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Das Buch ist ein neuartiger Versuch, zentrale psychologische, philosophische und religiöse Aspekte der vermutlich noch etwa 100jährigen Wendeepoche auf dem Weg zu einem neuen globalen Gleichgewicht zu benennen. Am Ende des Buches werden Hypothesen zu weiteren kritischen Aspekten dieser globalen Transformation aus den Bereichen Politik, Ökonomie und Ökologie, sowie aus der Klima-, Raum- und Sexualforschung aufgestellt. Diese Hypothesen sollen in später folgenden Büchern des Gesamtprojekts ausgearbeitet und schließlich zu einer umfassenden These verdichtet werden. Dabei bildet dieses erste Buch eine Art Kopfstein im Bogen der gesamten Thematik und zieht den weitesten aller denkbaren Rahmen zur Einordnung unserer persönlichen Probleme, innerhalb dieser spannenden Epoche.
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2017
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ist ein neuartiger Versuch, zentrale psychologische, philosophische und religiöse Aspekte der vermutlich noch etwa 100jährigen Wendeepoche auf dem Weg zu einem neuen globalen Gleichgewicht zu benennen. Am Ende des Buches werden Hypothesen zu weiteren kritischen Aspekten dieser globalen Transformation aus den Bereichen Politik, Ökonomie, Ökologie, Klimatologie, Raumfahrt und aus den Sexualwissenschaften aufgestellt. Diese Hypothesen sollen in später folgenden Büchern des Gesamtprojekts ausgearbeitet und schließlich zu einer umfassenden These verdichtet werden. Dabei bildet dieses erste vorliegende Buch eine Art Kopfstein des Bogens der gesamten Thematik und zieht den weitesten aller denkbaren Rahmen zur Einordnung unserer persönlichen Probleme innerhalb dieser spannenden Epoche.
Die seriöse Bewältigung der umfassenden Gesamtthematik ist eine Herausforderung; ihre Lösung erfolgt durch einen Kunstgriff in der Quellenauswahl: Jedes der sieben Themen der sieben Bücher konzentriert sich in seinem Bezug auf das – intuitiv ausgewählte – Beste des jeweiligen Themenbereichs. Es ist eine „Minimal art“ ganzheitlicher Zukunftsforschung, deren Anfang mit einer komprimierten Darstellung des Ansatzes von Ken Wilber, dem vermutlich tiefsinnigsten Theoretiker unserer Zeit, gemacht wird.
ist Jahrgang 1958 und seit jeher fasziniert von der Vorstellung, dass alles, was geschieht, letztlich doch einer inneren Logik folgt, die – auch wenn sie zum Teil „nur“ intuitiv erfassbar ist – doch beschreibbar sein sollte.
Seine ursprüngliche Motivation ergab sich aus den radikalen Idealen der Kulturrevolte der 1960er Jahre. Er erforschte sich als Individuum und gesellschaftliches Wesen im Kontext der vorstellbaren konstruktiven und schließlich vielleicht realisierbaren Visionen unserer langfristigen Zukunft.
Nach Studien in Philosophie, Ökonomie und Politologie widmete sich Detlef Georg Siebert von 1986 bis 1994 Forschungstätigkeiten im Bereich der sozialwissenschaftlichen Computersimulation. Seit 1995 arbeitet er in unterschiedlichsten Projekten und Bereichen, aus denen sich eine Verschiebung zu neuen Themen bezüglich der Praxis menschlicher Kommunikation – vor allem im Hinblick auf aktuelle Fragen der Geschlechterbeziehungen und der spirituellen Entwicklungspotenziale – ergab.
Vorwort
Teil I
Ken Wilbers Vision eines ungeteilten Daseins
Von der Schatten-Ebene zur Ego-Ebene
Projektion von Gefühlen
/
Projektion von Eigenschaften
/
Philosophische Bänder
/
Hilfen zur Re-Integration
Von der Ego-Ebene zur Existenziellen Ebene
Willkürliches und Unwillkürliches
/
Biosoziale Bänder
/
Konkurrenzspiele
/
Hilfen zur Re-Integration II
/
Soziale Halluzination
/
Entkoppelte Rationalität
/
Aufstieg und Abstieg I
/
Unbewusstes der verschiedenen Ebenen
Von der Existenziellen Ebene zur Ebene des G
EISTES
Sexualisierung und Triebverdrängung
/
Ich im All – das All in mir?
/
Aufstieg und Abstieg II
/
Flachland
/
D
ER
G
EIST
/
Hilfen zur Re-Integration III
/
Gefahren im Übergang zum Transpersonalen
/
„Die Prä/trans-Verwechslung“
/
Transpersonale Bänder
/
Stufen, Drehpunkte und Pathologien des Bewusstseins
Wege der Erkenntnis
Relative und absolute Erkenntnis
/
Primärer und sekundärer Dualismus
/
Zeitillusion
/
Tertiärer Dualismus
/
Quartärer Dualismus
/
„Augen der Erkenntnis“
/
Wissenschaftlichkeit
/
Kritik
Modell der kósmischen Evolution und Re-Integration
„I holarchy“
/
„WE holarchy“
/
„ITS holarchy“
/
„IT holarchy“
/
Viereinigkeit
/
Verständnishürden
/
Holons
/
Pyramidale Grobstruktur
/
„Haarspalterei“
/
Pyramidale Feinstruktur
/
Teilmengen-These und pyramidale „Ausbeulung“
/
Holarchien
/
Politische Schlüsse 1
/
D
ER
G
EIST
in der Evolution
/
Historische Schwerpunkte im Bewusstseinsspektrum
/
Gattungsgeschichtliches bis zur Persona-Identität
/
Nachhaltiger Wechsel zur Re-Integration?
/
Aufstieg und Abstieg III
Telos einer integralen Co-Evolution (These 1)
Teil II
Wissenschaftliches Visionieren?
7 Hypothesen zum Jahrtausendwechsel: Konzepte für eine Zukunft der menschlichen Evolution
Ratio und Religio (1)
Humane Weltordnung (2)
Krisenfreie Marktwirtschaft (3)
Wirksame Ökologisierung (4)
Umsichtige Klimakontrolle (5)
Ambitionierte Raumfahrt (6)
Liebeszuwachs (7)
Anmerkungen
Namensverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Quellen
Verzeichnis der Abbildungen
Wertvolle Diskussionen zum Verständnis des Ansatzes von Ken Wilber und viele nützliche Hinweise zu den Vorarbeiten – wie schließlich zu den Feinheiten – der Darstellung seines Ansatzes, im ersten Teil dieses Buches, verdanke ich Rose Littmann, Tomislav Ninković und Achim Kriechel. Dabei kommt Rose das besondere Verdienst zu, mich überhaupt erst auf Wilber aufmerksam gemacht zu haben. Tomislav verdanke ich vor allem erste Gehversuche einer spirituellen Praxis, die ich als sehr förderlich empfinde. Achim Kriechel fand mich – mehr oder weniger zufällig – über das Internet und unterzog sich der Mühe, das Manuskript des ersten Teils dieses Buches detailliert inhaltlich zu überprüfen, was neben einigen interessanten Begriffspräzisierungen vor allem wichtige Optimierungen verschiedener Grafiken zur Folge hatte. Allen dreien bin ich zu tiefem Dank verpflichtet! Auch das abschließende, sehr gründliche Lektorat von Petra Wilgenbus führte noch zu einigen inhaltlichen Verbesserungen und machte vor allem aus dem Manuskript ein hoffentlich gut lesbares Buch.
Die „7 Hypothesen zum Jahrtausendwechsel“, im zweiten Teil, basieren auf langjährigen Vorarbeiten. All die dabei für mich wichtig und anregend gewesenen Menschen zu nennen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Zu besonderem Dank verpflichtet fühle ich mich aber natürlich vor allem meinen Eltern, meinen Geschwistern, meiner geschiedenen Frau Cirstin, einigen sehr treuen und immer hilfsbereiten Freunden und Freundinnen, sowie meinen Lehrern und Lehrerinnen! Von ganz besonderer Bedeutung war schließlich auch die langjährige Behandlung durch Frau Dr. Našincovä, die mir die Chance gab, mich körperlich wieder aufzurichten.
Dieses Buch ist als das erste einer siebenteiligen Reihe gedacht, durch die ich die, meiner Ansicht nach, wichtigsten Aspekte unserer langfristigen Zukunft umreißen möchte. Ich hoffe stark, dass es mir gelingt, in den nächsten Jahren ausreichend Zeit für die Ausarbeitung der übrigen sechs Bücher zu finden. Es kann gut sein, dass sich dieses Projekt insgesamt über eine Phase von zehn oder mehr Jahren erstreckt.
Detlef Georg Siebert
Berlin, Oktober 2000
Unsere Welt erweckt immer mehr – nicht zuletzt auf Grund der rasenden technologischen Entwicklungen – den Eindruck eines unüberschaubaren Gebildes von unendlicher Vielfalt, bestehend aus einer ständig weiter wachsenden Fülle fragmentierter Elemente, deren Zusammenhalt weitgehend unverständlich bleibt. Welchen Bereich, welche Ebene oder welches Detail des Daseins ich auch betrachte: Immer zerrinnt mir die Einheit der Phänomene, fast augenblicklich, zu Gedanken über die Beschaffenheit, den inneren Aufbau oder die übergeordnete Funktion des Wahrgenommenen.
Ohne Zweifel ergibt sich dieses Problem aus der Art der beschriebenen Wahrnehmung selbst, denn wäre die Welt wirklich fragmentiert und in diskrete Phänomene oder Elemente unterteilt, anstatt ein inneres ununterbrochenes und kontinuierliches Ganzes zu bilden, so könnte sie gar nicht existieren: Sie würde augenblicklich innerhalb der realen Lücken ihrer rein abstrakten Beziehungen im Nichts verschwinden!
Wollen wir die Welt re-integrieren, ihre Zersplitterungen heilen, um uns wieder stärker an den wunderbaren Manifestationen ihrer Schönheit zu erfreuen, so kommen wir also nicht umhin, bei uns selbst und unserer gebrochenen Wahrnehmung anzusetzen. Die Erkenntnis, dass unser – immer mehr oder weniger – lineares Denken, das unsere Wahrnehmung vorstrukturiert, nicht wirklich „der Stein der Weisen“ sein kann, hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt herumgesprochen. Andererseits vermuten die meisten Skeptiker zurecht, dass ein Rückfall auf vorrationale Erfahrungs- und Erkenntnismodi auch keine überzeugenden Antworten auf die drängenden Fragen unseres heutigen, rationalistisch strukturierten Lebens zu bieten hat. Die Integration einer entwickelten und kritischen Rationalität in ein umfassendes – seelisches, körperliches und geistiges – Gewahrsein wirkt immer noch schwierig, obwohl die Grundlagen eines entsprechenden Ansatzes, der sowohl theoretisch wie praktisch überzeugt, bereits in den frühen 1970er Jahren von dem amerikanischen Allroundgenie Ken Wilber gelegt wurden.
Ich möchte zunächst bei der eher persönlichen und psychologischen Ebene ansetzen, die Wilber in seinem 1972 geschriebenen Erstlingswerk „Das Spektrum des Bewusstseins“ (SdB) beleuchtet, um dann den Bogen zu einer philosophisch ausdifferenzierten Perspektive zu schlagen, die sich auf die aktuellen Werke von Wilber bezieht.
Der Hintergrund von Wilbers Werk besteht, neben seiner vitalen Körperlichkeit und seiner angloamerikanischen Mittelschichtssozialisation, aus seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung, sowie seinen jahrezehntelangen intensiven Meditationserfahrungen mit einem Schwerpunkt auf buddhistischen Praktiken (vgl. v. a. Wilber TzG 1997: 9ff).1 Bereits mit seinem Erstlingswerk (vgl. die Auflage: Wilber SdB 1998), das er im Alter von 23 Jahren schrieb, legte er einen ersten geschlossenen und konsistenten Modellansatz einer integralen Psychologie vor, der moderne europäisch-amerikanische Ansätze und traditionelle asiatische Ansätze überzeugend synthetisiert. Dieses „Spektralmodell“ unseres Bewusstseins bildet den Kern oder die Knospe seines inzwischen weitgehend entfalteten Ansatzes, an dessen Grundzügen Wilber bis heute festhalten konnte.
Die Basis von Wilbers Werk besteht aus einer tiefen geistigen Einsicht und der persönlichen Erfahrung der Ur-Identität alles Seienden, wie dies für die in der Regel monistischen Religionen des Ostens typisch ist, die von einer alles durchdringenden Göttlichkeit ausgehen. Diesen spirituellen Horizont vermittelt Wilber anschaulich durch eine exzellente Rationalisierung, der neben einer Aktualisierung der Kernaussagen der alten asiatischen Weisheitslehren auch die Integration der wesentlichen modernen Psychologie-Ansätze des Westens gelingt. Der entfaltete philosophische Ansatz von Wilbers aktuellen Hauptarbeiten weist umfangreiche Analogien zum Denken der großen idealistischen Philosophien des 18ten und 19ten Jahrhunderts auf. Im Unterschied zu diesen rein intellektuellen Ansätzen bildet aber bei Wilber die persönliche psychische Erfahrung – die psychologisch verallgemeinert werden kann – den Ausgangs-, Ruhe- und Endpunkt seines enorm produktiven geistigen Stroms.
Springen wir nach diesem Prolog also einfach rein ins Thema unserer gebrochenen Wahrnehmungen und Selbsteinschätzungen! Wer sind Sie? Sind Sie eine zu logischem Denken und Handeln befähigte Kohlenstoffeinheit? Sind Sie ein komplexer und hochintegrierter Organismus oder definieren Sie sich eher über Ihr Ego, das diesen Organismus nur – mehr oder weniger zutreffend – mental abbildet? Oder haben Sie gar wesentliche, zumeist negativ besetzte Momente Ihrer persönlichen Biografie verdrängt und identifizieren sich nur noch mit den übrig gebliebenen, derzeit bewussten Ego-Resten, die Ihnen besser gefallen? Für die meisten von uns dürfte der letzte Fall der zutreffende sein: Aus irgendwelchen Gründen haben wir Potenziale unserer Persönlichkeit – negative oder positive – verdrängt und vergessen „und dann vergessen ..., dass wir sie vergessen haben“ (Wilber SdB 1998: 208).
Wir befinden uns hiermit zunächst auf der Ebene, mit der sich die klassische Psychoanalyse befasst: Unser Ego leidet unter einer Spaltung in bewusste Anteile einerseits und in verdrängte, unbewusste Anteile andererseits. – Wilber bezeichnet die verbliebenen Ego-Reste, die auf dieser Ebene das Identifikationsmuster unseres Ich-Bildes darstellen, als Persona. Die ausgeklammerten Anteile unseres ehemals geschlossenen Egos, von denen wir uns entfremdet haben und die wir in die Außenwelt projizieren, nennt er, in Anlehnung an C. G. Jung, den Schatten.
Die Lebenssituationen der einzelnen Menschen auf dieser Identifikationsstufe sind recht unbefriedigend und können sich leicht gefährlich zuspitzen: Die Ausklammerung und Projektion ungelebter Potenziale unserer Persönlichkeit auf die Außenwelt bedeutet auf jeden Fall eine Verarmung. Denn obwohl alle Aspekte unserer Persönlichkeit weiterhin vorhanden sind, egal ob sie uns bewusst sind oder nicht, haben wir keine bewusste Verbindung mehr zu unserem ausgeklammerten Schatten, den wir zwangsläufig als etwas Äußeres und zumeist Bedrohliches oder zumindest Bedrückendes empfinden. Die Verdrängung der Schattenaspekte ins Unbewusste bedeutet nämlich keineswegs ihre Auflösung: Alles bleibt in WIRKLICHKEIT wie es ist, nur unsere Wahrnehmung und Selbsteinschätzung sind jetzt extrem verengt und damit verarmt.
Unbewusstes ist also nicht einfach verschwunden; es ist weiterhin präsent und wirkt jetzt als scheinbar äußere Kraft auf uns ein. Diese oberste Ebene des mental unbewussten Schattens ist aber nur die Spitze des Eisbergs unseres Unterbewusstseins: Wir werden auf jeder Ebene des Bewusstseinsspektrums einen ähnlichen Prozess der Spaltung in bewusste und unbewusste Potenziale vorfinden und deshalb den Begriff des Unbewussten später noch einmal aufgreifen.
Auffällig für die Prozesse der Schatten-Ebene, für die Projektionen unserer unterdrückten Potenziale auf das Außen, das angebliche Nicht-Selbst und Fremde sind in der Regel auftretende typische Gefühlsumkehrungen:
„Wie projizierte Erregung als Angst und projizierter Antrieb als Druck erlebt wird, so erfahren wir projizierte Aggression als Furcht.
... Wo projizierte Aggression als Furcht erlebt wird, empfinden wir projizierten Zorn als Depression.“ (Wilber SdB 1998: 216)
Abbildung 1: Von der Schatten-Ebene zur Ego-Ebene
Abbildung entsprechend Diagramm 3 aus: Ken Wilber: Das Spektrum des Bewußtseins. Reinbek bei Hamburg 1998: 151 (Original 1977) © Detlef Georg Siebert 1999
Wie aber lassen sich Projektionen erkennen? Wie ist eine Abgrenzung von der übrigen, durchaus realen Außenwelt möglich? Es gibt ein allgemeines, recht einfaches Indiz für Projektionen: Den Grad unserer emotionalen Betroffenheit, unserer Aufgeregtheiten: Geraten wir immer wieder bei bestimmten Themen oder sich ähnelnden Situationen plötzlich in Wallung, so versteckt sich hier mit ziemlicher Sicherheit eine Projektion, mit der wir versuchen sollten, etwas unvoreingenommener Kontakt aufzunehmen. Bleibt dagegen eine Außenwelt-Information gefühlsmäßig relativ neutral und ungefärbt, ist sie eben eher schlichte Information, die uns die Möglichkeit gibt, unser Verhalten nach Gutdünken etwas zu justieren oder einfach beizubehalten, so sind wir offenbar weniger verhaftet oder in Projektionen verfangen. Wir sind freier, autonomer, selbstständiger und weniger vorprogrammiert in unserem Verhaltensmuster. Hierzu Wilber selbst:
„Wenn etwas an einer Person oder in unserer Umgebung uns lediglich informiert, projizieren wir wahrscheinlich nicht; wenn es uns aber affiziert, besteht der Verdacht, dass wir ein Opfer unserer Projektionen sind.“ (Wilber SdB 1998: 219)
Die bereits erwähnten Gefühlsumkehrungen können sowohl bei sozial als positiv empfundenen Emotionen, wie „etwa Interesse, Verlangen, Antrieb, Motivation, Eifer, Angeregtsein“ (Wilber SdB 1998: 208), als auch bei sozial als negativ abgestempelten Emotionen wie „etwa Aggression, Zorn, Hass, Zurückweisung und Groll“ (Wilber SdB 1998: 212) auftreten. Zitieren wir ein einfaches, alltägliches Beispiel einer situativ projizierten Emotion:
„John hat ein Rendezvous mit Mary. Er ist furchtbar aufgeregt und kann es kaum erwarten, sie endlich zu Hause abzuholen. Als er läutet, zittert er vor lauter Aufregung ein bisschen, aber dann öffnet Marys Vater, und John gerät fast in Panik, wird sehr nervös. Er vergisst seine ganze Begeisterung über das Treffen mit Mary, und während er eben noch hellwaches Interesse für seine Umwelt war, empfindet er jetzt, dass diese Umwelt – nämlich Marys Vater – sich für ihn interessiert. Anstatt zu schauen, fühlt er sich angeschaut und auf eine Weise exponiert, die ihm die Kehle zuschnürt. John schlägt mit seiner eigenen Energie auf sich selbst ein, wird aber alle Schuld an dieser unangenehmen Situation der Umwelt zuschieben, in diesem Fall dem ‘unguten Blick’ von Marys Vater.
Zudem wird John auch noch in einen Teufelskreis geraten, denn für Projektionen ... gilt: Je mehr man projiziert, desto mehr neigt man zum Projizieren. Je mehr John seine Erregung vergisst, desto mehr projiziert er und desto mehr glaubt er sich von der Umwelt in die Zange genommen, was wiederum zu noch mehr projizierter Erregung führt und so weiter. Der einzige Ausweg aus dieser misslichen Lage wäre für John, sich mit seiner Erregung zu re-identifizieren und sie dann zu leben, anstatt von ihr gebeutelt zu werden. Das wird im Normalfall geschehen, sobald Mary das Zimmer betritt: John findet sofort zu seinem Interesse zurück und handelt entsprechend, geht also auf sie zu und begrüßt sie. Jetzt hat er sein entfremdetes Interesse zurückgewonnen, denn nun schaut er wieder die Umwelt an, anstatt sich von ihr angestarrt zu fühlen.
In dem Augenblick, als Panik und Angst in John aufstiegen, trennte er sich von seinem biologischen (nicht unbedingt sexuellen) Grund-Erregungszustand – er blockierte ihn, sagte sich los von ihm und projizierte ihn. Erregung wird unter diesen Umständen als Angst erlebt. Oder anders herum betrachtet: Wenn wir Angst empfinden, versagen wir uns ganz einfach, erregt, energiegeladen und lebendig zu sein. Der einzige Ausweg aus dieser Situation besteht darin, unser Interesse und unsere Erregung für uns zurückzugewinnen – die Erregung auf den Körper übergreifen zu lassen und tief durchzuatmen, anstatt die Brust zu verkrampfen und den Atem einzuschnüren; vor Energie zu vibrieren, anstatt sich gelassen zu geben, die Erregung zu unterdrücken und stocksteif zu werden.
Wenn wir Angst empfinden, brauchen wir uns nur zu fragen: Worüber bin ich so erregt?’ oder Was tue ich gerade, um meine Erregung zu unterdrücken?’ Ein Kind lässt sich von seiner Aufregung begeistert mitreißen, ein Erwachsener fühlt sich unbehaglich, weil er die aufwallende Energie aufhält und projiziert, während Kinder sie einfach fließen lassen.“ (Wilber SdB 1998: 208ff)
Hinsichtlich der so genannten negativen Emotionen ist es besonders wichtig, ihre enorme Selbstverstärkung zu erkennen, die sie durch die Projektion erleben:
„Tatsächlich werden Hass und Aggression nur dann wirklich böse und destruktiv, wenn wir sie zu verdrängen versuchen, wenn wir sie von den ausgleichenden positiven Tendenzen wie Liebe und Bejahungsbereitschaft abtrennen und in die Umwelt schleudern. Wenn wir dann annehmen, dass diese dämonischen Aspekte nur noch in der Umwelt existieren, empfinden wir sie natürlich als Bedrohung und reagieren heftig, notfalls auch gewalttätig und heimtückisch auf diese eingebildete Bedrohung; dann kommt es zu blindwütigen und häufig blutigen Kreuzzügen, da verbrennen wir ‘Hexen’, zu ihrem eigenen Wohl natürlich, da führen wir Krieg, ‘um den Frieden zu erhalten’, und veranstalten Inquisitionstribunale, um ‘Seelen zu retten’. Kurzum, verdrängte und projizierte negative Tendenzen können ein wirklich sehr gefährliches Eigenleben entwickeln, während sie, in den Gesamtzusammenhang des Lebens eingebunden, also nicht verdrängt, sondern neben und mit den entsprechenden positiven Tendenzen existierend, von eher harmloser Natur sind, ein unverzichtbarer Anteil im Spiel der Kräfte.“ (Wilber SdB 1998: 212f)
Unser Schatten braucht sich aber nicht unbedingt um eine der bisher besprochenen Projektionen von Gefühlen zu drehen, auch das vermeintliche Auslagern von Eigenschaften ist möglich: Diese projizierten Eigenschaften lassen sich natürlich wiederum in „positive“, wie „Güte, Stärke, Weisheit, Schönheit“ (Wilber SdB 1998: 217) einerseits und „negative“, also „etwa Voreingenommenheit, Versnobtheit, Heimtücke, Prüderie, Gemeinheit und dergleichen“ (Wilber SdB 1998: 218) aufspalten. Auch dieser Prozess der Auslagerung entfremdeter Potenziale unserer Persönlichkeit verrät sich durch übermäßige Gefühlsaufladung: Das ausgelagerte Gute führt zur Vergötterung anderer Menschen, wohingegen das externalisierte Böse ihre Verteufelung nach sich zieht. Bei den projizierten Eigenschaften selbst erfolgt dabei keine Umkehrung, so wie wir dies bei den projizierten Emotionen beobachten können; hier kommt es vielmehr einfach zu einer Übersteigerung der Gefühlsbindung an das scheinbar verloren gegangene eigene Potenzial. Zitieren wir wieder ein einfaches Beispiel:
„In einer Clique von zehn Mädchen sind neun, die Jill mögen, aber die Zehnte, Betty, kann Jill nicht ausstehen, weil sie, wie Betty findet, prüde ist. Und Betty hasst Prüderie. Sie gibt sich alle Mühe, ihre Freundinnen von Jills Prüderie zu überzeugen, aber es gelingt ihr nicht, und das bringt sie nur noch mehr auf. Es springt wohl ins Auge, dass Betty Jill nur deshalb hasst, weil sie sich ihrer eigenen versteckten Prüderie nicht bewusst ist; und indem sie diese Tendenzen auf Jill projiziert, wird der Konflikt zwischen Betty und Betty ein Konflikt zwischen Betty und Jill.“ (Wilber SdB 1998: 218)
Betrachten wir nach diesem kurzen Überblick über die Prozesse der Schatten-Ebene noch einmal die einfache Darstellung der Abbildung 1 (oben: 10), so fehlt uns noch eine Erläuterung des Begriffs der Philosophischen Bänder, die zwischen der in Persona und Schatten gespaltenen Ebene und dem re-integrierten Ego platziert sind. Allgemein bilden diese Bänder, die wir auch bei den Übergängen zu den nächsten Ebenen des Spektrums finden werden, jeweils eine Art Zwischenebene. Mit den Philosophischen Bändern dieser Ebene sind vor allem spezifische, persönlich oder familiär errichtete Moralvorstellungen oder Ethiken gemeint, die durchaus erheblich von dem allgemeinen, sozialen ethischen Konsens einer Gesellschaft abweichen können. Auch voneinander sind diese Systeme sehr verschieden, zumeist sind sie noch durch die Glaubenssätze der großen prämodernen Religionen beeinflusst; sie können auch durch spezifische nationale Mythen gefärbt sein, oder stattdessen pubertäre Negationen familiär vorgefundener Erziehungsmaßstäbe verkörpern (vgl. Wilber SdB 1998: 158). Letztlich konstituieren diese Philosophischen Bänder den jeweils persönlichen Filter, der die erwünschten Ego-Anteile passieren lässt und die unerwünschten ausgrenzt, diese Ausgrenzung dann verdrängt und so den entstehenden Schatten vorstrukturiert. Übersetzt in das klassische Freud’sche Modell entsprechen die Philosophischen Bänder also in etwa dem Begriff des „Über-Ich“, während die Persona mit dem Freud’schen „Ich“ und der Schatten mit dem „Es“ korrespondieren.
Eine Verbesserung der Lebenssituation auf dieser Identifikationsstufe der Persona wird folglich kaum zu erreichen sein ohne eine Vergegenwärtigung der eingefleischten persönlichen Glaubensgrundsätze und ihrer konkreten biografischen Verankerungen, um dann eine Überprüfung und gegebenenfalls eine Korrektur zu ermöglichen. Hierdurch mag eine freiere und unvoreingenommenere Kontaktaufnahme mit den eigenen Schattenaspekten gelingen, was schließlich ihre Re-Integration vorbereitet, die zur Auflösung einer Vielzahl verfestigter persönlicher Problemkonstellationen führen kann.
Kommen wir zum Abschluss dieser Betrachtung der Schatten-Ebene noch zu einer Zuordnung der auf dieser Ebene des Bewusstseinsspektrums angezeigten Therapieformen:
„Sobald sich eine ausreichend starke Selbststruktur gebildet hat (aber nicht früher), kann diese Struktur Aspekte ihrer eigenen Natur verdrängen, dissoziieren oder sich entfremden. Dieser gesamte Vorgang führt zu einer dreiteiligen Struktur des Selbst: Es, Ich und Über-Ich. Und es kann zum Krieg kommen: Über-Ich gegen Es (Hemmung), Es gegen Ich (Angst, Besessenheit), Über-Ich gegen Ich (Schuld, Depression). Kohut nennt dies den ‘schuldigen Menschen’.
Die aufdeckenden Techniken sind dazu entwickelt worden, die unbewussten und verdrängten Aspekte der Psyche wieder ins Bewusstsein zu bringen, wo sie in das zentrale Selbst re-integriert werden können. Zu diesen Techniken gehört die Psychoanalyse, ein großer Teil der Gestalttherapie und der ‘den Schatten integrierende’ Aspekt der jungianischen Therapie.“ (Wilber TzG 1997: 73f)
„Wenn wir so allmählich lernen, den Schatten immer mehr zuzulassen, weiten wir unsere Identität und damit unsere Verantwortung Schritt für Schritt über den eng umgrenzten Bereich der Persona hinaus auf die gesamte Psyche aus. So schließt sich die Kluft zwischen Persona und Schatten, wird ‘geheilt’, und damit bildet sich spontan ein zutreffendes und daher akzeptierbares einheitliches Ich-Bild, das heißt eine zutreffende mentale Repräsentation meines psychosomatischen Gesamtorganismus – und so steige ich ab von der Schatten-Ebene zur Ego-Ebene.
Die meisten westlichen Psychotherapien haben vor allem diesen Abstieg zur Ego-Ebene zum Ziel. ... In der Gestalttherapie ebenso wie in der Psychoanalyse, der Realitätstherapie, der rationalen Therapie, der Transaktionsanalyse, dem Psychodrama und vielen anderen Ego-Psychologien finden wir dieses Element: Sich dem Schatten stellen, ihn wieder als sein Eigen annehmen und dann sehen, was wir zuvor nicht sehen wollten – dass der alte Widersacher ein Freund ist.“ (Wilber SdB 1998: 228f)
Vielleicht ist es an dieser Stelle angebracht zu betonen, dass wir uns mit den hier vorgenommenen Abgrenzungen der verschiedenen Ebenen des Bewusstseinsspektrums natürlich in einem Modell, einer mentalen Abbildung der WIRKLICHKEIT, bewegen. Modelle jeglicher Art sind „Landkarten“, die – wie Wilber nicht müde wird zu betonen – nicht mit dem wirklichen „Territorium“ verwechselt werden sollten! So verhält es sich selbstverständlich auch mit seiner Theorie: Die WIRKLICHKEIT, auch die unseres Bewusstseins, ist, wie schon gesagt wurde, kontinuierlich und ununterbrochen; folglich sind auch die Übergänge zwischen den schematisch skizzierten Identifikationsstufen tatsächlich fließend und durch alle möglichen Zwischentöne und Zwischenstufen bestimmt. Jedes Modell abstrahiert und vereinfacht in dem Versuch, das Augenmerk auf das Wesentliche zu lenken. Als mentales Bild nähert es sich damit der WIRKLICHKEIT mehr oder weniger gut an, ist mehr oder weniger richtig und erreicht so einen immer nur relativen Grad von Wahrheit. Behalten wir dies im Hinterkopf, wenn wir uns jetzt mit der nächsten Ebene des Bewusstseins, der Ego-Ebene befassen.
Nehmen wir an, wir haben Fortschritte gemacht: Auf Grund ernsthafter, vermutlich mehrjähriger Bemühungen ist es uns gelungen, unsere Schatten-Ebene weitgehend zu re-integrieren. Wahrscheinlich echauffieren wir uns immer noch, ab und an, über irgendetwas, aber die Situation verfestigt sich nicht mehr: Es bleibt uns bewusst, dass die aufkommenden Emotionen die unseren sind und, je stärker sie sind, sich umso mehr auf Anteile unseres Selbst beziehen, die uns von der Außenwelt gespiegelt werden. Folglich können wir die Gefühle auch wieder loslassen, anstatt sie in einem Teufelskreis der Anhaftungen und Projektionen immer weiter zu verstärken.
Wir verfügen jetzt wieder über ein recht zutreffendes Abbild unseres „psychosomatischen Gesamtorganismus“, also über ein gesundes Ego! Nur: die Integration zwischen diesem Ego und unserem Körper könnte wohl noch etwas besser sein – bislang bleibt sie eher suboptimal, was sich zum Beispiel darin äußert, dass wir unsere Kräfte zuweilen überschätzen: Vielleicht passiert uns dies beim Sport oder auch beim Sex, wenn wir diesen nur als eine besonders interessante Form des Sports betreiben, oder es macht sich in Form von Krankheiten bemerkbar, deren Symptome wir nicht frühzeitig genug bemerkt haben. Eine biblische Weisheit bringt diese Situationen auf den Punkt: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Wir wünschen etwas mit unserem Ego zu tun, wozu unser Körper momentan, auf Grund einer mangelhaften Integration unseres Gesamtorganismus, nicht in der Lage ist.
Die Motivation, sich auf die Problematik der Ego-Ebene einzulassen und einen „Abstieg“ zur Existenziellen Ebene des Organismus anzugehen, ist also recht klar: Früher oder später führt eine unzureichende Integration von Körper und Geist immer zu Beeinträchtigungen unseres Lebensgefühls und unserer Möglichkeiten, im Extremfall sogar zu schwerwiegenden Krankheiten.
Abbildung 2: Von der Ego-Ebene zur Existenziellen Ebene
Abbildung entsprechend Diagramm 3 aus: Ken Wilber: Das Spektrum des Bewußtseins. Reinbek bei Hamburg 1998:151 (Original 1977) © Detlef Georg Siebert 1999
„Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass wir durch Re-Integration des Schattens unsere Identität erweitern und von einer verarmten Persona zum gesunden Ich [der Ego-Ebene] machen können. Es ist fast wie der Umzug aus einem engen Apartment in eine behagliche Wohnung. In diesem Kapitel gehen wir aus der behaglichen Wohnung in ein geräumiges Haus. Wir erweitern die Identität vom Ich [der Ego-Ebene] ... bis hin zum [Ich des] Zentauren, indem wir den Kontakt zu unserem Körper wieder aufnehmen. ...
Normalerweise lässt der Mensch den Körper erstarren, ohne das Wesen dieser Erstarrung zu begreifen. Er weiß nicht einmal, dass er erstarrt ist. Er fühlt nichts, und das ist ihm ganz recht. Vielleicht spüren wir dann jedoch, dass es uns irgendwie an Tiefe fehlt, an einer Basis, an Sinn. Das kann uns anregen, weiter hinunterzusteigen und unsere Identität auf den ganzen psychophysischen Organismus auszudehnen. Dazu müssen wir allerdings die Starrheit der Ich-Herrschaft aufgeben – sie ist für die Abspaltung verantwortlich – sodass die Empfindungen aus der Tiefe des Körpers bis an die Oberfläche gelangen können.“ (Wilber TzG 1997: 33f, eckige Klammern hinzugefügt)
Das Fabelwesen des Zentauren – halb Tier und halb Mensch – wird für Wilber zum Sinnbild einer neuen Stufe der Entwicklung, auf der es den Menschen gelingt, ihre animalischen Anteile wieder bewusst anzunehmen und sie konstruktiv zu re-integrieren, anstatt sie weiterhin zu ignorieren und zu verdrängen oder gar vehement zu unterdrücken.
Kennzeichnend für die Ich-Identifikation auf der Ego-Ebene ist vor allem die Trennung von Willkürlichem und Unwillkürlichem, wobei die Identifikation auf die willentlich beeinflussbaren Vorgänge reduziert bleibt und all die mannigfachen, unwillkürlichen Steuerungsprozesse des Körpers nicht nur nicht registriert, sondern sogar als fremd empfunden werden.
„Auf einer tieferen Ebene fürchten wir die Wiedereroberung des Körpers, weil in ihm starke Emotionen und Gefühle wohnen, die einem gesellschaftlichen Tabu unterliegen. Und letztlich wird der Körper gemieden, weil er der Sitz des Todes ist. ...
Besonders bedroht fühlt sich das Ich [der Ego-Ebene] durch die Anfechtbarkeit des Körpers durch den Schmerz, und es versucht, sich davon zurückzuziehen.“ (Wilber TzG 1997: 33, eckige Klammer hinzugefügt)
Häufen sich aber irgendwann irgendwelche Funktionsstörungen dieser unwillkürlichen Prozesse, oder wird einfach die Sehnsucht nach mehr Lebensfreude stark genug, so mag der ernsthafte Wille in uns reifen, unser reduziertes Ego wieder besser mit dem Körper zu verbinden.
Das Angebot der hierzu in den letzten Jahrzehnten entwickelten oder wieder entdeckten Therapien ist genauso reichhaltig wie unübersichtlich. Den Ausgangspunkt bilden natürlich unsere momentane Problemlage und unsere Motivation. Haben sich bereits chronifizierte Krankheiten, auf Grund der Vernachlässigung unseres Körpers, gebildet, so dürften zunächst korrigierende Eingriffe von außen unumgänglich sein: So mögen zum Beispiel bei den heutzutage stark verbreiteten Rückenproblemen, die sich nach jahrelang verfestigten unbewussten Fehlhaltungen einstellen, zunächst chiropraktische Eingriffe oder eine Rolfing-Behandlung Linderungen bewirken; im Extremfall mag gar ein operativer Eingriff der Schulmedizin nötig werden. Probleme mit inneren Organen sind noch tückischer – oft registrieren wir eine entsprechende Vernachlässigung oder Überbeanspruchung erst, wenn uns nur noch eine Notfallstation retten kann. Selbstverständlich bewegen wir uns mit jedem Eingriff der Medizin nur auf der symptomatischen Ebene, deren erfolgreiche Behandlung uns bestenfalls die Chance gibt, unsere Axiome, unser Verhalten und unsere eingeschliffenen Gewohnheiten zu überdenken und zu korrigieren.
Eine nachhaltige Stabilisierung unserer Situation können wir in solchen Fällen nur durch ein Innehalten und die intensive Erforschung unseres vielschichtigen Selbst erreichen. Zunächst mögen zum Beispiel ein paar schlichte, täglich ausgeführte, gymnastische Übungen, die unseren Bewegungsmangel überwinden, Entlastung bringen. Aber warum konnte es überhaupt so weit kommen? Warum sind wir körperlich immer noch so träge, dass uns nur die Erinnerung an die durchlebten Schmerzen zu ein paar Minuten Gymnastik bewegen kann?
Körperarbeit allein ist zwar sinnvoll, sie wird uns aber die persönlichen Hintergründe der Situation kaum erhellen. Was vielmehr nötig ist, ist eben der Versuch, wirklich wieder eine stabile Verbindung zwischen Körper und Geist aufzubauen: Therapeutisch mag dieser Weg von der Gymnastik oder dem Stretching zum Hatha-Yoga führen, oder Übungen der Bioenergetik aufgreifen und mit Autogenem Training verbinden, oder auch von der hypnotischen Behandlung zur Selbsthypnose übergehen.
Wie auch immer: Auf jeden Fall sind die Schwierigkeiten solcher Bemühungen nicht zu unterschätzen, denn die Probleme, die sich hier auftun, sind keineswegs rein persönlicher Natur! Das Problem der Ego-Ebene, der Spaltung von Körper und Geist, von Unwillkürlichem und Willkürlichem ist ein wesentliches, grundlegendes und konstitutives Moment der gesamten abendländischen Kultur, die gegenwärtig dabei ist, die noch verbliebenen Reste aller anderen Kulturen dieser Erde zu durchdringen. Diese Durchdringung hat in vielerlei Hinsicht, vor allem politisch und wirtschaftlich, sehr zu schätzende Vorteile, dürfte aber andererseits auch zu einer verstärkten Verbreitung der bekannten Nachteile des westlichen Lebensstils führen. Jedenfalls reicht es für kein persönliches Projekt einer Re-Integration von Körper und Geist aus, nur die persönlichen Axiome der oben, auf der Schatten-Ebene, erwähnten Philosophischen Bänder zu hinterfragen. Vielmehr wird es hier, beim Versuch des „Abstiegs“ zur Ich-Identifikation mit dem Gesamtorganismus der Existenziellen Ebene, auch nötig, die so genannten Biosozialen Bänder zu durchdringen. Wilber (SdB 1998: 231ff) befasst sich ausführlich mit einer Beschreibung dieses „großen Filters“ unserer Wahrnehmung, der mitverantwortlich ist für die Schwierigkeiten der Re-Integration auf dem Weg von der Ego-Ebene zur Existenziellen Ebene.
Ohne irgendwelchen unausgegorenen und einfachen Anti-Haltungen verhaftet zu sein, schildert Wilber die Hauptprobleme dieser Zwischenebene. Dabei betont er zunächst die grundsätzliche Notwendigkeit der Existenz des Biosozialen Bandes,
„... denn ohne es wäre die Menschheit wohl nicht in der Lage, Kulturen, Zivilisationen und Gesellschaften zu bilden. Das Biosoziale Band selbst soll also nicht in Frage gestellt werden – wohl aber sein Missbrauch.
Es liegt, wie wir sagten, direkt über der Existenziellen Ebene oder bildet deren oberen Grenzbereich. Deshalb sind hier die Dualismen Leben versus Tod (oder Vergangenheit versus Zukunft) und Ich versus Nicht-Ich (oder Organismus versus Umwelt) von besonderer Bedeutung. Hier empfindet der Mensch sich als gesondert existierenden Organismus in Raum und Zeit. Die Erforscher des Biosozialen Bandes befassen sich daher einerseits mit den biologischen und vor allem soziologischen Faktoren, die dieses grundlegende existenzielle Bewusstsein formen, und andererseits mit allem, was die Interaktion oder Transaktion zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen zwei oder mehr Leuten, zwischen Person und Umwelt beeinflusst. Auf der Ego-Ebene haben wir es mit dem ‘Ich’ zu tun; im Biosozialen Band mit ‘Ich und du’.“ (Wilber SdB 1998: 232)
Eine Zusammenfassung von Wilbers diesbezüglichen Ausführungen kann in diesem Zusammenhang auch nützlich sein, um die heutzutage wieder stark verdrängte Kritik des Egoismus substanziell zu erneuern. Hierdurch könnte, quasi nebenbei, auch eine rationale Basis der Kritik an der mit diesem Egoismus einhergehenden entkoppelten Rationalität zurückgewonnen werden. Dies wäre dringend erforderlich, insofern die Auswüchse einer – aus dem grundlegenden Seinszusammenhang – entkoppelten Rationalität sich bekanntermaßen immer noch leicht in verheerender Destruktivität manifestieren können.
Den Kern oder die Basis des Biosozialen Bandes bildet unsere Sprache: mit ihren Begriffen, ihrer Grammatik und Syntax „konventionalisiert“ oder verallgemeinert und sozialisiert sie unsere Wahrnehmung, was – wie gesagt – ein kulturell notwendiger Prozess ist. Die Sprache gibt uns die Möglichkeit einer zunehmend komplexer werdenden, symbolischen Abbildung der eigentlichen WIRKLICHKEIT und stellt somit immer neue Mittel einer verfeinerten Bearbeitung derselben zur Verfügung. Die Sprache stellt die Grundbausteine aller weiteren „Landkarten“ bereit, die wir brauchen, um uns innerhalb dieser Welt zu orientieren und zielgerichtet zu bewegen.
„Zu dieser ‘Konventionalisierung’ der Wirklichkeit scheint zu gehören, dass man lernt, zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten , zwischen der Welt und ihrer Beschreibung eine von jedermann nachvollziehbare Eins-zu-eins-Relation herzustellen. Wir müssen zum Beispiel lernen, bestimmten Dingen die ‘richtigen’ Worte zuzuordnen. Wenn ich Sie etwa um ein Glas Wasser bitte, dann wissen Sie, dass ich ein Gefäß voll mit jener klaren, geschmacklosen, geruchlosen Flüssigkeit haben möchte, für deren Bezeichnung wir uns auf das stimmliche Lautgebilde ´vaşo geeinigt haben. Wir lernen im Laufe der Zeit eine erstaunliche Zahl solcher Assoziationen, auf Grund derer wir dann nicht nur auf grundsätzlich gleiche Weise wahrnehmen, sondern uns auch auf eine füreinander verständliche Weise verhalten können. Schließlich würden Sie und ich wohl nicht lange miteinander auskommen, wenn Sie mir auf meine Bitte um ein Glas Wasser die Zuckerdose reichen würden.
Durch diesen Assoziationsprozess lernen wir, solchen für sich genommen sinnlosen Klanggebilden wie ´vaßo einen bestimmten Sinn zu unterlegen. Das Klanggebilde selbst trägt keine Bedeutung, weist nicht über sich hinaus, bezeichnet nichts. Es ist ein Geräusch, eine Tonschwingung, für sich genommen ebenso sinnlos wie Pfraumel, Knirstader, oder Argeldrunstei. Wenn Ihnen das noch nicht ganz klar ist, dann sagen Sie dreißig Sekunden lang: ‘Wasserwasserwasser ...’, und es wird aller Assoziationen beraubt sein, reine, sinnlose Tonschwingung. Wir geben dieser neutralen Schwingung jedoch eine Bedeutung, indem wir uns darauf einigen, dass sie stellvertretend für ‘wirkliches’ Wasser stehen soll. Sinn und Bedeutung entsteht einfach dadurch, dass wir übereinkommen, ein sinnloses Lautgebilde solle auf etwas Wirkliches, etwa das Wasser, das wir aus Erfahrung kennen, hindeuten.
Die hindeutende Schwingung bezeichnen wir nun im Allgemeinen als Symbol, das, worauf hingedeutet wird, als Sinn oder Bedeutung. Natürlich liegt diesen beiden Komponenten ein und dieselbe Erfahrung zu Grunde, doch um so etwas wie einen symbolisch kommunizierbaren Sinn zu schaffen, müssen wir diese eine Erfahrung in zwei Teile spalten, deren einer auf den anderen hindeutet. Wenn irgendetwas einen Sinn annehmen, also über sich selbst hinausdeuten soll, muss notwendigerweise eine Spaltung entstehen, denn worauf sollte es sonst hindeuten? Hier kommen wir auf eines unserer Grundthemen zurück, nämlich dass symbolische Repräsentationen oder, wie wir jetzt auch sagen können, Sinn Dualität schafft, das Universum aufspaltet und für sich selbst unkenntlich macht. Wenn ich mir für mein Leben einen Sinn wünsche, so wünsche ich mir damit letztlich eine Zerstückelung meiner Erfahrung und meiner Wirklichkeit.“ (Wilber SdB 1998: 233f)
Das Grundproblem des Biosozialen Bandes ergibt sich aus der von Wilber erwähnten Eins-zu-eins-Relation zwischen Symbol und Symbolisiertem, insofern diese Eins-zu-eins-Relation sehr subtil zu einer verbreiteten, kaum merklichen Verwechslung von „Landkarten“ und wirklichem „Territorium“ geführt hat. So führte speziell die jahrtausendelange, gesellschaftliche Tradierung der Leibfeindlichkeit des christlich-jüdisch geprägten Abendlandes zu der Fiktion, Körper und Geist seien tatsächlich getrennt, nur weil wir dazu in der Lage sind, dies begrifflich zu tun! In WIRKLICHKEIT sind sie natürlich EINS, aber das kollektive kulturelle Missverständnis dieser einfachen Tatsache zu überwinden, bleibt persönlich enorm schwierig.
Im Fortgang des Textes möchte ich versuchen, mit einigen Verweisen auf gravierende gesellschaftliche oder gesellschaftlich-historische Problemstellungen, grundlegende Gefahren der Biosozialen Bänder zu illustrieren. Bei diesen Illustrationen geht es in der Hauptsache um die Möglichkeit, einer kollektiven sozialen Fiktion zu verfallen. Ein Beispiel hierfür wird von Wilber selbst geliefert; er versucht mit Hilfe eines spieltheoretisch-psychologischen Ansatzes das in der modernen Industriekultur so bedeutende Konkurrenzspiel zu erklären (Wilber SdB 1998: 240ff): Dieses Spiel vergleicht er mit einer persönlichen Double-bind-Situation, die durch einen Widerspruch zwischen offener, verbaler und mental versteckter Botschaft gekennzeichnet ist und entsprechend inkonsistentes Verhalten nach sich zieht. Im Biosozialen Band der Gesellschaft sollen sich kollektiv akzeptierte, widersprüchliche Botschaften zum Teil zu widersprüchlichen Spielregeln verfestigen können und so letztlich dazu führen, dass ein – nach solchen Regeln gespieltes – Spiel grundsätzlich, beim besten Willen, nicht zu gewinnen ist.
So weit wirkt dieses Modell ganz interessant; seine Anwendung auf jedwede Form des öffentlichen Konkurrenzmechanismus, der inzwischen in nahezu allen Institutionen der modernen Gesellschaften etabliert wurde, halte ich allerdings nicht für ganz schlüssig: Bislang zumindest sind bei den meisten gesellschaftlichen Spielen der Ego-Ebene, früher oder später, klare Gewinner und Verlierer feststellbar gewesen. Zukünftiges Verhalten kann sich dadurch stärker an den Konzepten der Gewinner orientieren, wodurch letztlich insgesamt so etwas wie gesellschaftliche Evolution entsteht. Dies gilt selbst für das größte und gefährlichste Spiel, das die Menschheit jemals veranstaltet hat: den jahrzehntelangen Rüstungswettlauf zwischen den ehemaligen Weltmachtblöcken. Obwohl diese scheinbar völlig verrückte Veranstaltung für eine sehr lange Zeit das Bild eines extrem labilen dynamischen Schwebezustands bot, löste sie sich schließlich – überraschenderweise – doch durch das erfolgreiche ökonomische „Totrüsten“ der Sowjetunion relativ glimpflich und perspektivisch konstruktiv auf. Gewiss hat jedes Spiel und jeder Erfolg seinen Preis – und in diesem Fall war der Preis wirklich verdammt hoch, aber immerhin konnte der ultimative, jahrzehntelang greifbar nahe Kollaps unserer Spezies, bislang zumindest, vermieden werden und gleichzeitig das zutiefst verlogene und marode System des „real existierenden Sozialismus“ zu Fall gebracht werden.
Allgemein lässt sich wohl festhalten, dass Konkurrenzspiele der Ego-Ebene – auch auf dem gesellschaftlichen Level einer durch Individualismus und Egoismus geprägten historischen Phase – natürlich eine Beanspruchung unserer körperlichen oder sonstigen materiellen und energetischen Ressourcen mit sich bringen. Diese Beanspruchung kann in Überbeanspruchung münden und zum Kollaps führen. Grundsätzlich ist ein solcher Vorgang allerdings noch nicht als paradox zu bezeichnen – andererseits bewegen wir uns, vielfach persönlich, gesellschaftlich, international und global, seit geraumer Zeit so hart an der Grenze zum Kollaps, dass unsere Epoche insgesamt ohne Frage als ein sehr gewagter Vorstoß einzustufen ist!
Letztlich ist hierbei der gesamte Industrialisierungsprozess im Zusammenhang zu sehen: Die industrielle Take-off-Phase der letzten zweihundert Jahre benutzte die Übertragung des ursprünglich männlich-kämpferischen, und später sportlich domestizierten Konkurrenzmechanismus auf die wirtschaftlichen Beziehungen, und inzwischen allgemein auf fast alle öffentlichen Beziehungen, als den Motor ihrer Entwicklung. Vermutlich brauchen wir weitere hundert Jahre, um diese Take-off-Phase der Industrialisierung global zu ihrer endogenen – quasi natürlichen – Voll-endung führen zu können und das Switch-over zu einem neuen stabilen dynamischen Gleichgewicht zu vollziehen (vgl. Anmerkung 13, v. a. Abs. 4). Sollte dieser Zustand erreichbar sein, ohne eine definitive Überbeanspruchung der irdischen Natur zu provozieren, so dürften bis dahin substanzielle gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen eingetreten sein, deren Beschreibung heutzutage weitgehende Spekulation bleibt. Vermutlich werden sich diese Veränderungen auch auf die Bedeutung des Konkurrenzmechanismus beziehen. Denkbar wäre es zum Beispiel, dass er zwar faktisch, in ähnlicher Weise wie heute, fortbesteht, aber – auf Grund einer allgemein verbesserten psycho-organismischen Integration der Menschen – nicht mehr so existenziell empfunden wird wie jetzt, sondern eben eher wieder als ein Spiel, das sportlichen Regeln des Wettkampfs folgt und zur allgemeinen Erbauung dient.
Kommen wir noch einmal zu Wilbers spieltheoretischem Ansatz zurück, so lässt sich hierzu abschließend festhalten, dass Konkurrenzspiele natürlich – im Extremfall – auch zum Kollaps aller Beteiligten führen können: Dies kann zum Beispiel im wirtschaftlichen Bereich eintreten, wenn Konkurrenten oder „Mitbewerber“ in eine sich selbst verstärkende Spirale des ruinösen Wettbewerbs geraten. Allerdings sind solche Fälle eher selten und keineswegs die Regel. Sie lassen sich modellhaft adäquat durch eine in der Spieltheorie als „Gefangenendilemma“ bezeichnete Situation beschreiben: Obwohl alle Beteiligten individuell zweckrational handeln, bewegen sie sich trotzdem, auf Grund ihrer unvollständigen Informationen – nach dem Überschreiten eines vorab unbekannten Schwellenwertes – unentrinnbar auf einen Kollaps oder zumindest doch auf einen insgesamt suboptimalen Zustand zu.2
Trotz dieser partiellen Kritik an Wilbers früher Einschätzung des „Konkurrenzspiels“ ist seine grundsätzliche Warnung vor den Gefahren einer kollektiven Fiktion innerhalb des Biosozialen Bandes sehr wohl berechtigt. Mörderische Beispiele für diesen Prozess finden sich innerhalb der Menschheitsgeschichte zuhauf. Für das 20ste Jahrhundert stellt hier insbesondere die Etablierung der großen totalitären Gesellschaftssysteme ein breites und trauriges Forschungsfeld dar. Vor allem am deutschen Faschismus, mit seinem kollektivierten nationalen Größenwahn, lässt sich dieser Prozess deutlich erkennen. Ich komme hierauf gleich wieder kurz zurück, möchte aber zunächst einmal den Gesamtzusammenhang des Themas rekapitulieren. Danach werde ich die – für die hier besprochene Ebene des Bewusstseinsspektrums – angebrachten Therapien erwähnen, um im Weiteren den Überblick über die Tücken des Biosozialen Bandes abzuschließen.
Orientieren wir uns an dieser Stelle also noch einmal innerhalb des Wilber’schen Gesamtspektrums: Wir hatten angenommen, dass wir durch eine Re-Integration unserer bislang unbewussten und auf die Außenwelt projizierten Ego-Reste des Schattens von der verarmten Ich-Identifikation der Persona – vom Persona-Bewusstsein – zu der vollständigeren Identifikationsstufe des Egos – zum Ego-Bewusstsein – abgestiegen sind. Hierzu war es nötig gewesen, die im Laufe unserer Biografie persönlich akzeptierten Philosophischen Bänder bewusst zu machen und zu durchdringen. Anschließend stellten wir uns dem Problem der Spaltung von Ego und Körper. Der Versuch einer Re-Integration auf dieser Ebene – der Weg zurück zur Identifikation mit unserem einheitlichen Gesamtorganismus, dessen Ziel Wilber in der Wiederherstellung eines Organismischen Bewusstseins bzw. einer Organismischen Identität sieht – kann einerseits zunächst rein persönlich, mit den bereits oben erwähnten, primär körpertherapeutischen Mitteln, beginnen. Andererseits wird es hierbei nötig, die allgemeinen „Landkarten“ unserer Wahrnehmung, die unserer gesamten Kultur zu Grunde liegen und das Biosoziale Bandkonstituieren, zumindest zeitweise außer Kraft zu setzen, um uns schließlich wieder als das ungeteilte Ganze unseres Geistkörpers empfinden zu können. Zweifellos ist dies keine leichte Aufgabe.
„Familientherapie, Kommunikationspsychiatrie, Semantische Therapie, manche Formen sehr tiefreichender interpersoneller Therapie, Sozialphänomenologie und Ähnliches – sie alle versuchen, jede auf ihre Weise, diese unbewussten Landkarten bewusst zu machen, sodass man zumindest bemerkt, dass die Wirklichkeit verschleiert wird, auch wenn das noch nicht hinreicht, den Schleier zu lüften. Wer weiß, dass er ein großer Narr ist, der ist kein gar so großer Narr’, sagte Chuang-tzu. Wenn wir unsere Landkarten als Landkarten erkennen, sind wir endlich in der Lage, den Blick von ihnen weg auf das Territorium zu richten, die Macht dieser gesellschaftlichen Träume über uns zu brechen und, wie Laing schreibt, die kollektive Halluzination, die wir Wirklichkeit nennen, zu durchschauen . Gelingt uns das nicht, so werden die sozialen Fiktionen für bare Münze genommen: ‘Den Pseudo-Ereignissen um uns passen wir uns an im falschen Bewusstsein, sie seien wahr, real und sogar schön.’... Das Ergebnis ist, wie ein Analytiker einmal sagte, ‘ein institutionalisierter Albtraum, den alle zugleich haben’, und zwar ‘weil jeder glaubt, jeder andere glaube ihm’.
Gegenstand dieser Therapien ist also das Geschehen auf dem Biosozialen Band, das zwar nicht der einzige Ursprungsort von Unterscheidungen und Dualismen ist, aber als die Heimat von Sprache und Logik doch sehr weit reichende Bedeutung besitzt. Diese Matrix der Unterscheidungen verwandelt, wenn sie für bare Münze genommen wird, nicht nur das organismische Bewusstsein in selektives Gewahrsein, sondern lässt auch widersprüchliche Regeln entstehen und Spiele, bei denen man nur verlieren kann; diese wiederum führen zu Neurosen und Psychosen. Zweifellos spielt sie also eine wichtige Rolle für das Verhalten. Denn wie einer die WIRKLICHKEIT teilt, so handelt er.“ (Wilber SdB 1998: 249)
Möglicherweise schwingt in diesem Zitat doch noch eine Portion jugendliche Radikalität oder zeitbedingter Sturm-und-Drang mit, denn natürlich sind nicht alle „Landkarten“ des Biosozialen Bandes pure Fiktion oder Halluzination. Sie sind vielmehr allesamt soziale und kulturelle Konstruktion und ermöglichen dadurch neue Manifestationen, Erscheinungen, Phänomene innerhalb der ungeteilten WIRKLICHKEIT, die den Bestand der jeweiligen Kultur, aus der sie kommen, entweder sichern oder unterminieren. Diese „Fiktionen“ oder besser gesagt: diese kollektiven geistigen Konstruktionen werden Realität und diese Realität kann ich individuell entweder relativ korrekt erkennen, oder auch total verkennen. Als kollektive Fiktionen im Sinne echter Halluzinationen haben sich diese geistigen Konstruktionen der übergeordneten Realität innerhalb eines umfassenderen System- oder Seinszusammenhangs zu stellen und werden dort, im Zweifel brutal, widerlegt. In unserem Beispiel des nationalisierten deutschen Größenwahns während des Dritten Reiches zeigte sich diese Widerlegung – deren Faktizität die Fiktion letztlich erst zur Halluzination macht – im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Wir werden dieses erkenntnistheoretisch wesentliche Thema der Fiktionen weiter unten wieder aufgreifen.
Zum Abschluss dieses Abschnitts über die Möglichkeiten der Re-Integration von Ego und Körper, hin zu einer wieder belebten unmittelbaren Organismischen Identität der Existenziellen Ebene des Bewusstseinsspektrums, sind noch einige kurze Bemerkungen oder Unterstreichungen angebracht.