Grand Hotel - Jaroslav Rudiš - E-Book

Grand Hotel E-Book

Jaroslav Rudiš

4,9
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In den Wolken zuhause. Von den Gästen geliebt. Vom Leben verschmäht.

Fleischman arbeitet als Mädchen für alles im futuristischen Grand Hotel mitten in der tschechischen Provinz. Wenn ihm sein Chef und Cousin mit seinen angeberischen Frauengeschichten zu sehr auf die Nerven geht, träumt er sich in seine Lieblingswelt hinein: die Vielgestaltigkeit der Wolkenformationen. Bislang hatte noch nie eine Frau bei ihm eine Chance, denn Fleischman ist der hübschen Meteorologin aus dem Fernsehen versprochen, der er ständig Briefe schreibt, die mit immer den gleichen Autogrammkarten beantwortet werden. Wird es der Serviererin Ilja gelingen, ihm die echte Liebe beizubringen, und wird er mit ihr seinen größten Traum verwirklichen können: dem Provinzort und dem traurigen Glanz des Grand Hotel zu entfliehen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 249

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
I
Ich steige nach oben
 
II
Fleischer
Der Seelenzustand
Die Luftwaschmaschine
Der Adept der Zukunft
Hier also lebe ich und arbeite
Noch ist der Himmel blau
 
Copyright
Für Sonja und Solo Lovec
I

Ich steige nach oben

Ich habe es geschafft. Damit das von Anfang an klar ist. Damit ihr um mich keine Angst habt.
Ich habe keine Angst.
Ich steige nach oben. Die ganze Welt ist zum Greifen nah: die Wolken und der Himmel. Meine Träume. Die Unendlichkeit. Und endlich auch ich selbst.
In der Tiefe unter mir löst sich langsam meine Stadt auf. Die Stadt, die ich liebe und hasse. Eine Stadt, die gefangen ist von Bergen und von Vergangenheit, umzingelt von Zeit und von Angst. Vergangenheit ist nämlich nichts anderes als Angst. Und die habe ich überwunden. Ich habe mich von Zeit und von Vergangenheit losgerissen. Ich verlasse die Stadt, mit der ich zusammengewachsen war und der ich nie entkommen konnte.
Erst jetzt.
Ich habe es geschafft.
Habe alles unter Kontrolle: Höhe, Windstärke und Windrichtung.
Ich habe es geschafft. Obwohl es keiner geglaubt hat.
Keiner hat an mich geglaubt. Ich auch nicht.
Ich steige nach oben, und die Sonne, die sich über den Horizont ergießt, blendet mich.
Der Horizont verläuft nicht gerade. Er kräuselt sich genauso wie die Wolken. Wie unsere Träume. Und unser Leben.
Eine Nacht ist nie ohne Träume, der Himmel nie ohne Wolken. Sie sind da, auch wenn man sie weder sehen noch spüren kann.
Ich habe es geschafft.
Heute ist mein Geburtstag. Ich habe mir ein Geschenk gemacht. Ein Geschenk, auf das ich mein ganzes Leben gewartet habe.
Ich fliege.
Ich steige nach oben.
Bald werde ich hinter den Horizont sehen.
Es ist früh am Morgen, sechs Uhr dreißig. Die Sicht ist fast klar. Geringfügige hohe Bewölkung. Zirruswolken. Westwind. Sechs Grad Celsius.
Ich habe es geschafft.
Ich steige.
Halte die Richtung.
In meinen Ohren erklingt eine wunderschöne Musik, eine Musik nur für mich. Will man sich einen Traum erfüllen, muss man allein sein, damit der Traum einem nicht geklaut werden kann. Damit man ihn genießen kann. Oder: Man sollte allein sein.
Diese Musik heißt Stille.
II

Fleischer

Ich heiße Fleischman.
Auch früher hieß ich Fleischman. Und auch in der Zukunft werde ich Fleischman heißen, egal was ihr davon haltet, egal wie viele Namen und Titel andere tragen und ob überhaupt eine Zukunft kommt.
Geboren wurde ich am 21. September 1973. Wenn der Matthäus seinen Namenstag hat. Damit ihr nicht im Kalender blättern müsst. Ich weiß, wie alle gerne ihre Kalender nach Namen, Witzen, Bauernregeln und ähnlichem Zeug durchforsten. Deswegen bestehen die heutzutage nur aus weisen Sprüchen berühmter Menschen, Fotos von alten Hütten im Riesengebirge und Kochrezepten. Das stimmt wirklich, Jégr liest sie manchmal nachts und streichelt sich dabei den Bauch. Der Jégr. Nicht ich. Aber Jégr kommt erst später dran.
Damit ihr nichts Falsches denkt: Diese Kalender mag ich sonst sehr gerne. Ich mag Zahlen nämlich gerne. Zahlen lügen nicht. Zahlen, Tabellen und Wolken.
Meinen Geburtstag habe ich noch nie gefeiert. Ich meine, seit ich allein bin. Meinen Namenstag auch nicht. Fleischman steht in keinem Kalender. Und ich heiße Fleischman.
Der Name kommt aus dem Deutschen. Ich denke gern über ihn nach. Fleisch haben sowohl Menschen als auch Tiere und Früchte. Und »Mann« bedeutet nicht nur Mann, sondern auch Gatte. Oder königlicher Vasall. Die erste Bedeutung finde ich am besten. Ein Mann. Ich hätte auch Fruchtfleischmann heißen können. Oder Herr Obstmann. Aber mein Name braucht wohl jemand aus Fleisch und Blut. Einen Mann, der Fleisch liebt. Einen Fleischliebhaber. Vielleicht sollte ich Fleischer sein. Metzger. Ich bin aber nur Fleischman. Ein Name kommt nicht von ungefähr, deswegen erzähl ich das. Namen lügen nicht. Sie sagen viel über uns aus. Zumindest meint das die Frau Doktor.
Während im Laufe der Jahre Wolken über unsere Stadt zogen, ging in meinem Namen ein »n« verloren. Dabei ist ein »n« eigentlich das Kleinste, was in meiner Familie verloren gehen konnte - und auch verloren gegangen ist. Das aber nur am Rande.
Vielleicht möchtet ihr auch wissen, wie mein Name weitergeht. Ich meine, was vor Fleischman steht. Die meisten Menschen haben zwei Namen. Einen Vor- und einen Nachnamen. Bei mir gibt es aber nur einen einzigen Namen. Den davor habe ich vergessen. Das ging nicht anders.
Ich heiße Fleischman. Bin einhundertneunundsiebzig Zentimeter groß und dreiundsiebzig Kilo schwer. Falls euch Zahlen genauso interessieren wie mich.
Mein Name ist Fleischman. Ich bin ein Fleischer, der kein Fleisch isst, weil er kein Blut mag. Ein Fleischer, der sich aus Wolken und Wetter auf dem Teller kleine Häppchen zurechtschneidet. Was Besseres gibt es auf der ganzen Welt nicht. Manchmal lande auch ich auf meinem Teller. Dazu aber später. Es kommt alles dran.
Also schön der Reihe nach. Wie wenn man ein Flugzeugmodell baut. Oder in einer Suppe nach Buchstaben fischt und sie zu Wörtern verbindet, die man runterschluckt. Eine Wolke zum Beispiel erscheint am Himmel auch nicht von ungefähr. Zunächst braucht sie etwas Schmutz. Und Staub. Der zieht Feuchtigkeit an. Daraus entstehen kleine Tropfen, die immer größer werden, bis am Ende die Wolke da ist.
Also zunächst schüttele ich euch etwas Staub auf den Teller. Eine Prise des Fleischmanschen Lebenschaos. Und wie ich mir das gerade alles im Kopf zurechtrücke, werde ich doch lieber hin- und herspringen und nicht geradeaus erzählen.
Die Frau Doktor sagt nämlich, dass das Leben einem Mosaik gleicht. Dass wir es gar nicht als Ganzes wahrnehmen. Dass wir beim Rückblick nur lauter Momentaufnahmen sehen. Streiflichter. Und Blitze.

Der Seelenzustand

Der Anfang war nicht gerade gemütlich.
Am 21. September 1973 war das Wetter klar und warm. Leichter Wind. Altweibersommer, wie unser deutscher Stammgast Franz sagt. Indianersommer, für den ein Hochdruckgebiet über Russland sorgte.
Ich sehe das noch wie heute.
Als ich aus Mamas Bauch kam, stand im Krankenhaus das Fenster offen. Und ich konnte alles spüren, sehen und hören. Ich war einfach dabei.
»So, das hätten wir«, sagte der Arzt.
»Wurde ja auch Zeit«, sagte die Krankenschwester.
»Was ist es? Ein Mädchen?«, fragte Mama.
»Ein Junge«, sagte der Arzt.
»Ihr Kaffee ist kalt«, sagte die Schwester.
»Machen Sie einen neuen.«
Ich schwebte hinauf zur Decke und sah mir alles von oben an: den weißen Kreißsaal, meine Mama und mich an ihrer Brust, die Schwester, die etwas aufs Papier kritzelte, und den Arzt, wie er seine Handschuhe auszog.
Wäre gerne noch höher geflogen, stieß aber mit dem Kopf gegen die Decke. Auf einmal bekam ich keine Luft und purzelte zu Boden. Ich sah Mama schreien, dass ich erstickte und dass ich nicht mehr atmete, ich sah den Arzt zu meinem Körper rennen und dabei die Kaffeetasse umschmeißen, der Kaffee floss über den Tisch. Der braune Fleck sah fast wie Australien aus.
Ich fiel zu Boden. Einen Moment lang war alles vollkommen still. Dann fing ich doch an zu weinen.
Später hätte der Arzt zu Mama gesagt, dass ich damals fast gestorben wäre. Woraus sich aber keine späteren Folgen ergeben sollten, alles andere war tipptopp. Ein echter Kerl, kerngesund.
»An so was kann man sich unmöglich erinnern«, sagte Jégr.
»Ich weiß es eben, ich weiß das einfach. Hab das alles gesehen. Und im Radio lief Countrymusik.«
»Klar. Und an deiner Wiege sang Karel Gott Kantilenen.«
»Das war The House of the Rising Sun, gesungen von Matuška.«
»Erzähl doch keine Märchen«, sagte Jégr und knallte mir eine. »Willst du etwa sagen, du hättest gesehen, wie du im Kreißsaal nach Luft geschnappt hast und wie man dir das Leben gerettet hat? Und wie war der Kaffee von dem Doktor, mit Kaffeesatz? Oder war das etwa Nescafé?«
»Das weiß ich nicht. Aber draußen war Altweibersommer. Wie eben jetzt. Einfach so.«
»Einfach so, einfach so … kannst du auch was anderes? Einfach so, einfach so. Du bist ein echter Idiot. Einfach so. Finde dich endlich damit ab!«
»Der Doktor hat gesagt, dass alles tipptopp war.«
»Wenn alles tipptopp war, warum ziehst du dann ständig den Rotz hoch? Und hast keine Frau? Und bist kein Fan von Slovan Liberec?«
»Das hat damit nichts zu tun.«
»Das hat schon was damit zu tun! Wer Fußball nicht liebt, der vögelt nicht. Ich hab ständig Weiber und Sommer.«
»Aber keine Frau.«
»Aber die hatte ich, Freundchen, die hatte ich. Und nicht nur eine! Also hab ich was zum Erinnern.«
»Wie viele?«
»Ne ganze Menge. Die ganze Welt lag mir zu Füßen. Und sie würde immer noch dort liegen. Wenn ich es gewollt hätte.«
»Trotzdem ist bei mir alles tipptopp.«
»Wenn bei dir alles tipptopp ist, dann bin ich der heilige Josef, du Einhandflötist.«
Einhandflötist: Das bin ich. Zumindest für Jégr. Einhandflötist ist ein Seelenzustand. Der Zustand meiner Seele.

Die Luftwaschmaschine

Am 21. September 1973 ging in der Beringstraße bei einem Sturm ein sowjetisches U-Boot unter. In Indien rasten im Nebel zwei Personenzüge ineinander. Der FC Turin schlug überraschenderweise Manchester United 4:0. Gustáv Husák brach zu den verordneten Flitterwochen nach Moskau auf. In Hamburg streikten bereits seit einem Monat die Dockarbeiter. Der Hurrikan Ivan fegte über Florida hinweg und tötete zehn Menschen. Das habe ich alles im Fernsehen gesehen.
Ein Hurrikan ist eine tropische Zyklone. Ein kolossales Tiefdruckloch. Ein verheerender Wirbelsturm. In Japan nennt man ihn Taifun. In Australien Willy-Willy. In der Karibik Orkan. Damit er entstehen kann, braucht es dreierlei: warmes Wasser, feuchte Luft und Äquatorwinde, die aufeinandergeraten. Möglicherweise reicht aber auch der Flügelschlag einer Fliege. Oder eines Schmetterlings. Oder einer Mücke. Oder wenn jemand auf der Straße einem anderen zuwinkt. Vielleicht winke ich deswegen nie jemand zu.
Ein Hurrikan funktioniert wie eine riesige Luftwaschmaschine. Oder wie ein großer Staubsauger, dem wir alle von Zeit zu Zeit begegnen sollten. Ein Hurrikan ist möglicherweise aber auch ein Seelenzustand, der Zustand der Wetterseele. Ich weiß nicht, ob man das richtig versteht. Frau Doktor sagt, ich schweife manchmal zu stark ab. Aber ihr würde das nichts ausmachen, sagt sie, sie wüsste ja ohnehin, was mich quält und was mich ärgert. Gut, dass es wenigstens einer weiß.

Der Adept der Zukunft

Am 21. September 1973 kamen in unserer Stadt ich und noch weitere zehn Adepten der Zukunft zur Welt. Am gleichen Tag brachen elf frisch gebackene Väter auf, um das große Glück zu begießen, von dem sie dachten, es würde eine ganze Ewigkeit halten. Sie kamen erst spätnachts zurück, in zerknitterten Anzügen aus Synthetikwolle und mit verschmiertem Lippenstift auf der Wange.
Am gleichen Tag, haargenau um zehn Uhr morgens, wurde auf dem Berg über unserer Stadt ein Hotel in Betrieb genommen, in dem ich heute lebe und arbeite. Es wurde übrigens nur wegen eines unglücklichen Zufalls gebaut, den mein Großvater verschuldet hatte. Ein Hotel, in dem mich Jégr anschreit, denn der arbeitet auch hier, und in dem manchmal auch ich Jégr anschreie, weil er unerträglich ist. Aber er sagt, in erster Linie bin ich unerträglich. Ich denke, das könnte gut an der Meereshöhe liegen, die bringt vieles durcheinander.
Unser Grandhotel liegt 1012 Meter über dem Meeresspiegel. Manchmal kommt es mir vor, als ob es kein Hotel wäre, sondern eine riesige Wolkenfabrik. Man braucht nur um sich zu gucken. In dieser Höhe fügen sich die Wolken direkt vor euren Augen in eine Wetterfront. Das kann einen ganz benommen machen.
Das Hotel wurde mit jenem großen Trara eröffnet, das immer gemacht wird, wenn man eine Zukunft willkommen heißen will, mit der man für ewige Zeiten verbunden zu bleiben meint. Das klappt aber nie, hat Franz gesagt. Eine solche Zukunft ist meistens ganz schnell vorbei. Daran wollte aber damals keiner denken, was ich gut verstehen kann.
Aus der Hauptstadt kam das Fernsehen und drehte einen zehnminütigen Bericht. Die örtliche Blaskapelle trat auf und spielte acht Polkas, sechs Walzer und auch einen Blues, zu dem aber keiner tanzen wollte. Pioniere überreichten den Bauarbeitern vierzig rote Nelken.
Es wurden dreihundertdreiundfünfzig Schinkenschnittchen verdrückt, zweihundertdreiundfünfzig Biere weggetrunken und zehn Flaschen echter sowjetischer Wodka geleert. Dreißig Gäste waren am nächsten Morgen verkatert. Zwei mussten sich noch am folgenden Abend übergeben.
Auch vom Präsidenten des Landes, einem kranken General, der im Pass von Dukla die Nazis besiegt hatte, kam eine Grußbotschaft. Sie ging aber bei der Post verloren. Natürlich habe ich das alles nicht aus meinem Kopf. Das hat mir Jégr erzählt. Der weiß einfach alles. Er war nämlich Leiter von einem Selbstbedienungsladen. Und nicht nur das. Dazu aber später.

Hier also lebe ich und arbeite

Hier also lebe ich und arbeite. Im Grandhotel Ješted. Der Berg hieß früher Jeschken. Noch davor Jeschkenberg. Noch früher Jeschenberge. Davor Jesstied. Und ganz am Anfang Jesstiedr. Der Name soll entweder was mit einem Igel zu tun haben oder mit einer Höhle. Igel gibt es hier viele. Höhlen auch. Oder etwas Ähnliches: Löcher in der Erde.
Hier also lebe ich und arbeite. In einer kreisförmigen, 90 Meter hohen Rakete, die nach oben spitz zuläuft. Sie wurde aus Aluminium gebaut, aus dem man Besteck für Pionierlager macht, und aus Laminat, aus dem man Kanus und Boote für Pfadfinderlager herstellt. Pfadfinder bin ich nie gewesen, und bei den Pionieren wurde ich rausgeschmissen. Dazu aber später.
Ich arbeite in einem Hotel, in dem es keine Ecken gibt, wo man sich aber auch so den Kopf stoßen und den Verstand verlieren kann. In einem Hotel, in dem alles rund ist und wo man sich genauso leicht verläuft wie im Nebel, in einer Großstadt oder in sich selbst. Das kann von Zeit zu Zeit nicht nur mir, sondern jedem passieren, man sollte also darauf gefasst sein. Sagt zumindest meine Frau Doktor.
In einem Hotel, über dem sich die Unendlichkeit ausbreitet, in einem Hotel, das manchmal wochen-, monate- oder sogar jahrelang in den Wolken hängen bleibt - manchmal auch über den Wolken, dann fällt sein Verschwinden keinem auf. In einem Hotel, in dem der Wind Fangen spielt, mühelos rüttelt er an der Turmspitze, als ob das Hotel ein verloren gegangenes Schiff im Indischen Ozean wäre. Dann purzeln Becher und Teller von den Regalen runter, und blassgesichtige Damen flüchten erschrocken aus ihren Zimmern zu Jégr, der ihnen abgelaufene Pillen gegen Seekrankheit in die Hand drückt, damit nicht wieder alles vollgespuckt wird und ich es nicht wegwischen muss.
In einem Hotel, das wie ein Steuerruder mein Leben lenkt und den Himmel durchbohrt wie eine scharfe Nadel. Manchmal scheint direkt über uns der Himmel zu bluten. Aber vielleicht kommt das vom Sonnenuntergang.
Hier also lebe ich und arbeite. Verloren am schönsten Ort der Welt, wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt. Ich schleppe Koffer, leere Aschenbecher und fülle Kondomautomaten auf, wische Staub, schrubbe Fußböden, repariere tropfende Wasserhähne und tausche angeschlagene Bodenfliesen aus. Ein Fleischman für alles. Ich trinke gelbe Brause, esse Butterkekse, jeden Tag drei Flaschen Brause und drei Kekse. Ich begegne Menschen, die es nicht mehr gibt, und denen, die bei uns wohnen, spioniere ich nach: besonders jungen Frauen. Anderen Frauen versuche ich wiederum das Leben zu retten: die kommen, um sich hier umzubringen. Die schönsten Orte der Welt entwickeln nämlich eine solch magische suizidale Anziehungskraft. Wie der Eiffelturm auch. Oder das Riesenrad in Wien.
Hier also lebe ich und arbeite. Vor allem aber messe ich dreimal am Tag die Wetterdaten, schreibe mein Tagebuch und beobachte die Wolken. Ich sehe mir an, was sie an Neuem bringen und ob sie das Alte auch wieder mitnehmen. Denn das Wetter und die Wolken sind seit Anbeginn aller Dinge, aller Gespräche und aller Geschichten da gewesen, und sie werden noch da sein, wenn alles längst zu Ende ist. Auch am Ende meiner Geschichte.
Das alles sage ich ganz offen. Ich möchte keine Geheimnisse mehr haben.

Noch ist der Himmel blau

Wetterfrosch. Barometer. Eiszapfen. Thermometer. Wolkenpest. So nannte man mich in der Grundschule. Auch Eierkopf, Rotznase oder Wollhose.
Nein, von meinen Mitschülern wurde ich nicht gerade geliebt. Die ersten fünf Spitznamen waren allerdings ganz gut, finde ich. Zumindest passten sie besser. Mein erstes Wort war nämlich Wolke.
So richtig vorwerfen kann ich es meinen Mitschülern aber nicht. Seit dem Unfall sieht mein Kopf echt wie ein Ei aus. Und seit damals habe ich permanent Schnupfen und ziehe ständig den Rotz hoch. Und jedes Jahr zu Weihnachten bekam ich von Papa eine Synthetikwollhose. Eine braune, schwarze oder graue. Mehr Farben gab es damals wohl nicht. Ich schaffte es nicht, ihm klar zu machen, wie doll sie im Schritt kratzte, weil ich vor ihm das Wort Schritt nicht über die Lippen brachte. Meine Frau Doktor findet das ganz normal, jeder Mensch hätte ein Wort, sagt sie, für das er sich schämt.
Aber damals habe ich mich sowieso viel geschämt.
Auch damals, an meinem ersten Schultag. An dem Morgen schien die Sonne, es wehte ein leichter Wind und über uns wölbte sich ein blauer Himmel. Ist euch aufgefallen, dass in den meisten Geschichten und Filmen der Himmel am Anfang blau ist? Die Wolken kommen erst später dazu. Ich weiß, woher sie kommen. Hab einen Riecher für Wolken.
»Was wolltest du mir versprechen?«, fragte Mama vor dem Eingang.
»Brav zu sein.«
»Richtig«, sagte Mama, streichelte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann drehte sie sich um und ging. Ich sah ihr nach, es gefiel mir, wie ihr Rock hin- und herschwang. Ich hörte ihre Absätze klappern. Sie blieb vor dem Zebrastreifen stehen, sah langsam auf die eine und dann auf die andere Seite. Ein Auto kam. Mit einer Hand fuhr sie sich durch die Haare, und dann erst ging sie über die Straße.
Und ganz genauso sehe ich sie auch in diesen Staubkörnchen, die meine Frau Doktor Erinnerungen nennt: Sie steht am Straßenrand, wendet langsam den Kopf nach rechts und nach links, wartet, bis das Auto vorbei ist, und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Sieht
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Grandhotel. Román nad mraky bei Labyrint, Prag.
 
Die Übersetzung wurde gefördert vom Literarischen Colloquium Berlin mit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Kulturverwaltung des Berliner Senats.
 
 
 
Verlagsgruppe Random House
 
 
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung
Copyright © 2006 by Labyrint, Prag Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2008 by Luchterhand Literaturverlag, München, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-641-02438-3
 
www.luchterhand-literaturverlag.de
 
Leseprobe
 

www.randomhouse.de