Winterreise nach Alaska - Doris Wiedemann - E-Book

Winterreise nach Alaska E-Book

Doris Wiedemann

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Beschreibung

Die Journalistin Doris Wiedemann hat schon viele individuelle Touren in der ganzen Welt gemacht - allein mit ihrem Motorrad. Aber im Winter 2009 startet sie mit dem ebenfalls reiseverrückten Solofahrer Sjaak Lucassen zu einem eisigen Abenteuer: quer durch den nordamerikanischen Winter, von Florida bis Alaska. Von Key West, dem südlichsten Punkt des US-amerikanischen Festlandes, fahren die beiden durch Eis und Schnee bis zum nördlichsten Punkt, den man auf öffentlichen Straßen erreichen kann, der kleine Ort Deadhorse am Polarmeer. Unterwegs besuchen sie die Motorrad-Abenteuerer Ted Simon, Dave Barr und Helge Pedersen. Zum Schluss führt sie der Weg zur Prudhoe Bay über den Dalton Highway, eine der gefährlichsten Straßen der Welt. Doris Wiedemann ist die erste Frau, die diese Strecke im Winter mit dem Motorrad bezwungen hat. Im Buch erzählt Doris Wiedemann von den Freunden und den Strapazen der Tour, von der Vorbereitung und dem nicht immer einfachen Miteinander zweier eingefleischter Alleinreisender. Und natürlich davon, wie man mit seinem Motorrad bei -52°C auf endlosen vereisten Pisten vorankommt und nicht erfriert.

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Doris Wiedemann

Winterreise nach Alaska

Mit dem Motorrad von Floridabis zur Eismeerküste

Impressum

Texte: © Copyright by Doris WiedemannUmschlag: © Copyright by Bea SchmuckerVerlag: Doris Wiedemann

Kapellenweg 1086853 Schwabmühlhausenwww.doris-wiedemann.de

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-****-***-*

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog — über die Ausrüstung

Über die Tücken der Technik

Die Zeit läuft ...

Von »Mainhattan« nach Manhattan

Jeder Abschied ist eine Neuer Anfang

Ene mene miste — ̶̶wo ist unsere Kiste?

New York, New York

Ich packe meinen Koffer und nehme mit ...

Die Ostküste der USA

Schmuddelwetter

Frühling in Virginia

Sommer in Florida

Der offizielle Start

Von Ost nach West

Sümpfe, Krokodile und Schildkröten

Sarasotas berühmte Strände

Houston bitte melden ...

Durch die Prärie

Der große Canyon

Der wilde, wilde Westen

Echt amerikanisch

Alles ist möglich

Besuch bei einer lebenden Legende

Der Dritte im Bunde

Technische Feinheiten

Der Norden

(Endlich) Winter in Kanada

Der ALCAN – Alaska Highway

Das Muskwa Kechika Gebirge

Im Grenzgebiet

Der Yukon

Die Grenze

Alaska

Zur Blixt Cabin

Der Dalton Highway

Wiseman

Die Brooks Range

Franklins Bluff

Deadhorse

Richtung Süden

Die Rückfahrt

Fairbanks – Teil 2

Anchorage

Nur fliegen ist schöner

Abschied

Ausrüstungs- und Herstellerliste

Prolog — über die Ausrüstung

»35 Grad« lese ich laut von der digitalen Anzeige im Cockpit der BMW F 800 GS. Mein Reisepartner, Sjaak, hört über die Helmsprechanlage mit. Seit wir die Grenze nach Kanada überschritten haben, lasse ich das »Minus« weg. Wir haben uns darauf geeinigt, stattdessen das Plus zu erwähnen, falls die Temperatur einmal über Null Grad steigen sollte. Aber die Chancen sind gering, denn wir fahren durch eine tief verschneite Landschaft dem gefrorenen Polarmeer entgegen. Ich bin mit meinem Motorrad in Alaska unterwegs — mitten im Winter. Wie konnte das passieren?

Schuld daran ist — natürlich — ein Mann: Der Niederländer Sjaak Lucassen hatte mich an einem sonnigen Sommertag im August besucht und von seinem neuen Projekt erzählt. Er wolle mit dem Motorrad im Winter nach Alaska fahren, sagte er, und vor meinem inneren Auge erschienen Bilder von verschneiten Bergen im Ural.

Vor sieben Jahren führte mich meine »Taiga Tour« quer durch Russland nach Korea und Japan. Auf dem Rückweg von Wladiwostok nach Hause überraschte mich der Winter. Schlecht ausgerüstet kämpfte ich mich damals frierend über die eisig-glatten Straßen. Dennoch begeisterte mich das strahlende Weiß der verschneiten Landschaft, das Funkeln der Schneekristalle und die klare Luft.

Mehrere Ausflüge zum Elefantentreffen, dem bekannten Winter-Motorradtreffen im Bayerischen Wald, sowie einige Fahrten zum Winter-Gespanntreffen auf dem Gamsstein in Tirol weckten in mir den Wunsch, einmal einen echten Winter zu erleben. Einen Winter ohne salzigen Schneematsch auf den Straßen und ohne das in Deutschland immer wieder einsetzende Tauwetter. Stattdessen träumte ich von funkelnden Eiskristallen, soweit das Auge reicht.

Wirklich kalte Luft ist trocken und die Kenner arktischer Temperaturen behaupten, man friere deshalb in echter Kälte weniger als in feuchtem Schmuddelwetter. Ich wollte zu gerne wissen, ob das stimmt. Andererseits war mir bewusst, dass Kälte ein großes Risiko in sich birgt, dem ich nicht ohne Weiteres alleine gegenübertreten wollte.

Sjaak, dem Niederländer, bin ich im Winter 1997/98 im mollig warmen Afrika das erste Mal begegnet. Damals war er mit einer Honda Fireblade auf großer Fahrt rund um die Welt. Sieben Jahre später ist er mir in der Mongolei wieder über den Weg gelaufen. Oder besser gesagt gefahren. Und zwar mit einer Yamaha R1. Sjaak ist, ebenso wie ich selbst, ein Alleinreisender, der vielleicht sogar noch lieber seiner eigenen Wege geht als ich. Daher ließ ich meiner Begeisterung für seine Idee freien Lauf, dachte aber nicht einmal im Traum daran, diese Reise mit ihm zusammen durchzuführen.

Ein paar Wochen später besuchte ich Sjaak in den Niederlanden, um ihn für einen Artikel in der Zeitschrift Motorrad Abenteuer zu interviewen. Anschließend fuhren wir gemeinsam nach Köln zu der großen Motorradausstellung Intermot. Ein paar Tage später war ich wieder zuhause und fand ich eine E-Mail von Sjaak: »Kommst du mit?«

Diese drei an sich harmlosen Worte waren für mich der Auslöser für drei äußerst hektische Monate voller Reisevorbereitungen. Sjaak wollte am 1. Januar los. Die Sylvester-Knaller der anderen sollten unser Startschuss sein. Unsere Reise sollte von Key West in Florida, dem südlichsten Punkt der kontinentalen USA, über Kalifornien und Kanada, in den Norden Alaskas führen. Und zwar hinauf zur Prudhoe Bay, zum gefrorenen Polarmeer. Wir wollten den nördlichsten Ort der kontinentalen USA besuchen, den man auf öffentlichen Straßen erreichen kann, nach Deadhorse.

Auf der Strecke mussten wir mit Temperaturen von plus 30 bis minus 40 Grad Celsius rechnen. Diese breite Temperaturspanne würde eine große Herausforderung sein, sowohl für uns, als auch für unsere Ausrüstung und unsere Motorräder.

Das größte Abenteuer einer Extrem-Reiseist die Vorbereitung auf alle Eventualitäten.Unterwegs braucht man dann nur noch dieProbleme lösen, die man tatsächlich hat.

Mein erstes Problem war: Welches Motorrad nehme ich? Meine BMW R 100 GS/PD ist altbewährt und viel erprobt. Sie ist zuverlässig und berechenbar und ich liebe sie heiß und innig. Aber sie hat Vergaser, und ich habe keine Lust bei eisiger Kälte mit klammen Fingern daran herumzufummeln.

Rotbäckchen, die BWW F 650 GS Dakar, mit der ich in China war, hat eine Benzineinspritzung. Sie ist hart im Nehmen und hat mich nie im Stich gelassen. Außerdem hatte ich in der niederbayerischen Gespannschmiede von Alois Löw einen einfachen Lasten-Seitenwagen für das Modell gesehen. Und für die zu erwartende Menge an Gepäck wäre ein drittes Rad mit dem entsprechenden Stauraum sicher von Vorteil.

Ein Anruf bei Alois wirkt jedoch wie ein Guss kaltes Wasser: »Der Seitenwagen ist noch nicht wirklich erprobt. Wir wissen noch nicht, was er aushält. Und wenn du damit eine Panne hast, kann es sein dass er dir ein Loch in den Motor reißt, weil wir den Seitenwagen dort befestigt haben«, erklärt Alois mir: «Für eine solche Tour, wie du sie planst, gebe ich dir keinen.« Die Absage ist ein echter Freundschaftsdienst — und hilft mir dennoch nicht weiter.

Karl Schmid aus Mickhausen bietet mir an, einen Ural-Seitenwagen mit Hilfsrahmen an mein Rotbäckchen, also die F 650, zu schrauben. Mit dem zusätzlichen Gewicht dürfte jedoch nicht mehr allzu viel von der Leistung des Einzylinders übrig bleiben, fürchte ich und sehe Sjaak bereits mit seiner R1 wie einen jungen Hund ungeduldig um mich herumfahren, weil ich mit dem vollgepackten Gespann auch dann nicht mit ihm mithalten kann, wenn er sich streng an die amerikanischen Geschwindigkeitsbeschränkungen hält.

An die BMW R 1200 GS kann man ziemlich unproblematisch einen leichten Seitenwagen montieren, erzählt mir der Gespannbauer Uli Jacken: »Nur zeitlich wird es knapp, wir müssten uns mit dem Umbau beeilen.« Aber woher bekomme ich eine 1200er GS? In meiner Verzweiflung rufe ich bei BMW an. Dort haben sie so viele davon, dass sie sie sogar verkaufen. Allein, ich kann sie mir nicht leisten ...

»Eine F 800 GS könnten wir dir für die Tour geben«, bietet mir Tim Diehl-Thiele an. Der Marketing Manager findet das Alaska-Projekt so außergewöhnlich und spannend, dass er dieses Abenteuer gerne unterstützen möchte.

Eine F 800 GS? Der Zweizylinder von BMW, der kein Boxer ist? Das Modell ist noch nicht lange auf dem Markt, daher bekomme ich in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit auf keinen Fall einen Seitenwagen für das Motorrad. Soll ich also Solo fahren?

Einen letzten Versuch mache ich noch: Gespannbauer Theo Däschlein aus dem fränkischen Bechhofen gefällt die Idee von Alaska im Winter ebenfalls, aber er hat kein geeignetes Gespann auf dem Hof stehen, das er mir für die Reise zur Verfügung stellen könnte. Daher verabschiede ich mich gedanklich von der Idee mit den drei Rädern und befasse mich stattdessen mit den Möglichkeiten der F 800 GS: Sie ist leicht und handlich, braucht wenig Sprit und ist ein echter Feger, den zu fahren richtig Spaß macht — eigentlich gute Voraussetzungen für 16.000 gemeinsame Kilometer, nicht wahr?

Sjaak wird wieder mit einer Yamaha R1 fahren. Deren Stummellenker, die kleinen Räder und der kurze Radstand sind sicherlich kein Empfehlungsschreiben für eine lange Tour auf hartem Eis. Aber einen entscheidenden Vorteil hat sein Fahrzeug: Die niedrige Sitzhöhe ist äußerst praktisch, wenn Schnee auf der Straße liegt. Ich kann auf der GS sitzend mit meinen kurzen Beinen lediglich wie eine Ballerina auf den Zehenspitzen tänzeln. Normalerweise ist mir das egal. Aber wenn ich rund 6.000 Kilometer über vereiste Winterstraßen schlittere und die Gefahr besteht dass ich mich im Schnee festfahre, dann wäre es schön, mich solide mit den Füßen abstützen zu können.

Am Telefon diskutiere ich das Problem mit Sjaak, und er hat eine super Idee: Hyperpro, der niederländische Hersteller von Federbeinen, macht auch Tieferlegungen für Motorräder.

»Mit unserem verstellbaren Federbein kannst du die Sitzhöhe, wann immer du willst, um bis zu elf Zentimeter verringern«, erfahren wir von John Troost, dem Chef bei Hyperpro. Das ist wirklich reichlich. Mir genügen bereits sechs Zentimeter für eine kraftvolle Bodenhaftung. Damit kann ich dann hoffentlich auch die Berge an Gepäck stemmen, die wir auf unserer Fahrt dabei haben werden.

Mit dem Motorrad nach Alaska,das ist eine Herausforderungfür Mensch und Maschine —im Winter ist es ein Abenteuer.

Sjaak und ich müssen uns jeweils komplett neu einkleiden und ausrüsten. Nicht nur die sonst auf Reisen üblichen Sommer-T-Shirts sind bei minus 40 Grad Celsius zu dünn. Auch das Zelt, der Schlafsack und die Isomatte müssen andere Funktionen erfüllen. Eigentlich möchten wir gerne in Hütten und Herbergen übernachten. Aber ein Schneesturm kann unsere Pläne schnell über den Haufen werfen. Die Entfernungen in Kanada und Alaska sind groß. Wir können uns nicht darauf verlassen bei jedem Wetter eine Unterkunft zu finden.

Dazu kommt, dass uns niemand sagen kann, wie sich unsere Motorräder bei extremen Minustemperaturen tatsächlich verhalten. Keiner der beiden Hersteller testet seine Maschinen bei minus 40 Grad Celsius. Deshalb möchten wir so ausgerüstet sein, dass wir auch bei technischen Problemen eine Chance haben, in eisiger Kälte zu überleben. In diesem Zusammenhang kommt mir meine Berufserfahrung in der Outdoor-Branche sehr gelegen. Bei unserer Sicherheit möchte ich keine Risiken eingehen. Unser Not-Biwak muss funktionieren. Alaska soll nicht unser letztes Reiseziel sein.

Eine Voraussetzung dafür ist ein stabiles, windfestes und schneesicheres Zelt. Der Zelthersteller Hilleberg sitzt in Schweden und kennt sich mit den extremen Wetterbedingungen im hohen Norden gut aus. René Guba von Hilleberg rät uns zu einem Tunnelzelt, weil es mehr Platz bietet als ein Iglu. Ein Tunnelzelt aufzubauen ist jedoch etwas aufwändiger, weil es nur steht, wenn es mit Schnüren abgespannt ist. Im Gegensatz dazu kann ein Kuppelzelt auch ohne Heringe und Abspannleinen stehen. Deshalb wählen wir das Staika als transportables Iglu. Damit haben wir ein leichtes Zelt, das uns im Notfall in kürzester Zeit einen vernünftigen Wetterschutz bietet. Falls es uns zu eng werden sollte, lasse ich die Alukoffer mit dem Gepäck gerne als Spielzeug für die Eisbären draußen stehen.

Nun brauchen wir noch Betten. Ein Lager aus Heu oder Stroh, mit kuschligen Schaffellen, ist selbstverständlich sehr romantisch. Es würde uns aber große Transportprobleme bereiten. Bisher haben mich auf allen meinen Reisen Isomatten von Therm-A-Rest begleitet. Und auf dem Schnee punktet diese sich selbst aufblasende Unterlage zusätzlich mit einer guten Isolierung. Damit uns unterwegs nicht die Luft ausgeht, wähle ich das Modell mit der Tough Skin, sie schützt die Matte laut Herstellerangaben auch vor scharfen Eiskristallen.

Aber welcher Schlafsack eignet sich sowohl für sommerlich warmen Nächten als auch bitterkalte Notbiwaks? Aus Zwei mach Drei lautet die Lösung des österreichischen Schlafsackherstellers Carinthia: Ein leichter Kunstfaserschlafsack für den sonnigen Süden, ein kuscheliger Daunenschlafsack für frostige Nächte, und wenn man beide ineinander steckt, halten sie zusammen bis minus 40 Grad Celsius warm. Diese Lösung gefällt mir. Außerdem kenne ich die Schlafsäcke aus Österreich und weiß, dass ich mich auf ihre Qualität verlassen kann.

In meinem Haushalt befinden sich außerdem mehrere Edelstahl-Thermoskannen. Eine davon habe ich 1990 auf meiner ersten Reise in den USA gekauft und werde sie nun wieder dorthin mitnehmen. Die Küche mit Benzinkocher und Topf steuert Sjaak aus seinem Fundus zur Camping-Ausrüstung bei. Damit können wir Schnee schmelzen und Müsli kochen.

»Ich kann gar nicht mit ansehen, wenn Du immer frierst«, sagt mein Kletterpartner Mani oft und fragt mich, warum ich meine Reisen nicht in den Winter verlege, um in der kalten Zeit in warme Gegenden zu fahren. Im November 2008 war es endlich soweit. Freudestrahlend verkündete ich ihm:

»Ich mache diesen Winter eine Motorrad-Tour!«»Super! Wo soll es denn hingehen?« »Nach Alaska …«

Das Zwiebelprinzip ist bei Winterfahrern sehr beliebt. Mehrere Schichten an Kleidung ermöglichen eine individuelle Regulierung der Temperatur. Dazu müssen die einzelnen Textillagen jedoch aufeinander abgestimmt sein, nicht nur das Material, sondern auch die Größe. Drei dicke Lagen unter einem normal passenden Motorradanzug bedeuten, dass die einzelnen Schichten der Isolierung zusammengepresst und damit unwirksam werden. Unter Umständen schnürt es einem sogar an Hüfte, Kniekehlen und Ellenbogen das Blut ab und man friert alleine aus diesem Grund. Auf alle Fälle aber ist man steif und unbeweglich und fühlt sich nicht mehr wohl.

Also fahre ich mit einem Koffer voller Klamotten zum Unterziehen nach München, um in der BMW Niederlassung den Streetguard Motorrad-Anzug in der richtigen Größe zu finden. In der Umkleide des beheizten Verkaufsraums schlüpfe ich zunächst in die Ortofox Thermo-Unterwäsche, ziehe dann die beheizbare Leggin vom italienischen Hersteller Klan darüber, garniere das Ganze mit einer weiteren Schicht Wolle und teste anschließend verschiedene Motorrad-Hosen. Meine Bewegungen werden immer langsamer. Bei Größe 42 wage ich völlig durchgeschwitzt einen Sitzversuch auf einem dafür bereitstehenden Motorrad. Nichts zwickt, nichts drückt — abgesehen von der Hitze.

Ich reiße mir die Kleider vom Leib, ziehe wieder meine normale Jeans an und wiederhole die ganze Prozedur mit der Jacke. Zuletzt probiere ich den Kragen mit den entsprechenden Halswärmern und der Sturmhaube zu schließen. Der abnehmbare Kragen des Streetguard kommt mir dabei sehr entgegen. Er legt sich komfortabel um meinen Hals. Dass ich kaum noch Luft bekomme, liegt ausschließlich an der Hitze. Aber das Ergebnis lohnt die Mühe: Alles passt.

Tatsächlich ist mir der Anzug natürlich ganze vier Nummern zu groß und ich probiere ihn vorsichtshalber auch noch ohne isolierende Unterschicht an. In der engsten Einstellung hält sich die Hose gerade noch an meinen Hüften fest. Das reicht. Ich will schließlich nicht Miss Florida werden, sondern eine ziemlich extreme Motorrad-Tour machen.

Carinthia hat neben Schlafsäcken auch winddichte Jacken und Hosen mit G-Loft Füllung im Sortiment. Sie haben ein kleines Packmaß, sind winddicht, extrem leicht und sehr bequem. Außerdem passen sie über den Motorradanzug und kommen deshalb mit ins Gepäck. Aber die Erfahrung zeigt, dass es sehr schwer ist, einen Zweiteiler tatsächlich völlig winddicht zu bekommen. Zwischen Hose und Jacke besteht eine Kältebrücke, die bei echten Minustemperaturen spürbar wird. Daher nehme ich noch einen Regencombi von Held mit. Natürlich in der XXL-Version, damit ich ihn einfach, bequem und schnell über allen anderen Schichten anziehen kann.

Nun bleiben noch die Extremitäten: Natürlich sollte man beim Motorradfahren einen kühlen Kopf bewahren. Aber wenn das Visier einfriert, hilft das auch nicht weiter. Arai hat nicht nur gut sitzende Helme, sondern auch beheizte Visiere – ohne längs oder quer laufende Drähte. Sie kommen normalerweise im Formel 1 Sport zum Einsatz, etwa in Malaysia, wo die Luftfeuchtigkeit sehr hoch ist. Wir wissen nicht, wie sie die Kälte verkraften. Also bitte ich Horst, einem Freund von Freunden, zwei Visiere mit Drahtheizung bauen. Die Technik hat sich bei meinen Gespann fahrenden Freunden in vielen Wintern bewährt, also vertraue ich darauf.

Die größten Sorgen mache ich mir allerdings um meine Finger. Zum einen, weil ich extrem verfroren bin, und zum anderen, weil ich sie ganz dringend brauche. Zum Gas geben und Kuppeln, aber vor allem natürlich zum Bremsen. Während meiner Taiga Tour hatte ich in Japan von BMW Winterhandschuhe bekommen. Sie haben mich damals gut durch das herbstliche Russland gebracht. Inzwischen sind sie jedoch ein bisschen in die Jahre gekommen. In der Hoffnung, dass die Qualität gleich gut geblieben ist, besorge ich mir von BMW ein neues Paar.

Klan bietet neben beheizten Jacken und Hosen auch beheizte Handschuhe an. Diese können sowohl an die Batterie des Motorrades angeschlossen werden, als auch an einen separaten Akku, der wiederum über das Bordnetz des Bikes aufgeladen werden kann. Das heißt, ich kann meine Finger in den Handschuhen auch dann aufwärmen, wenn ich nicht auf dem Motorrad sitze.

Unabhängig davon sind für mich auf einer Fahrt im Winter Stulpen am Motorradlenker unverzichtbar, weil die besten Handschuhe nichts bringen, wenn der Fahrtwind die Wärme einfach fortweht. Touratech hat inzwischen ein schnell zu montierendes und komfortabel zu benutzendes Modell im Angebot. Vergessen sind die stundenlangen Fummeleien mit irgendwelchen Billigheimern, die damals am Uralgespann meines Vaters montiert waren.

Aber da ist noch das berühmte Problem der kalten Füße. Warme Socken gehören bei mir auf jeder Reise zur Standardausrüstung. In diesem Fall wird das jedoch nicht reichen. Also kommen zwei Paar dicke Wollsocken ins Gepäck, das eine Paar eine halbe Nummer größer als das andere. So kann ich sie bequem übereinander ziehen. Außerdem hat Klan an uns Kaltfüßler gedacht und auch beheizbare Socken im Programm.

Aber ich will auf Nummer sicher gehen: Von Therm-ic gibt es beheizte Sohlen, deren Heizleistung man mit einer Fernbedienung während der Fahrt fein dosiert regeln kann. Vor allem aber kann man sie einschalten, wenn man anhält und auf kaltem Boden läuft. Damit hat man den angenehmen Effekt einer Fußbodenheizung.

Zu guter Letzt brauche ich noch Schuhe. Ich wähle die Glacier Stiefel vom legendären kanadischen Hersteller Sorel — selbstverständlich so groß, dass alle Socken und die Heizsohle mitsamt den Füßen locker hineinpassen. Das erfordert wiederum einige Proberunden. Weil kein Laden in meiner weiteren Umgebung die Glacier Stiefel auf Lager hat, müssen die Schuhe ein paar Mal hin und her geschickt werden, bis ich die passenden habe. Mit dem Fahrer des entsprechenden Paketdienstes bin ich inzwischen per Du.

Sjaak kümmert sich in den Niederlanden um seine Kleidung. Die Firma Lookwell sponsert ihn bereits seit vielen Jahren und fertigt dieses Mal sogar einen Overall speziell für diese Reise: Ein Nachfolger des legendären Thermoboy, in leuchtendem Orange. Mein Freund Rainer hat noch das Original zu Hause, in einem durch die Jahre und den Gebrauch etwas gedeckteren Orange-Ton. Aber Sjaak bietet an, dass ich das zweite Exemplar bekomme, das Lookwell gefertigt hat. Natürlich ist es mir viel zu groß. Dank einiger Klettverschlüsse lässt sich der Overall jedoch an Armen und Beinen gut an die jeweilige Größe des Trägers anpassen. Sjaaks Schwester Gardie, die ein gutes Stück kleiner ist als ich, trägt den Anzug für mich Probe und meint, es ginge. Also lasse ich das etwas angegraute Exemplar von Rainer zu Hause.

Über die Tücken der Technik

Aber nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Motorräder müssen für den Winter ausgerüstet werden. Sjaak lässt sich eine Alubox für sein Motorrad bauen, um das Gepäck zu verstauen. Außerdem wird das Rahmenheck der R1 von van der Wouden Techniek verstärkt. An meiner F 800 GS sind bereits Alu-Koffer von BMW montiert. Derart ausgerüstet, gehen wir bei der Firma Touratech shoppen.

Die R1 von Sjaak bekommt zwei Zega-Alukoffer und Lenkerstulpen. Außerdem nehmen wir je ein RAM Mountsystem für die Helmkamera und den Fotoapparat sowie eine Xenon-Lampe mit. Die Tage sind im Winter kurz und im Norden noch etwas kürzer. Mit dem Xenon-Scheinwerfer können wir die Straße gut ausleuchten und gleichzeitig Strom sparen, der uns dann gegebenenfalls für die beheizte Kleidung zur Verfügung steht.

Meine F 800 GS bekommt dieselbe Ausstattung wie die Maschinen, die bei der 1. Internationalen GS-Trophy in Tunesien gefahren wurden.Darüber hinaus erhält sie die Tanktaschen der F 650 GS. Darauf lässt sich glücklicherweise auch der kleine Touratech Foto-Tankrucksack befestigen, ohne den mein Leben fast nicht mehr vorstellbar ist. Außerdem montiere ich die große Windschutzscheibe mit Verlängerung. Zusammen mit den Tanktaschen wird sie mir einen optimalen Windschutz geben.

Nachdem wir bereits in Sachen beheizte Kleidung bei Touratech die Produkte der italienischen Firma Klan gefunden haben, gibt es dort auch für unsere Reifen genau das Richtige, ebenfalls aus dem sonnigen Süden: Die italienische Firma Best Grip stellt selbstbohrende Spikes her, die nach Bedarf in den Pneu geschraubt werden können. Der große Vorteil für uns: Wir müssen die Spikes erst dann montieren, wenn wir sie wirklich benötigen. Und wir können sie sogar wieder entfernen, falls wir danach noch einmal für längere Zeit auf Teerstraßen unterwegs sein sollten. Das schont sowohl die Spikes, die sich sonst allzu schnell rund fahren, als auch unsere Nerven, weil es keinen Spaß macht mit den Nägeln über den Asphalt zu hoppeln. Und für die nächste Eispassage können wir dieselben Spikes wieder in den Pneu schrauben.

Der Reifengummi muss allerdings dick genug sein, um den Spikes entsprechenden Halt zu geben. Daher nehme ich mir für das Hinterrad einen Metzeler Karoo und für das Vorderrad einen Pirelli MT21F Dual Sport Reifen mit. Für die Felgen von Sjaaks Supersportler gibt es jedoch keine Stollenreifen. Gut, dass ich auf der Suche nach einem geeigneten Gespann mit Martin Franiza telefoniert habe. Der Redakteur der Zeitschrift Gespanne hatte mir verraten, dass in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift ein Artikel über einen Hersteller von runderneuerten Spezialreifen steht. Die Allgäuer Firma Reifen Immler backt auf abgefahrene Motorradreifen ein spezielles Winterprofil auf.

Ich telefoniere mit dem Geschäftsführer Stefan Immler und schildere ihm das Problem der R1. Die runderneuerten Reifen werden normalerweise auf Gespannen montiert, aber Stefan ist sofort mit Begeisterung dabei: »Das wird schon gehen. Für den Hinterreifen werde ich einfach zwei Bahnen des Profils nebeneinanderlegen«, sagt er und warnt mich im gleichen Atemzug: »Schnell fahren darf er damit aber nicht!« Mit dieser Bedingung kann Sjaak auf Eis und Schnee gut leben, beziehungsweise fahren. Deshalb schickt er zwei abgefahrene Metzeler Reifen aus seinem Bestand ins Allgäu, und kommt ein paar Tage später selbst mit seinem Kleinbus aus den Niederlanden, um die Reifen mit dem neuen Profil abzuholen.

Sjaak ist von Stefans Arbeit begeistert. Er freut sich, dass er weiterhin mit einer annähernd serienmäßigen R1 fahren kann. Und ich freue mich, weil Sjaak meine BMW F 800 GS mit in die Niederlande nimmt. Dort packt er sie gemeinsam mit seiner Yamaha in eine Kiste und gibt sie im Hafen von Amsterdam bei der Spedition MOL ab, wo die Reise der beiden Motorräder in das ferne Amerika organisiert wird, per Schiff über den großen Teich.

Auf der Intermot hatten Sjaak und ich Batterieladegeräte von M&S gesehen. Sie sind die guten, sagen sie, und die Geräte hatten uns auf Anhieb gefallen, weil sie klein und leicht sind. Leider war auf der Messe nur ein Ausstellungsstück zu sehen. Die Serienproduktion laufe erst im Frühjahr an, erklärte uns Geschäftsführer Jürgen Osterkamp. Aber wie das so ist unter Motorradfahrern, einer hilft dem anderen und Jürgen gibt uns für die Reise einen Prototypen. Auf diese Weise kommen wir in den Genuß der weiteren Vorteile des Gerätes: Es arbeitet sowohl mit 220 als auch mit 110 Volt und kann die Batterie meiner F 800 GS trotz ihres CAN-Bus-Systems ganz einfach über die Bordsteckdose laden. Noch wichtiger für uns ist jedoch, dass wir damit auch Reinblei-Batterien aufladen können. Bei der Entwicklung des Gerätes hat M&S mit der Firma Eurobatterietechnik (EBT) zusammengearbeitet.

EBT vertreibt die Reinblei-Batterien von Odyssee. Diese haben laut Herstellerangaben auch bei minus 40 Grad Celsius noch 50 Prozent ihrer Ladekapazität. Die Leistung von Säurebatterien sinkt bei diesen Temperaturen gegen Null. Das heißt, die Motorräder springen mit diesen Batterien nicht an, während wir mit Reinblei-Batterien auch bei großer Kälte noch eine reelle Chance haben, dass die Maschinen starten. Leider passen die Akkus weder in das Batteriefach der R1 noch in das der F 800 GS. Aber wir wollten sowieso jeweils eine Ersatzbatterie dabei haben, die wir nachts mit ins Zimmer oder den Schlafsack nehmen können. Denn die Batterien sind auf dieser Reise die Achillesferse der Motorräder, die Sollbruchstelle des elektronischen Motormanagements.

Jürgen stellt den Kontakt her und Gerhard Bock, Geschäftsführer bei EBT, schickt uns in letzter Minute noch zwei Batterien per Post zu einem deutschen Motorradhändler an der niederländischen Grenze. Dort holt Sjaak das Paket ab und verstaut die Akkus in der Holzkiste der Motorräder. Das ist gut so, denn jede Batterie wiegt ganze fünf Kilogramm und würde unser Fluggepäck stark belasten.

Mein Freund Rainer ist froh, dass er seinen Thermoboy behalten darf und bastelt uns dafür dicke Kabel mit Starthilfe-Steckern. Mit diesen können wir den Leistungsverlust durch den geringen Widerstand der Kabel und Steckverbinder minimieren, wenn wir die externe Reinblei-Batterie mit dem Bordnetz der Motorräder verbinden. So hoffen wir, die Motorräder auch in der arktischen Kälte schnell und unkompliziert starten zu können.

Aber die Motoren springen bei tiefen Temperaturen nur ungern an. Denn das Öl ist in kaltem Zustand zäh und dickflüssig. Damit erhöht sich die Reibung der bewegten Motorteile und der Anlasser braucht mehr Kraft, um die Kolben zu bewegen. Bei diesem Problem unterstützt uns ein weiterer Hersteller aus den Niederlanden: Putoline hat spezielles Polar-Öl für den Motor und die Gabel. Auch Hyperpro verwendet das Spezialöl für mein Federbein, nachdem sie im hauseigenen Klimaschrank mehrere verschiedene Öle getestet haben.

Die Zeit läuft ...

Neben all diesen Vorbereitungen habe ich mein Buch Unterwegs zum Roten Drachen fertig geschrieben und mehrere Artikel verfasst, um die Reisekasse zu füllen, eine Auslandsreise-Krankenversicherung für mich und eine amerikanische Haftpflichtversicherung für das Motorrad abgeschlossen.

Ganz nebenbei habe ich mir auch noch ein neues Notebook angeschafft. Denn mein altes war zu schwer und für die Bearbeitung von Videos zu langsam. Außerdem schwächelte der Akku bereits. Meine Wahl fiel auf ein MacBook Alu. Das Gehäuse sollte Minustemperaturen locker wegstecken, und der Bildschirm für die Bildbearbeitung relativ groß und farbtreu sein. Drei Tage vor unserer Abreise gab mir Norbert Doerner, der Entwickler der Archivierungssoftware CDFinder eine Einweisung in das Apple-Betriebssystem. Als mir nach drei Stunden der Kopf schwirrte, versicherte er mir im Brustton der Überzeugung, dass der Mac viel einfacher zu bedienen sei als ein Windows-PC.

Mein Vater hat für Notfälle eine schriftliche General-Vollmacht bekommen, mit Freunden und Familie habe ich Abschied gefeiert und die Koffer sind gepackt. Nun steige ich nach ein paar letzten, festen Umarmungen in den Zug nach Frankfurt. Dort werde ich mich, sozusagen auf halber Strecke zwischen den Niederlanden und Bayern, mit Sjaak treffen, um nach Amerika zu fliegen.

26.12.2008: Ich hätte gerne mehr Zeit für die Vorbereitung gehabt, allerdings könnte es sein, dass Sjaak und ich in dieser Zeit so viel gestritten hätten, dass wir gar nicht mehr miteinander losgefahren wären …

Von »Mainhattan« nach Manhattan

Tausende Menschen säumen das Ufer des Mains in Frankfurt. Sie stehen auf den Brücken, die über den Fluss führen und sie winken aus den Fenstern der Häuser heraus. Bunte Raketen erleuchten den Himmel und spiegeln sich im Wasser des Flusses. Die Menschen verabschieden das alte Jahr und feiern den Beginn des neuen. Sjaak und ich haben uns am späten Nachmittag am Flughafen getroffen und unser Gepäck der Aufbewahrung anvertraut. Dann sind wir mit dem Zug in die Stadt hineingefahren. Inmitten der jubelnden Menschenmenge vergesse ich den Stress und die Hektik der vergangenen Monate. Und plötzlich ist sie da, die Vorfreude, für die in den letzten Wochen einfach keine Zeit war. In meinem Bauch kribbelt es und ein breites Lächeln schlüpft auf mein Gesicht. Ein neues Abenteuer erwartet mich: Alaska im Winter!

Während Sjaak mit seiner kleinen digitalen Videokamera das Feuerwerk filmt, packe ich zwei Gläser und eine Flasche Sekt aus. Punkt zwölf lasse ich mit klammen Fingern vor laufender Kamera den Korken knallen und wir stoßen auf das neue Jahr und unsere gemeinsame Reise an. Mit kindlicher Freude betrachte ich die bunten Bilder der Raketen am dunklen Himmel, die der Main fröhlich glitzernd auf seiner Wasseroberfläche widerspiegelt, freue mich über das Hier und Jetzt — und auf Amerika.

Jeder Abschied ist eine Neuer Anfang

In einer Kneipe wärmen wir uns wieder auf, bevor wir mit dem Zug zum Flughafen zurückkehren und uns zwei freie Bänke suchen, um dort ein paar Stunden zu schlafen. Bald höre ich Sjaak selig schnarchen. Er hat sich ein paar Biere mehr gegönnt und sein Reisefieber darin ertränkt, während meine Gedanken zwischen Angst und Vorfreude hin und her pendeln. Auf was habe ich mich da eingelassen?

Tatsächlich ist Motorrad fahren in der kalten Jahreszeit kein Problem: Australien, Afrika, Asien und Südamerika, das sind Traumziele für Frost-Flüchtlinge. Aber Alaska? Das ist echter Winter, wie er im Märchenbuch steht, mit funkelnden Schneekristallen und glänzenden Eiszapfen, mit klirrender Kälte und knirschendem Schnee. Herrlich! Aber ... reicht unsere Ausrüstung für die extremen Temperaturen? Kann man so viele Kleidungsstücke überhaupt anziehen? Halten die Motorräder das aus? Und vor allem: Halte ich das aus?

Zwei Meldungen haben mich in der Vorbereitungszeit besonders bewegt. Eine Werbe-E-Mail von BMW hatte mich im Dezember zum Wintertraining eingeladen und ich amüsiere mich immer noch köstlich bei dem Gedanken an die verblüfften Gesichter, wenn ich dort mit meinem Motorrad aufgetaucht wäre, um, wie die Werbung versprach, »Lernerfolg für eine bessere Fahrzeugbeherrschung auf Schnee und Eis mit einem sehr hohen Spaß- und Erlebnisfaktor« zu verbinden. Meine Heiterkeit schlägt jedoch in ernsthafte Bedenken um, wenn ich an die Nachrichten der Deutschen Welle vom 13. Dezember denke:

»Washington: Ein heftiger Wintereinbruch mit Schnee und Eisregen hat im Nordosten der USA mehrere Millionen Menschen von der Stromversorgung abgeschnitten. In den Staaten New Hampshire und Massachusetts erklärten die Gouverneure den Notstand. Nach Angaben der Behörden könne es vielerorts Tage dauern, bis die Menschen wieder Elektrizität hätten.«

Wir wollen weder nach New Hampshire noch nach Massachusetts, aber im Westen von Kanada gab es in diesem Winter ebenfalls schon ungewöhnlich viel Schnee. Und so viel weiß ich von meinen bisherigen Winterfahrten: Im Schneesturm werden wir nicht weit kommen.

Irgendwann bin ich wohl doch eingeschlafen. Denn als der Flughafen langsam zu leben beginnt, wache ich auf und muss dringend auf die Toilette. Sjaak reagiert auf meine leise Ansprache nicht, also lasse ich ihn weiterschlafen. Am Waschbecken mache ich mich frisch und wandere dann zu unserem Schlafplatz zurück. In der Zwischenzeit ist Sjaak offensichtlich ebenfalls aufgewacht und zur Toilette gegangen. Ich begebe mich auf meinen alten Platz und warte.

Wir müssen uns knapp verpasst haben, denn es dauert eine ganze Weile, bis Sjaak wieder auftaucht. Zu meiner Überraschung kommt er aus einer ganz anderen Richtung.

»Wo warst du? Ich habe dich überall gesucht und war gerade bei der Gepäckaufbewahrung. Aber du hast die Zettel«, begrüßt mich mein Reisepartner aufgeregt.

»Gepäckaufbewahrung?« schüttle ich verwirrt den Kopf: »Ich war dort hinten auf der Toilette und habe mir dann gleich noch die Zähne geputzt.«

»So lange kann sich niemand die Zähne putzen, wir müssen los, sonst verpassen wir unser Flugzeug!« drängt Sjaak zum Aufbruch.

An der Gepäckaufbewahrung holen wir unsere Taschen und Koffer ab, die jeweils das maximale Gewicht aufweisen. Zu viele Dinge konnten wir nicht mehr in die Kiste mit den Motorrädern packen und müssen sie nun selbst mitnehmen. Die Zeit wurde sogar so knapp, dass wir im Vorfeld beschlossen haben, nicht direkt nach Florida, sondern nach New York zu fliegen. Per Schiff hätten die Motorräder ganze fünf Tage für die rund 2.000 Kilometer lange Strecke entlang der Ostküste der USA gebraucht. Wir hoffen, auf der Straße schneller zu sein.

Ich habe ein Feuerzeug in meiner Jackentasche und frage die Mitarbeiterin der Fluglinien-Sicherheit, ob ich es ins Handgepäck oder in das Bordgepäck tun soll. »Im Handgepäck dürfen sie es mitnehmen« antwortet sie mir, und Sjaak bekommt große Augen:

»Ich habe mein Feuerzeug extra in das Bordgepäck getan«, verkündet er und fragt: »Was soll ich nun machen?«

»Wenn Sie es finden, sollten Sie es selbst herausnehmen, ansonsten öffnen meine Kollegen bei der Gepäckkontrolle den Koffer.«

Betretenes Schweigen. Wie findet man ein klitzekleines Feuerzeug in einem riesigen Koffer, der so voll ist, dass er sich nur mit großer Kraftanstrengung schließen lässt?

»Das ist kein Problem, ich brauche nur auf der Liste in meinem Notebook nachsehen, dann weiß ich, wo ich es verpackt habe«, versichert Sjaak und erkundigt sich bei der netten Dame: «Habe ich noch so viel Zeit?«

»Natürlich«, antwortet diese freundlich und beobachtet dann ebenso verblüfft wie ich, wie Sjaak in seinem Notebook die Packliste seines Koffers aufruft und dann mit drei gezielten Handgriffen das gesuchte Feuerzeug aus dem Koffer fischt.

Ich schwanke zwischen Bewunderung und Belustigung: War es das, was ihm in den letzten Wochen so viel Stress bereitet hat? Detaillierte Listen von seiner Ausrüstung zu verfassen? Trotz seiner Aufregung, bemerkt Sjaak die Verblüffung seiner Zuschauerinnen und erklärt mit großer Selbstverständlichkeit:

»Das mache ich immer so, damit ich weiß, was ich mitgenommen und wohin ich es gepackt habe.«

Das ist sicherlich praktisch, wenn das Gepäck auf der Reise verloren geht. In dem Fall kann man der Versicherung detailliert melden, was man alles dabei hatte. Ob diese jedoch wissen muss, wo genau was drin war, bezweifle ich. Zudem bin ich mir fast sicher, dass es viel mehr Zeit kostet, vor jeder Reise solch eine detaillierte Liste zu schreiben, anstatt im Fall der Fälle etwas länger zu überlegen, was denn eigentlich im Koffer drin war.

Wieder einmal wird mir bewusst, dass wir in manchen Dingen eine sehr unterschiedliche Herangehensweise an die Aufgaben des Lebens haben: Bei mir stand in den letzten Wochen ein Karton in der Wohnung, in dem all die Sachen gelandet sind, die mir im Lauf der Zeit als unentbehrlich eingefallen sind. Zum Schluss habe ich den Inhalt des Kartons auf dem Fußboden vor mir ausgebreitet, noch einmal konzentriert überlegt, was ich tatsächlich brauche, und das dann möglichst platzsparend in die vorhandene Tasche gepackt. Das Feuerzeug, bei dem ich mir nicht sicher war, wo ich es hintun sollte, blieb einfach draußen und wäre nun gegebenenfalls in irgendeiner kleinen, freien Ritze des Gepäcks verschwunden.

Im Flugzeug amüsieren Sjaak und ich uns gemeinsam über die hochmodernen Touch-Screens, die in die Rückenlehnen der Sitze eingebaut sind. Damit hat man verschiedene Möglichkeiten, sich selbst individuell unterhalten zu lassen. Lediglich die Eingabe-Maske für Beschwerden lässt sich nicht öffnen. Eine clevere Idee, finden wir. Denn auf diese Weise lässt sich ganz einfach eine große Kundenzufriedenheit dokumentieren.

Als Europäer müssen wir uns in New York an der langen Schlange vor dem Immigrationsschalter anstellen. Eigentlich geht es ganz flott vorwärts und ich selbst habe mir angewöhnt, in solchen Situationen meinen Blutdruck abzusenken und in stoischer Gelassenheit auszuharren, bis ich ganz plötzlich an der Reihe bin. Sjaak dagegen scheint von der Gelassenheit des Alters noch Lichtjahre entfernt zu sein und ist ganz hippelig.

Aber seine Ungeduld kommt uns zugute, als wir auf einen Shuttlebus warten. Denn wir müssen vom John F. Kennedy Flughafen, auf dem wir gelandet sind, zum Flughafen in Newark. Ich habe von Deutschland aus über das Internet ein Hotel gebucht, das sich in der Nähe der Spedition befindet, die unsere Motorräder lagert. Gleichzeitig bietet das Hotel einen kostenlosen Shuttlebus-Transfer zum Newark Flughafen an. Ich war davon ausgegangen, dass die beiden Flughäfen in New York eine regelmäßige Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln haben. Vor Ort erfahren wir allerdings, dass der Bus extra angefordert werden muss. Trotz mehrmaliger Nachfrage kommt er jedoch nicht. Nach einer langen Stunde des Wartens findet Sjaak eine Frau, die mit ihrer Tochter ebenfalls nach Newark will. Wir teilen uns ein Taxi mit ihnen. Damit kommen wir nicht nur schneller, sondern sogar auch noch billiger ans andere Ende von New York.

Eine weitere Stunde später schleppen Sjaak und ich unser Gepäck vom Taxi-Parkplatz am Newark Flughafen zur Haltestelle der Shuttle-Busse und steigen dort in einen Kleinbus, der uns zu unserem Hotel bringt. Unsere Motorräder stehen bereits in einer Lagerhalle in Newark. Aber wir sind erst um 14 Uhr gelandet und bis wir beim Hotel ankommen, ist es schon so spät, in der Spedition erreichen wir telefonisch niemanden mehr. Also fallen wir nach einer schnellen Dusche erst einmal müde ins Bett.

Ene mene miste — ̶̶wo ist unsere Kiste?

Der Weg zur Spedition gestaltet sich schwieriger als ich dachte. Wir fahren mit dem Shuttle Bus zurück zum Flughafen und suchen uns dort einen öffentlichen Bus. Erst nach einer Weile erklärt uns der Busfahrer eher unwillig, dass er gar nicht in den Teil von Newark fährt, in den wir wollen. Wir müssen aussteigen und rund fünf Kilometer laufen. Ein Taxi ist weit und breit nicht in Sicht und ich komme ganz schön ins Schwitzen, während ich bepackt mit Werkzeug und Kameraausrüstung hinter dem ebenfalls schwer tragenden Sjaak herlaufe, den seine innere Unruhe im Eilschritt vorantreibt.

Die Mitarbeiterin der Spedition präsentiert uns eine gesalzene Rechnung, die wir nicht erwartet haben. Beim Angebot hätten sie leider einen Kostenpunkt vergessen, erklärt sie uns. Weil sie unsere Motorräder haben, sind wir in einer ungünstigen Verhandlungsposition. Also laufe ich zum nächsten Einkaufscenter und hole dort am Automaten Geld. Dann erledigen wir die Formalitäten. Inzwischen ist es vier Uhr Nachmittag. Es macht keinen Sinn mehr, die Holzkiste mit den Motorrädern zu öffnen, da wir mindestens einen halben Tag für den Zusammenbau der Maschinen brauchen. Aber wir besichtigen die Kiste. Sie ist gänzlich unbeschädigt. Den Motorrädern kann also nicht viel passiert sein.

»Morgen kommen wir wieder und holen euch da raus«, verspreche ich den beiden durch die Holzwand hindurch.

Sjaaks innere Unruhe ist beinahe körperlich spürbar. Er will kein Taxi nehmen, sondern zu Fuß an der Straße entlanglaufen, bis wir eine Bushaltestelle finden. Da mein normales Jogging-Programm in den letzten Wochen etwas zu kurz gekommen ist, willige ich ein und wir marschieren ... bis wir am Hotel ankommen. Auf der Strecke fahren keine Busse und deshalb gibt es logischerweise auch keine Bushaltestellen. Zwölf lange Kilometer haben wir zurückgelegt, sagt das Taxameter des das Taxis am nächsten Morgen, das die Strecke in wenigen Minuten schafft.

Ich fühle mich wie ein Kind am Nikolausabend, voller Erwartung und Freude darauf, die Motorräder auszupacken. Aber meine heitere Stimmung bekommt einen kräftigen Dämpfer, als Sjaak mit großem Ernst und hoch konzentriert an die Arbeit geht. Ich bin mit meiner Euphorie alleine, und sie verfliegt ... In der düsteren Halle der Spedition holen wir die Motorräder aus der Holzkiste, schrauben sie zusammen und packen alles auf die Maschinen, was darüber hinaus in der Kiste Platz gefunden hatte. Die Zega-Boxen und die Top-Box der R1 sind genauso voll wie die Alukisten meiner BMW. Die zwei Sätze Winterreifen verzurren wir auf dem Rücksitz meiner 800er, in ihrer Mitte versenken wir einen Touratech-Packsack und binden dann noch das Zelt und eine Tasche mit Kleinteilen auf die Alukoffer.

Lady Sunshine habe ich die BMW in Deutschland spontan getauft, als sie mit den gelben Lackteilen vor mir stand. Die Enduro gefällt mir. Sie ist schlank und elegant und ich hoffe, dass der Namen ein gutes Omen für unsere Reise sein wird. Im Moment aber ist sie so schwer beladen, dass ich sie nicht einmal ohne Weiteres vom Seitenständer hochheben kann. Als Sjaak mir zur Hand gehen will, bitte ich ihn, sich nur zur Sicherheit daneben zu stellen. Auf der Straße muss ich das Motorrad alleine manövrieren, deshalb möchte ich sie vorher bereits ein bisschen ausbalanciert haben.



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