Die Stille in Prag - Jaroslav Rudiš - E-Book

Die Stille in Prag E-Book

Jaroslav Rudiš

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Beschreibung

Ein Techno des Herzens – cool und elegant

Jeder Aufbruch hat einmal ein Ende. Die Revolution, die Anfang der 90er Jahre das Leben in Prag zu einer einzigen großen Party machte, ist längst vorbei. Jetzt ist Spätsommer, das Licht ist bereits schwach und träge geworden. Doch bevor sich der Sommer endgültig dem Ende zuneigt, wird für fünf Menschen nichts mehr so sein, wie es vorher war …

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Fünf Menschen zwischen Straßenbahnlärm und dem Techno des Herzens, zwischen Lichteffekten und Rockmusik – und ein Konzert der Stille, das alles verändert. Petr, von seiner großen Liebe verlassen, arbeitet nach einem abgebrochenen Studium als Aushilfe bei der Straßenbahn. Auf einer seiner Fahrten trifft er die junge Punkerin Vanda, die sich fest vorgenommen hat, mit 18 das Koksen sein zu lassen. Ein Monat ist es bis dahin noch. Der angesehene Anwalt Wayne hat es dagegen geschafft, sein Leben auf Erfolgskurs zu bringen. Doch dann meint er, in den Nachrichten seinen im Irak stationierten Bruder blutüberströmt auf einer Trage zu erkennen und wird völlig aus der Bahn geworfen. Er weiß noch nicht, dass Hana, die im Flieger nach Prag sitzt, nicht bereit ist, ihn aufzufangen. Und dann ist da noch der alte Vladimír, der seine Frau verloren hat und sie nicht gehen lassen kann. Den Auslöser für das ganze Übel auf der Welt sieht er im Lärm. Den Rest seines Lebens verschreibt er dem Kampf für die Stille ...

JAROSLAV RUDIŠ, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und Musiker. Seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane erschienen im Luchterhand Literaturverlag und bei btb. »Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er außerdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet. Zuletzt erschien die Erzählung »Weihnachten in Prag«, illustriert von Jaromír 99. Rudiš lebt in Berlin und in Lomnice nad Popelkou im Böhmischen Paradies, wo er herkommt.

JAROSLAV RUDIŠ

Die Stille in Prag

Roman

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Die Originalausgabe erschien 2007unter dem Titel Potichu bei Labyrint, Prag.Die Arbeit am Roman wurde vom Český literární fond/Tschechischer Literaturfonds gefördert.Die Übersetzerin bedankt sich bei International Writers’and Translators’ House im lettischen Ventspils für dieUnterstützung und die inspirierende Arbeitsatmosphäre.Und bei Ines Koebel für die Übersetzung der Pessoa-Passagen.
© 2012 der deutschsprachigen Ausgabeby Luchterhand Literaturverlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: Uhl + Massopust, AalenAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-641-07248-3V005
www.btb-verlag.de

DIE LETZTE AM TAG

Ihre Körper berühren sich nicht. Sie liegen nebeneinander und blicken an die Decke. Hinter den Fenstern Prag, Stille und Dunkelheit. Petr steckt sich eine letzte Zigarette an.

»Laut soll die Musik sein. Richtig laut. Das ist das Wichtigste. Damit alles andere untergeht. Aus der Welt verschwindet. Und endlos lang soll sie sein. Lang, heftig und ohne Ende. So laut wie möglich. So will ich es bei meiner Beerdigung haben«, sagt Vanda.

»Welche Band schwebt dir da vor?«

»Jeden Morgen ’ne andere.«

»Ich verstehe.«

»Am wichtigsten ist die Lautstärke. Alles, was nicht laut ist, existiert nicht.«

»Jetzt ist es aber still. Stiller geht’s gar nicht.«

Petr fährt mit der Hand über Vandas Haar.

»Nur Stille allein gibt’s nicht. Irgendwo läuft immer was. Hörst du das nicht?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

Vanda stimmt stockend ein langsames Lied an, die Melodie fischt sie aus der schlafenden Stadt hinter den Fenstern heraus.

I feel like … I feel like …

A little black cat …

I feel like … I feel like …

I’m lost in no-man’s-land …

»Hörst du das wirklich nicht?«

»Nein.«

»Ich schon. Ich höre dauernd Musik.«

»Aber jetzt ist es still.«

»Ich hab doch gesagt, dass ich was höre. I feel like …«

»Ich hör nur dich.«

»Stille macht mich krank.«

»Vielleicht spielt die Musik in dir.«

Petr legt den Kopf auf Vandas Brust und lauscht. Ihr Herz schlägt. Sie riecht gut. Auch das, was sie heute Nacht miteinander gemacht haben, riecht gut an ihr.

»Hübsches Techno … 1000 Beats pro Minute. Dein Herz ist dein DJ. Ist wie bei der Loveparade. Nur ohne Gesang.«

»Techno, hast du Techno gesagt? Techno ist tot, du Idiot.«

»Find ich nicht, man braucht nur an dir zu horchen.«

»Tot hab ich gesagt. Und tot bin ich noch lange nicht.«

Er küsst zuerst ihre linke Brust und dann die rechte, die etwas kleinere. Bei allen Frauen, mit denen er mal was gehabt hat, war die rechte Brust etwas kleiner. Dann küsst er das Muttermal dazwischen.

»Wie fühlt sich das an?«

»Deine Brüste zu küssen?«

»An meinem Herzen zu horchen!«

»Lang.«

»Wie: lang?«

»Wie ein unendlich langer, fließender Song.«

»Kein Techno?«

»Genau die Art Song, die du haben willst.«

»Ich will es auch mal hören.«

Er streichelt sie.

Oben. In der Mitte. Unten.

Eine Weile lässt sie es zu.

Sie stöhnt. Noch einmal. Als er nach ihrer Pobacke fasst, bewegt sie das Becken. Dann aber schiebt sie seine Hand auf die Bettdecke zurück.

»Schluss.«

»Woher weißt du, dass ich was wollte?«

»Wir kennen das Spiel. Die Frau wird nur benutzt. Und ausgenutzt.«

»Das musst ausgerechnet du sagen.«

Vanda steht auf und geht zu dem beleuchteten Aquarium, das auf einem niedrigen Tisch steht, auf den in anderen Wohnungen eher der Fernseher gestellt wird. Sie klopft an die Glasscheibe, um den kleinen dicken Fisch zu begrüßen, der auf sie zugeschwommen kommt, und setzt sich auf den Parkettfußboden. Sie ist nackt, und die beleuchteten Pflanzen und Wasserbläschen im Aquarium werfen gelbe zitternde Lichtstreifen auf sie. Vanda sieht aus wie ein kleines Wasserzebra, das sich im tiefen, dunklen Ozean verlaufen hat. Sie ist nicht mehr die traurige, patzige junge Frau mit den schwarz gefärbten Haaren und der frischen Schultertätowierung, die Petr vor ein paar Stunden kennengelernt hat. Aus dem Nebenzimmer kommt Malmö und stupst sie gähnend mit der Schnauze an. Vanda krault sie zwischen den Ohren und Malmö streckt sich neben ihr aus.

Petr findet den eintätowierten Text auf Vandas Schulter etwas albern, aber er sagt nichts. Er stellt sich nur vor, wie Vanda älter wird. Wie sie in zehn Jahren aussieht. In zwanzig. In fünfzig. Und wie er dann aussieht, falls er überhaupt noch irgendwie aussieht.

»Der älteste Fisch der Welt. Ein Geschenk von meiner Oma. Er ist hundert Jahre alt«, sagt Petr und drückt die Zigarette aus.

»Woher weißt du, dass es ein Er ist?«

»Nur Männchen tragen Schleier. Je länger, desto älter sind sie. Und erfahrener.«

»Heftig. Ein Typ mit ’nem Schleier. Wie heißt er denn?«

»Nestor.«

»Und das Schiff hier? Hat es auch hundert Jahre auf dem Buckel?« Vanda zeigt auf das kleine Plastikspielzeug auf dem Boden des Aquariums.

»Das ist kein Schiff.«

»Also ein U-Boot.«

»Das ist ein Bathyscaphe. Mit dem ist mal einer bis auf den Meeresgrund getaucht.«

»Darf man ihn füttern?«

»Er ist zu fett.«

»Ein kleines bisschen …«

»Pass bloß auf, dass er dich nicht auffrisst. Auf seine alten Tage giert er nach Frischfleisch.«

»Auf seine alten Tage … Du redest wie mein Vater … Er sieht wunderschön aus. Wie ein Fisch aus dem Märchen.«

Petr beobachtet noch eine Weile, wie die gestreifte Vanda Nestor Futter ins Wasser streut. Er mustert ihren mageren Körper, auf den die Pflanzen und Luftbläschen aus dem Aquarium tänzelnde Schatten werfen. Er beobachtet das Aquarium, das wie ein offenes Fenster zu sein scheint, das in eine andere Welt führt. Dann hört er das Meer rauschen. Er lässt sich von den Wellen tragen und fühlt sich wohl. Das Meer ist warm. Und gar nicht so salzig. Im Tosen der Brandung hört er Vanda mit Nestor sprechen. Ihm ihre Geschichte erzählen. Ihr kurzes, heftiges Leben. Aber vielleicht träumt er das auch nur. Bevor er sich der nächtlichen Stille hingibt, dreht er sich auf die Seite und vergräbt den Kopf im Kissen.

In ein paar Stunden wird er aufstehen, Kaffee kochen, sich die erste Morgenzigarette anstecken, die einzige Pflanze in der Wohnung gießen und sich mit Malmö auf den Weg durch die allmählich erwachende Stadt zur Arbeit machen. So wie immer.

»Ich bin so was von blöd. Naiv bis zum geht nicht mehr. Man kann mit mir machen, was man will. Ich hab ihm vertraut, verstehst du? Und dieses Arschloch fickt einfach ’ne andere. Dabei starrt er mir noch kurz vorher tief in die Augen und quasselt was von ewiger Liebe.«

Die nackte Vanda hockt immer noch vor dem Aquarium. Nestors Schleier scheint kein Ende zu nehmen, als füllte jede seiner Bewegungen das Aquarium aus, deckte das Zimmer und die ganze Welt zu. Vanda findet das faszinierend. Könnte bloß auch sie unter diesem Schleier verschwinden.

Vom Bett her kommt ein leises Schnarchen. Erst jetzt wird ihr bewusst, wo sie sitzt und mit wem sie redet. Und dass es kühl ist im Raum. Sie lächelt und tippt mit dem Finger gegen die Glasscheibe.

»Schlaf gut, du Fisch.«

Sie schaltet das Licht im Aquarium aus, streichelt die schlafende Malmö und schlüpft neben Petr ins Bett.

AUFWACHEN

Den Handywecker hört sie nicht. Sie wird von einem Flugzeug geweckt. Draußen vor dem Fenster sieht sie noch die Flügel in die Höhe schießen. Hat sie denn gestern Abend vergessen, das Fenster zu schließen? Oder hat er es geöffnet, bevor er ging? Hat er sie noch geküsst? Oder hat sie das alles nur geträumt? Nein, er hat ihr bestimmt einen Abschiedskuss gegeben. Sein Geruch liegt noch in der Luft.

Hana schaltet den Fernseher ein, stellt den Ton ab und macht noch mal kurz die Augen zu. Sie schläft für fünf Minuten ein, als läge sie nicht in einem Hotelzimmer, sondern in ihrem Prager Bett unter der hohen weißen Decke.

Dann klingelt auf dem Nachttisch ihr Handy. Should I Stay or Should I Go. Wie hatte sie sich irgendwann mal ausgerechnet dieses Lied als Weckmusik aussuchen können? Wohl aus reiner Nostalgie. Halb sechs. Eine Stunde früher als in Prag. Gegen Mittag würde sie wieder dort sein.

Sie hat leichte Kopfschmerzen. Der Wein gestern Abend war stark, vor allem aber hat sie zu viel davon getrunken. Von allem gab es gestern zu viel. Trotzdem fühlt sie sich gut. Nach langer Zeit wieder. Womöglich hat sie sich noch nie so gut gefühlt.

Sie geht ins Badezimmer. Zuerst heiß, dann eiskalt duschen. Wie jeden Morgen. In der Zwischenzeit seift sie sich genüsslich ein. Sie könnte ganze Stunden mit Duschen verbringen. Sich blank waschen, sich auflösen – jetzt und hier – und mit dem Abflusswasser ins Meer gespült werden.

Als sie wieder ins Zimmer kommt, brennt tonlos Irak auf dem Bildschirm. Mosul? Bagdad? Kirkuk? Basra? Irgendwo weit weg. Drei amerikanische Soldaten hasten durch das Bild, sie schleppen einen verletzten Kameraden auf einer Trage. Aus seinem Bauch sickert Blut. Für eine Sekunde erhascht sie einen Blick auf sein halb mit einem Helm verdecktes Gesicht. Er schreit, sie hört es aber nicht. Auch wenn der Ton an gewesen wäre, hätte sie ihn nicht hören wollen.

Sie zappt sich durch die Programme. In der portugiesischen Version von Lass dich überraschen! schließt eine fünfzigjährige Frau einen jungen Mann in die Arme. Er wiegt ungefähr einhundertfünfzig Kilo. Eine Mutter und ihr wiedergefundener Sohn? Hana schaltet um. Europop. Eurosport. Euronachrichten. Erschöpfte nordafrikanische Flüchtlinge an einem spanischen Strand. Zum Schluss Horst Fuchs mit einem Ohrring und seinen scharfen, spitzen Messersets. Ausgerechnet er hat es geschafft, Europa zu vereinen. In wie vielen Ländern mag Hana seine Werbesendung schon gesehen haben? Ob der Mann auch im Irak bekannt ist? Werden seine Messer auch Schiiten und Sunniten zusammenbringen? Vielleicht könnten die Amis einen Typen wie ihn ganz gut gebrauchen.

Sie zieht sich an. Slip. BH. Strümpfe. Thomas wünschte sich gestern, dass sie sie dabei anbehielt. Hana schlüpft in ihre Pumps. Der Sex war gut. Vor allem Thomas war gut, denkt sie. Ob er schon weg ist? Oder sehen sie sich vielleicht doch noch beim Frühstück? Am Flughafen?

Jetzt ist die Bluse dran. Und das blau gestreifte Kostüm, das sie sich im Frühjahr gekauft hat. Ein Sonderangebot, man sieht es ihm aber nicht an. Lippenstift und etwas Puder. Über die Sommersprosse mitten auf der Stirn wird sie sich bis ans Ende ihrer Tage ärgern.

Kofferpacken. Und Trinkgeld für das Zimmermädchen hinlegen. Das tun die Tschechen nie, hat sie mal gehört. Aber die Tschechen tun so vieles nicht.

BOXEN

Marie. Ihr Hintern. Null Reaktion. Ihre Pussy, ihre fucking Pussy. Nichts regt sich. Weiter. Nur nicht aufhören. Ludmila. Ihre Riesentitten. Die glänzende schwarze Bluse, die sie gestern anhatte. Der schwarze Bra. Ihr Hintern in der engen Jeans. Ihre Möse, ihre fucking Pussy. Immer noch nichts. Weiter. Schneller. Julia. Ihre Pumps. Der enge Rock. Sie trägt bestimmt Strapse. Zumindest ab und zu. Seinetwegen würde sie die schon anziehen. Julia. Ja. Lass uns loslegen. Mach schon. Besorg es mir. Ihre Lippen. Ihre Pussy. Nimm ihn in den Mund. Sie ist ganz nass. Wir küssen uns. Er leckt sie. Sie ihn. Sie bläst ihm einen. Immer noch keine Reaktion. Scheiße.

Also noch mal. Wayne lehnt den Kopf gegen die Badezimmerkacheln. Marie. Ludmila. Julia. Marie. Ludmila. Julia. Pussy. Pussy. Fucking Pussy. Fuck. Fuck. Fuck. Er kommt langsam. Aber er kommt. Gleich ist es so weit. Ja, er kommt gleich. Statt Julia liegt auf einmal Harriet auf seinem Schreibtisch. Seine Jugendliebe. Zart und zerbrechlich. Geschlafen haben sie nie miteinander. Auch ihre Möse hat er nie gesehen. Bis jetzt hat aber die Vorstellung immer funktioniert. Heute will es nicht klappen. In letzter Sekunde ruft er sich das Bild der Kleinen vor Augen, verscheucht es aber sofort wieder.

Er denkt dabei nie an die Frau, mit der er gerade zusammen ist und die er liebt. Es passt nicht, damit würde er die Augenblicke verwässern, in denen er wirklich mit ihr zusammen ist. Er mag da vielleicht etwas altmodisch sein, aber so ist es. Er liebt die Kleine. Und sie ihn. Schon lange.

Schluss jetzt. Sein Ständer ist sowieso weg.

Das wird ein Scheißtag heute.

Statt heißer Dusche nur kaltes Wasser. Handtuch. Wayne betrachtet sich im Spiegel. Zieht ein paar Mal den Bauch ein und lässt ihn wieder locker. Er sieht schon viel besser aus als vor einem halben Jahr, als er noch keinen Sport gemacht und noch nicht mit Boxen angefangen hat.

Wayne überlegt, dass seine Arbeit genauso wie das menschliche Leben mit einem Muskel zu vergleichen ist, einem Muskel, den man immer wieder an- und entspannt. Belastung und Ruhe. Erektion und Schlaffheit. Ein Spiel mit der Fantasie. Erst der Ständer. Danach ein müdes, erschöpftes Nichts. Das Leben galoppiert doch nur einer bizarren Vorstellung seiner selbst hinterher. Es gleicht einer pausenlosen Onanie. Vielleicht war das nicht immer der Fall, jetzt ist es aber so. Möglicherweise liegt es daran, dass er siebenunddreißig ist. Oder daran, dass er viel zu viel arbeitet. Oder daran, dass er es gestern im Fitnessstudio ein wenig übertrieben hat und nachts verschwitzt aufwachte.

Jetzt ist es Morgen.

Er steht nackt vor dem Spiegel und starrt seinen schlappen Schwanz an, der ihn vorhin im Stich gelassen hat.

Noch einmal zieht er den Bauch ein und lässt ihn wieder hängen. Dann zieht er seinen Slip an und das Hemd.

In der Küche öffnet er das Fenster zum Hof. Er wirft zwei Äpfel, eine Möhre, eine Banane und eine Orange in den Entsafter. Holt aus dem Kühlschrank eine Flasche Bio-Milch und angelt auf dem Regal nach einer Tüte Bio-Müsli mit Nüssen.

Sein Bruder ist der Meinung, Bio sei was für Schwule. Genauso wie iPod, MacBook, alkoholfreies Bier und Urlaub in Südfrankreich.

Die Milch ist sauer.

EINSCHLAFEN

Heute hört alles auf. Aber noch ist der Tag jung. Vladimír steht nackt in der Mitte eines kleinen Zimmers, das immer kleiner wird. In Wirklichkeit wird es nicht kleiner, es kommt ihm aber morgens so vor. In den letzten Monaten, Wochen und Tagen taucht dieses Gefühl immer häufiger auf. Bis auf sein Bett, einen Schrank und einen Nachttisch ist das Zimmer leer. Am Fenster ein Rollo, daneben Vorhänge, die Wände kahl. In der Mitte er. Das war’s.

Sein Blick wandert eine Weile über die weißen Wände, während er angestrengt horcht, ob etwas von der Außenwelt durchsickert. Er weiß, dass sich der Schall nicht nur durch die Luft verbreitet, dass der Straßenlärm nicht nur durch die sorgfältig abgedichteten Fenster in die Wohnung eindringt. Er weiß, dass Geräusche und Lärm durch jedes, wirklich jedes Material geleitet werden, er weiß, wie schwer es ist, sich dem erfolgreich zu entziehen, der Schall strömt durch Ziegelsteine, durch Kabel und durch Ritzen im Gemäuer herein, er wird durch Wasser- und Gasleitungen und durch die Abflussrohre getragen. Vladimír lauscht, Vladimír inspiziert jede Ecke. Aber er hört nichts.

Das beruhigt ihn. Er hört nur seinen Herzschlag und seinen Atem, und das ist gut, auch wenn ihm sein Herz jeden Tag etwas leiser und langsamer erscheint, als bliebe sein Körper tagtäglich um ein paar unmerkliche Tempi zurück, als hinke er um ein paar Atemzüge hinterher. Sein Herz schläft langsam ein, zumindest kommt es Vladimír so vor. Vielleicht soll es so sein. Bald ist der ewige Schlaf dran. So hat es zu geschehen und so wünscht sich Vladimír das auch.

Er ist immer noch nackt. Er geht ins Wohnzimmer, das er zu seinem Labor umgebaut hat, zur Werkstatt seiner Befreiung, zu einer Fabrik für die Befreiung der Stadt, des Landes und des gesamten Universums.

Er lauscht, aber auch hier herrscht Stille. Das ist gut so, denn alles andere würde ihn ganz durcheinanderbringen.

Es gibt nur wenige Orte, an denen er in Prag dem Lärm entfliehen kann, und einer davon ist seine Wohnung. Sie ist eine schalldichte Festung, trotz mancher poröser Stellen. Ohne sie wäre er längst tot.

Den Tisch mit der Technik streift er nur kurz mit dem Blick und geht dann direkt zu dem alten Schreibtisch in der Ecke. Unter der Glasplatte schmiegen sich alte Urlaubskarten aneinander, ein paar Fahrkarten, Vignetten von Weinflaschen, vergilbte Familienfotos. Alles so alt, dass sich das Papier an der frischen Luft sofort wellen und zerfallen würde.

Vladimír sieht sich das Foto von seinen Eltern auf Langlaufskiern an. Sein Vater lächelt ins Objektiv, genauso Vladimírs Mutter mit einer komischen Zipfelmütze auf dem Kopf. Beide lächeln, als sollte dieser Tag im Riesengebirge nie aufhören, als sollte ihr Leben, das inzwischen längst ein Ende gefunden hat, ewig weitergehen, als sollten statt dieses einen Fotos gleich Tausende weiterer Bilder vom winterlichen Familienglück geschossen werden.

Mutter hat einen Handschuh ausgezogen und drückt einen pausbäckigen Jungen auf kurzen Skiern an sich. Vladimír mustert sich. Er weiß, dass er das sein muss, erkennt sich aber nicht wieder. Er kann sich nicht erinnern, wann das Foto entstanden ist, er weiß nicht mehr, wo es gemacht wurde, ihm ist lediglich im Gedächtnis geblieben, dass es danach auf der Hütte Abendessen gab, Schnitzel mit Kartoffelpüree, vorweg eine Rindsbouillon und als Nachtisch Pfirsichkompott.

Wenn Vladimír auf sein Leben zurückblickt, kann er sich in erster Linie an die Speisen erinnern, die gegessen wurden oder gegessen werden sollten. Jetzt ist ihm das Essen nicht mehr so wichtig. Er braucht es kaum noch.

Vladimír denkt gerne an die schweigsamen Mahlzeiten zu Hause, an jene ausgedehnten Konzerte der Stille, in denen lediglich das Besteck klapperte und ab und zu auf dem Porzellan kratzte, untermalt vom Quietschen der Stühle. Vater wünschte nicht, dass beim Essen gesprochen wurde. Vielleicht hat Vladimír es dort gelernt. Vielleicht hat es genau da angefangen. Seine Unlust zu sprechen. Sein Bedürfnis nach Stille.

Wer von den Eltern mag wohl die Fotos unter das Glas geschoben haben? Vermutlich Vater, denn er liebte es, Obst und Erinnerungen konserviert zu sehen. Er zwang die Mutter, alles einzumachen, was sich einmachen ließ, die Wohnung duftete wochenlang entweder nach Aprikosen, Kirschen und Pfirsichen oder sie roch nach Essig und Gurken. Auf Vaters Geheiß bewahrte Mutter Fahrkarten und Reiseprospekte in Keksdosen auf und klebte Fotos in Alben ein. Die Dosen und die Fotoalben stehen heute neben zwanzig Jahre alten Gläsern mit Essiggurken auf dem Kellerregal. Vladimír weiß das. Er ist vor einem Jahr im Keller gewesen. Konservierte Erinnerungen oder eingemachtes Gemüse. Was hält länger? Was schmeckt besser? Hat überhaupt eins von beiden jemals gut geschmeckt?

Vielleicht spielt es keine Rolle, wer die Fotos unter die Glasplatte geschoben hat. Die Bilder werden sich noch eine Weile halten. Genauso wie die Fotoalben und Gurkengläser im Keller.

DIE ERSTE AM MORGEN

In der Küche steckt er sich seine erste Morgenzigarette an und schaltet das Radio ein, dann wischt er seiner einzigen Zimmerpflanze den Staub von den Blättern. Er stützt sich auf die Fensterbank und sieht in den Himmel. Die Spitze des Fernsehturms bohrt sich in die Wolken wie ein Raumschiff, das soeben abhebt. Er ist nie auf dem Turm gewesen, hat aber nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Aber den Blick aus dem Küchenfenster mag er wirklich gerne.

Einmal hat er oben auf der Aussichtsplattform einen jungen Mann gesehen, der herunterspringen wollte. Die Feuerwehr kam. Dann die Polizei. Ein Psychologe. Aber er wollte nur seine Freundin sprechen. Die tauchte später auf, mit ihrem neuen Lover in dessen neuem Auto. Woraufhin sich der Selbstmörder Chicken Wings von KFC hinaufbringen ließ. Samt Cola, Maiskolben und einer doppelten Portion Pommes. Hat alles ganz langsam in sich reingeschaufelt und sich anschließend in die Klapse begeben.

Petr schlürft den heißen Kaffee und beobachtet die riesigen schwarzen Babys, die den Turm hinaufklettern. Er hat nie verstanden, warum sie da waren, was sie nach oben trieb und warum sich der Bildhauer für schwarze Babys entschieden hatte, und nicht zum Beispiel für grüne Schnecken oder weiße Würmer.

Als er sich umdreht, steht sie nackt in der Tür. Verschlafen, jung und wunderschön. Für den Bruchteil einer Sekunde wünscht er sich nichts sehnlicher, als mit ihr zusammen zu sein. Gemeinsam mit ihr die Tage zu verbringen, sich gemeinsam die Nächte um die Ohren zu schlagen, sich im Bett zu vergnügen. Ruhig gleich hundert Nächte hintereinander. Dann fällt ihm ein, dass er nicht einmal weiß, wie alt sie ist.

»Ich hätte gern ’ne Cola.«

»Es gibt nur Kaffee.«

»Morgens trinke ich aber Cola.«

»Ist das nicht zu süß?«

»Schmeckt gut.«

»Das Zeug zersetzt dir den Magen.«

»Papperlapapp.«

»Die Amis haben Versuche mit Cola gemacht. An einer Uni. Abends haben sie einen Typen in Cola eingelegt und morgens nur noch seine Brille gefunden.«

»Natürlich. Und die Brille hast du dann ersteigert.«

Vanda kratzt sich an der Schulter. Um die Tätowierung herum.

»Mann, das juckt.«

»Wie bist du auf den Text gekommen?«

»Das ist ’ne Band.«

»Was für ’ne Band?«

»Meine erste Band.«

»Was spielt ihr?«

»Gothic. Punk. Vor allem Punk.«

»Na, dann muss es auch jucken. Kann man euch mal hören?«

»Heute Abend. Als Vorband für irgendwelche Berliner. Die haben uns auf Myspace entdeckt.«

»Und wenn es euch nicht mehr gibt?«

»Warum sollte es uns nicht mehr geben, hä?«

»Das passiert doch immer wieder …«

»Das wird nicht passieren.«

Er reicht ihr seinen Kaffeebecher. Sie trinkt einen Schluck. Ein brauner Tropfen fließt ihr Kinn herunter. Am liebsten würde er ihn ablecken. Sie wischt sich den Mund ab.

»Bitter.«

»Aber echt.«

Den Rest gießt er in den Blumentopf. Er nimmt seine Jacke vom Stuhl und steckt die Zigarettenschachtel und den Discman in die Tasche.

»Malmö, los geht’s.«

»Bye Bye Baby«, winkt Vanda Malmö zu. Malmö wimmert leise. Steht langsam auf, streckt sich und geht zur Tür.

»Wenn du gehst, zieh einfach die Wohnungstür zu. Beim Duschen musst du mit dem heißen Wasser aufpassen. Manchmal ist es zu heiß. Und im Kühlschrank gibt’s Joghurt.«

»Ich esse morgens nichts.«

»Vielleicht sehen wir uns wieder. Irgendwann.«

»Vielleicht. Mal sehen.«

Er kehrt um, drückt sie kurz und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie küsst ihn.

»Gibst du mir deine Nummer?«

»Und du mir deine?«

Er sagt sie ihr.

»Ich schreib dir meine … Lässt du mir ’ne Fluppe da?«

»Gern auch zwei.«

»Drei?«

Petr zieht vier Zigaretten heraus. Er lächelt sie an. Und hat das Gefühl, als lächle sie zurück.

»Danke.«

»Ebenfalls.«

»Hä?«

»Dass ich heute vier Zigaretten weniger rauchen muss … Wie alt bist du eigentlich?«

»Warum?«

»Nur so.«

»Achtzehn.«

»Okay.«

»… na ja, werd ich bald.«

»Machen sich deine Eltern keine Sorgen, wo du bist?«

»Was stellst du für blöde Fragen? Auf so ’ne Idee würden die nicht im Traum kommen.«

»Bist du dir da sicher?«

»Ich darf machen, was ich will. Meine Alten sind total tolerant … Kann ich kurz ins Netz? Meine Mails checken?«, sie zeigt auf den PC unter dem Küchentisch.

»Mein Anschluss hat ’ne Macke … Funktioniert nicht richtig. Beim nächsten Mal.«

»Alles klar.«

Er zieht die Tür hinter sich zu und läuft mit Malmö die Treppe herunter. Die Hündin fiept leise. Draußen ist es kühl. In den nächsten Wochen wird es noch kühler werden. Der Sommer in Prag geht heute definitiv zu Ende.

LA PETITE MORT

Der Frühstücksraum ist voll. Hana nimmt einen Milchkaffee, ein Glas Orangensaft und ein Croissant, das sie aber nicht aufisst. Sie beobachtet die anderen Hotelgäste. Manche von ihnen kennt sie von der gestrigen Konferenz, manche vom abendlichen Empfang auf der Burg, die hoch über der Stadt liegt. Hier und da nickt sie zur Begrüßung mit dem Kopf. Der Ungar. Die estnische Kollegin. Der Brite – oder war es doch ein Ire? –, dem Thomas und sie nachts in der kleinen gelben Straßenbahn begegnet waren, der einzigen erwähnenswerten Touristenattraktion von Lissabon, die, wie Thomas meinte, eines Tages von den Chinesen aufgekauft und gemeinsam mit der Prager Burg und dem Louvre in Peking ausgestellt werden würde.

Er ist nicht mehr da. Musste weiter nach Barcelona.

Sie checkt aus. Das Taxi steht schon vor dem Hotel. Der bärtige Fahrer raucht seine Zigarette zu Ende und wirft die Kippe auf den Boden.

»Bom dia. Aeroporto, por favor.«

»You can speak English«, sagt er gleichmütig und stellt Hanas Koffer ins Auto.

Jedes Mal, bevor sie zu einem neuen Ziel aufbricht, lernt Hana ein paar Sätze in der Landessprache, damit sie sich überall ein Glas Wein, etwas zu essen, einen Espresso, ein Taxi oder andere Kleinigkeiten bestellen kann. Sie lässt sich von der romantischen Vorstellung leiten, auf diese Weise den fremden Ort besser zu verstehen. Und selbst auch besser verstanden zu werden. Aber jedes Mal ist es dasselbe: You can speak English.

Und dabei spricht sie doch sehr gut Deutsch, Französisch und Russisch. Obwohl sie nach der gestrigen Nacht für ihr Französisch nicht mehr die Hand ins Feuer legen würde. La petite mort. Dieser Ausdruck ist ihr während ihres Semesters in Genf nicht begegnet. Vielleicht ist ihr das Wort nicht untergekommen, weil sie dort keinen einzigen petite mort erlebt hat.

Erst jetzt mit Thomas.

Das Taxi fährt los.

Lissabon wacht in einen warmen und blendend hellen Tag auf. Als wollte hier der Sommer nie zu Ende gehen. In Prag wird das Licht bereits weich und schwach geworden sein, die Schatten lang, denkt sie. Sie kurbelt das Fenster herunter, steckt ihren Arm hinaus und genießt die hereinströmende warme Luft. Die Stadt duftet nach Rosenblüten, nach Meer – und nach Thomas. Der Himmel leuchtet blau, und auf den Gehwegen vor den Cafés sitzen Männer, lesen ihre Zeitungen und trinken Kaffee. Alles geht ganz langsam vor sich. Ist das die Bar, wo Thomas und sie gestern Abend ihre letzte Flasche Wein getrunken haben?

»First time in Lisboa?«, lächelt der Taxifahrer sie an.

»Yes. Very nice city.«

Hana lässt immer noch den Arm aus dem Fenster hängen, liebkost die Luft mit den Fingern und denkt an Thomas. An seinen Körper. An seinen schlanken Hals und seine langen, schmalen Finger. Daran, wie sie sich in der Straßenbahn an ihm festgehalten hat. Wie er sie in dem Bistro geküsst hat. Wie sie miteinander geschlafen haben. Wie sie sich dabei im Spiegel zugesehen hat und wie erregend sie die Idee fand, gesehen zu werden. Beobachtet. Gefilmt. Bei der Vorstellung ist ihr schwindelig geworden. Sie hat ihm die Fingernägel in den Rücken gestoßen und er hat laut aufgeschrien. Für einen kurzen Moment hat sie die Angst beschlichen, der Abend liefe aus dem Ruder.

So ist es aber nicht gewesen.

Sie denkt daran, wie sie mit ihren Lippen seinen Penis berührt hat. Und daran, wie er zum Schluss wissen wollte, ob sie gekommen sei, ob sie ihn gehabt habe. La petite mort.

Das Wort kannte sie nicht. Sie kam sowieso selten zum Höhepunkt. Und ging nie fremd.

Hana hat sich die Folgen der Untreue wie in einem Film vorgestellt. Sie hätte erwartet, von schlechtem Gewissen geplagt zu werden, aber so ist es nicht. Im Gegenteil – sie fühlt sich glücklich und stark.

Der Wagen hält an einer Kreuzung. Für einen kurzen Moment bekommt Hana Lust, auszusteigen und in Lissabon zu bleiben.

Für ein paar Tage.

Für immer.

Vor allem aber möchte sie in sich die große Ruhe erhalten. So lange wie möglich. Dieses Gefühl von Stärke. Den Aufwind, den sie plötzlich spürt.

Das Taxi hält vor der Abflughalle.

»Have a nice flight. And come back to Portugal soon.«

»Maybe.«

Eigentlich will sie nicht nach Prag zurück. Nicht nur, weil sie die Stadt mit der alten Burg und der steinernen Brücke mit Horden von Touristen nicht mehr riechen kann.

Hana betritt die Halle. Und dort sieht sie ihn.

Thomas.

KEIN SUPERMAN

Er geht einmal um seinen Wagen herum und checkt, ob alles in Ordnung ist. Das macht er seit seinem ersten und bis jetzt einzigen Unfall immer. Damals platzte ihm mitten auf einer Kreuzung der Reifen und er krachte in eine Straßenlaterne. Personenschaden gab es keinen. Aber Wayne lernte zum ersten Mal Panik kennen, Panik davor, was noch alles hätte passieren können. Und davor, was gerade vor sich ging.

In dem Moment hat ihm die Kleine sehr geholfen. Sie hielt seine Hand, streichelte ihm über die Wange und flüsterte Wayne ins Ohr, alles sei in Ordnung und sie liebe ihn. Erst als alles vorbei war und Wayne wieder Atem holen konnte, hat sie ein wenig über ihn gelacht. Sie sagte, er solle sich entspannen, solche Dinge seien nicht wichtig. Er nehme das Leben zu ernst, sagte sie. Er sei zu vorsichtig. Zu empfindlich. Ein Angsthase. Auf jeden Fall kein Superman, keiner von diesen modernen Amerikanern, von denen ständig in den Nachrichten die Rede war. Keiner von den harten Jungs, die es eilig hatten, in den Irak zu kommen, um dort mit geschwellter Brust ihren Dienst zu tun, und nicht verstanden, warum auf sie geschossen wurde, wo sie doch nur helfen wollten.

Die Panik hat sich dann wieder gelegt, und mittlerweile findet Wayne seine Reaktion sogar selbst etwas lächerlich, obwohl er weiß, dass auch harte Jungs Angst kennen. Echte Angst. Das weiß die Kleine auch, da ist sich Wayne sicher.

Sein Bruder bekommt es bestimmt auch immer wieder mit der Angst zu tun. Er hat bereits ein halbes Jahr im Irak verbracht und demnächst soll er wieder hin. Bestimmt hat er Angst, auch wenn er in seinen Mails schreibt, dass es ihn freut, wieder seine Pflicht leisten zu dürfen. Ob das wirklich seine Worte sind? Oder gibt es eine Vorlage für solche Briefe? Werden die Mails kontrolliert?

Mike soll bald wieder in den Irak fliegen, in den nächsten Tagen. Vielleicht ist er bereits dort. Mike, Waynes jüngerer Bruder, auf den die Eltern so stolz sind. Das ist schon immer so gewesen, obwohl Mike nicht Jura studiert hat wie Wayne, sondern gleich nach dem Abi als Automechaniker anfing. Sie waren schon immer stolz auf ihn und Wayne hat ihn schon immer darum beneidet.

Jetzt schließt er seinen Wagen auf, wirft die Tasche auf den Beifahrersitz, setzt sich hin und schnallt sich an. Die Kleine mag keine Sicherheitsgurte. Deswegen haben sie sich schon einige Male in den Haaren gehabt. Bei manchen Dingen benimmt sie sich, als wäre sie gerade erst fünf.

Wayne steckt den Zündschlüssel ins Schloss.

Die Bewegung stößt eine ganz andere Tür auf.

Er sieht ein kleines Holzhaus mit einer niedrigen Garage und zwei zu hoch aufgeschossene, von der Meeresbrise gebeutelte Pfirsichbäume. Im Schatten der Bäume parkt ein älteres großes Auto. Ein Haus, das zu klein ist für eine Großfamilie und zu groß für ein altes Elternpaar.

Aber Wayne lebt in Prag. Er sitzt am Steuer eines großen schwedischen Wagens mit Klimaanlage, Bordcomputer und einem CD-Player, in den zehn CDs auf einmal passen, in einem schwarzen Wagen mit sieben Airbags und einer Navigation, die es einem nirgendwo auf der Welt erlaubt, verloren zu gehen. Wayne sitzt in dem laut Elchtest sichersten Wagen der Welt, der allerdings für die schmalen Gassen Prags entschieden die falsche Größe hat.

Von der Letná-Höhe aus macht er sich zu seinem Büro am Rande von Vinohrady auf, mitten durch das verstopfte Herz der Stadt. Aus den Lautsprechern dröhnt Bruce Springsteen. Der einzige amerikanische Kitsch, zu dem Wayne wirklich steht. Und auch der einzige, den ihm die Kleine mit einem Lächeln durchgehen lässt.

Im Gegensatz zu ihr interessiert er sich kaum noch für Musik, Filme oder Ausstellungen. Am Anfang war das anders. Als er nach Prag kam, hat er sogar gemeinsam mit einem Tschechen, einem alten, etwas naiven Hippie-Verehrer von Velvet Underground, einen Rockclub gegründet. In einem umgebauten unterirdischen Lager für Obst und Gemüse. Sie haben ein einfaches kleines Podium und eine Bar hineingestellt. Und fertig war der Laden. Die halbe Stadt schlug sich dort die Nächte um die Ohren.

Damals lief alles wie am Schnürchen. Das ganze Land schäumte über vor Energie. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre dachten alle, die Revolution würde nie zu Ende gehen, sie sei eine riesige Rockparty. An den verkaterten Morgen danach dachte damals keiner.

Sie nannten ihren Club Peach Factory. Der Name war Waynes Idee. Damals tanzte er zu Dirty Pictures. Rauchte Gras. Und konnte drei Nächte hintereinander durchmachen. Der Laden brummte. Damals wollten sich alle nur amüsieren.

Schließlich mussten sie aber schließen, weil sich die Nachbarn über den Lärm beschwerten. Die Revolution war vorbei. Und plötzlich stellte sich auch der Kater ein. Auf einmal sehnten sich alle nur nach einem stinkgewöhnlichen Leben mit Pay-TV, zerknitterter Werbung im Briefkasten und maßgeschneidertem Billigurlaub in Italien. Sie wollten endlich ihren angestammten Platz in der Mitte Europas einnehmen.

Auch Wayne versuchte aufs Neue, seinen Platz im Erwachsenendasein einzunehmen. Anders als viele seiner Bekannten, die auf Biegen und Brechen nicht älter werden wollten und das romantische und billige Prag gegen ein noch romantischeres und vor allem noch billigeres Sofia – oder war es Bukarest? – eintauschten, wurde Wayne ein paar Jahre und Beziehungen später tatsächlich erwachsen. Ein Freund von ihm, Dave, wollte sich selbständig machen und schlug Wayne vor, gemeinsam eine Consulting-Firma zu gründen. Gemeinsames Geld. Gemeinsame Klienten. Gemeinsamer Gewinn.

Aus dem Rockclub wurde wieder ein Obst- und Gemüselager. Neulich sah Wayne im Vorbeifahren, wie dort kleine flinke Vietnamesen Lieferwagen mit Bananen und Tomaten beluden, um sie in der Stadt zu verteilen.

Der Kreis hatte sich geschlossen und Wayne stand wieder draußen.

Schläft er heute weniger als sieben Stunden, wird er nervös. Wenn es am Wochenende aber mal mehr als neun Stunden Schlaf werden, bekommt er Kopfschmerzen. Ist es in einer Kneipe oder einem Club zu laut, hält er es nicht lange dort aus. Ist das ein Zeichen von Erwachsensein? Oder heißt es nur, dass er alt geworden ist? Die Kleine meint, er sei ein Hypochonder. Ein älter werdender Typ mit grauen Schläfen. Aus dem eines Tages ein grantiger Greis werden wird. Vielleicht stimmt das auch.

Gegen Mittag wird er sie vom Büro aus anrufen. Abends sieht er sie dann endlich wieder. Darauf freut er sich jetzt schon.

NACKT

Sie setzt sich aufs Klo und steckt sich eine an. Immer noch ist sie nackt. Sie ascht in die Schüssel, vorsichtig, damit die brennende Zigarette ihre Beine nicht streift. Wenn ihre Eltern nicht da sind, sitzt sie morgens immer rauchend auf dem Klo. In letzter Zeit lässt sich Vater sowieso kaum noch zu Hause blicken, und Mutter steht erst gegen Mittag mit furchtbaren Kopfschmerzen auf, die sie mit Bergen von Tabletten zu verjagen versucht. Da kann Vanda ruhig ganze Vormittage auf der Toilette verbringen. Sie liebt das. Dort zu sitzen und zu rauchen. Zeitschriften zu lesen. Ganz alleine in einem kleinen verqualmten Raum zu hocken.

Sie raucht und sieht sich die uralten Poster an der Wand an.

The Cure? Wo hat er das denn ausgegraben?

Auf dem Fußboden liegt eine Zeitschrift. Sie hebt sie auf. Etwas über die Geschichte der Seefahrt und über Entdeckungen in Übersee. Was Prähistorisches halt. Der Typ scheint echt alt zu sein. Ein seltsamer Kauz. Tickt nicht richtig. Aber er hat ihr geholfen. Und er hat ihr gefallen. Außerdem hat er es ihr gut besorgt. Was sie ihm allerdings nie offen sagen würde. Sie hat noch nie offen sagen können, dass sie etwas gut fand oder dass sie sich über etwas gefreut hat. Das kann sie nur vor sich selbst zugeben.

In der Küche schenkt sie sich ein Glas Leitungswasser ein und stellt sich ans Fenster. Sie betrachtet die Pflanze. Von dem vielen Koffein, mit dem sie jeden Morgen beglückt wird, müsste sie krank sein, die Blume sieht aber zufrieden aus. Vielleicht fährt sie auf Koffein ab. Genauso wie Vanda auf Koks.

Sie sieht in den Himmel, beobachtet, wie sich die weißen Kondensstreifen um den Fernsehturm schlängeln.

Der Anblick ruft in ihr das Verlangen nach einem anderen weißen Streifen hervor. Vanda hat sich zwar geschworen, mit achtzehn mit dem Koksen aufzuhören. Aber bis zu ihrem Geburtstag ist es noch ein Monat. Und ein Monat ist eine gefährlich lange Zeit.

Nachmittags würde sie Carlos anrufen und fragen, ob er ihr was bringen kann, denkt sie. Gute Stimmung beim Konzert würde nicht schaden. Innere Ruhe. Und gleichzeitig volle Power. Auf Carlos’ Stoff kann man sich verlassen. Aber vorher müsste sie sich Knete besorgen.

Sie zieht sich das T-Shirt und die Unterhose an. Dann schlüpft sie in ihre leicht abgetretenen, knöchelhohen roten Chucks. Sie erkundet Petrs Wohnung. Nachts ist sie ihr kleiner vorgekommen. Zwei Zimmer und eine Küche. Winziger Flur. Er habe die Wohnung von seiner Oma geerbt, hat er gesagt, einer alten Kommunistin. Marx und Lenin im Bücherschrank seien Überbleibsel von ihr. Und die löchrige Schürze in der Küche. Ob er sie beim Kochen benutzt? Dann wäre er nicht nur ein bisschen komisch, sondern richtig durchgedreht.

Vanda sieht sich seine CD-Sammlung an. Lauter vorsintflutliches Zeug. Sex Pistols. The Clash. New Order. The Cure. Gott, oh Gott. Simple Minds. Das ist die Hölle. Und auch noch The Best of Queen. Vanda läuft es kalt den Rücken herunter. Das hängt aber vielleicht auch damit zusammen, dass ihr Vater total auf Queen steht.

SEE YOU SOMEWHERE, SOMEHOW

Ein paar Schritte vor ihr auf der Rolltreppe. Das ist er. Vertieft in eine Zeitung steigt er langsam die Stufen hoch. Sie erkennt seine grauen Schläfen. Und seine Brille. Hana hängt sich ihm an die Fersen.

Er kauft Zigaretten. Ein Parfüm. Cinéma von Yves Saint Laurent. Klar, sie haben zwar nicht darüber gesprochen, aber natürlich ist er nicht allein. Sie lebt ja auch mit jemandem zusammen. Vielleicht ist es deswegen gestern so gut gewesen. Für einen Sekundenbruchteil ist sie eifersüchtig, sie kann fast beobachten, wie das Gefühl sie beschleicht. Eifersüchtig auf all die kleinen Tode, die seine Frau mit ihm erlebt hat. La petite mort. Er hatte ihr ja gezeigt, was das hieß.

Sie würde ihn an der Kasse abfangen. Ihn überraschen.

Sie tut es.

Verwechslung. Er ist es nicht. Sondern ein etwas älterer Zwilling von ihm. Ja, alle EU-Beamten sehen sich ähnlich. Letzte Woche haben sie doch genau darüber im Büro gelacht. Alle EU-Beamten, Taxifahrer und Pizzaverkäufer.

Hana wird rot. Dann muss sie lachen. Er auch. Sie entschuldigt sich.

Langsam schlendert sie zu ihrem Gate.

Kurz bevor sie ins Flugzeug steigen muss, meldet ihr Handy eine SMS: See you somewhere, somehow. Thomas, la petite mort.

Gerne.

Sie lacht, drückt auf die Antworttaste und schreibt: See you in Lisboa. Dann hält sie inne und löscht den Text. Schaltet ihr Handy aus, verstaut es in der Handtasche und grüßt die Stewardess. Sie nimmt eine Zeitung und setzt sich.

Der Start.

Die Motoren heulen auf und das Flugzeug rast auf das Ende der Startbahn zu. Es löst sich vom Boden, steigt in die Höhe, genauso wie Hanas Eingeweide. Vielleicht sind sie gar nicht festgemacht da drinnen, denkt Hana, sie schwimmen in ihrem Körper hin und her wie in einem Meer. Hana wird nicht übel, im Gegenteil, dieses Gefühl gibt ihr geradezu einen Kick. Endorphine. Adrenalin. Das alles wird in ihr Blut ausgeschüttet.

Das Flugzeug taucht hoch über der Stadt auf. Unter ihnen der Ozean. Hana sieht auf den Hafen herunter, auf die braunen Wassermassen des Tejo, die sich in den Atlantik ergießen, auf die irre lange Brücke mit den vielen kleinen, langsam vorankriechenden Spielzeugautos.

Das Flugzeug fliegt einen Bogen und nimmt Kurs auf Europas Mitte. Das Piktogramm Bitte anschnallen verschwindet. Die Motoren brummen monoton. Das wird noch ungefähr drei Stunden so bleiben. Hana mag dieses Geräusch nicht, vielleicht gerade wegen seiner Monotonie.

Sie holt ein Buch und ihren iPod aus der Handtasche. Madredeus. Sehr langsam, sehr melancholisch, sehr portugiesisch.

Os teus olhos são vitrais

Que mudam de cor com o céu

Auf dem Hinflug hat Hana in ihrem Wörterbuch entdeckt, dass vitrais Fenster heißt und céu Himmel. Und wie so oft in ihrem Leben denkt sie auch jetzt, dass das Lied sich mit ihren Empfindungen zu decken scheint. Als seien die Musik und ihre Erlebnisse ein und dasselbe. Wegen diesem Gefühl wäre sie gerne Komponistin. Aber sie kann nicht einmal ein Instrument spielen, die schrammelige Gitarrenbegleitung zu zwei Lagerfeuerliedern nicht mit eingerechnet, die sich allerdings auch nur geringfügig mit ihrem Leben überschneiden.

Hana blickt in das unendliche Blau des Himmels. Dahinter gibt es bestimmt noch etwas anderes, denkt sie. Hinter diesem Himmel. Hinter diesem Lied.

E quando sorriem, iguais

Quem muda de cor sou eu

Sie versucht, sich in die Lektüre von Pessoas Buch der Unruhe zu vertiefen, aber wie schon viele Male zuvor will es ihr auch diesmal nicht gelingen. Bislang hat sie darin eher geblättert als gelesen. Letztlich bleibt vom Heute, was vom Gestern blieb und vom Morgen bleiben wird: das unstillbare, grenzenlose Verlangen, allzeit derselbe und zugleich ein anderer zu sein.

Hana klappt das Buch zu. In ihrem Körper hat sich Müdigkeit ausgebreitet. Vielleicht sollte sie kurz schlafen. Ein Nickerchen machen. Ganz kurz.

Sie wirft noch einen Blick aus dem Fenster. Jetzt müssten sie bereits über Spanien sein. Das Reisen ist für sie mit Büchern und mit Musik verbunden, wobei Letztere sogar eine größere Rolle spielt. Schon damals, als sie als Gymnasiastin zum ersten Mal in den Westen aufbrach und den Norden Europas bereiste, durfte ihr alter Walkman im Rucksack nicht fehlen. Damals stand sie auf The Cure. Zu der Zeit waren alle unglaublich romantisch drauf. Und dachten, das Leben würde ewig so vergnügt weitergehen. In jenen Tagen trug Hana hochtoupiertes Haar und roten Lippenstift und wünschte sich, mit zwei Männern gleichzeitig zu schlafen. Dieser Wunsch ist aber nie in Erfüllung gegangen. Vielleicht hätte sie es machen sollen. Vielleicht ist es jetzt so weit.