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»Utopien sind mächtige Werkzeuge des Zeitgeistes. Gelingt es ihnen, verbreitete soziale Sehnsüchte oder Ängste zu veranschaulichen, so wirken Utopien als kulturelle Verstärker: Einfache Thesen werden auf diese Weise zu vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, Meinungen werden zu scheinbaren Wahrheiten oder gar zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.« In diesem Büchlein werden utopische Romane und Szenarien von Aldous Huxley, Alexander A. Bogdanow, Ursula K. Le Guin, Adrian Berry, Jesco von Puttkamer und anderen vorgestellt. Diese Entwürfe sind exemplarische Visionen, die im Strom unseres kollektiven Unterbewusstseins und kulturellen Subtextes wirken.
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Seitenzahl: 82
Veröffentlichungsjahr: 2016
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»Der Utopist sieht das Paradies, der Realist das Paradies plus Schlange.«
Christian Friedrich Hebbel1
1 Christian Friedrich Hebbel (1813-1863), deutscher Dramatiker und Lyriker. Zitiert nach https://www.aphorismen.de/zitat/151522 (abgerufen am 24.08.2016).
Ein wissenschaftlicher Utopiebegriff
Die Utopien von Aldous Huxley Vom Sarkasmus zur Gutmenschen-Vision
2.1 »Kollektivität, Identität, Stabilität«
2.2 Vom normierten »Glück« zum buddhistisch inspirierten »Eiland«
Ausgewählte moderne Utopien der sozialen Revolution Das Ende der modernen Utopien? Teil 1
3.1 Einleitung
3.2 Radikal-sozialer Fortschritt als kommunistische Utopie
3.3 Radikal-sozialer Fortschritt als anarchistische Utopie
Utopien des technischen Fortschritts, Dystopien und apokalyptische Visionen Das Ende der modernen Utopien? Teil 2
4.1 Technologische Utopien im Sachbuch-Gewand
4.2 Der Umschlag in Dystopien und apokalyptische Visionen
Überblick der verwendeten Quellen
Artikel aus »Der Brockhaus multimedial 2006 premium«
Nachwort
Mit einem übersichtlichen und handlichen Taschenbuch gelang es dem Politikwissenschaftler Thomas Schölderle vor einigen Jahren, eine hervorragende Einführung in das äußerst materialreiche Gebiet des utopischen Denkens zu liefern. Die drei folgenden Zitate stammen aus dieser Arbeit:
»In der wissenschaftlichen Diskussion sind vor allem drei Utopiebegriffe richtungsweisend geworden. Grob unterscheiden lassen sich ein klassischer, ein sozialpsychologischer sowie ein totalitarismustheoretischer Utopiebegriff. Der Ausgangspunkt des klassischen Begriffs ist die im Jahr 1845 von Robert von Mohl geprägte Bezeichnung ›Staatsroman‹. Die gesamte Gattung definiert er als ›Dichtungen (…) eines idealen Gesellschafts- oder Staatslebens‹ […]. Zwar ist die Begriffsbildung gleich doppelt unglücklich, weil weder die epische Form des Romans noch die ›Idealstaats‹-Beschreibung wirklich konstitutiv für die Mehrzahl der Utopien ist. Doch steht die klassische Utopieforschung bis heute weitgehend in der Tradition des mohlschen Ansatzes. Sie orientiert sich hauptsächlich am Prototyp von Morus’ Utopia und ist perspektivisch auf die prägenden (meist literarischen) Entwürfe in der Geschichte konzentriert. Demgegenüber liegt dem sozialpsychologischen Utopiebegriff ein deutlich erweitertes Verständnis zugrunde. Maßgeblich initiiert wurde es von Gustav Landauer (Die Revolution, 1907); seine wichtigsten Vertreter waren schließlich Karl Mannheim (Ideologie und Utopie, 1928) und Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung, 1959). Später fand der Ansatz auch Fürsprecher im Soziologen Arnhelm Neusüss oder dem Bloch-Schüler Burghart Schmidt. […] Dabei rekurrieren die Autoren allesamt nicht mehr auf die Denktradition, sondern betrachten Utopie als eine Art Bewusstseinsform oder bloße Intention. Das hat zur Folge, dass – etwa bei Ernst Bloch – von Schaufensterauslagen bis zur Bibel, von Tagträumen bis zu Beethovens Neunter alles unter den Utopiebegriff subsumiert werden kann. […] Damit lässt sich aber ebenso schlecht operieren wie mit dem dritten Typus: dem totalitarismustheoretischen Utopiebegriff. Sein prägendes Muster schuf der bekannte Wissenschaftsphilosoph Karl Popper […] und es erlebte vor allem im Kontext der Zeitenwende von 1989/90 eine beachtliche Renaissance. […] Utopien gelten demnach als geistige Vorwegnahme späterer totalitärer Herrschaftsformen. Der Reduktionismus des Ansatzes liegt gleichsam auf der Hand, denn schwerlich lässt sich allen historischen Utopieentwürfen ein totalitärer Gehalt, geschweige denn eine solche Funktion, und im Grunde nie eine solche Intention nachsagen.«2
»Utopien sind in ihrer klassischen Ausprägung fast allesamt rationale Gedankenexperimente, die in erster Linie der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Die Funktion des Textes liegt in einem Anstoß zur Reflektion über die Grundlagen der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit. Mit dieser Funktion deckt sich über die längste Zeit der Utopiegeschichte auch die Intention der Utopisten. Sie beabsichtigen in den wenigsten Fällen einen Modellentwurf zur maßstabsgetreuen Totalrevision der Gesellschaft. Der unmittelbare Verwirklichungswille bleibt die seltene Ausnahme. Der Autor führt den Leser vielmehr in eine alternative Welt und verfolgt damit das Anliegen, diesen mit geschärftem Blick in die Realität zurückkehren zu lassen. Die pädagogische, zum Teil sogar spielerische Dimension der Utopietradition ist häufig übersehen worden. Man hat die Entwürfe an den falschen Stellen ernst genommen und ihre Urheber leichtfertig zu irrationalen Phantasten oder zu totalitären Vordenkern des 20. Jahrhunderts erklärt.«3
»Als Utopien gelten fortan rationale Fiktionen menschlicher Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt sind.
Unterscheiden lassen sich Utopien damit stichwortartig von allen Formen, deren Projektionen auf jenseitige, metaphysische oder längst vergangene Vorstellungen gerichtet sind, etwa der biblische Garten Eden, der Mythos vom Goldenen Zeitalter oder sämtliche eschatologische Heilserwartungen. Darüber hinaus sind Utopien stets rational mögliche Alternativen des menschlichen Zusammenlebens und tragen einen prinzipiell politischen Charakter: Magische Wünsche, Märchen, Traumassoziationen, Robinsonaden oder Schlaraffenland-Erzählungen – all diesen Fiktionen fehlt entweder das Merkmal der Sozialkritik oder es mangelt ihnen an der innerweltlichen Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens. Science-Fiction ist in erster Linie Abbild und Verlängerung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und insofern kein Instrument der Sozialkritik. Dass hier Überschneidungen denkbar sind, versteht sich von selbst; doch falls die technische Phantasie keinerlei gesellschaftspolitische Relevanz besitzt, ist die Abgrenzbarkeit sogar eindeutig. Zu unterscheiden ist Utopie aber auch von Prognostik oder Futurologie, denn ihr geht es nicht um die möglichst treffgenaue Vorhersage kommender Entwicklungen auf der Basis einer empirisch-wertneutralen Methode, sondern um den normativen Anspruch, die Zukunft zum Besseren zu wenden.«4
Als Einstieg in das Thema eignet sich auch der Wikipedia-Artikel, der sich unter dem Stichwort »Utopie« findet.5
2 Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Eine Einführung. Köln u. a. 2012: 12f (die eckigen Klammern kennzeichnen ausgelassene Fußnoten).
3 Schölderle a. a. O.: 14.
4 Schölderle a. a. O.: 17.
5 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Utopie (abgerufen am 28.11.2015).
Als Schlagwort ist der deutsche Titel des 1932 erschienenen Romans »Brave New World« Allgemeingut. Persönlich las ich die alte Übersetzung erstmals um 1980 herum. Damals war ich sowohl fasziniert als auch abgestoßen von Huxleys Weltentwurf. Genau aus dieser Ambivalenz gewinnt das Buch die enorme Kraft, die es zu einem modernen Klassiker erhoben hat.
Huxley entwirft darin die mehr als sarkastisch gemeinte Fiktion eines friedlichen Weltstaates, in dem (fast) alle Menschen dauerhaft glücklich sind. Der Preis des Glücks ist allerdings Furcht einflößend: Die Menschen sind keine wirklichen Individuen mehr, sondern pränatal und sozialpsychologisch normierte Teilwesen eines strikten, postmodernen Kastensystems. Die echten Künste und freien Wissenschaften wurden – genauso wie jede tiefere Emotionalität oder gar Religiosität – geopfert, um das reibungslose Funktionieren einer »perfekten« Arbeits- und Konsumwelt zu sichern. Das Motto des Weltstaates, »Kollektivität, Identität, Stabilität«, konterkariert die bürgerlichen Werte der aus der französischen Revolution hervorgegangenen Losung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und zeigt an, dass die Freiheit dem allgemeinen »Glück« geopfert wurde.
Die für mich selbst – mit Anfang zwanzig – naheliegende Identifikationsfigur des Romans war Bernard Marx.6 Innerhalb des Kastensystems der »schönen« neuen Welt rangiert Mr Marx auf Alpha-Minus-Niveau. Das heißt, es gibt keine künstlich erzeugten Viellinge – bzw. neudeutsch: Klone – von ihm und seine Embryonalentwicklung wurde nicht bewusst biochemisch gehemmt. Bei den Föten der niederen Kasten, aus denen einmal Epsilons, Deltas und Gammas werden sollen – die auch bei stupiden Arbeiten anhaltend glücklich sind –, wird dies mithilfe eines gezielten Zusatzes oder Entzugs von Substanzen getan.
In Bezug auf Bernard Marx hält sich allerdings das hartnäckige Gerücht, es sei versehentlich etwas Alkohol in das Fruchtwasser seiner künstlichen Gebärmutter geschüttet worden. Daraus würden sich seine – im Vergleich zum Alpha-Standard – etwas niedrigere Körpergröße und sein sehr unorthodoxes, eigenbrötlerisches Sozialverhalten erklären. Bernard ist in Lenina verliebt, eine offenbar hübsche und äußerst »pneumatische« (sprich: vor allem vollbusige) Beta-Frau. Beide arbeiten im »City-Brüter und Konditionierungscenter« eines um mehrere Jahrhunderte in die Zukunft versetzten London. Solche Center gibt es auf der ganzen Welt: In ihnen wird der menschliche Nachwuchs komplett künstlich erzeugt und kontrolliert unter großindustriellen Bedingungen aufgezogen. Nach ihrer »Entkorkung« wachsen die Kleinkinder elternlos, aber liebevoll versorgt auf und werden perfekt für ihre spätere gesellschaftliche Funktion abgerichtet.
Daher ist auch Lenina rundweg korrekt normiert, angepasst und glücklich. Von ihrer besten Freundin Fanny wird sie allerdings kritisiert, da sie bereits seit mehreren Wochen nur noch mit Henry aus- und schlafen geht. So lange ausschließlich mit ein und demselben Mann zu kopulieren, schickt sich überhaupt nicht! Lenina lässt sich daher auf eine Verabredung mit Bernard ein, dessen Kleinwüchsigkeit sie nicht abstoßend, sondern niedlich findet. Sie schauen sich zusammen einen überaus trivialen »Fühlfilm« an, der in einem riesigen öffentlichen Fühlkino gezeigt wird. Aber das erste Date scheitert kläglich, da Bernard von der Oberflächlichkeit des Films und von Leninas direkter Anmache verstimmt ist. Bernard heult sich am nächsten Tag bei seinem einzigen Freund – dem gleichfalls etwas eigensinnigen Helmholtz Watson – aus.
Trotz der gescheiterten Annäherung an Bernard ringt sich Lenina nur kurze Zeit später dazu durch, eine Einladung von ihm zu einem exklusiven Urlaub in New Mexico anzunehmen: Mit einer Sondergenehmigung, die Bernard zu Forschungszwecken erhalten hat, können sie dort ein von der »zivilisierten« Welt total abgeschottetes Indianerreservat besuchen. Die Menschen leben in dem Reservat unter den natürlichen Bedingungen einer indigenen Stammeskultur auf der Basis einer einfachen Subsistenzwirtschaft. Ein Übertritt in die Außenwelt ist den »Wilden« nicht möglich. Aufgrund der militärischen Überlegenheit der Außenweltler werden deren seltene Besucher untertänig empfangen und können sich weitgehend gefahrlos im Reservat bewegen.
Lenina ist schockiert und angeekelt von den dortigen Zuständen. Es gibt kranke, hässliche und erkennbar gealterte Menschen, viel Dreck, brutale Rituale – und was am schlimmsten ist: Es gibt natürliche Eltern, Schwangerschaften im Mutterleib und Geburten. Dass es so etwas noch geben kann, empfindet Lenina als geradezu unglaublich und absolut widerlich!