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Autorengruppe Loseblattsammlung

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Die Autorengruppe Loseblattsammlung setzt ihre kostenlose EBook-Reihe mit dem sechsten Band fort! Dieses Mal wird es kriminell in Wipperfürth. Alle sechs Kurzkrimis verbindet der Schienenbus, der auch auf dem Cover zu lesen ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 158

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Autorengruppe Loseblattsammlung

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BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Vorwort: Der Schienenbus

Schienenbus-Kriminalgeschichten

Im Jahre 1876 wurde die Wippertalbahn gegründet. Sie führte nach ihrem endgültigen Ausbau vom Eisenbahnknotenpunkt Lennep über Hückeswagen und Wipperfürth bis nach Marienheide. Auf der Strecke herrschte reger Personen- und Güterverkehr. Bis weit in die 1950er-Jahre wurden immer noch neue Haltepunkte geschaffen. 1952 stellte man den Personenverkehr auf die roten Schienenbusse um, die jedoch 1980 wieder durch lokbespannte Züge ersetzt wurden. Endgültig eingestellt wurde der Personenverkehr im Jahre 1986, der Güterverkehr etliche Jahre später. Heute ist die ehemalige Bahntrasse ein sehr beliebter Radweg.

Das Foto zeigt den Schienenbus, der von der „IG Wipperfürther Bahnlandschaft“ als Denkmal für das Hauptdurchgangslager Wipperfürth in der Nähe des damaligen Bahnhofes aufgestellt wurde. Dieses Durchgangslager war nach dem Krieg die erste Zuflucht für über eine Million Ostflüchtlinge. Von dort aus wurden sie auf andere Auffang- und Gemeindelager verteilt. Manche fanden auch in der Region eine neue Heimat.

Die Autorengruppe Loseblattsammlung aus Wipperfürth hat nach fünf E-Books unterschiedlicher Genres dieses Mal ein E-Book mit Kurzkrimis herausgebracht. Als Gemeinsamkeit wurde ein Schienenbus ausgewählt, der in allen Geschichten in irgendeiner Art und Weise eine Rolle spielen wird. Lassen Sie sich von der Vielfalt dieser spannenden Geschichten überraschen.

Wir bedanken uns bei der „IG Wipperfürther Bahnlandschaft“, die sich liebevoll um das Denkmal kümmert, für die Erlaubnis, Fotos des Schienenbusdenkmals zu veröffentlichen.

 

Wipperfürth, im Mai 2021

 

Christine Kaula: Mit den Tränen seines Nichtverstandes

 

„Der Bahnbus kommt gleich“, Annette reichte Luca den dunkelblauen Anorak. „Mama, ich habe noch jede Menge Zeit“, beschwerte der blonde Zehnjährige sich, den rechten Arm in der Jacke, die ihm seine Mutter hinreichte. Mühsam zerrte er den linken Ärmel herüber, um mit dem Arm hineinzuschlüpfen. „Mir ist warm, ich brauche keine Jacke“, energisch wehrte er sich gegen die Hilfe seiner Mutter: „Mama, du behandelst mich wie ein Baby. Lass mich!“, damit griff er nach seiner Schultasche. „Tschüs“, winkte er mit der linken Hand zu Annette hinüber – was eher so aussah, als wollte er sie abwehren, zog die Korridortür hinter sich zu und rannte die Treppe hinunter durch die offenstehende Haustür, die irgendjemand vergessen hatte, zu schließen. Luca wohnte mit seiner Mutter, die Alleinerziehende war, in Hückeswagen in der Waidmarktstraße in einer kleinen Altbauwohnung. Es war 1980, der Himmel bedeckt, es sah nach Regen aus. Luca zog neben dem Haus die Jacke wieder aus, stopfte sie in seine Schultasche und lief die Islandstraße hinunter, überquerte die Bahnhofstraße und erreichte endlich den Bahnsteig. Gleich würde der Schienenbus eintreffen, mit dem er täglich nach Wipperfürth fuhr, wo er das Gymnasium besuchte. Noch war alles neu für ihn, er war Schüler im fünften Schuljahr und hatte sich noch nicht an die täglichen Bahnfahrten gewöhnt. Erfreut sah er, dass sein Freund Mario auch schon da war. „Na, da bist du ja?“, Mario stieß ihn freundschaftlich in die Seite, und bald waren sie in ein Gespräch über das letzte Fußballspiel ihres Heimatvereins RSV vertieft. Sein Freund überragte ihn fast um einen halben Kopf und war auch breiter in den Schultern, aber das tat ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Luca vertraute darauf, dass er ihn spätestens in einem Jahr eingeholt hätte.

 

Benno, dessen Auto mit einem defekten Kühler in der Garage stand, musste an diesem Morgen mit dem Zug nach Marienheide zur Arbeit fahren, da das bestellte Ersatzteil noch nicht eingetroffen war. Er traute sich schon zu, den Wagen selbst zu reparieren. Dann dauerte es eben länger, bis das Auto wieder fahrbereit war, war aber auch wesentlich billiger.

Weil er aber den Sonntagabend in der Kneipe bei Bier und Schnaps verbracht hatte, war er heute, am Montagmorgen, spät dran. Mit leichtem Kopfschmerz und einem mittelprächtigen Kater stand er auf dem Bahnsteig und wünschte sich weit weg. Er träumte vor sich hin. Ein Zischen zeigte das Näherkommen des Schienenbusses an. Benno wachte aus seinem Tagtraum auf und ließ seinen Blick über die Schar der wartenden Fahrgäste schweifen. Mit einem Mal war er hellwach, traute seinen Augen nicht. Da, der Junge, nicht weit weg von ihm, der mit mehreren anderen zusammenstand, das war doch … das konnte doch gar nicht sein … der blonde Schopf, die fast noch kindlichen Gesichtszüge und die Augen …, die Augen des Jungen ließen ihn nicht los. Sie waren von einem hellen Blau, das an einen frühmorgendlichen Sommerhimmel erinnerte. Um die helle Iris lief ein tiefblauer Rand, der dem Blick etwas Strahlendes gab. Die überschlanke Gestalt des Jungen, die zartgliedrigen Gliedmaßen, die ihm verletzlich, wie aus Porzellan geformt, erschienen.

Er stieg hinter den beiden Jungen in den Zug und stellte sich so, dass er den Jungen im Auge behalten konnte. Luca schüttelte sich vor Lachen über einen Witz, den sein Freund gerade gemacht hatte. „Hallo, Luca, kommst du heute Nachmittag auf den Bolzplatz?“, fragte ihn einer der anderen Jungen.

Benno fuhr zusammen. Luca! Sein verstorbener Sohn hieß Lukas. Das war doch kein Zufall!

„Schau mich an, bitte schau mich an“, flehte er stumm und ballte die Fäuste in seiner Jackentasche. Ob er ihn einfach einmal ansprechen sollte? Ob er eine Antwort bekäme? Er würde es tun, jetzt gleich, bevor der Junge ausstieg. Lucas Blick schweifte für eine kurze Zeit durch den Wagen und verweilte für einen Wimpernschlag auf Bennos Gesicht. Dann wandte er sich einem seiner Kameraden zu und sagte irgendetwas, was Benno nicht verstehen konnte.

 

Benno überlegte. Sein Sohn wäre jetzt vielleicht so groß wie dieser Junge. Auch er würde gleich ihm jeden Morgen zur Schule fahren, mit seinen Freunden lachen und unbeschwert fröhlich sein, wenn … ja, wenn nicht der Unfall gewesen wäre damals, vor sieben Jahren. Lukas hinten im Fond des Wagens – nur einen Augenblick hatte er sich nach hinten gewandt, als der Kleine ihn etwas fragte … das Steuer verrissen, die Leitplanke gestreift … auf der anderen Seite gegen den Baum geschleudert und Lukas gegen die Frontscheibe … als die Polizei kam, war Lukas tot. Und dann seine Frau, die Schreie, die Schuldzuweisungen … diese schlimme Zeit, die schier nicht enden wollte. Er hätte für Lukas einen Kindersitz anschaffen können, die gab es schon lange. Er hatte es aber nicht für nötig befunden und stets behauptet, dass er so vorsichtig fahren würde, dass dem Kind nie etwas passieren würde. Aber mit solch einem Schutz hätte der Unfall nicht tödlich ausgehen müssen, wäre vielleicht gar nicht passiert. Er war eines Besseren belehrt worden, gab sich zu Recht die Schuld an dem Tod des Kindes.

Dann die Stille … er dachte an Scheidung, sprach das Thema wegen seines schlechten Gewissens nicht an.

Damals begann er, sich mit den unterschiedlichsten Religionen auseinanderzusetzen, weil das Christentum ihm nicht den Trost und die Hoffnung gab, nach denen er sich sehnte. So geriet er an den Buddhismus. Ihm gefiel der Gedanke an eine Reinkarnation, den Übergang der Seele in einen neuen Körper. Er hatte versucht, mit seiner Frau darüber zu sprechen: „Denk nur, wenn Lukas irgendwo wiedergeboren würde und wir ihn durch Zufall wiederfänden.“ Sie hielt ihn für verrückt, war überzeugt von dem, was der christliche Glaube über den Tod und das Leben danach verkündet. Seit diesem fruchtlosen Gespräch war er umso überzeugter von der Wiedergeburtslehre des Buddhismus. Er besorgte sich noch mehr Literatur über die Lehre Buddhas, vertiefte sich in seiner Freizeit wochenlang in das Thema und besuchte heimlich ein Buddhistisches Zentrum. Am Ende war er fest davon überzeugt, dass sein Sohn wiedergeboren werden würde oder sogar schon wieder auf der Welt sei. Und so waren die Jahre vergangen, seine Ehe zerrüttet. Noch waren sie zusammen. Noch. Manchmal hielt er es nicht mehr aus, dann brach er aus, ging in die Kneipe und betrank sich, um zu vergessen. Das Schweigen zwischen ihm und seiner Frau wurde immer größer, dichter, nahm inzwischen den größten Raum im Haus ein.

 

Und jetzt!? Jetzt war es wie eine Offenbarung! Es war geschehen! Lukas, sein verstorbener Sohn, war wieder da. Luca war Lukas. Zurückgekehrt von irgendwo, um wieder bei ihm zu sein. Er war ganz sicher, dass Luca ihn auch aufmerksam betrachtet hatte, so als ob er ihn von irgendwoher kennen würde. Und wenn der erste Kontakt gelänge, wenn er den Jungen bewegen könnte, mit ihm zu sprechen …

Der Schienenbus hielt an der ersten Haltestelle hinter Hückeswagen, in der Nähe der Bevertalsperre. Dort stiegen drei Schülerinnen ein, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Benno grübelte weiter.

Womit könnte er seine Neugier wecken? Wie könnte er sein Vertrauen erringen? Die Schüler unterhielten sich jetzt über ein Bundesligaspiel vom Wochenende, bei dem Bayer Leverkusen gegen Bayern München gewonnen hatte. Die Meinungen gingen heftig auseinander, weil manche für die Münchner, manche für Leverkusen gewettet hatten und ein Tor ziemlich umstritten gewesen war. Den Gesprächen entnahm Benno, dass Luca ein Fan von Bayern München war. Das brachte ihn auf eine Idee. Er ließ die Idee, Luca anzusprechen, fürs Erste fallen. Bis zur Haltestelle Wipperfürth-Ost ließ er die Augen nicht von dem Jungen, und er schaute ihm durch das Fenster neben der Tür noch hinterher, als die Masse der Schüler sich auf das Gymnasium, das ein Stück hinter der Haltestelle auf der Lüdenscheider Straße lag, zubewegte.

 

In Marienheide stieg Benno aus und blieb noch einen Augenblick nachdenklich auf dem Bahnsteig stehen. Ihm kam eine, wie er fand, sehr gute Idee. Auf seiner Arbeitsstelle, einer Baustoffhandlung nicht weit vom Bahnhof, wo er im Lager arbeitete, meldete er sich nach einer Stunde, in der er den Kollegen etwas von Rückenproblemen vorjammerte, beim Vorarbeiter krank. Vom Bahnhof aus fuhr er nach Köln, wo er auf der Schildergasse und Hohen Straße nach Sportgeschäften suchte, in dem auch T-Shirts mit Vereins-Logos angeboten wurden. Er hatte Glück und fand eines mit dem Logo von Bayern München. „Teuer, Mensch, ist das teuer“, murmelte er vor sich hin, aber er kaufte es trotzdem und packte es in seine Tasche, wo sein Mittagsbrot verstaut war. Auf einer Bank ließ er sich nieder und aß seine Schnitten mit Leberwurst und Käse, dabei trank er den Kaffee aus der Thermosflasche. Inzwischen war es schon Nachmittag geworden. Er rekelte sich und überlegte, wie er jetzt weiter verfahren sollte. Vor sich sah er Luca, ließ seinen Blick über die schmale Gestalt gleiten, lächelte ihn an und nahm ihn bei der Hand. Er führte ihn mit sich, seine Fantasie suchte einen Ort, einen Platz fern von allem, ein strahlendes Licht … nein, eine verlockende, verheißungsvolle Dunkelheit … wo er Luca im Arm halten und beschützen konnte … Er hielt es auf der Bank nicht mehr aus, sprang auf und rannte Richtung Hauptbahnhof.

 

Auf anderem Weg mit Bahn und Bus kam er schließlich am Abend wieder zu Hause an. „Überstunden“, murmelte er, als seine Frau ihn fragte, wo er so lange geblieben sei. „Hast du dich um das Ersatzteil für unser Auto gekümmert?“, wollte sie wissen, als sie das Essen auftrug. „Du solltest doch von der Arbeit aus bei dem Ersatzteilhändler nachfragen.“

„Ja, doch“, beeilte er sich zu sagen, denn er wusste, wie sehr sie das Auto vermisste.

„Wann wirst du ihn denn bekommen?“, ging die Fragerei weiter. „Nächste Woche, es gibt Lieferschwierigkeiten“, behauptete er. Zum Glück hatte sie keine Ahnung von Autos, weniger noch von Ersatzteilen und ihrer Beschaffung. Jedenfalls hatte sie sich niemals um etwas Derartiges gekümmert. Nach dem Essen, das wie immer fast wortlos verlief, griff sie nach seiner Tasche, um Butterbrotdose und Thermosflasche zum Spülen herauszunehmen. Erschrocken riss er ihr die Tasche aus der Hand. Erschreckt schrie sie auf. „Was hast du denn auf einmal? Seit wann hast du denn Geheimnisse?“

„Ich mache das selbst“, wehrte er sie ab, „mir ist die Flasche aufgegangen, und die Tasche ist schmutzig.“

„Lass doch, ich kann das machen“, damit wollte sie ihm die Tasche wieder abnehmen, aber er hatte sich schon abgewandt und leerte sie bis auf die Tüte mit dem T-Shirt und stellte die Sachen auf die Spüle in der Küche. Danach lief er mit der Tasche ins Badezimmer und stopfte die Tüte mit dem T-Shirt ganz unten in den Schrank mit den Handtüchern. Er öffnete den Hahn an der Badewanne und ließ Wasser in die Tasche hineinlaufen, tat so, als ob er sie von innen reinigen würde, nahm danach den Föhn und trocknete die Tasche von innen und außen. Er hielt sich lange im Bad auf, um nicht mit seiner Frau reden zu müssen. Ärgerlich und ungeduldig klapperte sie beim Spülen mit dem Geschirr.

Als es drüben ruhig war, ging er ins Wohnzimmer. Seine Frau saß auf der Couch und blätterte in der Programmzeitschrift. „Was willst du sehen?“, fragte sie ihn und hielt ihm die Zeitschrift hin. „Mir egal“, murmelte er und setzte sich in seinen Sessel, nachdem er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank geholt hatte. Stille. Seine Frau stellte den Fernseher an. „Aktenzeichen XY … ungelöst“ lief bereits, eine ihrer Lieblingssendungen. Er ließ sie in Ruhe schauen, nahm sich die Zeitung und tat so, als ob er sich darin vertiefte.

In Wahrheit las er nicht, sondern versteckte sich hinter dem Blatt, um sich ungestört Lukas Bild ins Gedächtnis zurückzuholen. Ja, es war Lukas, ganz gewiss, von irgendwoher wiedergeboren. Nervös raschelte er mit der Zeitung, legte sie fort, schaute auf den Bildschirm des Fernsehapparates. Dann hielt er es nicht mehr aus.

„Ich geh schlafen, bin müde vom Tag“; murmelte er und stand auf. Seine Frau antwortete nicht, sondern winkte ihm mit der Hand, er solle ihr den Blick auf den Bildschirm freimachen. Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Schlafzimmer.

Im Bett zog Benno das Federbett bis zum Kinn hoch, versteckte sich darunter, wollte nichts mehr von der Welt wissen. Er schloss die Augen. Lukas war jetzt bei ihm, ganz nah. Er streckte den Arm aus der Decke, griff nach ihm, wollte ihn am Handgelenk zu sich ziehen, konnte ihn aber nicht erreichen. Durch das Fenster ließ eine Straßenlaterne ein spärliches Licht durch die halb heruntergezogenen Rollläden ins Zimmer herein. Er wandte sich um und griff in die Schublade des Nachtschranks. Ganz hinten hatte er zwei Fotos versteckt, die er jetzt wieder hervorholte. Wie schon oft in den letzten Wochen betrachtete er sie. Eines zeigte einen blonden Vierjährigen mit strahlenden blauen Augen. Auf dem zweiten Bild war der gleiche Junge zu sehen, nur um sechs oder sieben Jahre älter. Die Ähnlichkeit war unverkennbar: Augen, Nase, Mund, die Form des Gesichts, die blonde Haarmähne … es war unstreitbar das gleiche Kind. Und es war unbestritten der Junge, den er heute Morgen im Zug gesehen hatte. Lukas war wiedergeboren, zwar einem anderen Ehepaar, was er überhaupt nicht verstand, aber es war sein Sohn. So, wie früher Lukas sonntags morgens zu ihm ins Bett geklettert, ihm mit seinen kleinen Händen durch den stoppeligen Bart gefahren war, und ihm einen feuchten Kinderkuss auf die Wange gegeben hatte … er stöhnte vor Trauer und Leid und Verlangen, schrak heftig zusammen, als sich die Schlafzimmertür öffnete und seine Frau hereinkam. „Schläfst du schon?“, damit schaltete sie das Deckenlicht ein, das ihm so grell in die Augen stach, so dass er sie sofort schloss und sich schlafend stellte.

Sie rutschte von ihrer Seite zu ihm hinüber, strich mit ihrer Hand über seine Wange, über seine Schulter, glitt zur Brust hinüber und dann tiefer zum Bauch … Da fasste er nach ihrer Hand und schob sie zurück. „Warum? Warum willst du nicht mit mir schlafen? Schon so lange nicht … erkläre es mir!“, forderte sie ihn mit unruhigem, drängenden Ton in der Stimme auf. „Wir könnten wieder ein Kind haben, ich bin noch nicht zu alt… ich habe so einen Wunsch nach einem neuen Sohn …“ Jetzt schluchzte sie auf. Als er nicht antwortete, wandte sie sich abrupt um und zog sich die Decke über den Kopf. Nach ein paar Minuten wandte sie sich wieder um: „Dann ist es wohl besser, dass wir uns trennen. Ich kann nicht mehr warten auf irgendetwas, das nicht mehr passiert. Morgen gehe ich zum Anwalt.“

Er räusperte sich: „Weißt du nicht, wie schwer mir der Gedanke fällt, dass ein neues Kind den Platz von Lukas einnimmt? …“, er zögerte, das auszusprechen, was ihm Gewissheit war. Dann sagte er es doch: „Ich weiß, dass Lukas wiedergeboren wurde. Ich habe ihn heute Morgen gesehen.“ Schweigen. Dann wandte sie sich wieder um und fragte: „Wen gesehen?“

„Lukas.“

„Lukas?“

„Ja, er ist wieder da. Zehn Jahre ist er jetzt alt. Ich habe ein Kinderbild von Lukas bearbeiten lassen von einem Experten. Es gibt so Techniker, die haben gelernt, Fotos so zu bearbeiten, dass derjenige, der fotografiert wurde, so aussieht, wie er Jahre später einmal aussehen würde. Es ist Lukas. Ich bin fest davon überzeugt.“

„Du spinnst. Das gibt es nicht. Die Menschen sterben und ihre Seele lebt weiter. Die von Kindern kommt sofort in den Himmel.“

„Fahre doch mit morgen früh. Im Schienenbus, mit dem die Kinder morgens nach Wipperfürth zum Gymnasium fahren.“

„Quatsch, ich glaube dir nicht. Du irrst dich, bildest dir etwas ein. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich will schlafen.“

Damit wandte sie sich wieder um und zog die Decke über sich.

 

Am anderen Morgen konnte Benno es kaum erwarten, Luca im Zug zu sehen und ihn anzusprechen. Der Zug war voll besetzt, viele mussten stehen, und so konnte Benno den Jungen nur von Weitem sehen. Er versuchte, sich durch den Wagen zu ihm durchzukämpfen, aber es war vergebens. Das ärgerte ihn, aber für den Tag war nichts zu machen. Am nächsten Morgen war er besonders früh am Zug und sah, dass Luca sich etwas verspätet hatte. Er rannte gerade auf den Bahnsteig, stellte seine Schultasche auf den Boden und begann, darin herumzukramen. „Mist“, hörte Benno ihn schimpfen. Vorsichtig trat er auf ihn zu. „Warum schimpfst du denn so?“, fragte er. „Hab mein Aufsatzheft vergessen und bin dran mit Vorlesen.“

„Kannst du nicht einen späteren Zug nehmen und läufst eben noch einmal nach Hause?“

„Dann komme ich zu spät und krieg einen Eintrag“, kam es postwendend zurück.

„Was ist denn schlimmer, Eintrag wegen Zuspätkommen oder Aufsatzheft vergessen?“

Einen Moment überlegte Luca. „Ich glaube, Aufsatzheft vergessen ist schlimmer.“ Damit drehte er sich um und rannte zurück.