Wir sind das Kapital - Günter Faltin - E-Book

Wir sind das Kapital E-Book

Günter Faltin

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Beschreibung

Anstiftung zur persönlichen Revolution Die wachsenden Probleme unserer Zeit sind mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu lösen. Heute sind Entrepreneure mit überzeugenden und tragfähigen Unternehmenskonzepten gefragt. Noch nie war es in der Geschichte so greifbar nahe, ein Unternehmen zu gruünden, ja sogar im Konzert der Großen mitzuspielen. Guünter Faltin ist ein großer Wurf gelungen - für Gründer, Selbständige und Unternehmen. Er bietet eine präzise und sehr systematische Methode an: das Entrepreneurial Design. Damit lernt man, sinnvoll aktiv zu werden und gerade deswegen erfolgreich zu sein. Bescheidener, was den Verbrauch an Ressourcen angeht. Anspruchsvoller, wenn es um geglücktes Leben geht. Wir sind das Kapital. Die große Ideenschmiede für Entrepreneure: vom ersten Einfall bis hin zum ausgearbeiteten Konzept. Damit wir anfangen, intelligenter zu wirtschaften.

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Günter Faltin

WIR

SIND DAS KAPITAL

Erkenne den Entrepreneur in Dir

Aufbruch in eine intelligentere Ökonomie

Vorwort

Viele Leser von Kopf schlägt Kapital haben mir gesagt, dass sie das Buch mit Begeisterung und Gewinn gelesen haben. Auf sich allein gestellt würde es sie aber nicht dahin bringen, ein eigenes überzeugendes Konzept für die Gründung eines Unternehmens auszuarbeiten. Diese Rückmeldung ist mir nicht aus dem Kopf gegangen.

Das hier vorliegende Buch macht den Versuch, die Schritte vom ersten Einfall, von der Anfangsidee zum ausgearbeiteten und tragfähigen Konzept darzulegen. Daher nimmt das Kapitel 3 (zur Methode), das wie eine Ideenschmiede für Entrepreneure funktionieren soll, einen zentralen Platz ein.

Über allem steht vielleicht die Erkenntnis, dass wir unseres Glückes Schmied sein können, in weit stärkerem Maß, als wir es bisher glaubten. Ich habe meinen Studenten immer mit auf den Weg gegeben: Sie können das Gewinnlos einer Lotterie systematisch erarbeiten. Das war und ist kein leichtfertiges Versprechen. Ich weiß nur zu gut, wovon ich spreche. Und doch: Wir alle können mit einer systematischen Vorgehensweise ein ökonomisch tragfähiges Konzept erarbeiten. Dafür brauchen wir zunächst unseren Kopf, aber auch viel Ausdauer. Vor allem aber müssen wir lernen, die Ambiguität auszuhalten, die uns auf diesem Weg unausweichlich begleitet.

Es geht hierbei nicht nur um den Einzelnen. Unsere Gesellschaft braucht Entrepreneure, die helfen, die Probleme einer Welt zu lösen, die derzeit auf Konfrontationskurs mit den Möglichkeiten dieses Planeten liegen.

Glauben wir der amtlichen Statistik, dann sind etwa elf Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung selbständig – vom Betreiber einer Würstchenbude über den Schuhmacher und Ladenbesitzer bis hin zum Weltmarktführer. Wie viele von diesen Selbständigen aber sind innovative Entrepreneure? Ein erster Versuch einer Schätzung mag ergeben: jeder Zehnte. Wir sprechen also von etwa einem Prozent aller Erwerbstätigen. Ich glaube allerdings, dass diese Schätzung optimistisch ist – sehr optimistisch sogar. Auf Deutschland übertragen, würde das bedeuten, dass wir bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von gut 40 Millionen auf 400 000 innovative Entrepreneure kommen. Wie gesagt: Optimistisch geschätzt – vielleicht sind es auch nur 4000.

Das wären eindeutig zu wenige. Die heute gegebenen Möglichkeiten zu Entrepreneurship vor Augen dürfte es eigentlich kein Problem sein, die Zahl zu verzehnfachen. Stellen wir uns als Ziel vor: Zehn Prozent der arbeitenden Bevölkerung würden innovative Entrepreneure sein. Es würde unsere Kapazität zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beträchtlich erhöhen – und auf diesem Weg die Gesellschaft positiv verändern. Und es würde die Selbstentfaltung und die Freiheit des Einzelnen erweitern.

Aus meiner Beschäftigung mit dem Thema Entrepreneurship haben sich vor allem drei Bestandteile herauskristallisiert, die besonders hilfreich sind, um Entrepreneurship erfolgreich zu machen:

• Der innovative Gehalt des Konzepts;• die frühzeitige empirische Überprüfung des Konzepts (Proof of Concept) und• die Arbeitsteiligkeit des unternehmerischen Ansatzes (Gründen mit Komponenten).

Entrepreneurship ist ein facettenreiches, hoch komplexes Phänomen: Jeder Mensch ist individuell, jede Situation ist verschieden, jedes Konzept ist anders. Vor diesem Hintergrund scheinen mir die Methoden der teilnehmenden Beobachtung und der dichten Beschreibung am angemessensten. Daher der Versuch, Erfahrungen und Beispiele in den Mittelpunkt zu stellen und sich dem Phänomen Entrepreneurship mit Respekt vor der individuellen Situation und dem Verzicht auf vorschnelle Generalisierungen zu nähern.

Einleitung

Es rettet uns kein höheres Wesen. Wir sind die Schöpfer unserer Welt. Wir sind es, die sich angepasst und eingerichtet haben auf diesem Planeten.

Früher bestimmte die Natur unseren Rhythmus. Heute ist es die Ökonomie, die sämtliche unserer Lebensbereiche immer stärker durchdringt. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem sehr viele von uns das Gefühl haben, dass etwas nicht mehr stimmt. Dass nicht wir Menschen im Mittelpunkt des Geschehens stehen, sondern dass Entwicklungen bestimmend sind, die wir immer weniger beherrschen. Wir ahnen, dass es so nicht weitergehen kann.

Wir glauben, wir seien der Ökonomie ausgeliefert, seien zu schwach, zu wenig ausgerüstet, um es mit diesem Schwergewicht aufnehmen und eine andere Welt gestalten zu können. Ich halte dies für eine folgenschwere Fehleinschätzung. Es reicht nicht, an den Erscheinungen Kritik zu üben und die Forderung nach anderen Werten zu stellen. Wir müssen die Ökonomie selbst in die Hand nehmen. Aktiv, sie nicht nur passiv als kritische Konsumenten nutzen. Wir brauchen neue Unternehmen – mit anderen, mit besseren Produkten, die durch ihre Art und Qualität überzeugen und nicht durch Marketingstrategien.

Beispiele für solche erfolgreichen Unternehmensgründungen gibt es. Neu ist, dass heute praktisch jeder das Potenzial und die Mittel hat, mit einem eigenen Unternehmen am Marktgeschehen mitzuwirken und es aktiv zu gestalten. Die dafür erforderlichen Methoden und Techniken werden in diesem Buch angeboten. Sie können klein starten, einfach oder anspruchsvoll, allein oder mit Freunden und Bekannten. Wichtig ist, dass unternehmerisches Handeln heute nicht länger das Privileg von wenigen Auserwählten oder Glückspilzen darstellt.

Damit möchte ich nicht behaupten, es sei leicht, ein Unternehmen zu gründen. Im Gegenteil: Eine Unternehmensgründung fordert viele Kräfte eines Menschen. Bisher hieß es sogar, es sei eine Aufgabe, die für die meisten Menschen zu schwierig, zu aufreibend und zu risikoreich sei. Doch das ist definitiv Vergangenheit. Heute hat praktisch jeder das Potenzial, zu gründen. Dies vor allem, weil die Einstiegsbarrieren deutlich niedriger sind als früher, dadurch der ganze Bereich für Normalmenschen wie uns alle zugänglicher geworden ist. Kapital ist nicht länger der Engpass, auch nicht das, was im Englischen so treffend Business Administration heißt. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass ein nicht geringer Teil der Aufgaben, die ein Unternehmensgründer bewältigen muss, Routine- und Verwaltungsaufgaben sind. Diese Aufgaben können Sie heute an professionelle Anbieter abgeben – ich nenne es »Gründen mit Komponenten«. Dahinter steht der Gedanke, Know-how und Kompetenzen einzukaufen, auch, um eigene Defizite zu kompensieren. Es besteht kein Zwang, alles selbst zu machen. Eine Voraussetzung aber – und das ist eine entscheidende Voraussetzung – bleibt anspruchsvoll und unverzichtbar: mit einem guten Konzept anzutreten.

Erkennen wir die Chancen, die eine hocharbeitsteilige Gesellschaft bietet, und komponieren wir Unternehmen aus den Bausteinen, die uns diese Gesellschaft zur Verfügung stellt. Die Zeit ist auf unserer Seite. Jedes Kind ist kreativ, ist gierig auf Neues, ist fantasievoll und mutig. Nirgends steht geschrieben, dass wir diese Fähigkeiten nicht auch im Erwachsenenalter nutzen können. Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Ein großer Mann ist, wer sich sein Kinderherz bewahrt.« Ein Potpourri von Zwängen hat uns bisher daran gehindert, diese Potenziale in uns zu nutzen. »Es dauert lange, bis man jung wird«, erkannte Pablo Picasso. Ja, wir brauchen Zeit, uns von den Sichtweisen und Beschränkungen zu lösen, die uns Elternhaus, Schule, Arbeitsplatz, aber auch Freunde mitgaben. Diese Beschränkungen wirken weiter in uns, auch wenn die äußeren Zwänge vergangen sind. Wir sind unseren Eltern und Lehrern nichts schuldig, jedenfalls nichts hinsichtlich ihrer Einstellungen und Überzeugungen. Wir sind frei. Wenn wir es wirklich wollen.

Bringen wir also unsere eigenen Ideenkinder zur Welt.

Nichts ist spannender als Ökonomie, zumal, wenn man sie aktiv erleben und gestalten kann. Wenn man sie versteht als etwas unternehmen können. Nichts ist befriedigender, als etwas zu tun, was man gerne tut, was man sich immer gewünscht hat, was den eigenen Werten und Wünschen, den eigenen Neigungen und Talenten entspricht und was obendrein hohen materiellen und immateriellen Nutzen stiftet.

Erkenne Dich selbst. Werde, der Du bist!

Nicht zufällig stehen diese berühmten Sätze des Tempels des Apollon in Delphi am Beginn der abendländischen Bildungsgeschichte.

Bilder einer Ausstellung

Lassen Sie uns dort, wo wir Umrisse einer anderen Ökonomie erkennen, eigene Bilder entwerfen. Bilder, die wie in Mussorgskis Bilder einer Ausstellung zu einem großen Ganzen werden. Während der russische Komponist die Bilder durch Musik entstehen lässt, vertraue ich im vorliegenden Buch auf die Überzeugungskraft einschlägiger Erfahrungen, auf Beispiele und Szenarien. Entrepreneurship und der Zugang dazu werden sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung ziehen.

Lehnen Sie sich zurück, entspannen Sie sich und lassen Sie die Bilder dieser Ausstellung an sich vorüberziehen. Ich lade Sie ein, jenseits theoriegeleiteter oder weltanschaulicher Positionen eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Manches davon wird Sie berühren, manche Bilder werden Ihnen gefallen, andere werden Sie ablehnen. Die Bilder sollen Sie anregen zum Nachdenken. Vor allem aber sollen sie Ihnen Perspektiven zeigen und eigene Möglichkeiten eröffnen – zu unternehmerischem Handeln.

Wenn wir uns darauf einlassen, Entrepreneure zu sein, steht uns die Welt offen. Steht uns ein fast unermesslicher Baukasten zur Verfügung, und dies für ein gemeinsames Ziel: Wir brauchen Entrepreneure, um die Problemberge, die vor uns liegen, anzugehen. Wir leben über unsere Verhältnisse. Die althergebrachten Denkweisen und Institutionen haben die Probleme verursacht. Wir sollten nicht darauf vertrauen, dass die Verursacher der Probleme nun die geeigneten Lösungswege finden werden. Und wir können berechtigte Zweifel hegen, ob die Politik allein die dafür notwendige Durchsetzungsfähigkeit und Geschwindigkeit aufzubringen in der Lage ist.

Ein Szenario. Europa im Frühling. Eine neue Bewegung macht von sich reden

Entwerfen wir ein erstes Bild.

Seit 2008 die ökonomischen Krisen zur Dauererscheinung wurden und die Politiker verzweifelt nach mehr Wachstum riefen, gründete sich eine Bewegung, die sich »Entrepreneure 2020« nennt. Ausgangspunkt der Bewegung war die immer stärkere Ökonomisierung und Beschleunigung aller Bereiche des Lebens, die aus ihrer Sicht dazu führten, dass die Menschen Wurzeln und Orientierung verloren und sich von sich selbst entfremdeten. Und obwohl der technische Fortschritt und die zunehmende ökonomische Rationalisierung mit der Vorstellung auf ein Mehr an Zeit und Muße für den Einzelnen einherging, litten die Menschen in Wirklichkeit unter extremer Zeitknappheit. Der Grund dafür liege im Anspruch, immer mehr zu konsumieren, immer mehr Möglichkeiten zu realisieren, welche die Welt des Konsums zu eröffnen scheine.

Dieser Wunsch nach immer »Mehr«, so die Mitglieder der Bewegung, stamme nicht aus der Natur des Menschen, sondern werde durch ein System erzeugt, das die Menschen zu immer mehr Konsum antreibe. Reizüberflutung, Aggressivität, Stresskrankheiten und Apathie seien die Folge. Dies könne nicht einfach hingenommen werden. Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Ökonomie gebe es Handlungsbedarf. Ohne Veränderung in der Ökonomie, ohne aktive Einmischung auf diesem Gebiet der Ökonomie erreiche man nichts. Wie im System der Demokratie bedürfe es auch hier einer Opposition, müssten Alternativen sichtbar gemacht werden.

Die Bewegung macht sich Einsteins Beurteilung zu eigen, dass wir »in einer Zeit vollkommener Mittel leben«. Was wie eine Utopie klinge, sei in Wirklichkeit zum Greifen nahe. Die Entwicklung der Produktivkräfte führe – in Anlehnung an den frühen Marx – ins Reich der Freiheit. Es sei die Gemengelage aus kurzsichtiger Politik, konventioneller Ökonomie und Fantasielosigkeit der Akteure, die verhinderte, dass das Potenzial an Freiheit entfaltet werde. Die ökologisch engagierten Mitglieder der Bewegung werfen den Regierungen vor, sie seien befangen und gefangen in der Logik des Wachstumsdenkens, unfähig, die Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen und zu meistern. Die einst solide Ökonomie sei zum Kartenhaus geraten und verlange nach immer mehr Wachstum, um nicht zusammenzubrechen.

Klares Denken stelle in der Hektik des Getriebes nur noch die Ausnahme dar. Symptome von Verwirrung seien unübersehbar. Altehrwürdige Institutionen wie die Zentralbanken, entstanden aus der berechtigten Sorge um die Stabilität des Geldwertes, fingen an, öffentlich mehr Inflation zu fordern. Der unter den Folgen des Wachstums schon jetzt schwer leidende Planet sei der Forderung nach noch mehr Wachstum ausgesetzt. Der technische Fortschritt mit seinen segensreichen Folgen der Einsparung schwerer körperlicher und monotoner Arbeit werde als Fluch steigender Arbeitslosigkeit erlebt.

Aus all dem heraus habe die Einsicht an Boden gewonnen, dass die Politik und die großen Institutionen immer weniger in der Lage seien, die anstehenden Probleme zu lösen oder vorhandene Chancen zu erkennen. Entscheidend in dieser Situation sei, selbst einzugreifen und aktiv zu werden. Die Bewegung greift damit den Gedanken des Zukunftsforschers Robert Jungk auf, der in den 1980ern den Ruf nach Bürgerinitiativen ins Spiel brachte. Für Jungk war es entscheidend, mehr Menschen dazu zu bewegen, selbst initiativ zu werden, um Veränderungen zu bewirken. Diesen Gedanken treibt die Bewegung weiter, indem sie fordert, unternehmerisch im Konzert der Wirtschaft mitzuspielen.

Nur mit einem solchen Ansatz der aktiven Partizipation – so die zweite Überlegung – könne man der wachsenden ökonomischen Ungleichheit entgegenwirken. Die Bewegung – und nicht nur sie – betrachtet das immer stärkere Auseinanderdriften der Verteilung von Vermögen und Einkommen als gefährlichen Sprengstoff – eine Position, die inzwischen selbst von konservativen Stimmen geteilt wird. Eine der Ursachen des Auseinanderklaffens sei der ungleiche Zugang zum Aufbau unternehmerischen Vermögens. Wenn nur wenige Menschen ein Unternehmen gründeten, verteilten sich die Vermögen und daraus die Einkommen auf Dauer extrem ungleich.

Die beiden Überlegungen münden in die Behauptung, was Wirtschaft sei, müsse nicht nur neu gedacht, sondern auf unternehmerischem Wege auch praktisch neu gestaltet werden. Paradoxerweise lebten wir trotz der reich vorhandenen Mittel ökonomisch, ökologisch und sozial über unsere Verhältnisse. Es werde höchste Zeit, intelligenter und überlebensfähiger zu wirtschaften. Eine bessere, schönere Welt sei möglich. Was dem entgegenstehe, so die Bewegung, sei der paradoxe und zerstörerische Mechanismus, immer weiter expandieren zu müssen.

Das moderne Marketing verstärke diesen Prozess. Nicht die Herstellung von Produkten sei der Engpass, sondern ihr Absatz. Daher werde eine riesige Verkaufsmaschinerie aufgefahren. Die Investitionen in Werbung, Marken und Image verschlängen inzwischen mehr Geld als die Produktion. Statt die Menschen zu stärken, spielten die Manager des Marketingzirkus auf den Minderwertigkeitsgefühlen der Menschen Klavier. Die Psyche des Menschen werde mit wissenschaftlichen Mitteln durchleuchtet, um bessere Verkaufsstrategien zu ermitteln. Selbst die Universitäten würden immer stärker dem Marketing ausgeliefert. Im Exzellenzgeschrei, im Ringen um Drittmittel und unter dem permanenten Druck zu publizieren finde distanziertes Denken über die Zukunft unserer Gesellschaft, finde Forschung von Bedeutung, fänden unangepasste Projekte und Experimente immer seltener statt. Kritiker behaupten, dass selbst ein Charles Darwin unter solchen Bedingungen nie zu seiner bahnbrechenden Theorie gefunden hätte.

Seit der Antike sei der Grundgedanke der Ökonomie als sparsamer Umgang mit den vorhandenen Ressourcen verstanden worden. In der Denktradition der Ökonomen wie der großen Philosophen habe wirtschaftliches Handeln stets eine dienende Funktion eingenommen. Heute durchdringe die Wirtschaft immer mehr Lebensbereiche. Wachstum, ein im Grunde positiver Begriff, habe sich zu einer Bedrohung entwickelt und überwuchere mit seinen Tentakeln die geistige und physische Umwelt des Menschen. Es sei die Ökonomie, die Art und Tempo der Entwicklung immer mehr bestimme. Und Politik, Bildung, Wissenschaft und Kultur vor sich herzutreiben beginne.

Der Philosoph Aristoteles habe sich im Grabe umgedreht und die großen Ökonomen der Geschichte wachgerüttelt. Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx, John Maynard Keynes und viele andere seien zu einem Protestmarsch aufgebrochen mit dem Ruf: »Verrat an der Ökonomie!« Die Ökonomie sei als Dienerin des Menschen angetreten und habe sich zu seiner Peitsche entwickelt. Widerstand sei das Gebot der Stunde. Wie bei Gandhis historischem Marsch gegen die Salzsteuer sei der Zustrom zuletzt aus allen Lagern der Gesellschaft immer größer geworden.

Kapitel 1Vom Uomo Universale zum Markenmenschen

Die Renaissance sah den universell gebildeten und tätigen Menschen als Typus der Zukunft. Er sollte das Leben in seiner ganzen sinnlichen und intellektuellen Fülle wahrnehmen und gestalten können. Nicht nur bei Künstlern wie Donatello, Leonardo, Michelangelo oder Alberti, sondern auch in der leidenschaftlichen Diskussion der Bürger um die Gestaltung von Kirchen und öffentlichen Gebäuden verkörperte sich diese Auffassung.1 Die Idee der Vitalität war eng mit der Idee der Individualität verbunden.

Zeichnen wir ein aktuelles Bild.

Das Marketing-Monster

Hi! Ich bin das Marketing-Monster. Mir geht es gut. Alle füttern mich, weil sie mich brauchen. Die Unternehmen sind auf mich angewiesen, wenn sie höhere Umsätze und Gewinne machen wollen. Die Universitäten füttern mich mit ihren Forschungsergebnissen. Ich mache genau das, was die Menschen wollen. Mir ist ganz kannibalisch wohl. Tut mir leid, dass ich so dick geworden bin. Ich will beileibe kein Monster sein.

Das Gute ist, dass man mich nicht richtig erkennt. Mar-ke-ting. Man muss die Waren doch zu Markte tragen! Herstellen allein reicht nicht. Man muss die Waren verpacken, sie transportieren. Schließlich soll man die Waren auch finden. Und man muss sie beschreiben. Na ja – und ein bisschen schön machen darf man sie schließlich auch. Wir wollen doch nicht ganz so puritanisch sein. Marketing sei notwendig.

Was für ein wunderbares Versteck! Es stimmt natürlich, dass es das Zum-Markte-Tragen gibt. Aber die Kosten dafür betragen nur einen kleinen Teil des Marketingbudgets. Ja, sie sind sogar im Laufe der Zeit eher unbedeutend geworden. Die Transportkosten sind viel geringer als früher, die Kosten für Telekommunikation noch mehr. Die Supermärkte sind größer und arbeiten rationeller als die Tante-Emma-Läden. Wenn es um diesen Teil des Marketings ginge, würde ich immer dünner, nicht dicker.

Es gibt aber noch einen zweiten Teil des Marketings, der ganz anders aussieht. Nennen wir ihn die Schlacht um den Konsumenten. Ökonomen würden es den Übergang von der Angebots- zur Nachfrageökonomie nennen. Auf die Generierung von Nachfrage kommt es an. Die Marken werden entscheidend. Daher der hohe Aufwand für Image und Vertrauensbildung. Wer es gut kann, wird hoch bezahlt. Kapital kauft Kopf.

Ich entfache ein gewaltiges Feuerwerk. Ich mache die Welt bunt und hell. Und optimistisch. Die kreativsten Köpfe arbeiten für mich und ziehen alle Register: Kunst, Ästhetik, Psychologie. Ich versuche, die Menschen zu meinen Partnern zu machen. Ich trete in der Figur eines Familienmitglieds, eines Liebenden auf. Ich verteile kleine Geschenke, wenn man mir folgt.

Ich liebe soziale Netzwerke. Ich spüre die Energie, die in ihnen liegt. Wenn ich gewitzt genug bin, kann ich dort als Freund unter Freunden auftreten. Ich passe mich den Freunden an, damit sie sich mir anpassen. Die technologische Entwicklung kommt mir entgegen. Ich bin im Internet an Ihrer Seite. Ich kenne Ihre geheimen Wünsche und Interessen. Ich weiß besser über Sie Bescheid als Sie selbst. Ich bin Ihr großer, hilfreicher Bruder.

Ich bin der Witz. Ich bin der Humor. Ich bin das Spielerische. Kinder sehen mir zu, weil ich so lustig bin. Ich bin die Pause. Der Urlaub. Das Wohlbefinden. Ich umgebe mich mit schönen Menschen. Mit sympathischen Menschen. Kein Register, das ich nicht ziehen kann. Ich bin Orgelspiel im Fortissimo.

Ich kann aber auch die leisen Töne. Ich liebe es, mich einzuschmeicheln. Ich verstehe die Menschen. Glauben Sie mir, ich tue alles, um die Menschen zu verstehen. Das liegt in meinem ureigenen Interesse. Wenn ich die Menschen nicht verstehe, kann ich ihnen auch nichts geben.

Deshalb bin ich mir auch nicht zu schade, hinabzusteigen in die Tiefe und mich umzusehen, was im Keller liegt. Menschen haben Schwächen und leiden darunter. Ich helfe ihnen. Sie wurden von der Natur benachteiligt? Sie müssen sich nicht länger schämen. Sie sind in Ihrer Kindheit verletzt worden und tragen den Schmerz in sich? Ich heile Ihren Schmerz. Sie sind zu dick? Kein Problem. Die Haare fallen aus? Kein Problem. Fältchen um die Augen? Kein Problem. Sie werden älter? Mit mir werden Sie jünger. Sie haben gerade kein Geld? Ich gebe Ihnen Kredit.

Sie dürsten nach Anerkennung? Nirgendwo habe ich mehr zu bieten: das besondere Outfit. Die Accessoires. Der elegante Anzug. Die feinen Schuhe. Die teure Uhr. Die luxuriöse Limousine. Sie fühlen sich unsicher? Ich gebe Ihnen Sicherheit.

Hör mir gut zu: Ich biete Dir einen Pakt an. Verkaufe mir Deine Seele, und ich lege Dir die Welt zu Füßen. Höre auf Mephisto. Mit Deinem Eigensinn, mit Deinem Eigenwillen wirst Du scheitern, Du Querkopf. Mit mir dagegen wirst Du erfolgreich sein.

Die Moderne überfordert die Menschen. Ich gebe ihnen fest umrissene Marken, mit denen sie sich profilieren können. So wie Insekten kein Rückgrat haben, sondern von außen durch die Teile des Chitinpanzers zusammengehalten werden, so wird der moderne Mensch durch Marken zusammengehalten. Denken Sie an den Großinquisitor bei Dostojewski. Die Menschen sind schwach und brauchen Führung. Ich gebe ihnen Halt. Ich helfe, durch Statussymbole Selbstvertrauen zu gewinnen. Und mehr als das: Durch Marken gebe ich den Menschen Identität. Ich sage ihnen, was sie haben müssen, um sie selbst zu sein.

Die Philosophen haben viel über Freiheit geredet. Ich gebe den Menschen Freiheit. Ich habe den Baukasten, aus dem sich jeder seine Freiheit zusammenstellen kann.

Ich bin die Hoffnung. Ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit und das Leben!

Der Mangel muss suggeriert werden

Zunächst möchte ich klarstellen: Es geht nicht darum, Marketing generell abzulehnen. Wenn es die Welt bunter und fröhlicher macht, was wäre dagegen zu sagen? Auch die eine oder andere Übertreibung darf man getrost akzeptieren. Es geht mir auch nicht darum, puritanisch-spartanische Lebensformen zu propagieren. Es geht allein darum, den Frontalzugriff der Ökonomie auf alle Aspekte unseres Lebens nicht widerspruchslos hinzunehmen, sondern zu fragen, ob wir kritiklos folgen wollen.

Eines vorweg: Sie können als Gründer in einer Materialschlacht des Marketings nicht gewinnen. Wenn David mit den Waffen des Goliath antritt, verliert er. Sie müssen sich also fragen, ob Sie sich der üblichen Methoden des Marketings bedienen wollen oder ob es Alternativen dazu gibt. Versuchen wir zunächst aber, die Entwicklung des Phänomens Marketing besser zu verstehen.

Rückblick: USA 1945.

Der Krieg ist vorbei. Die Rüstungsproduktion geht schlagartig zurück. Die Arbeitslosigkeit steigt sprunghaft. Der private Konsum muss angekurbelt werden. Die Menschen sollen Produkte kaufen, auch wenn sie diese von sich aus nicht kaufen würden.2 Man muss die Werbetrommel rühren. Ja, man muss Marketing in einer Weise ausbauen – über das Zu-Markte-Tragen hinaus –, dass sogar solche Konsumenten, die ein Produkt gar nicht wollen, zum Kauf überredet werden. Eine Marketingoffensive gegen Arbeitslosigkeit. Genauer: Bedürfnisse wecken, um Arbeitslosigkeit zu beheben. Das Gefühl des Mangels im Menschen installieren.

Man kann es die Geburtsstunde des Marketing-Monsters nennen.

Der Mangel muss suggeriert werden.

Sie haben richtig gelesen. Nicht der Mangel muss behoben werden, nein. Der Mangel muss erzeugt werden. Das ist die Situation, in die uns eine Logik stellt, die Arbeitslosigkeit durch Wachstum beheben will. Pervers, aber wahr.

Es ist der Grund, warum das Marketing-Monster so fett und selbstbewusst geworden ist. Wir brauchen es, um neue Bedürfnisse zu wecken. Wir müssen es füttern, damit es mehr Konsum generiert. Die Herstellung von Waren ist heute nicht mehr das Problem. Der Verkauf ist es. Deswegen wird das Marketing aufgerüstet.

Das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaften war es, sich dafür einzusetzen, den Mangel zu beheben. Zumindest für die Industrieländer ist diese Aufgabe gelöst. Unsere Grundbedürfnisse sind erfüllt, in einem Ausmaß, wie wir es uns vor wenigen Jahrzehnten noch nicht träumen ließen.

Heute müssen wir den Mangel künstlich produzieren. Wenn an der Oberfläche kein Mangel ist, müssen wir tiefer schürfen. Am besten in der Grube der Minderwertigkeitsgefühle. Da stoßen wir auf ergiebiges Material.

Unsere Bedürfnisse sind unerschöpflich, wenn sie ständig angefacht werden.

Heute müssen wir feststellen, dass es beim Konsum keine natürliche Sättigungsgrenze gibt. Zwar legen Studien nahe, dass in den reichen Ländern ein Zuwachs an Konsum nicht zufriedener macht. Dennoch konsumieren wir mehr. Wir verschieben unsere Wunschvorstellungen ständig nach oben. Wenn dann noch der Druck der Marketingindustrie dazukommt, werden unsere Bedürfnisse gänzlich unerschöpflich.3

Marketing zielt auf den Kern des Selbstbewusstseins des modernen Konsumjüngers. Während früher die Marken die Aufgabe erfüllten, die Komplexität, die durch die Fülle des Angebots entsteht, zu reduzieren, wird heute dem Käufer auf der Suche nach seinem eigenen Stil suggeriert, er könne sich mit der Marke Individualität und Identität kaufen.

Es sei erstaunlich, dass der Individualismus so wenige Individuen hervorgebracht habe, schreibt Robert Musil in seinem Tagebuch.4 In der Tat ein merkwürdiger Widerspruch. Das Individuum glaubt, durch den Kauf bestimmter Markenprodukte seinen Individualismus zu leben, in Wirklichkeit widerlegt es damit jeden Individualismus.

Einer, der schon früh fulminant gegen die wachsende Macht des Marketings Stellung genommen hat, ist Henry Ford. Er verabscheute jede Art von Reklame. Er war der Albtraum jedes Marketingexperten. Wenn das Erwirtschaften von Profit das Ziel des Unternehmens sei, so argumentierte Ford, dann werde nur noch auf die Verkäuflichkeit des Produkts geachtet, nicht auf seine Nützlichkeit. Die Schwächen des Produkts würden dann von der Reklame kompensiert. Für die dadurch entstehenden Zusatzkosten komme letztlich der Kunde auf. Dies führe zu einer Preispolitik, die sich nicht an den Produktionskosten orientiere, sondern nehme, was am Markt herauszuholen sei. Der Schaden für die Allgemeinheit sei damit ein doppelter.5 Weniger Nützlichkeit, aber höhere Preise.

Eine überzeugende Argumentation. Und heute aktueller denn je.

Damals regte sich noch Widerstand gegen das Monster. Der Schweizer Gottlieb Duttweiler beklagte sich darüber, dass die Ladenpreise viel höher seien als die Herstellungskosten. (Die Produkte wurden damals zu etwa dem Dreifachen der Herstellungskosten verkauft.) 1925 nahm er diese Diskrepanz zum Ausgangspunkt für die Gründung seines Unternehmens, der Migros.

Und siehe da: Er war mit diesem Ansatz hoch erfolgreich. Heute sind die Relationen noch viel drastischer. Von einigen Kampfpreisen der Discounter abgesehen sind die Relationen inzwischen eher beim Zehnfachen angelangt, bei modischen Artikeln oft noch weit höher. Tendenz steigend. Diese große Lücke zwischen dem Preis des Erzeugers und dem Verkaufspreis ist historisch eine neue Erscheinung. In der Wirtschaftsgeschichte gab es die Vorstellung vom »gerechten Preis«, also das, was der Händler als Aufschlag verlangen dürfe. Ein Thema, das sowohl in der Geschichte der Philosophie als auch in den ökonomischen Lehrmeinungen eine immer wiederkehrende, wichtige Rolle gespielt hat – von Xenophon 500 vor Christus über Aristoteles und seine Nikomachische Ethik bis zu Augustinus, den Kirchenvätern und zur Neuzeit. Wenn man grob vereinfacht, könnte man sagen, die Vorstellung spielte sich im Bereich »der Zehnte« ab. Der Händler darf so etwas wie zehn Prozent aufschlagen. Plus/minus und wie gesagt sehr grob. Dies nur zur Verdeutlichung, dass man das, was heute passiert, in der Wirtschaftsgeschichte mit schwerem Wucher bezeichnet hätte. Weshalb sich die Frage stellt: Brauchen wir Unternehmer vom Typ Duttweiler nicht dringender denn je?

Ja – wir brauchen sie. Und das Beispiel Duttweiler zeigt: Es reicht ein einziger Entrepreneur, eine ganze Branche umzukrempeln. Bessere Qualität, besseres Preis-Leistungs-Verhältnis, mehr Transparenz und Information, weniger Werbelyrik. Entrepreneure wie Duttweiler setzen neue Maßstäbe. Die Konkurrenz muss folgen, wenn sie nicht einen Großteil ihrer Kunden verlieren will.

Aber Ford und Duttweiler sind weitgehend vergessen. Henry Fords Kritik wird heute eher milde und nachsichtig belächelt. So wie ein Pharmahersteller sich über Kunden amüsiert, die lieber Obst essen, als seine chemisch-industriell hergestellten Pharmaprodukte zu kaufen.

Duttweiler ist fast völlig vergessen. Eigentlich sehr erstaunlich, dass nicht mehr Unternehmer dem Beispiel von Ford und Duttweiler gefolgt sind. Schließlich waren beide höchst erfolgreich. Ein Erfolgsmodell also, das auf der Hand liegt, das aber nicht aufgegriffen wird? Wie wir gleich sehen werden, gibt es dafür eine Erklärung.

Wir sind manipulierbar

Der Weintest6

Drei Sorten Wein stehen zur Auswahl: einfache, mittlere und hohe Qualität. Die Testteilnehmer sind angehalten, ihr Urteil zu den drei Sorten abzugeben. Was den Test besonders macht: Es wird nicht nur das verbale Urteil der Probanden abgefragt, sondern mittels moderner Gehirnforschung werden auch die Geschmackszentren im Gehirn gescannt. Man will verhindern, dass die Teilnehmer etwas sagen könnten, was nicht mit ihrem Geschmacksempfinden im Einklang steht. Man will ihre tatsächlichen Empfindungen messen, nicht nur ihre verbalen Äußerungen.

Das Ergebnis fällt erwartungsgemäß aus. Die Testpersonen erkennen die Qualitätsunterschiede der Weinsorten. Mit steigendem Preis steigt auch die Qualität. Nicht nur in den geäußerten Meinungen der Probanden; auch die einschlägigen Gehirnzentren melden zurück, dass die teureren Weine auch tatsächlich besser schmecken.

Wäre alles nichts Besonderes, wäre da nicht eine Kleinigkeit: Im Test handelt es sich dreimal um den gleichen Wein.

Es ist also die Preisinformation, die dazu führt, dass die Testteilnehmer Unterschiede schmecken. Und noch mehr: Auch die entsprechenden Zentren im Gehirn melden die Qualitätsunterschiede. Die Betreffenden erleben also tatsächlich, dass ihnen der Wein mit dem jeweils höheren Preis besser schmeckt.

Was für ein Forschungsergebnis! Mit einer für die Praxis durchschlagenden Konsequenz. Man muss die Preise erhöhen! Ich muss als Unternehmer hohe Preise verlangen, weil dies im Auge des Kunden den Wert meines Produkts erhöht. Und meine höheren Einnahmen in die Werbung und Imagepflege stecken. Genial.

Was hier im wissenschaftlichen Test vorgeführt wird, wissen erfahrene Marketingmenschen schon lange. Ein hoher Preis signalisiert für den Käufer hohe Qualität, ein niedriger Preis hingegen steht unter dem Verdacht, dass Billigware verkauft werden soll. Im Hinterstübchen unseres Gehirns steht zwar: Vorsicht! – billig kann auch besonders preiswert bedeuten. Das vorherrschende Deutungsmuster ist aber: Teuer bedeutet gut, billig dagegen weist auf niedrige Qualität hin.

Ein Dummkopf also jeder, der wie Henry Ford, Gottlieb Duttweiler oder die Teekampagne auf die Qualität seines Produkts setzt. Stattdessen ist es viel profitträchtiger, in mehr Marketing zu investieren. Die Psychologie ist wichtiger als die Produktqualität. Je mehr ich den Kunden glauben machen kann, dass mein Produkt hochwertig sei, desto besser für mich. Ich muss als Unternehmer mein Geld für Image und Marke des Produkts ausgeben und kräftig dafür trommeln. Einen schweren Fehler begeht also, wer viel in Produktqualität und wenig in Marketing investiert.

Der Test zeigt: Wir sind manipulierbar, leicht zu betrügen. Und das völlig legal.

Jetzt verstehen wir, warum so viel in Marketing investiert wird, warum die Kreativen, warum die Wissenschaftler nachgefragt werden. Es geht ums ganz große Geld. Die Preise hochsetzen und in Markenpflege investieren – das ist das ideale Geschäftsmodell. Ein perfektes System. Jetzt verstehen wir noch besser, warum das Marketing zum Monster herangewachsen ist und immer noch weiter wächst.7 Und längst global aktiv ist. Wir verstehen, warum beispielsweise auf dem Weg von Bangkok zum Flughafen Suvarnabhumi sage und schreibe 243 Riesenleuchtreklamen gebaut wurden und es täglich noch mehr werden.

Die Abbruchkante der Qualität

Ein Tester, so dachte ich, sei jemand, der die bestmögliche Qualität auswählt, der seine Sachkenntnis und Erfahrung einsetzt, ein wirklich gutes Produkt zu gewährleisten – ohne Tricks, Verschlagenheit, Hinterlist. So sagen es auch die Texte, die wir auf den Warenverpackungen zu lesen bekommen. Dieses Produkt wurde aus den besten Rohstoffen von unseren erfahrenen Testern nach sorgfältigster Prüfung für Sie ausgewählt. Der Tester als Garant für Qualität, Sachkenntnis und Authentizität. So dachte ich. So denken Sie wahrscheinlich auch.

Wie naiv wir doch sind.

Schon einmal von der »Abbruchkante der Qualität« gehört?

Ein Beispiel: Wenn ich Wein mit ein klein wenig Wasser verdünne, merkt das niemand. Wenn ich mehr Wasser hinzugebe, kommt der Punkt, an dem man merkt, dass mit dem Wein etwas nicht stimmt. Man nennt es die Abbruchkante der Qualität. Ein guter Tester ist jemand, der diese Abbruchkante genau herausschmeckt. (Er wird auch einen Sicherheitsabstand zur Kante angeben. Damit man im Produktionsverfahren nicht gelegentlich über die Abbruchstelle hinausrutscht.)

Anders ausgedrückt: Die Qualität nimmt nicht linear ab, sondern von einem bestimmten Punkt an schlagartig. So jedenfalls reagiert unser Geschmacksempfinden. (Objektiv gesehen nimmt die Qualität natürlich schon vom ersten Wassertropfen ab, subjektiv reagieren wir darauf aber anders.)

Ich stehe jetzt als Unternehmer vor einer Wahl. Soll ich ein zu 100 Prozent reines Produkt anbieten? Oder soll ich mit der Abbruchkante der Qualität arbeiten?

Es ist eine entscheidende Frage. Zwei Welten trennen sich. Zwei völlig verschiedene Welten, die uns aber als eine Welt der Ökonomie begegnen.

Es berührt die Frage, was ich sein will. Welche Werte sind mir wichtig? Will ich stolz auf mein Tun sein? Oder will ich mich als Panscher durchs Leben schlagen? Und auch so fühlen? So würde man argumentieren, wenn man sich auf ein hohes Moralross schwingen und die Tugend der Ehrlichkeit hochhalten wollte. Und in das Wehklagen über den Verfall der Werte einstimmen würde. Darauf pochend, dass der Mensch als edel, hilfreich und gut geschaffen wurde.

Will damit sagen: Reicht es aus, ethische Forderungen zu stellen und darauf zu hoffen, dass es ein anderes ökonomisches System gibt, in dem ethisches Verhalten sich durchsetzen könnte?

Ganz nebenbei: Jesus hat nicht gesagt: Liebe Deinen Nächsten, aber nur, wenn er sich ethisch korrekt verhält. Der zarte Hinweis sei erlaubt, für alle diejenigen, die lautstark eine neue Ethik fordern und die große Veränderungen über eine solche Ethik erwarten oder erhoffen. Ist es nicht realistischer, von den Menschen auszugehen? So, wie sie sind? Statt Gesellschaftssysteme zu erdenken, die einen neuen Menschen voraussetzen? Müssen wir das Thema Ethik nicht auf andere Weise angehen? Dazu später mehr.

Auch die Rede vom »ehrbaren Kaufmann« führt nicht weiter. Meine Ehrbarkeit ist nicht in Gefahr, wenn ich ein bisschen Wasser in den Wein mische. Ich tue nichts Kriminelles. Es gibt nicht einmal eine Instanz, die mir etwas anhaben könnte. Ich mache am Tage Geschäfte, mit denen ich nachts durchaus gut schlafen kann.

Es ist nur der Anfang. Der Anfang eines Prozesses der kontinuierlichen Warenverschlechterung. Am Ende dieses Prozesses stehen Produkte wie Analogkäse, Tomaten, die wie schnittfest gemachtes Wasser schmecken, Pressschinken, von dem niemand weiß, was drin ist, oder Brotsorten, bei denen nur noch Experten die Entwicklung der Enzyme verfolgen können, mit denen das »Brot« hergestellt wird. Fast nichts ist mehr echt, authentisch.

Der Käufer hat das Bild eines Produkts – ein aus der Vergangenheit stammendes Bild –, das benutzt wird. Als Ausgangsmaterial, als Eckpfeiler sozusagen. Das mit Werbelyrik, schönen Bildern und Raffinesse ausgemalt wird.

Nehmen wir zum Beispiel Pfirsichnektar. Ein Name wie aus dem Paradies. Ein Bild des Pfirsichs, das uns wie Pawlows Hunden das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Lebensmittelfotografie. Das Produkt mit Klarlack behandelt, taufrisch glänzend, fein ausgeleuchtet. Die Beschreibung des Pfirsichnektars in Werbelyrik wie aus der Feder von Rilke persönlich. Ein notorischer Nörgler, wer jetzt auf die Rückseite dreht und die Inhaltsstoffe liest: 0,5 Prozent Pfirsichkonzentrat, diverse Aromen und Stabilisatoren. Wir bezahlen für fünf Gramm Pfirsichkonzentrat, ein paar Tropfen Aromastoffe und tragen tapfer 990 Gramm Wasser plus Verpackung nach Hause. Immerhin gut für unsere Arm- und für unsere Beinmuskulatur. Das Teuerste an der ganzen Aktion ist die Verpackung – aber die schmeckt ja auch besonders gut.

Oder Philippe de Rothschild. Auch bei Wein erwartet Sie ein Sprachgenuss der besonderen Art. »Baron Philippe de Rothschild. Der berühmteste Name in der Welt des Weins«, so steht es im einschlägigen Werbeprospekt. Und wer wird bei diesem Namen daran zweifeln? Die Beschreibung des Weins allerdings hat es in sich: »Eleganter, seidiger Körper mit Finesse, diskreter Würze und milder, runder Gerbsäure. Die Frucht wird durch dezent pflanzliche Anklänge angenehm belebt. Zugänglich, aber mit Niveau.« Der elegante seidige Körper sagt uns was, jedenfalls uns Männern. Finesse und Diskretion gehören dazu. Mit den dezenten pflanzlichen Anklängen, die uns so angenehm beleben, ist es schon etwas schwieriger. Ob es auch tierische Anklänge gibt? Immerhin sind sie für uns als Normalmenschen zugänglich, was wir bei so hervorragenden Namen wie den der Rothschilds eigentlich nicht verdient haben, und deswegen auch gleich der Hinweis, dass die Zugänglichkeit an Niveau geknüpft ist.

Mein Berufstipp: Wenn Sie die Fähigkeit besitzen, inhaltslose, aber wohlklingende Sätze zu formen, werden Sie Werbetexter. Und wenn Sie selbst nicht sicher sind, wie solche Sprachkunststücke zu beurteilen sind, fragen Sie Ihre Kinder, was sie von des Kaisers neuen (Sprach-)Kleidern halten.

Die beiden Beispiele mögen für sich genommen belanglos scheinen: Fruchtsaft und Wein. Aber sie sind exemplarisch, sind ein Trend. Sie illustrieren, wie Wirtschaft und Werbung Qualitätsstandards und Sprache vereinnahmen.

»Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass irreführende Werbeaussagen und Etiketten bei Lebensmitteln weiterhin ganz legal sind und daher im Supermarkt eher die Regel als die Ausnahme«, erklärt Lena Blanken von Foodwatch.8 Dies gelte auch für einen Konzern wie Nestlé, einen der großen Babynahrungshersteller. Der Alete-Trunk werde mit Aussagen wie »reich an Calcium und Vitamin D für gesundes Knochenwachstum« beworben, so Blanken. Dagegen warnten Kinderärzte und Wissenschaftler seit Jahren vor solchen Trinkmahlzeiten, weil sie zu Überfütterung und Karies bei Babys führen könnten. Die Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) bewertet die Trinkmahlzeiten sogar als unverantwortlich und gesundheitsgefährdend.9

Psychofalle Duft

Düfte werden emotional gespeichert, wenn sie aus einer Situation stammen, die sehr intensiv erlebt wurde. Rieche man später den gleichen Duft wieder, könne einen das in eine positive Grundstimmung versetzen.10

»Duftstoffe wirken im Unterbewusstsein, denn die chemischen Signale werden von den Sinneszellen transformiert und direkt ins Gehirn weitergeleitet«, sagt Klemens Störtkuhl, Sinnesphysiologe und Duftforscher an der Ruhr-Universität Bochum. »Das Spannende am olfaktorischen Sinn ist, dass er der Sinn ist, der am stärksten das Verhalten des Menschen beeinflusst. Das wird oft unterschätzt«, so Störtkuhl.11

Ein Experiment in einem Gartencenter.

Während des Einkaufs strömt Blumenduft aus den verborgenen Säulen in den Winkeln des Gebäudes. Die wenigsten nehmen diesen Geruch bewusst wahr. Der Leiter des Experimentes, Patrick Hehn vom Institut für Sensorikforschung und Innovationsberatung in Göttingen, ist zufrieden: »Die Leute haben mit der Beduftung mehr gekauft.« Die Spontankäufe sind gestiegen. Die Blütenluft vernebelte sogar die Wahrnehmung der Hobbygärtner: »Das Preis-Leistungs-Verhältnis wurde besser bewertet. Dieselben Verkäufer erschienen kompetenter«, sagt Hehn.- Der Geruch schleiche sich ins Gehirn und verleite die Kunden zu Einkäufen, die sie sonst nicht getätigt hätten. Die Ursache des Kaufrausches entziehe sich dabei dem Verstand und der eigenen Wahrnehmung. Ungeniert nutzen Duftmarketingagenturen diesen Trick. »Knapp unterhalb der Wahrnehmungsgrenze funktioniert das richtig gut«, verrät Jens Reißmann, Geschäftsführer der Duftagentur Reima AirConcept in Zwickau.

Mit parfümierten Spielautomaten lässt sich sogar 45 Prozent mehr Geld einnehmen, verspricht Alan Hirsch, ärztlicher Leiter der Smell & Taste Treatment and Research Foundation in Chicago.12

Fachleute sprechen von »Corporate Scent« oder »Air Design«. Werden Sie Duftmanipulator – ein Beruf mit Zukunft.

Über Public Relations

Edward Louis Bernays13 (1891 bis 1995) gilt neben Walter Lippmann, Ivy Lee und anderen als Vater der Public Relations. Er war Pionier in der Anwendung von Forschungsergebnissen der noch jungen Psychologie und Sozialwissenschaften in der angewandten Öffentlichkeitsarbeit.

Bis ins frühe 20. Jahrhundert wurde der Begriff »Propaganda« völlig wertfrei gebraucht. Der politische und wirtschaftliche Totalitarismus der Moderne benutzt den Begriff sogar im emphatischen Sinne. Allerdings wurden selbst noch Mitte der 1920er-Jahre die advertising agents und admen schräg angesehen, selbst von den Firmenchefs, die sie beschäftigten.

Ab Mitte der 1920er-Jahre erschien eine Reihe von Werken zur Massenbeeinflussung, von denen das schmale Buch Propaganda von Edward Bernays (1928) bis heute das bekannteste geblieben ist. Bernays, 1891 in Wien geborener und schon ein Jahr später mit seinen Eltern in die USA ausgewanderter Neffe von Sigmund Freud, wollte den Begriff »Propaganda« von den negativen Assoziationen aus dem Ersten Weltkrieg befreien. Er vermied das historisch belastete Wort »Propaganda« zugunsten des Begriffes »Public Relations«. Er empfahl sich unter dem selbst erfundenen Titel eines Counsel in Public Relations den »unsichtbaren Regierenden«14. Damit hatte er den Beruf des PR-Agenten geschaffen.

»Wenn wir den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens (group mind) verstehen«, schreibt Bernays, »wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern.«15

Edward Bernays bezeichnet diese Technik der Meinungsformung als engineering of consent. Sein Buch beginnt mit den Worten: »Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht (ruling power) unseres Landes ist.«16

»Wir werden regiert, unser Verstand geformt, unsere Geschmäcker gebildet, unsere Ideen größtenteils von Männern suggeriert, von denen wir nie gehört haben. […] Große Menschenzahlen müssen auf diese Weise kooperieren, wenn sie in einer ausgeglichenen, funktionierenden Gesellschaft zusammenleben sollen. […] Es bleibt eine Tatsache, dass in beinahe jeder Handlung unseres Lebens, ob in der Sphäre der Politik oder bei Geschäften, in unserem sozialen Verhalten und unserem ethischen Denken wir durch eine relativ geringe Zahl an Personen dominiert werden, welche die mentalen Prozesse und Verhaltensmuster der Massen verstehen. Sie sind es, die die Fäden ziehen, welche das öffentliche Denken kontrollieren.«17 Über Joseph Goebbels wird berichtet, auf seinem Nachttisch habe Bernays’ Buch gelegen.

Nach 1920 war Bernays einige Jahre für die amerikanische Tabakindustrie tätig. Frauen, so fand er heraus, betrachteten Zigaretten als phallische Symbole männlicher Macht und lehnten die Glimmstängel daher ab. Bernays versuchte jedoch, für die American Tobacco Company das Rauchen für Frauen attraktiv zu machen. Er heuerte eine Gruppe von Frauen an und bat sie, sich als Suffragetten zu verkleiden. So marschierten die vermeintlichen Frauenrechtlerinnen durch New Yorks Fifth Avenue, und als Zeitungsreporter sie fotografierten, zündeten sie sich Zigaretten an und proklamierten diese als »torches of freedom« (Fackeln der Freiheit). Die Werbestrategie zielte darauf, den Widerstand der Frauen gegen das Rauchen zu brechen.

Werfen wir den Fehdehandschuh in den Ring

Wenn Sie die in den vorherigen Abschnitten genannten Marketingpraktiken in Ordnung finden oder sie jedenfalls für Sie keine größere Aufregung wert sind – wie wunderbar. Sie haben sich einen Glauben an die Ökonomie bewahrt, der mir zunehmend verloren geht. Überspringen Sie die nächsten Abschnitte und lesen Sie weiter ab Kapitel 2.

Wenn Sie jedoch finden, dass wir immer häufiger kleinen und großen Schweinereien ausgesetzt werden und wir sie nicht einfach hinnehmen sollten, lesen Sie hier weiter.

Moralisch entrüstet zu sein, ist nur eine Sache. Zu klagen darüber, dass die Ergebnisse aus der Wissenschaft gegen den Menschen, also zu seiner Manipulation eingesetzt werden. Genauso wichtig scheint mir der zweite Aspekt. Wir sollen mehr konsumieren, als wir eigentlich beabsichtigen, mit all den negativen Folgen für uns selbst, aber auch für unseren Planeten.

Immerhin fühlt sich heute bereits eine Mehrheit von Konsumenten bedroht, beim Kauf ausgespäht zu werden, damit man sie bei zukünftigen Käufen beeinflussen kann. Die Bedrohung wird als stärker empfunden als die durch Hacker oder ähnliche Akteure. Und erstaunlicherweise sogar deutlich höher als die Bedrohung durch Regierungsstellen, wie sie durch die NSA-Affäre bekannt wurde.18

»Wir arbeiten mehr, konsumieren mehr, am Ende konsumieren wir uns selbst«, sagt die slowenische Philosophin Renata Salecl. Die Idee der Freiheit sei zur Wahl zwischen Marken verkommen. Wir fühlten uns ständig gestresst, überfordert und schuldig. Wenn es uns schlecht ginge, sei es unsere eigene Schuld. Wir haben die falsche Wahl getroffen.19

Sie brauchen es mir nicht zu sagen. Die Luxusmarken florieren. Ich weiß es. Am besten selber eine Luxusmarke ausdenken, viel Geld in die Markenpflege stecken, den Menschen suggerieren, dass ohne diese Luxusmarke ihr Leben unvollkommen ist.

Wäre mit Darjeeling-Tee gar nicht so schwer gewesen. Haben mir damals viele Menschen, auch Universitätskollegen, eindringlich empfohlen. Viel zu preiswert, Ihr Darjeeling. Sie machen ja überhaupt kein Marketing. Lieber mehr Geld in die Werbung stecken, die Preise deutlich erhöhen, und aus dem Unternehmen »Teekampagne« wird eine Luxusmarke, und das weltweit.

Hätten wir machen können. Und was für ein Luxusprodukt! Kein aus Plastik mit Logo und viel Imagewerbung zur Luxusmarke hochgepäppeltes Produkt, sondern ein einzigartiges, authentisches Naturprodukt. Und keines, das man beliebig vermehren kann. Selbst mit unserer simplen Vorgehensweise sind wir weltgrößter Importeur von Darjeeling geworden. Was spricht also dagegen, daraus eine Luxusmarke im Luxuspreisniveau zu machen?

Es gab tatsächlich die Gelegenheit dazu.

1995 geht es mir schlecht. Der Tinnitus im Ohr wird immer stärker. Einem Konkurrenten gelingt es, einen Angriff unter der Gürtellinie zu lancieren. Wer liest schon die Gegendarstellung? Da taucht ein Kaufinteressent für die Teekampagne auf: Manufactum. Thomas Hoof bietet sieben Millionen Deutsche Mark. Als Angebot vorneweg. Und den notariellen Kaufvertrag schon vorbereitet. Nur noch meine Unterschrift ist nötig. An historischer Stätte, im Cecilienhof in Potsdam, in würdiger Umgebung, so der Vorschlag, soll die Unterzeichnung stattfinden. Auch mein engster Freund und Kollege rät zum Verkauf.

Was er mit der Teekampagne machen würde, frage ich Herrn Hoof. Antwort: Die Preise erhöhen. »Sie verkaufen Ihren Darjeeling viel zu billig.« Nach Hamburg fahren. Mit den Teehändlern und deren Verband Frieden schließen.

Das gab den Ausschlag. Dafür hatte ich die Teekampagne nicht gegründet.

Mir ging es nie um Tee. Die Teekampagne war für mich immer ein Modell. Für eine bessere, überzeugendere Ökonomie. Für bessere Qualität, für sparsameren Umgang mit den Ressourcen. Fair Trade für die Erzeuger. Für organischen Anbau, für Rückstandskontrollen. Dies alles, und eben trotzdem ein niedriger Preis: fairer Handel auch für den Kunden. Nicht noch ein Unternehmen, das aus dem Handel herausholt, was und wie es kann. Mehr Produktwahrheit, mehr Transparenz – statt Aufbau und Pflege einer Luxusmarke.

Branding

Branding war ursprünglich einmal ein gutes Konzept. Der Hersteller nennt seinen Namen und bürgt für die Qualität. Über das Branding erkennt man den Hersteller und seine Produkte wieder. So steht es auch heute noch in den Lehrbüchern. Nicht dass es nicht auch Unternehmen gäbe, die Branding so einsetzen. Aber die Mehrzahl dessen, was heute als Branding auftritt, setzt mehr auf die Erfindung von Marken, setzt auf Markenpflege, den Imageaspekt und Verkaufsstrategien.

Der Begriff »Branding« stammt ursprünglich aus der amerikanischen Viehzucht. Um die eigenen Rinder von denen des Nachbarn zu unterscheiden, wurde den Tieren mit einem glühenden Metallstempel ein Zeichen ins Fleisch gebrannt. Vom Rind aus gesehen keine angenehme Sache. Das Brandzeichen ein allseits sichtbares Merkmal, dass ich als Rind nicht frei bin, sondern Teil einer Herde, die einem anderen gehört. Wenn Sie das nächste Mal durch die Hallen eines Konsumtempels laufen, denken Sie an die gebrannten Rinder. Es hilft Ihnen, zu erkennen, dass Sie die gebrannten Kinder sind, wenn Sie aus dem Tempel herausgehen. Für das, was in dem von Ihnen gekauften Produkt an Herstellungskosten steckt, sind Sie ein gebranntes Kind. Die Forschung, wie man das auf höchstem wissenschaftlichem Niveau veranstaltet, liefert die Erkenntnisse dazu. Wie kann ich meine Werbelyrik noch erfolgreicher machen? Welche dem Käufer unbewussten Reflexe kann ich nutzen? Wie kann ich auf seinem Wertesystem spielen, damit er mir Vertrauen schenkt? Welche Bilder machen mich vertrauenswürdiger? Mit welchen Aktionen kann ich meiner Marke mehr Wert einhauchen? Wie können wir die Muppets – die dummen Kasper, wie wir in Deutschland sagen würden – dazu kriegen, diesen Brand ganz außergewöhnlich zu finden und unbedingt besitzen zu müssen?

Marketing total

Nicht »Wer bin ich?« heißt das Gesellschaftsspiel, sondern »Was trage ich als Marke?«. Früher hatte man die eigenen Initialen auf dem Hemd, heute die Initialen der Marke. Das Marketing-Monster lugt überall hervor. In der Sportarena, in der wissenschaftlichen Tagung, beim Kulturfestival. Aus allen Ecken strecken die Logos ihre Köpfe hervor, fein säuberlich sortiert nach Obersponsor, Hauptsponsor, Nebensponsor.

Wie wäre es mit einer Aktion: »Ich bin kein Marken-Dummkopf!«

Als Universitätslehrer der Ökonomie – einer wichtigen Wissenschaftsdisziplin mit einer langen und guten Tradition – kann ich nicht dem Trend nach immer mehr Marketingaufwand folgen. Packt mich die Wut, wenn ich die Entwicklung der modernen Marketingökonomie beobachte. Es ist Irrsinn, im wahrsten Sinne des Wortes, für Marketing immer mehr Mittel zu verbrauchen. Die Ökonomie bezieht ihre Legitimation aus dem sparsamen Umgang mit Mitteln. Das ist ihr Berufsethos. Und das war und ist – in der Geschichte wie auch heute – notwendig und gut.

Allmählich werden die Werbespots spannender als die redaktionellen Beiträge. Kein Wunder – wachsen doch die Mittel für Werbung schneller als die Budgets der Redaktionen. Im Internet ist die Werbefinanzierung längst auf der Überholspur. Dort tritt sie auch am dreistesten auf. Sie wollen einen Artikel lesen, ein Video ansehen? Erst kommt der Werbespot. Oft lässt er sich nicht einmal mehr wegklicken. Die gute alte Reklame hat ausgedient. Auch die Postwurfsendungen werden raffinierter. Was Sie im Hausflur finden, was wie eine Zeitung daherkommt, ist Werbung, redaktionell verkleidet. Das Automobil des Nachbarn, die Armbanduhr des Kollegen, die Handtasche der Frau, der Schulranzen der Tochter, der Anorak des Bergsteigers – alles riecht nach Marke. Wo sind noch werbefreie Zonen, die man vollkleistern kann? Wo noch kann man Redaktionelles vortäuschen, wo Marketing dahintersteckt? Mit welchen neuen Inhalten, Formen, Provokationen kann ich Aufmerksamkeit erzeugen?

Wohin diese Entwicklung führt? Der Formel-1-Rennzirkus ist das extreme Vorbild: die Fahrer, die Rennwagen, die Seitenstreifen. Marketing total. Keine Fläche auf der Ledermontur des Fahrers, der Karosserie, die nicht genutzt wird. Irgendwo noch Restbestände von Flächen, die ungenutzt sind? Her damit!

Mehr Windräder, mehr Solaranlagen bitte – wir brauchen schließlich Energie, um die Werbeträger zu produzieren, zu beleuchten. So könnte es aussehen, das Wachstum der Zukunft. Wachstum durch solcherart Kreativwirtschaft. Die Werbeflächen vom neuen Bangkoker Flughafen in die Stadt sind größer als Hauswände und voller Informationen. Meist steht nur ein Firmenname drauf: Honda, Siemens, Korean Airlines, Suzuki, Philips. Die Tafeln sind riesig. In massive Stahlgerüste eingebracht und von nicht weniger massiven Pfeilern gestützt, weil sie den tropischen Stürmen standhalten müssen.

Gibt es nicht auch Marken, die durch Pionierleistungen und hohe Qualität gekennzeichnet sind?

Ja – sie gibt es. Die eine oder andere Automarke kommt in den Sinn, ein Laptop- und Smartphone-Hersteller, eine blau-weiß verpackte Creme, einzelne Verlage, Namen von Bio-Pionieren. Aber sie sind nicht die Regel.

Marke, so sagt uns Köblers Deutsches Etymologisches Wörterbuch von 1995, sei ein »Erzeugnis, dessen Lieferung in gleichbleibender oder verbesserter Güte von dem preisempfehlenden Unternehmen gewährleistet wird und das mit einem seine Herkunft kennzeichnenden Merkmal (zum Beispiel Bildzeichen) versehen ist«. Und so lernen es Studenten im Fach Marketing. Die Marke als Stempel für Qualität und Verlässlichkeit. Da ist sie wieder, die Märchenstunde der Lehrbücher und der Theorie. In der Praxis führt Marketing längst ein Eigenleben.

Modelabels werden wie Leuchtkugeln in den Himmel geschossen, sie verglühen, wenn die Ausgaben für Markenpflege nachlassen. Ob die Qualität des Materials und der Verarbeitung gut ist, merkt man erst, wenn es zu spät ist. Ob der Ort der Verarbeitung oder die Behandlung der Näherinnen akzeptabel sind, erfahren wir meistens erst, wenn es zu einem schweren Unfall kommt.

Der Ausweg: An den Marken vorbei eine eigene Ökonomie betreiben?

In einer totalen Marketingwelt ist es für Andersdenkende und -handelnde naturgemäß schwer, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wie soll man sich bemerkbar machen, wenn man Marken mit Skepsis gegenübersteht? Sich als Anti-Marke verstehen? Aufklärende Begriffe verwenden, statt Kunstnamen zu bilden? Ist die Teekampagne auch nur eine Marke, die man mit anderen Marken, wie Starbucks, gleichsetzen kann? Die Teekampagne steht für eine andere Art des Handels, für Einsparungen bei Transportwegen, Lagerhaltung und Verpackungsmaterialien. Steht für Rückverfolgbarkeit des Produkts und Offenlegung der Kalkulation. Statt eines eigenen Logos verwendet die Teekampagne das Schutzzeichen der Teepflanzer für reinen, unverfälschten Darjeeling. Die Teekampagne wollte sich eben nicht in eine Reihe mit den üblichen Kunstmarkenbegriffen stellen. Nicht »Teezauber Gold« – sondern sagen, was drin ist. Ross und Reiter nennen: Anbaugebiet. Lage. Erntejahr. Blattqualität. Um Messlatten zu geben, Überprüfbarkeit zu ermöglichen. Ja, wir brauchen eine neue Begriffskultur. Erklären statt verklären.

Ist dies ein realistischer Ansatz oder bleibt es eine idealistische Forderung, wie so vieles im Chor der Kritik an der herrschenden Ökonomie?

Hat Aufklärung Zukunft? Es gibt Beispiele dafür. Allerdings brauchen wir ein wenig Mut, in Abwandlung eines Satzes von Kant, uns der Aufklärung zu bedienen. Noch sind wir in der Minderzahl. Unternehmen wie die Teekampagne haben sich nicht trotz, sondern gerade wegen ihres aufklärenden Charakters durchgesetzt. Weil es auf Dauer belohnt wird, wenn man sich auf die Seite der Kunden stellt.

Die braven Geschichten der Corporate Social Responsibility (CSR)

Siemens, MAN Ferrostaal, ERGO, Deutsche Bank, Danone – die Liste ließe sich verlängern. Keine unbekannten Namen, sondern erstklassige Unternehmen. So oder so ähnlich haben wir gedacht. Stattdessen hören wir von Schmiergeldaffären, Sexprämien, Manipulation, Konsumentenverdummung. Eine PR-Katastrophe für die betroffenen Unternehmen.

Wenn es in einem amerikanischen Hotel brennt, heißt das Kommando: »The fire department takes over.« In modernen Unternehmen heißt es im Katastrophenfall: »Die PR-Abteilung übernimmt das Kommando.«

Totschweigen und Aussitzen? Oder besser doch ein geschickt formuliertes Dementi herausgeben? Nur scheinbar auf die Vorwürfe antworten? Oder realistisch sein und – Stichwort Schadensbegrenzung – den Gang nach Canossa antreten? Also: Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft aufnehmen, damit es zu keinem aufsehenerregenden Prozess kommt. (Siemens zahlte in den USA allein an seine Rechtsanwälte den Betrag von 200 Millionen Euro, um die »gütliche« Einstellung des Verfahrens zu erreichen.) Und dann gehen die Maler ans Werk. Es muss ein Bild gezeichnet werden, das Gemälde vom liebevoll sich um Mitarbeiter, Kunden und Umwelt sorgenden Unternehmen. PR als Märchenstunde.