soldat in Uniform mit einem Gewehr in der Hand.

»Was zum Teufel macht ihr hier?«, fragte er und kam näher zu uns.

Es war ein alter Förster, und in der Hand hielt er eine Motorsäge.

Winterberg sagte nichts, er atmete schwer, schwitzte und zitterte.

So wie ich.

»Wir suchen Karl Strohbach und Julius Ewald«, sagte ich.

Wir gingen den breiten, geraden Weg entlang, der den Wald wie eine endlose Narbe teilte.

»Das ist die Allee der Toten«, erzählte der Förster. »Links von uns Leichen, rechts von uns Leichen, unter uns Leichen.«

Ich musste Winterberg helfen. Der Sturm in seiner Seele, der historische Anfall, beruhigte sich. Er war erschöpft und klein und zerbrechlich wie die erfrorenen Äste von Cornus sanguinea, die er in der Hand hielt.

Wir gingen aus dem Wald.

Mitten im Feld stand ein einfaches Denkmal aus Sandstein.

»Karl Strohbach. Julius Ewald«, sagte der Förster und zeigte auf die eingemeißelten Namen.

»Ich kenne hier jeden Baum, jedes Grab und jeden Toten. Hat mir alles mein Vater beigebracht. Und ihm sein Vater. Wir waren immer Förster in diesem Wald.«

Der Himmel war dunkelgrau. Es schneite wieder, und Winterberg schaute sich den Obelisken an. Dann legte er seinen Strauß nieder.

Cornus sanguinea.

Wir saßen im Gasthaus. Ich, Winterberg und Josefa. Im Radio lief Country und im Fernsehen Fußball. Winterberg schlief mit dem Kopf auf seinem aufgeschlagenen roten Buch. Und ich bestellte noch ein Bier.

Eins für mich.

Eins für Josefa.

Wir tranken Bier, und ich schaute Josefa in die Augen. In ihre grauen, schönen tiefen Augen.

»Was ist?«

»Nichts.«

»Was glotzt du so?«

»Du hast schöne Augen.«

»Meinst du? Finde ich nicht. Ich mag blaue Augen. Deine Augen sind schön.«

Ich schaute in ihre Augen und sie schaute in meine Augen.

Und ich sah in ihren Augen andere Augen, die genauso schön, grau und tief waren.

Die Augen von Carla.

»Was ist?«, fragte Josefa nochmals.

»Nichts.«

DIE ÜBERFAHRT

Sein erstes Wort war Feuerhalle.

Wenn Kinder sprechen lernen, sagen sie oft als erstes Wort Mama oder Papa oder essen oder kacken oder von mir aus auch Pimmel, aber kein Kind sagt als erstes Wort Feuerhalle.

Doch Winterberg sagte:

»Feuerhalle.«

Ich weiß, Winterberg ist kein Kind. Winterberg bewegt sich gerade in eine eher andere Richtung. Er bewegt sich dorthin, wohin wir uns alle bewegen, der eine langsamer, der andere schneller, doch wir alle treiben dorthin.

Ob wir wollen oder nicht.

Ob wir bremsen oder nicht.

Ob wir gesund sind oder nicht.

Dort, wo wir alle hingehen und hinmüssen, dort, im Nebel am Ende der Strecke, am Ende der Reise, am Ende der Überfahrt, wie es bei uns, den Soldaten der letzten Hoffnung heißt, dort begegnen wir alle unserem eigenen Anfang. Kurz sehen wir uns im Spiegel wieder.

Wir sehen, was wir sind.

Wir sehen, was wir waren.

Vielleicht zerbricht der Spiegel in dem Augenblick, in dem wir uns sehen.

Vielleicht ist nichts dahinter. Vielleicht eine schwarze Wand. Vielleicht ein Sprungbrett in eine große Leere. In ein Loch. In die Unendlichkeit. In die Endlichkeit.

Vielleicht wartet dort Gott.

Vielleicht der Teufel.

Vielleicht eine Kneipe mit frisch gezapftem Bier, wo alle sitzen, die schon vor uns gegangen sind und auf uns warten. Wenn wir in der Tür stehen, heben sie die Biergläser und sagen: Sag mal, das hat aber lange gedauert.

Und trinken auf unsere Ankunft.

Auf unser Wiedersehen.

Auf unseren Tod.

Aber vielleicht ist auf der anderen Seite einfach nichts. Und wenn ich nichts sage, dann meine ich auch wirklich nichts. Vielleicht gehen wir einfach verloren. Wir lösen uns auf, so wie der Morgennebel. Vielleicht ist es auch gut so. Vielleicht ist es dann endlich vorbei.

Doch vielleicht steht dort wirklich der Spiegel, und wir schauen uns eine ganze Weile an. Ich erzähle das gerne mit dem Spiegel, mit dem Treffen mit uns selbst. Es ist keine Wiedergeburt oder so. Nur ein Treffen. Ein schneller Blickwechsel. Ich glaube daran. Ich will am Ende nicht die anderen treffen. Ich will nur mich treffen. Mich begreifen.

Das, was ich bin.

Das, was ich war.

Ich erzähle das gerne mit dem Spiegel, wenn meine Matrosen bei mir auf dem Schiff im Bett liegen. Tag für Tag und Nacht für Nacht. Ich erzähle es ihnen im Winter und im Frühjahr und im Sommer und im Herbst und wieder im Winter, wenn sie den nächsten Winter mit mir noch erleben. Das Erzählen bleibt die letzte und die einzige Hoffnung für meine Matrosen.

Was ich damit sagen will, ist, dass viele, die ich mit auf die Überfahrt nahm, die ich in den Tod begleitete und während der Reise bekochte und fütterte und mit Medikamenten versorgte und wusch und kämmte, viele, denen ich den Mund und die Augen und den Arsch abwischte, viele, denen ich die Zähne und die Ohren und die Nase putzte, viele, die ich rasierte, viele, die ich wickelte und an der Hand hielt, viele, mit denen ich mich prügelte und die ich beruhigte, viele, denen ich aus Büchern und Zeitungen vorlas, und die ich danach wieder bekochte und fütterte und mit Medikamenten versorgte, und denen ich wieder Mund und Augen und Arsch abwischte, und die ich wieder rasierte und wieder wickelte und wieder an der Hand hielt, viele von denen waren und sind und werden nichts anderes als kleine, verlorene, wie aus dieser Zeit und dieser Welt rausgeschmissene heimatlose Kinder, die am Rand einer Straße warten, dass sie jemand mitnimmt.

Verlorene kleine Kinder, um die man sich kümmern muss.

Verlorene kleine Kinder, die weinen und schreien und beißen und spucken und schimpfen und kratzen und schlafen und träumen und wieder weinen.

Verlorene kleine Kinder auf der Überfahrt.

So wie Winterberg.

Doch dann sagte er: »Feuerhalle.«

Und ich sagte: »Feuerhalle?«

Und er sagte: »Feuerhalle.«

Und alles war anders.

Es hat mich ein wenig überrascht, und ich glaube, es würde jeden überraschen.

Ich kannte das Wort nicht. Ich hörte es zum ersten Mal. Ich wusste nicht, was es bedeutete. Ich wusste nicht, wie oft ich das Wort noch hören würde.

Ich wusste so vieles noch nicht.

Über Winterberg. Über Lenka Morgenstern. Über seine Tochter Silke. Über Reichenberg und über die Feuerhalle. Über die vielen Leichen und über die Liebe. Über den Krieg. Über die Geschichte und über die Eisenbahn. Über Königgrätz und über Sarajevo.

Über mich.

»Mein Vater hat einen schweren Schlaganfall erlitten.«

Wir saßen am großen Küchentisch und tranken Kaffee.

»Es ist der dritte Schlaganfall in kurzer Folge.«

Die Küche war der einzige Raum in der Wohnung, wo man die Züge nicht sah und nicht hörte.

»Der Arzt meinte, schon der erste war sehr schwer.«

Die Küche war wahrscheinlich der einzige Raum, wo man ruhig schlafen konnte.

»Der Arzt sagte, der zweite war noch schwerer.«

Doch es stand hier kein Bett. Das große Fenster führte zum Innenhof, ich sah die Mülltonnen und einen kleinen Wald.

»Der Arzt sagte, es sei ein Wunder, dass mein Vater ihn überlebt hat.«

Eine Fichte und zwei Birken und eine Linde.

»Doch er hat sich noch ein wenig erholt.«