Nationalstraße - Jaroslav Rudiš - E-Book

Nationalstraße E-Book

Jaroslav Rudiš

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Beschreibung

Frieden ist nur eine Pause zwischen zwei Kriegen

Vandam war einer von denen, die es losgetreten haben am 17. November 1989, als unten in der Prager Altstadt auf der Nationalstraße die samtene Revolution ins Rollen kam, die einige Wochen später das kommunistische Regime hinwegfegte. Damals war Vandam ein junger Polizist, ein Vorstadt-Held oben in der Plattenbausiedlung des neuen Prag, die dem Wald abgetrotzt mitten in rauer Natur liegt. Dort oben haben sie als kleine Jungs heimlich Krieg gespielt, dort hat Vandam nach seinem Vater gesucht, wenn der wieder einmal angedroht hatte, er würde sich erhängen, bis er am Ende doch übers Balkongeländer sprang.

Fünfundzwanzig Jahre später wohnt Vandam immer noch in der Plattenbausiedlung seiner Kindheit. Längst ist er kein Held mehr, sondern ein Verlierer: Wegen Gewaltexzessen aus dem Polizeidienst entfernt, prügelt er sich als einsamer Schläger durch Tage und Nächte und hebt im Fußballstadion regelmäßig die rechte Hand zum Hitlergruß. »Ich bin ein Römer. Kein Nazi. Warum sollte man in Europa nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen? Ich bin ein Europäer. Ihr etwa nicht? Heil dem Volk! Heil Europa! Neger raus. Zigos raus. Sozialschmarotzer raus. Schwuchteln raus. Böhmen den Tschechen.«

Gekonnt schlüpft Jaroslav Rudiš in diesem brillanten Monolog in den Kopf und den Körper eines Schlägers: »Da wird mir das alles zu viel, meine Hand zuckt schon wieder, mein Herz pocht, ich spüre, wie sich alles in mir staut, wie es raus will, wie mein ganzer Körper kribbelt. Ich atme tief ein und aus, zum Schluss habe ich mich wieder.« Rudiš Buch gleicht einem Schlag in die Magengrube – und basiert auf einer realen Figur.

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Seitenzahl: 183

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JAROSLAV RUDIŠ

Nationalstraße

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová

Roman

Luchterhand

Für Kuba

Wölfe vor der Tür

Sind überall

Es gibt kein Entkommen

UMAKART, Wölfe vor der Tür, 2012

I

Adolf Hitler hat mir das Leben gerettet.

Ich weiß, was du sagen willst. Sag es nicht.

II

Hörst du die Stille? Die dumpfe Stille von unserem Wald? Die gespenstische Stille?

Sperr die Ohren auf und hör zu.

Hörst du, wie die Äste rauschen? Vielleicht sind es keine Bäume. Sondern alte Krieger.

Sie kommen näher.

Mir ist kalt.

Hörst du, einer hat Feuer angemacht. Sie sind nicht weit.

Wir müssen hin. Hörst du, wie es prasselt?

Mir ist kalt.

Finde die Feuerstelle und bring mich hin.

Schenk mir ein. Noch ’n Tick mehr.

Es ist gut, dass es brennt.

Sie sind noch nicht da, aber sie kommen bald.

Alte Krieger.

Schenk mir noch ein. Dir auch. Und leg nach.

Nein, das ist kein Blut, keine Bange. Das ist nur Farbe.

Gieß mir nach. Und mach mir ’ne Fluppe an. Gib sie her.

Hör dem Wald zu und mir auch, wenn du kannst. Das, was ich dir sagen werde, kriegst du von keinem anderen gesagt. Nur ich kann dir sagen, wie das Leben läuft. Nur ich kann dich retten.

Also setz dich hin, trink was und hör zu.

III

Man nennt mich Vandam.

Man nennt mich so, weil ich wie er zweihundert Liegestütze am Stück mache.

Wie viele schaffst du am Tag?

Du brauchst mir keine Zahl nennen, wenn du nicht willst. Aber wissen musst du sie.

Du solltest gerüstet sein.

Du solltest trainieren.

Du solltest nicht auf andere hören.

Hör immer nur auf dich selbst. Auf deinen Bauch. Nicht auf den Kopf. Bauch, hab ich gesagt.

Und jetzt hör mir zu.

Sie labern dich voll, von wegen du lebst im Frieden.

Sie labern dich voll, von wegen Kriege gibt es nur am anderen Ende der Welt, ganz weit weg, wenn nicht gar auf ’nem anderen Planeten.

Sie labern dich voll, du hast mit deinem böhmischen Kessel das Superlos gezogen. Hier herrschen Frieden und Ruhe. Krieg gibt’s höchstens in deinem Bauch, wenn du deinem Schweinebraten mit Knödeln und Sauerkraut ein paar Biere hinterher schickst, dann donnert’s in deinem Gedärm wie damals vor Stalingrad.

Sie labern dich voll, von wegen du sollst glücklich sein.

Sie labern dich voll, du sollst dankbar sein.

Sie labern dich voll, du sollst ihnen deine Stimme geben.

Sie labern dich voll, sie meinen es gut mit dir.

Sie labern dich voll, von wegen du hast Rechte.

Sie labern dich voll, Darlehen, Hypotheken, Kredite sind für dich das Beste.

Sie labern dich voll, du sollst kaufen und dich kaufen lassen.

Sie labern dich voll, du sollst lächelnd und beschwingt und sorglos und achtsam und liebevoll durchs Leben gehen.

Sie labern dich voll, du darfst über Politik schimpfen, mehr aber nicht.

Sie labern dich voll, von wegen jeder macht mal Fehler.

Sie labern dich voll, sie meinen es nur gut mit dir.

Sie labern dich voll, sie sind immer für dich da.

Sie labern dich voll, du sollst glücklich sein.

Sie labern dich voll, ein Kredit löst alle deine Probleme.

Sie labern dich voll, ohne Schulden bist du nichts. Erst wenn du Schulden hast, ist dir dein Platz unter der Sonne sicher.

Sie labern dich voll, du sollst sie in Ruhe lassen, dann lassen sie dich auch in Ruhe.

Sie labern dich voll, das Allgemeinwohl erreicht man nur durch unbezahlbare Protzbauten.

Sie labern dich voll, wahre Freiheit und Demokratie sind nur so zu kriegen.

Sie labern dich voll, Kapitalismus heißt Freiheit plus Demokratie.

Sie labern dich voll, es gibt keine Alternative zum Jetzt.

Sie labern dich voll, wenn etwas den Bach runtergeht, stopft der Rest der Besatzung das Leck und bringt das Boot ins Gleichgewicht. Geld lässt sich nachdrucken, also ruhig Blut. Alles wird gut.

Sie labern dich voll, du sollst zufrieden sein.

Bloß ich weiß, wie der Hase läuft.

Ich kann dir sagen, wie das Leben läuft.

Politik ist nur ein Spiel, wo im Hintergrund Schatten an Strippen ziehen, Bonzen, die für teures Geld Kennzeichen mit 1111 und 6666 und 1010 an ihre Wagen schrauben lassen.

Diese Schatten entscheiden alles, nicht die Politiker. Das ist schon immer so gewesen.

Ich weiß, der Krieg existiert. Jeder trägt ihn in sich, seit Anbeginn der Zeit. Geschichte der Menschheit ist nichts anderes als Geschichte von Kriegen, Schlachten, Eroberungen und Niederlagen. Wie das Zusammenleben mit Weibern. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich kann dir sagen, wie das Leben läuft. In jedem von uns marschieren zukünftige Soldaten, zukünftige Feldherrn mit stolzgeschwellter Brust, zukünftige Leichen. Frieden ist eine Illusion, wir befinden uns im permanenten Krieg.

Im Warten auf einen Krieg.

In einer Pause zwischen zwei Kriegen.

Hier hat sich der Frieden nie lange gehalten.

In dieser Gegend gibt es immer einen, der es hier platt walzen will.

Wir lassen uns immer platt walzen.

Vielleicht ist es eine Überlebensstrategie.

Vielleicht aber auch nicht.

Frieden ist nur eine Pause zwischen zwei Kriegen.

Meine Großmutter hat immer gesagt: Iss, mein Junge, schlag dir ordentlich den Bauch voll, wenn der nächste Krieg kommt, sind die Dicken dünn und die Dünnen tot. Und sie hatte recht. Dann sagte sie noch: Frieden ist nur eine Pause zwischen zwei Kriegen.

Also musst du gerüstet sein.

Du musst stark sein.

Du musst trainieren.

Wer nicht gerüstet ist, für den ist es aus.

Ja, ich bin ein Krieger. Ein Krieger, der Frieden stiftet!

An meinen Fingern klebt nicht Blut, sondern Farbe.

Jedem großen Krieger geht es um Frieden, den will er bewahren, und wenn es nicht hinhaut, wenn es anders ausgeht, ist es nicht seine Schuld gewesen, da ist bloß ein dummer Umstand auf einen blöden Zufall geraten.

Man sagt, wenn du Frieden suchst, bereite dich auf den Krieg vor. Das ist richtig.

Wenn du es wissen willst, sind an einem Krieg vor allem die schuldig, die ständig nur zurückweichen und sich entschuldigen und beten und sich entschuldigen und noch einen Schritt zurück weichen. Bis es auf einmal keinen Platz mehr gibt, auf den man zurückweichen könnte.

Nichts auf dieser Welt hätte ich lieber als ewigen Frieden. Aber allem guten Willen zum Trotz darf man die Realität nicht vergessen. Der Weg zum ewigen Frieden ist noch lang. Ich weiß das, weil ich scharfe Augen hab. Wie ein Spürhund nehme ich jede Fährte auf, kann Signale lesen und ohne Hilfe den Nordpol finden, wohl das einzig Brauchbare, was man mir im Pionierverband beigebracht hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich meine nur, dass ich am liebsten mit jedem Menschen Frieden schließen möchte, am meisten dann mit mir selbst, weil das ist das A und O von allem, schreib dir das hinter die Ohren. Willst du etwas zum Besseren ändern, fang bei dir selbst an. Komm mit dir selbst ins Reine. Schließe den berühmt-berüchtigten Westfälischen Frieden mit dir, den Frieden, der einst Europa gerettet hat.

Vorübergehend.

Also trainiere.

Konzentrier dich, geh in dich.

Einatmen.

Ausatmen.

Zack.

Zack.

Ich bin mit mir im Reinen, hab schon den Westfälischen Frieden mit mir geschlossen, hab meine Erfahrungen gemacht, ich weiß, wie das Leben läuft.

Nein, hör auf damit!

Sag das nicht!

Ich bin kein Nazi.

Das ist kein Blut.

Das ist Farbe.

Ich bin doch ein Römer. Ein Europäer. Das ist mein Glaubensbekenntnis. Ich glaube an Ideale. An Kultur. Marsch auf Rom! Wir alle sind doch Römer. Aber ich bin vor allem ich, Vandam, ich weiß, wie das Leben läuft, kenn jede Schlacht der Welt.

Jede verlorene Schlacht.

Jede gewonnene Schlacht.

Auf die Perspektive kommt es an. Darauf, auf welcher Seite der Barrikade du stehst.

Du kannst gewinnen.

Du kannst verlieren.

Aber du musst dabei sein, anders geht es nicht.

Ich weiß, wie es im September des Jahres 9 im Teutoburger Wald drunter und drüber ging.

Ich weiß, wie es im Mai 1434 in der Schlacht bei Lipan zuging, als die Hussiten hopsgingen.

Im November 1620 auf dem Weißen Berg.

Im Dezember 1805 bei Austerlitz.

Im Juli 1866 bei Königgrätz.

1916, fast das ganze lange Jahr, bei Verdun.

Im Juli 1917 bei Zborov.

Im Winter 1942/43 bei Stalingrad.

Im Juni 1944 in der Normandie.

Im April und Mai 1945 bei Berlin.

Im August 1968 in Prag.

Danach in Vietnam.

Später in Afghanistan.

Im November 1989 wieder in Prag.

Und im September 2001 in New York.

Bagdad im Frühjahr.

Normandie im Sommer.

New York im Herbst.

Stalingrad im Winter.

Die vier Jahreszeiten der Kriege.

Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich bei jedem Feldzug dabei gewesen, als hätte ich überall meine Finger ins Blut getunkt. Du hältst mich vielleicht für einen Spinner, Junge. Aber die Menschheit ist ein einziger großer Krieger. Vielleicht bist auch du dabei gewesen.

Quatsch? Hast du wirklich Quatsch gesagt, Junge?

Dann frage ich dich: Warst du schon mal bei uns im Wald?

Hast du die Bäume gesehen, wie sie aus dem Boden drängen, immer wieder und immer höher?

Die gespenstischen tausendjährigen Eichen?

Hast du mal versucht, ein Nickerchen unter ihnen zu machen?

Ging nicht, was?

Und hast du den schönsten Baum von unserem Wald gesehen? Die alte Ulme?

Die einzige Ulme weit und breit, die mitten in unserem Wald steht, wie ein Tor ins Anderswo.

Das kommt nicht von ungefähr, das sag ich dir.

Wusstest du, dass die Ulme der Baum des Todes ist?

Wusstest du, dass sich die Vögel in jedem Baum ein Nest bauen, nur in einer Ulme nicht? Um die machen sie einen Bogen.

Wusstest du, dass man unter der Rinde einer Ulme nie Würmer findet?

Wusstest du, dass dich ein starker Sud aus Ulmenlaub in eine andere Welt torpediert?

Wusstest du, dass die Germanenkrieger unter jeder Ulme, auf die sie im Wald gestoßen waren, Opfer darbrachten?

Wusstest du, dass nachdem die Germanen im Teutoburger Wald die Römer hingemäht hatten, sie unter ihrer heiligen Ulme auch alle gefangenen Frauen und Kinder geopfert haben?

Wusstest du, dass sie seelenruhig jeden Baum gefällt und zu Brennholz zerhackt haben, nur nie und nimmer eine Ulme?

Das Tor ins Anderswo.

So nannten sie die Ulme.

Erinnerst du dich an die furchtbaren Träume vom Krieg, von denen du mir als Kind immer erzählt hast?

Erinnerst du dich, wie schwindelig dir war, wenn du aufgewacht bist?

Das alles findest du unter unserer Ulme wieder.

Hast du dort den großen Steinkreis gesehen, wo früher die alten Krieger gesessen hatten? Sind dir die zwei fehlenden Steinbrocken aufgefallen? Aber das ist eine andere Geschichte.

Erzähl mir lieber, ob du auch den Sumpf in der Waldmitte kennst?

Die Schwärme von Mücken, die dort jeden Tag zur Welt kommen und sterben und stechen und sterben und wieder zur Welt kommen, hast du die gesehen?

Die Waldtiere auch?

Die Füchse und die Wildschweine?

Die Wölfe?

Was sagst du dazu, Junge?

Vielleicht ist das Ganze nur eine einzige große Geschichte.

Meine Geschichte. Deine Geschichte. Unsere Geschichte.

Du bist ein sensibler Junge. So was sehe ich sofort. Das ist gut. Das hast du von mir. Und ich wiederum von meinem Vater. Der war auch ein feiner Kerl. Genau wie ich. Feinfühlig, aber keine Mimose. Zartbesaitete Männer werden nicht geschätzt, weder von der Welt noch von den Weibern. Egal was eine Frau heutzutage so erzählt, egal wie selbstständig und rau und hart sie tut, am Ende will jede bloß richtig angefasst werden, das weiß ich genau. Sie will, dass du mit ihr kämpfst. Und sie im Kampf bezwingst. Wenn du das nicht schaffst, bist du in ihren Augen kein guter, starker und zupackender Vollblutkerl, sondern ein butterweiches und schleimiges Weichei. Wie soll sie dann Achtung vor dir haben?

Hast du schon ’ne Freundin?

Du brauchst es mir nicht zu sagen.

Ein Mann muss Geheimnisse haben.

Ich sag dir eins. Willst du alles glauben, was in der Welt vor sich geht, dann wirst du richtig matschig in der Birne. Dasselbe gilt für Weiber und Politik. Der Einzige, dem du vertrauen darfst, bist du. Du und dein Bauch. Dafür musst du hart an dir arbeiten. Umsonst ist nichts.

Du musst kämpfen.

Frieden ist nur eine Pause zwischen zwei Kriegen.

Merk dir das.

Manchmal fällt sie länger, manchmal kürzer aus.

Aber es ist immer nur eine Pause.

Also trainiere.

Streng dich an.

Mach Liegestütze.

Lauf.

Nimm nie den Fahrstuhl, sondern lauf die Treppen hoch.

Jede zweite Stufe bis nach oben.

Und wenn du außer Atem angekommen bist, dann lauf runter und nimm die Treppe nochmals.

Dann nochmals.

Keine Bange, das schaffst du schon.

Fahr nie mit der Straßenbahn, geh immer zu Fuß.

Mach Rumpfbeugen.

Boxe.

Beweg dich.

Trainiere.

Leg dich ins Zeug.

Und vergiss nicht zu lesen. Bücher sind nichts für Idioten.

Du bist doch ein kluger Junge. Hol dir was zum Lesen über Kriege, große Schlachten und berühmte Kriegsführer. So, wie ich es immer gemacht hab.

Trainiere und lese und leg dich ordentlich ins Zeug und lese und trainiere, damit du gerüstet bist, wenn es wieder kracht. Und es wird krachen. Dann sind die Dicken dünn und die Dünnen tot.

IV

Man nennt mich Vandam.

Ich wohne in der Betonburg hier. All das Drumherum gab es früher nicht. Nur Wald und Sumpf und Wölfe und Sumpf und Wald. Daher die Mücken. In letzter Zeit werden sie immer mehr. Das ist kein Witz. Manchmal spüre ich, wie der Wald und der Sumpf sich alles zurückholen, zuerst werden die Keller feucht, vom Wasser überflutet, dann drängen zwischen Asphalt und den Plattenbauten zarte Bäumchen nach oben, sie gewinnen schnell an Höhe und zerreißen Asphalt und Beton, zerlegen alles, was mein Vater, also dein Großvater, hier in den Himmel geschossen hat. Er hat das Ganze nämlich gebaut.

Er und Väter wie er haben diese Betonburg dem Wald und der Natur entrissen.

Sag mal, Junge, darüber gibt es nichts zu lachen. Sie haben wenigstens was versucht. Etwas gemacht, sich bemüht. Und es gibt genug Leute, die froh sind, dass sie hier wohnen dürfen. Die auf diesen Ort stolz sind.

Ja, ich auch.

Wohin dein Auge reicht, das alles haben sie gebaut. All die Plattenbauten. Samt Kino, Kulturhaus und unserer Jägerkneipe, die Severka, also Polarstern, heißt und in der die ollen Väter dieser Betonburg jedes Schichtende begossen haben. Sie haben die Straßenbahnstrecke gebaut, die Straßenbahnwendeschleife und das Straßenbahndepot, die Spielplätze, Parkanlagen und die Krippe, in der später meine Mutter gearbeitet hat. Selbst Kindergarten, Grundschule und Sonderschule haben sie gebaut, Berufsschule, Realschule und Gymnasium sowie unser Einkaufszentrum, das Bajkonur heißt, wie auch Poliklinik, Entbindungsanstalt, Friedhof und die Bullerei, wo ich paarmal gewesen bin, nicht immer war ich selbst schuld.

Und sie haben auch das Hotel Sputnik gebaut, wo ich nie gewesen bin und wo heute nur noch Gastarbeiter aus der Ukraine wohnen, die UKs, wie man sie nennt, weil Touristen kommen zu uns keine. Unten in die Stadt schon. Aber zu uns auf den Berg nie. Was nur gut ist. Das hier ist unsere Welt. Unser Kosmos. Fremde haben hier nichts zu suchen.

Aber komm. Ich bin kein Nazi.

Ich mag Menschen.

Ich liebe Menschen.

Ich respektiere sie.

Ich sag doch nichts gegen Ausländer oder Einwanderer oder UKs oder sonst wen noch! Hab nie behauptet, dass die bei uns nichts verloren haben. Oder dass sie uns Arbeit wegnehmen oder so. Ich hab nichts gegen sie. Die sind doch auch Europäer. Alles bescheidene und leise Menschen, lauter Ingenieure, Ärzte oder Lehrer. Sie malochen auf dem Bau und lassen sich manchmal zu doll von uns auf den Kopf scheißen. Wenn du’s genau wissen willst, sollten die sich das nicht gefallen lassen. Gegen die hab ich nichts, Hauptsache, sie machen kein Remmidemmi und bleiben leise. So wie die Fidschis in ihrem Fahrradkellerkiosk. Gegen die hab ich auch nichts. Richtige Europäer sind die zwar nicht, aber was soll’s, man gewöhnt sich dran. Sie geben sich Mühe, und für unsereins springt auch was dabei raus, man kann sich wo abends Bier, Brot und Fluppen kaufen, also wo ist da das Problem. Bitte schön. Von mir aus alles paletti, solange es im Fahrradkeller ruhig bleibt. Und solange das ganze Haus nicht nach ihren Tütennudelsuppen stinkt.

Wenn es aber zu laut wird oder wenn der Geruch von ihrer Tütennudelsuppe bis zu mir hinaufwabert, dann werde ich ungemütlich, dann gehe ich runter und sag ihnen, dass mich das stört, dass sie sofort den Kocher ausmachen sollen, sonst gibt es Ärger. Und sie sehen mich an und verstehen das, und sie machen ihn aus. Man braucht nur Bescheid zu sagen. Ich kann doch nichts dafür, dass es mich so schnell in den Fäusten juckt. Wohl ’ne Allergie.

Mein bester Freund Froster, der kann die Dinger gut ab. Froster futtert das Zeug mir nix, dir nix zum Frühstück und sagt, gegen Kater mischt man am besten gleich drei Sorten zusammen, die mit Krevetten-, Enten- und Rindgeschmack. Bei Froster juckt es die anderen in den Fäusten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jeden juckt es mal in den Fäusten.

Keiner hat ’nen hundertprozentigen Blechmagen.

Oder Nerven wie Drahtseile.

Jeder muss seine Ängste überwinden.

Jeder hat eine Wunde.

Nein, ich bin kein Nazi.

Mich stören Penner nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Zigos nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Punks nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören UKs nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Junkies nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Sozialschmarotzer nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Polen nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Deutsche nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Slowaken nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Österreicher nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören Tschechen nicht, solange sie kein Remmidemmi machen.

Mich stören keine Menschen, solange sie kein Remmidemmi machen.

Ich hab mit keinem ein Problem.

Aber wenn einer Remmidemmi macht, dann hab ich ein kleines Problem mit ihm.

Dann muss ich das mit ihm klären.

Ich mag Anstand und Ordnung.

Anstand muss sein. Ordnung muss sein.

Das hat schon mein Opa gesagt, der als Zwangsarbeiter in der Essener Gussstahlfabrik eingesetzt wurde, in der Waffenschmiede des Deutschen Reiches. Als Essen das erste Mal von der Royal Air Force bombardiert wurde, flogen keine Bomben vom Himmel, sondern nur Schutt aus den englischen Städten, die davor von der deutschen Luftwaffe beschossen wurden. Ein Gruß aus der Ferne. Ihr habt uns das hier geschickt, das schicken wir euch zurück.

Zack.

Zack.

Und so hagelte es zunächst nur Schutt und Asche, und die Deutschen gingen raus und kehrten ihre Straßen sauber und feierten und dachten, dass die Engländer schon ganz meschugge geworden wären, wo sie statt Bomben Steine abwarfen. Sie dachten, der Krieg müsste bald zu Ende sein, und sie wären die Sieger. Sie dachten, die Engländer hätten keine Bomben mehr.

Aber am Ende dreht sich immer alles um.

Die Nacht darauf warfen die Bomber-Tommys echte Bomben ab.

Da feierten die Deutschen nicht mehr und fegten auch keine Straßen sauber, weil sie keine mehr zu kehren hatten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ordnung muss sein.

Ordnung und Anstand.

Gute zwischenmenschliche Beziehungen.

Jeder normale Mensch ist doch höflich und ordnungslieb, hab ich recht? Das bekommt er doch schon als Baby von Mama und Papa eingebläut, oder? Dass er sich anständig zu benehmen hat. Deine Freiheit hört dort auf, wo meine anfängt, so geht doch der Spruch, oder?

Mein Vater hat die Plattenburg hier gebaut.

Und ich kümmere mich jetzt um die Platten.

Früher hab ich’s gehasst hier, aber das Leben verläuft nie in einer Geraden, sondern schlägt immer wieder einen Bogen. Ein Weilchen war ich weg, hab mich mal hier und mal da rumgetrieben und bin dann wieder zurück. Jetzt mag ich es hier und kämpfe für diesen Ort, weil wenn du etwas ändern willst, fängst du am besten bei dir an.

Wenn du was bewahren willst, dann auch.

Ich bin ein Patriot.

Ein Patriot aus der Prager Nordstadt.

Der letzte Krieger.

Der letzte Römer.

Der letzte Tscheche.

V

Man nennt mich Vandam.

Man nennt mich so, weil ich zweihundert Liegestütze am Stück mache.

Zweihundert wie Jean-Claude Van Damme, der echte. Der aus dem Film. Die Kickbox-Kanone, die ich mir im Kino reingezogen habe, das damals Kosmos hieß, aber seitdem es Kasino geworden ist, Las Vegas heißt. Am liebsten aber hab ich Van Damme und seinesgleichen auf Video geglotzt, die gute alte VHS-Kassette, noch unter den Komantschen. Die Kassetten, die hatte mein oberschlauer Bruder für den Schwarzmarkt synchronisiert. Der hat Deutsch gelernt und sich mit seiner Synchronstimme bis zum Eigenheim Eins mit Gattin und später zum Eigenheim Zwei mit neuer Gattin und drei Steppkes hochgelabert. Mein Bruder ist das Siegerkind unserer großen Samtenen Revolution. Schlau ist er schon, das stimmt. Aber ich hab ein kleines Problem mit ihm. Er mit mir auch.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Gewinnen kann nicht jeder.

Verlieren schon.

Beneiden tu ich ihn nicht.

Ich bin nie neidisch.

Er hat sich seinen Weg ausgesucht und ich mir den meinen.

Von Van Damme hab ich das Schlagen gelernt, ihm hat Van Damme die erste richtige Kohle gebracht. Jedem von uns hat er etwas übers Leben beigebracht.

Man nennt mich Vandam, weil ich genauso bin wie er.

Karate Tiger.

Kickboxer.

Black Eagle.

Cyborg.

Street Fighter.

Timecop.

Second in Command.

Wake of Death.

Legionnaire.

Hard Corps.

Shepherd.

Double Team.

Universal Soldier.

Until Death. Bis der Tod uns scheidet.

VI

Hörst du die Stille? Die dumpfe Stille?

Spürst du sie?

Die dumpfe Stille von unserem Wald?

Siehst du die Schatten im Gebüsch? Das sind meine Krieger. Sie kommen. Schon nehmen sie Platz auf dem Steinkreis unter der Ulme.

Rück zur Seite. Leg ein paar Scheite nach. Schenk ihnen ein. Mir auch. Dir auch. Ordentlich, damit aus dir ein Vollblutkerl aus Stahl wird, kein Weichei aus Plaste Elaste.

Die Nacht wird lang und kalt.

Sie werden uns alte Geschichten erzählen, die gar nicht so alt sind, wie man meinen könnte. Es sind immer die gleichen Geschichten. Unsere Geschichten.

Es gibt keine Lichter.

Es gibt keine Stadt.

Es gibt nichts mehr.

Es gibt nur diesen Wald.

Es gibt nur diesen Sumpf.

Es gibt nur die alte Ulme.

Punkt.

VII

Aber du trainierst doch, Junge. Ich seh das.

Nein, kein Wort.

Halt die Klappe, verdammt!