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Beschreibung

29 Familien aus Deutschland, Österreich und der Schweiz schildern ihre persönlichen Wege und ihre Erfahrungen mit einem Leben ohne Schule. Ein Leben ohne Schule: Kein Wecker, keine Hausaufgaben, keine Noten! Lernen was man will, wann man will! Statt Fremdbestimmung zu erdulden, selbstbestimmt der intrinsischen Motivation als Fahrplan folgen. Eine absurde Vorstellung ohne Erfolgsaussicht oder eine glückstiftende Rückkehr zum natürlichen Lernen und dem Vertrauen in unsere Kinder? Was genau ist denn Freilernen? Wer macht das? Warum und wie? Ist das in Deutschland nicht (noch) illegal? Freilerner-Familien haben ihre Türen geöffnet und geben Einblicke in ihr persönliches Leben, Lernen und ihre Gedanken- und Gefühlswelt. "Wie 'Freilernen' aussieht, ist für jede Familie anders. Gemeinsam ist nur die Individualität, die Freiheit, zu lernen, was, wo, wie, wann und mit wem man möchte; Dinge anders zu machen oder einfach ruhen zu lassen, wenn sie sich nicht als sinnvoll erweisen."

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Seitenzahl: 432

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Herausgeberinnen:

Karen Kern, Stefanie Mohsennia, Gabi Reichert, Heike Weimer

Wir sind so frei

Freilernerfamilien stellen sich vor

Vorwort

Die Autorität des Lehrers schadet oft denen, die lernen wollen.

Marcus Tullius Cicero

Man lernt nur von dem, den man liebt.

Johann Wolfgang von Goethe

Für mich gibt es wichtigeres im Leben als die Schule.

Mark Twain

Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln.

Erich Kästner

Warum gibt es dieses Buch und wie ist es entstanden?

Im Frühsommer 2013 saß ich auf meinem Campingstuhl auf einer Zeltwiese in Salem am Bodensee und ließ die letzten drei Tage Revue passieren: »Unschooling Camp« – Begegnung und Austausch mit 37 Freilerner-Familien aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und Ungarn. Ich war erfüllt von vielen spannenden, anregenden Gesprächen und gleichzeitig kam der Gedanke hoch: Wie schade für alle, die nicht dabei waren und vor Ort teilhaben konnten. Die vielen Anekdoten aus dem Freilerner-Leben und die Erkenntnisse über das selbstbestimmte Lernen – könnte man das irgendwie festhalten? Und damit auch für interessierte Menschen greifbar machen, denen es an Gelegenheiten fehlt, anderen Freilernern zu begegnen?

Ein Freilerner-Treffen zum Mitnehmen! Das war die Idee …

In den vergangenen Jahren habe ich Freilerner-Treffen in insgesamt elf verschiedenen Ländern besucht und Freilerner-Familien aus noch einigen weiteren Ländern kennengelernt. Immer wieder fasziniert es mich, persönliche Einblicke zu erhalten, wie junge Menschen lernen und wachsen, wenn sie ihrem eigenen inneren Plan folgen dürfen. Dieses Buch möchte dokumentieren, was passiert, wenn Familien den traditionellen Bildungsweg verlassen. Der amerikanische Pädagoge und »Vater« des Unschooling, John Holt, hat in einem Fernseh-Interview gesagt, dass Kinder außerhalb der Schule Entdeckungen machen können, die niemand erwartet hat.

Freilerner-Familien aus der Schweiz, aus Österreich, aus Deutschland sowie im Ausland lebende deutschsprachige Familien öffnen ihre Türen für uns und berichten, wie sie zum Freilernen gekommen sind, wie es sich in ihrer Familie praktisch gestaltet und was sie besonders schätzen an ihrem schulfreien Leben. Es ist eine bunte Vielfalt an Erfahrungsberichten zusammengekommen. Jede Familie erzählt mit ihrer eigenen Stimme, auf ihre eigene Art, ganz so als säße man bei einem Freilerner-Treffen gemütlich am Feuer beisammen.

Einen ganz herzlichen Dank an alle, die uns an ihrem Freilerner-Leben teilhaben lassen! Meine drei Mit-Hererausgeberinnen und ich wünschen allen Lesern viel Freude beim Kennenlernen der Familien …

Stefanie Mohsennia

»Ja, wie sieht denn das Lernen zu Hause aus, wenn man keinen Unterricht macht?« Diese Frage, oft gestellt, ist nur leider nicht einfach zu beantworten. Durch meine persönlichen internationalen Kontakte und meine Betreuungs- und Beratungsarbeit habe ich so viele verschiedene Einblicke in den Familienalltag bekommen, dass meine erste Antwort ist: »Es gibt nicht DEN Alltag.« Jeder junge Mensch ist einzigartig und lebt in seiner ganz eigenen Familienkonstellation. Daher sollte es eigentlich nachvollziehbar sein, dass jeder junge Mensch seinen ganz eigenen Bildungsweg geht und der Alltag in jeder Familie anders aussieht, auch wenn Ähnlichkeiten, von außen betrachtet, festgestellt werden können.

In meiner Zeit bei Clonlara habe ich immer mit großer Freude die Lernberichte gelesen. Es war jedes Mal bereichernd, auf diese Weise Einblick in den Lern- und Familienalltag zu bekommen, die Vielfalt und die Buntheit mitzubekommen und die Tiefe zu erfahren, in der junge Menschen oft ihre eigenen Themen angehen. Mit dem Lesen reifte die Idee, diese Vielfalt mehr Menschen zur Verfügung zu stellen.

Beim besagten Freilerner-Treffen am Bodensee brachten Steffi und ich unsere Ideen zusammen und dann fanden sich noch Heike und Gabi, was uns zu einem tollen Team werden ließ. Es hat großen Spaß gemacht und war oft eine kurzweilige, vergnügliche Zeit, gemeinsam die Lektoratsarbeit zu machen. Und wir haben selbst immens viel dabei gelernt und unsere eigene Freilerner-Karriere damit ebenso bereichert.

Mich freut an unserem Buch besonders, dass nicht nur die Motivation zur Entscheidung für diesen ungewöhnlichen Bildungsweg und der Alltag hier zu Wort kommen, sondern auch ein paar Familien beschreiben, wie sie mit den Auseinandersetzungen mit den Behörden umgehen.

Diese Auseinandersetzungen sind so angstbesetzt, dass die meisten Familien lieber eine Auswanderung in Kauf nehmen. Es ist schön zu sehen, dass es auch möglich ist, sich auf diese Auseinandersetzungen einzulassen, sie als Lernprozess ebenso anzunehmen, wie den ganz anderen Bildungsalltag mit den eigenen Töchtern und Söhnen.

Karen Kern

Das nachhaltigste und müheloseste Lernen konnte ich bei meinen eigenen Kindern beobachten. Es passierte einfach, sie waren sich dessen gar nicht bewusst. Sie paukten keine Vokabeln oder Grammatik! Sie saßen nicht mit Schulbüchern am Tisch. Sie reisten einfach mit uns durch Europa und plötzlich verstanden und sprachen sie Englisch. Lernen ist inneres Wachsen.

Es liegt in der Natur des Menschen zu lernen. Als Zündfunken braucht es nur Neugier und Interesse. Deswegen ist es unmöglich nicht zu lernen. Lernen ist die natürlichste Sache der Welt, wenn wir uns nicht einmischen!

Als unsere Kinder mit der Schule immer unzufriedener wurden, wusste ich aus eigener Erfahrung, dass mehrere Wege zum Ziel führen. Damals in der Schule konnte ich auch nicht zeigen, was ich kann. Ich hatte später über den zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt und einen exzellenten Abschluss hingelegt. Warum sollten wir also die Kinderjahre mit sinnlosem Büffeln verschwenden? Unsere Kinder sollten eine glückliche Kindheit voller unbändiger Neugier erleben können.

Vergleichen wir einmal die verschiedenen Bildungsmöglichkeiten mit einem Schuhladen: Wir haben unterschiedlich große, schmale oder breite Füße. Jeder kann sich die Schuhe heraussuchen, die bequem passen. Die Schuhe dürfen weder zu eng noch zu weit sein. In bequemen Schuhen laufen wir besser gelaunt weiter als mit nicht passenden Schuhen.

Mit dem Lernen verhält es sich ähnlich. Wäre der Schuhladen das Schulsystem, würde er nur wenige Schuhmodelle in den drei häufigsten Standardgrößen anbieten. Warum werden wir gezwungen, uns auf wenige Schuhgrößen/Schulformen zu beschränken, mit denen wir unter Umständen gar nicht zurechtkommen? Wie irrsinnig ist denn die Annahme, dass alle Menschen auf die gleiche Art und Weise lernen? Lernen ist ein individueller Prozess. Unser Schulsystem mit seinen limitierten Vorgaben und Regeln kann einfach nicht für jeden passen.

Doch neu zu denken scheint schwierig zu sein. Die allgemeine Meinung, dass Lernen nur in der Schule stattfinden kann, hält sich fest in der Gesellschaft. Als wir uns für ein nomadisches Leben entschieden, wehte uns in unserem Umfeld harscher Gegenwind ins Gesicht. Freunde kritisierten uns heftig. Nur die wenigen gleichgesinnten Eltern verstanden uns, doch die mussten wir in Deutschland erst einmal finden.

In Freilerner-Gruppen im Internet und durch die Fernschule Clonlara lernte ich andere Vordenker kennen. Es war wie ein Nachhausekommen. Zuerst war da natürlich Karen damals bei Clonlara, die die ganze Familie betreute. Mit Heike führte ich zahlreiche mutmachende Gespräche am Telefon. Stefanie entdeckte ich über ihr Buch und ihre Webseite. Und schließlich kamen wir alle mit der Idee zu diesem Buch zusammen. In stundenlangen Skypekonferenzen überlegten wir uns Fragen, planten das Projekt und lektorierten gemeinsam die Texte. Wir haben viel gelacht, hart gearbeitet, manchmal auch geflucht und vor allem unglaublich viel gelernt!

Liebe Familien da draußen, wir wollen euch Mut machen, euren individuellen Weg zu gehen. Und wenn ihr im Schuhladen steht und euch kein Schuh passt, dann lauft eben barfuß.

Gabi Reichert

Wenn wir auf Freilerner-Treffen sind oder anderswo das Thema »Selbstbestimmte Bildung« aufkommt, braucht es nicht lange, bis die Frage nach dem ultimativen Weg gestellt wird. Am liebsten noch mit einer Liste zum Abhaken und ohne Risiken.

»Dieser Masterplan existiert nicht«, müssen wir dann den enttäuschten Menschen antworten. Denn jeder Weg zum Freilernen ist so individuell, wie es die Menschen und Familien sind, die ihn gehen. Was sie eint, ist der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung zum natürlichen Lernen, welches jedem Menschen Platz und Raum gibt, er selbst zu sein und sich in seinem Tempo entwickeln zu können: Den Weg weiter oder wieder zu verfolgen, den sie zu Anfang ihres Lebens ganz selbstverständlich gehen durften. Manche haben das Glück, diesen Weg nie verlassen zu müssen, andere möchten und müssen ihn wiederfinden.

Unsere gesammelten Geschichten zeigen viele dieser Entwicklungen auf und berichten über Gefühle, aber auch über Inhalte verschiedener Lebenswege und Konzepte. Wir haben dabei darauf geachtet, den O-Ton unserer Autoren beizubehalten, um ihnen möglichst viel Raum für ihre Persönlichkeit und Individualität geben zu können und um unseren Lesern möglichst viel Kurzweiligkeit zu bieten. Viel Spaß beim Lesen!

Heike Weimer

Deutschland

Wir sind so frei – Endlich!

Familie W. mit Felicia und Linus

Hessen, Deutschland

Autorin: Frau W.

Wir sind eine vierköpfige Familie aus Hessen in Deutschland. Unsere Kinder sind zunächst in etwa die Hälfte ihrer vom Staat vorgesehenen Zeit in Schulen gegangen, lernen nun aber bereits im siebten beziehungsweise fünften Jahr außerhalb des Schulsystems und das inzwischen so frei, wie sie es sich wünschen.

Während ihrer Schulzeit wurden sie in verschiedenen Schulsystemen und Bundesländern beschult. Wir waren immer auf der Suche nach einem menschenwürdigen Umgang mit den Kindern und uns als Familie, nach Akzeptanz ihrer Lernwege und Förderung ihrer Begabungen und Lernwünsche.

Wir trafen auf diesem Weg tolle Menschen, die innerhalb des starren Systems versuchten, uns zu helfen und möglichst viel für Felicia und Linus zu tun, aber auch echte Sturköpfe, die ihren Wunsch nach Gleichförmigkeit und Nicht-Aufmucken der Schülerschaft auf Teufel komm raus durchsetzen wollten. Da letztere leider ab dem Wechsel in die weiterführenden Schulen in der Überzahl waren und den ersteren zu oft die Hände gebunden waren, oder sie selbst aufgaben und flohen, wurden unsere Kinder und auch wir Eltern immer verzweifelter und kraftloser. Schließlich konnten erst Felicia und dann auch Linus die Schule nicht mehr ohne ernsthafte Erkrankung besuchen, ein weiterer Schulbesuch stand nicht mehr zur Debatte.

Um diese Odyssee bildhafter darstellen zu können, möchte ich einige Beispiele der zahlreichen erschütternden Begebenheiten erzählen: Bevor Linus und Felicia die erste öffentliche Bildungseinrichtung besuchten, waren sie fröhliche, wissbegierige Kinder und wir Eltern glücklich, ihre tolle Entwicklung sehen und daran teilhaben zu können. Wir bremsten sie nie, sondern beantworteten ihnen alle Fragen, die sie hatten, und machten ihnen alles zugänglich, für das sie sich interessierten und das sie erforschen wollten.

Unser Einstieg ins System

So kam es, dass Linus bereits im Kindergartenalter sehr gute Rechenkenntnisse hatte, im Eintrittsalter für die Grundschule konnte er sicher im Zahlenraum von über einer Million alle Rechenoperationen im Kopf ausführen. Während seiner Kindergartenzeit lernte er an einem Nachmittag mit Hilfe einer ausgeliehenen Fibel alle Buchstaben und brachte sich dann das Lesen mit Gedichten von Goethe und sehr großen ausgeschriebenen Zahlen bei, wie zum Beispiel »Einhundertmillionenzweihundertvierunddreißigtausendvierhunderteinundachtzig«.

Auch Schreiben gelang ihm dann sehr rasch, erst lautiert, je mehr er las auch zunehmend orthografisch korrekt.

Schon im Kindergarten brachten diese Fähigkeiten nur Ärger statt Begeisterung. Unser Vorschlag in einem Elterngespräch, ihn doch den Jüngeren vorlesen zu lassen, um ihn besser in die Gruppe zu integrieren, wurde erbost abgeschmettert mit den Worten: »Nein! Nachher wollen dann die anderen Eltern, dass wir ihren Kindern Lesen beibringen, wenn die das mitbekommen! Er soll bloß nicht sagen, dass er das kann!« Er solle lieber spielen und üben, endlich mit der Schere korrekt auszuschneiden. Ahja …

Nach drei für ihn gefühlt ewig langen Jahren in der Bauecke mit jetzt nur noch deutlich jüngeren Kindern in der Gruppe war das Höchstmaß an Unterforderung erreicht, die Tage, an denen er sich auf der Türschwelle übergeben musste, mehrten sich und schließlich meldete er sich selbst schriftlich vom Kindergarten ab und erforschte zukünftig wieder die Welt außerhalb der Institution. Das war noch relativ einfach, da es ja keine Kindergartenpflicht gibt.

Die Grundschulzeit

Nun nahte der Pflichttermin der Schuleingangsuntersuchung. Linus ging dort mit Felicia und einem Freund hin. Sie wurden zehn Minuten zusammen zu einer Lehrerin in einen Raum geschickt, wo Puzzles zu lösen waren. Dann kam das Beurteilungsgespräch. Die Lehrerin lehnte es rundweg ab Linus einzuschulen, da er nicht mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte ihn nichts gefragt und er hatte gepuzzelt. Was hatte sie erwartet? Auf meinen Einwand hin, dass er aber doch schon recht gut rechnen, lesen und schreiben könne, erwiderte sie schlicht und ergreifend in einem Brustton der Überzeugung: »Dann muss er damit eben wieder aufhören!«

Wie bitte? Wie hört man denn mit dem Lesen auf? Es steht doch überall etwas! Auch das Rechnen passiert doch automatisch, wenn man es kann! Sollte ich jetzt zu Hause die Bücher wegpacken und ihm draußen die Augen verbinden? Ihn nie wieder mit zum Einkaufen nehmen? Nicht mehr an der Kasse bezahlen lassen, wenn er das wollen würde? Ich war ehrlich fassungslos! Hatte ich doch eher damit gerechnet, dass sie sich über ein so neugieriges und begeistert alles Wissen aufsaugendes Kind in ihrem Beruf freut! Hmpf!

Und das war leider nicht die einzige bizarre Begegnung in den kommenden Schuljahren. Sowohl Linus als auch Felicia übersprangen in der Grundschulzeit jeweils mehrere Klassenstufen und waren so beim Wechsel in die weiterführende Schule knapp neun beziehungsweise gerade acht Jahre alt. Wie wir insgesamt während ihrer Schulzeit feststellen mussten, ist das Überspringen von Klassen nahezu das einzige Mittel, welches im Schulsystem im Umgang mit flotten Schülern angewendet wird, teils in der verzweifelten Hoffnung ihnen zu helfen, teils einfach um das »Problem« an einen Kollegen loszuwerden.

Odyssee durch die weiterführenden Schulen

Was in der Grundschulzeit noch nicht so auffiel, war in den höheren Klassen immer ersichtlicher. Die Klassenkameraden waren in ihrer körperlichen Entwicklung deutlich weiter, interessierten sich zum Teil für ganz andere Dinge, als unsere beiden.

Statt sich nun aber Gedanken zu machen, wie die Integration dieser Jüngeren gelingen könne, bekamen sie unerfüllbare Forderungen gestellt. Originalzitat einer Lehrerin an der Versuchsschule, auf die sie zu dieser Zeit gingen: »Sie wollten, dass ihr Sohn zwei Jahre weiter unterrichtet wird, jetzt hat er auch so zu sein wie alle anderen!« Auf meinen vorsichtigen Einwand hin, dass das ja wohl von ihm nicht zu verantwortende mangelnde Lebenserfahrung wäre, die sie da einfordere, erwiderte sie: »Dann muss er da eben mal einen Kurs machen! An der VHS oder so!«

Äh, in Lebenserfahrung? Ehrlich, da kommt man sich doch mächtig ver… vor! Sie verlangte das aber rigoros und als wir ihr keinen erfolgreichen Kursabschluss bringen konnten – wie auch? – schaltete sie die Förderstelle ein! Dieselbe Schule war zuvor in Deutschland Pisa-Siegerin geworden und bekam noch in dem Jahr, in dem unsere Kinder sie besuchten, den Deutschen Schulpreis …

So ging es immer weiter. Teilweise menschliche Überforderung und zunehmend intellektuelle Unterforderung wuchsen bei beiden Kindern stetig, bei Felicia kamen auch noch körperliche Belange dazu wie eine besondere Hörwahrnehmung. Daraus und aus dem massiv zunehmenden Druck auf sie resultierte nun wieder eine sogenannte Rechtschreibschwäche, die sich insbesondere in den sprachlichen Fächern zeigte.

Im hessischen Schulgesetz gibt es zur Unterstützung solcher Kinder einen Erlass, der in dem betroffenen Gymnasium aber leider kaum jemanden interessierte. Im Gegenteil mussten wir uns von der Englischlehrerin anhören, dass es in dieser Sprache keine Legasthenie gäbe. Ob die Menschen in Großbritannien, den USA und anderen englischsprachigen Ländern das wohl auch so sehen? Hmmm …

Mobbing durch Lehrer und Mitschüler

Zudem hatte Felicia im Fach Deutsch einen, ich will mal sagen, nicht sehr sozial kompetenten Lehrer und ein Mädchen in der Klasse, welches diese durch ein skrupelloses, aber für sie sehr erfolgreiches Mobbing im Griff hatte.

In Tateinheit machten die beiden Felicia fertig und gaben sie der Lächerlichkeit preis, wo sie nur konnten. Sprüche des Lehrers vor der ganzen Klasse wie beispielsweise: »Bei der Menge Fehler müsste ich Felicia ja mindestens eine 12 geben, sonst wäre das ja den Sechserkandidaten gegenüber unfair!« oder »Du sollst doch angeblich so schlau sein! Wieso machst du dann Fehler wie im zweiten Schuljahr?!« waren an der Tagesordnung.

Konnte sie vor lauter Angst vor ihm nicht zum Unterricht kommen, erklärte er der Klasse, wer Schulangst habe, sei eben dumm und ließ besagtes Mädchen anrufen, um weitere Gemeinheiten ausrichten zu lassen. Selbst als sie den zweitbesten Aufsatz in der Klasse schrieb, konnte er sich nicht verkneifen statt eines Lobes nur beißende Kritik an der Orthografie darunter zu vermerken, neben Sechsen im Mündlichen.

Wer hätte es wohl so behandelt fertiggebracht in seinem Unterricht noch etwas zu äußern? Leider wollte auch der Schulleiter nichts gegen sein Verhalten unternehmen, der hatte uns schon beim Vorstellungstermin erklärt, er habe »Luschen« im Lehrerzimmer, mit denen wir einfach leben müssten. Ungünstigerweise war das aber die letzte Schulwahlmöglichkeit, die wir zu dem Zeitpunkt hatten und wir hatten nach dem Gespräch gehofft, dass er einen schlechten Witz machte. Es war wohl keiner!

Das System hat versagt

Wie schon am Anfang erwähnt, trafen wir nicht nur solche inkompetenten »Pädagogen«, sondern – besonders zu Grundschulzeiten, aber vereinzelt auch später – durchaus wirklich bemühte Menschen, die aber leider in der Summe nicht auffangen konnten, was die anderen zerstörten. Und so konnten erst Felicia mit fast elf Jahren und dann Linus mit 13 Jahren den Schulbesuch nicht mehr weiter aushalten und erkrankten so sehr, dass sie einfach nicht mehr in der Lage waren, den Unterricht zu besuchen und zu Hause bleiben mussten.

Das fanden weder die Schule noch die zuständigen Behörden akzeptabel. Es folgte eine zähe Zeit der Verhandlungen, unterstützt von hilfreichen Medizinern, die uns die letzte Kraft und letztlich auch einiges Geld für die anwaltliche Begleitung kostete. Wir blieben immer gesprächs- und kompromissbereit, standen aber derweil unzählige Ängste durch, zuckten immer zusammen, wenn das Telefon klingelte, gingen zitternd, mit Herzklopfen bis zum Hals zum Briefkasten. Jeden Morgen der bange Blick aus dem Fenster, ob die grüne Minna vielleicht doch da steht, denn der letzte Schulleiter rief brüllend an, Felicia habe jetzt gefälligst sofort wieder zurückzukommen! Basta!

»Endlich frei« oder »Vom fremdbestimmten zurück zum selbstbestimmten Lernen«

Und dann plötzlich war es soweit. Es gab eine »Lösung«! Natürlich kein offizieller Bescheid. Nein, eine Abmachung. Intern. Ohne die Möglichkeit, ein Präzedenzfall zu werden: Felicia bleibt an der Schule angemeldet, eine Lehrerin von dort begleitet ihr Lernen, bis es ihr wieder so gut geht, dass sie zurückkehren kann …

Aha?! Aber war dem Frieden zu trauen? Und wie jetzt den Alltag gestalten? Plötzlich lag nicht mehr nur die Verantwortung für Felicias psychisches und physisches Wohlergehen bei uns, sondern auch die alleinige Verantwortung für ihre Bildung und sie war erst zehn Jahre alt!

Ich weiß noch, meine ersten Gedanken waren: »Ich hatte nur ein halbes Jahr Physik in der Schule und weiß nichts mehr davon. Und auweia, in Chemie war ich auch eine Flasche! Kann ich ihr Bruchrechnen erklären …?«

Zu unserem großen Glück war mir während des Kampfs mit den Behörden ein Buch in die Hände gefallen, das nicht nur vom Lernen ohne Schule, sondern auch von der amerikanischen »Clonlara School« berichtete. Und noch mehr Glück hatten wir, dort im deutschen Programm Karen Kern als unsere Lernbegleiterin zu bekommen. Sie machte uns so viel Mut, immer und immer wieder! Also gingen wir es gemeinsam an. Ich las die hessischen Lehrpläne und versuchte, diese in Arbeitspläne umzusetzen.

Da uns die Idee des fächerübergreifenden Lernens in der Versuchsschule, die Felicia und Linus besucht hatten, gut gefallen hatte, versuchte ich dieses Konzept in meine Planung aufzunehmen. Karen machte uns Mut, Felicias Interessen und Wünsche in den Vordergrund zu stellen und zu versuchen, die Inhalte der Lehrpläne in die Projekte zu integrieren. So entstanden zunächst auf Felicias Wunsch hin ein großes Projekt zum Nationalsozialismus, ein englisch-deutsches über die Beatles, eins zu Wahlen und Frauenrechten und Werbung im Wandel der Jahrzehnte und wir hatten ein Langzeitprojekt im Garten mit selbstgesäten Blumen und Gemüse. Der Birnenbaum wurde mit einem Fototagebuch von der Blüte bis zur Ernte der Früchte begleitet.

Und Felicia wurde wieder zuversichtlicher, sie konnte sogar wieder lachen.

Als die uns zugewiesene Lehrerin das erste Mal zum Kennenlernen und zur Überprüfung der Arbeiten zu uns kam, waren wir jedoch arg nervös. Fanden wir doch unser Arbeiten so fremd, verglichen mit dem, was lange Zeit als Schulunterricht für uns normal gewesen war. Wie würde sie darauf reagieren?

Es stellte sich zum Glück heraus, dass sie eine junge und aufgeschlossene Referendarin des Gymnasiums war. Wir hatten geradezu Berge an Dokumentationen und Projektmappen für sie bereit gelegt, durch die sie sich tapfer kämpfte, aber als Felicia ganz zum Schluss noch mit einem dicken Ordner gesammelter Zeitungsartikel kam, war es ihr dann doch zu viel. Sie war fast ein bisschen traurig, dass wir ihrer Meinung nach alles bestens im Griff hätten, denn sie hatte sich auf die Herausforderung gefreut.

Sie kam danach nur noch einmal zu uns.

In den weiteren Jahren hatten wir nur Kontakt per E-Mail, denn wir schickten ihr jede Woche einen ausführlichen Bericht.

Schließlich konnte Linus dann sogar offiziell mit 13 Jahren die Schule verlassen und sich nun intensiv seinem Fernstudium und seinen Interessen widmen, ebenfalls unterstützt von Clonlara.

Und je mehr Zeit verging und wir uns von den alten Glaubenssätzen und Ängsten trennen und zu unserer Mitte zurückfinden konnten, umso freier wurde auch das Lernen und Leben. Wir alle in der Familie und auch unsere Beziehungen untereinander wurden wieder gesund. Wir haben alle das Leuchten in unseren Augen zurück und die Begeisterung für das Erkennen der Zusammenhänge in der Welt in und auf der wir leben und darüber hinaus. Wir sind wieder wissbegierige Forscher geworden, für die Lernen eins der schönsten Dinge ist, das uns bis zum letzten Atemzug begleiten wird.

Wie sieht das Lernen und Leben nun heute bei uns aus?

Folgende kleine Geschichte, die sich hier vor einigen Tagen zutrug, beschreibt das recht schön:

Eine Freundin von Felicia, die hier die Oberstufe besucht, hatte neulich keine Kapazitäten mehr frei, um an einem bestimmten Tag auch noch für den nächsten Tag verlangte Hausaufgaben für Englisch machen zu können. Um ihr aus der misslichen Lage zu helfen, bot Felicia ihr an, die Hausaufgaben für sie zu übernehmen. Schon nach kurzer Zeit rief sie mich genervt zu sich.

Die Aufgabe bestand darin, einen Text zu lesen und dann Fragen dazu zu beantworten. Eigentlich ging es um ein interessantes Thema: Er berichtete über illegale mexikanische Einwanderer in die USA, wie sie dorthin fliehen und wie ihr Leben dort dann im Vergleich zu ihren Träumen wirklich aussieht. So weit so gut. Der Text war schnell gelesen und verstanden.

Als Freilerner wären wir nun so damit umgegangen:

Zunächst hätten wir den Text entdeckt, weil er einem von uns irgendwo in die Finger gefallen wäre bei Recherchen zu anderen Themen im Netz, in der Tageszeitung, in Gesprächen mit anderen oder wo auch immer. Als nächstes hätten diejenigen, die das Thema gereizt hätte, ihn gelesen und sich dann über den Inhalt ausgetauscht. So wären bestimmt Fragen aufgekommen. Die hätten dazu geführt, weitergehende Forschungen anzustellen. Jeder hätte zu dem Teilbereich, der ihn besonders interessierte, geforscht, zum Beispiel in Büchern, im Internet, indem er einen Experten dazu kontaktiert hätte oder oder oder …

Dann hätten wir die Ergebnisse zusammengetragen und unsere offenen Fragen wären geklärt worden. Vielleicht wären neue daraus entstanden, vielleicht auch nicht. Aber durch das intensive Beschäftigen mit dem Thema wäre es uns im Kopf geblieben und wir hätten noch Wochen und Monate später die Inhalte gekannt und uns wären andere Teilaspekte dazu aufgefallen, sei es in Berichten im Radio zur aktuellen Einwanderungspolitik, in Zeitungsartikeln oder Gesprächen mit Freunden und Bekannten.

Die Schulaufgabe verlangte folgendes:

Reines Zusammenfassen des Textes und ein kleines bisschen Transfer, um das Textverständnis zu überprüfen. Es gab vier Fragen zu beantworten, die größtenteils sogar dieselbe Antwort verlangten. Nun, Felicia hatte die vier Fragen gleich in der ersten beantwortet und dazu noch ungefragt ihre eigene Meinung kundgetan und stand nun da und wusste nicht, wie sie mit dem Rest umgehen sollte.

Ich konnte sie gut verstehen. Es war bereits alles gesagt und spätestens bei der zweiten Frage setzten mehrere Dinge ein: Zunächst der Gedanke »Häh? Das habe ich doch eben schon beantwortet, halten die mich für blöd?« und gleichzeitig ein Gefühl des Herabsinkens eines schweren Vorhangs im Kopf, der das Interesse für das Thema zu ersticken drohte.

Der Freundin zuliebe, die ja alle Antworten abgeben musste, machte sie sich dann doch noch daran, die letzten Fragen zu beantworten und zu ertragen, dass sie immer wieder dasselbe nur mit etwas anderen Worten schrieb. Dabei kam sie sich immer mehr so vor, als ob der Fragesteller sich über sie lustig machen würde. Dieses ständige Wiederkäuen, statt weiterdenken zu dürfen. So eine Kraft- und Zeitverschwendung!

Als wir uns darüber austauschten, erinnerten wir uns an unzählige Nachmittage, Abende, Wochenenden und Ferien, in denen solche Fleißaufgaben für die Schulen erledigt werden mussten.

Zeiten, in denen alle extrem genervt waren und die Kinder sich teilweise geweigert hatten, die Aufgaben zu erledigen, weil sie sie als so erniedrigend empfanden und sie mir vor die Füße warfen.

Und Zeiten, in denen das Vertrauen unter uns schwand, denn als Mutter wurde von mir verlangt, dass ich nachmittags den verlängerten Arm des Schulsystems gab und die Kinder, gegen mein Bauchgefühl und meine Stimme im Herzen und Kopf, dazu zwingen sollte, das zu tun, was ihnen aufgetragen wurde und auch noch in einer bestimmten Art und Weise, denn ansonsten drohten Strafen. Das war ein ständiges »Zwischen-den-Stühlen-sitzen«, ätzend und auch unglaublich kräftezehrend und verletzend. Herrlich, dass wir das los sind!

Felicias Freundin hatte die Aufgaben dann abgegeben und als Antwort darauf bekommen: »Na, das hast du ja bestimmt nicht selber gemacht, das ist ja ein richtig gehobenes Englisch, was da verwendet wurde.« Köstlich! Was haben wir gelacht. Wir stellten uns vor, wie wir der Lehrerin erzählen, wie unsere Kinder sich die englische Sprache angeeignet haben. Vermutlich würde sie uns kaum glauben können und wollen. Sie lernten keine Vokabeln auswendig. Sie beantworteten nicht immer wieder dieselben Fragen zu Texten und sie büffelten auch nicht endlos Grammatikregeln.

Fremdspracherwerb

Beide lesen viel in der englischen Sprache, seien es Romane oder Sachbücher oder Texte im Internet. Ein Jahr lang hatten sie mal einen Online-Zugang zur New York Times und zur London Times. Da konnten sie die aktuellen Weltgeschehnisse auch aus deren Sicht im Vergleich zur deutschen sehen und hatten auch die Möglichkeit, sich von Muttersprachlern Texte vorlesen zu lassen.

Als Felicia anfing, Bücher im englischen Original zu lesen, legte sie die deutsche Ausgabe daneben. Sie fing mit Büchern an, die sie mehrfach gelesen hatte, wie zum Beispiel Harry Potter. So hatte sie immer die Möglichkeit nachzuschauen, wenn sie irgendwo nicht sicher war bei einem Ausdruck oder Schwierigkeiten hatte, den Kontext zu verstehen.

Erstaunlich schnell konnte sie sich dann an völlig neue Texte und Bücher wagen und heute fasst sie kaum noch deutsche Übersetzungen an, weil ihr so oft der Wortwitz und die Botschaften der Autoren zwischen den Zeilen fehlen.

Wissenschaftliche und geschichtliche Inhalte konnten durch die Reihe der Horrible-Science- und Horrible-History-Bücher, die Linus schon als deutsche Wahnsinnswissen-Reihe verschlungen hatte, mit dem englischen Spracherwerb kombiniert werden.

Wir sehen uns schon seit Jahren auch alle Filme möglichst im englischen Original an, zunächst mit Untertiteln in Deutsch, dann in Englisch und heute sind die englischen Untertitel nur noch für mich eingeblendet, Felicia und Linus brauchen sie schon lange nicht mehr, sie verstehen inzwischen auch fast jeden Slang der Schauspieler. Vermutlich weil sie zusätzlich auch viel Zeit mit englischsprachigen Hörbüchern verbracht haben, die von den Autoren oft selbst vorgelesen werden, wie zum Beispiel von Bill Bryson.

Linus sieht zudem noch viele sogenannte Walkthroughs oder Livestreams zu Computerspielen an, die von den Spielern verbal kommentiert werden. Außerdem hat er auf der Videoplattform YouTube einige wissenschaftliche Kanäle abonniert, wie zum Beispiel »Numberphile«, »Computerphile«, »Periodic Videos« und »Sixty Symbols«, wo er regelmäßig neue Videos ansieht und sich mit anderen darüber austauscht.

Auf seinem Weg in den Beruf des Informatikers hat er viele Bücher, zum Beispiel zu den verschiedenen Programmiersprachen oder -techniken, im englischen Original gelesen, weil es oft keine korrekten Übersetzungen gibt und Programmieren ohnehin auf Englisch stattfindet.

Wenn ich daran denke, wie Sprachen dagegen in der Schule oder an der VHS erlernt werden sollen, gruselt es mich inzwischen. Im Französischen war bei Felicia das Wort für den Lehrmittelraum eine der ersten Vokabeln, nebst Lineal, Tafel und Ähnlichem. Eine Freundin von uns lernte in ihrem Chinesischkurs als erste Vokabel den Begriff für die Klospülungskastenabdeckung! Na, das sind doch mal prima Konversationseröffnungen, wenn man Menschen kennenlernt, die diese Sprachen sprechen. »Da haben Sie aber eine wirklich reizende Klospülungskastenabdeckung!« oder »Liebe Lucille, ich heiße Felicia, komme aus Deutschland und suche eine französische Brieffreundin. Ich frage mich, welche Farbe dein Lineal hat und wie oft du in den Raum gehst, wo du deine Materialien ausleihen kannst …« Ach nee, das erste würde wohl eher befremdlich rüber kommen und für das zweite langen die Vokabeln erst nach dem ersten Lernjahr und die Grammatik noch später, seufz! Das ist doch keine Hilfe im echten Leben!

Als Felicia als zweite Fremdsprache Niederländisch wählte, fuhren wir mehrere Male für ein paar Wochen in das Land, um dort im direkten Kontakt mit den Menschen die Sprache zu lernen. Wir lasen dort auch die Tageszeitung und hörten Radio, beides war dann zu Hause, dank des Internets, auch noch verfügbar.

Selbstbestimmt in den Beruf

Da Felicia schon immer gerne Kinderbuchautorin und -illustratorin werden wollte, schafften wir auch niederländische Bilderbücher an und besuchten Ausstellungen dazu. So wurde die sprachliche wiederum mit der künstlerischen Ausbildung verknüpft, denn mit ihren künstlerischen Mentoren probierte sie dann die Techniken der Illustratoren aus, um ihren eigenen Stil finden zu können. Auch das ist eine Freiheit, die so leider nie in den Schulen stattfinden konnte oder wollte. Dort wurde ja immer vorgeschrieben, was auf den Bildern zu sein hatte und wie sie aussehen sollten.

Einmal hat ihr ein Kunstlehrer sogar den Pinsel weggenommen und in ihrem Bild damit herumgemalt, ihm passten die Farben nicht, die sie verwendete.

Das ist künstlerische Vergewaltigung und sicherlich nicht dazu geeignet, an die eigenen Fähigkeiten zu glauben und diese weiter zu entwickeln. Glücklicherweise hat sie damals dagegen rebelliert, indem sie »zufällig« ein Getränk über das versaute Bild schüttete und so ein neues anfangen »musste«. So blieb ihr wenigstens in dem Fach der Glaube an sich selbst und ihr Talent.

In ihrem wöchentlichen Maltreffen und den vielen Stunden mit einer befreundeten Künstlerin kann Felicia alles machen, was sie möchte. Sie hat inzwischen so viele Techniken und Materialien gesehen und ausprobiert, wie es im Schulalltag unmöglich gewesen wäre.

So kommt es, dass Felicia heute schon in ihrem Wunschberuf arbeitet. Sie hat bereits die Illustrationen für eine Webseite mit Hilfe ihres Grafiktabletts und der Software »Photoshop« kreiert und arbeitet an ihrem Zeichentisch, den ihr ein befreundeter Kunstlehrer vermacht hat, an ihrem ersten Bilderbuch, einer Weihnachtsgeschichte über eine kleine Maus und ihre Freunde. Es wird im Winter in unserem eigens dafür gegründeten Selbstverlag erscheinen.

Das Eigenkapital für den Druck will Felicia über eine Fundraisingkampagne zusammenbekommen und plant dafür schon die entsprechenden Geschenke.

Daneben hat sie auch eine eigene Kollektion von Shirts und Pullis mit einem positiven Logo zum Thema Lernen entwickelt, über deren Verkauf sie ebenfalls ihre weitere Ausbildung finanzieren möchte. Dabei hat sie sich unmittelbar in der Anwendung eine Menge kaufmännisches Wissen angeeignet.

Genauso arbeitet Felicia im familieneigenen kunsthandwerklichen Betrieb mit, sei es als Beraterin in Designfragen oder bei der Herstellung der Produkte oder deren Vertrieb auf Märkten und verschiedenen Plattformen im Internet. Ich möchte wetten, dass die wenigsten 16-Jährigen in Deutschland schon so weit sind in der Berufsfindung und Umsetzung.

Vom Unsinn etwas »Anständiges« zu lernen

Trotzdem kommen auch jetzt noch immer wieder zweifelnde Aussagen und Fragen von Bekannten und Freunden: »Ja studiert sie denn gar nicht? Macht sie dann wenigstens eine Lehre? Das kann sie sich doch nicht alles selbst aneignen! Die Kunst ist doch brotlos, lass sie erst mal was Anständiges lernen!«

Nein, sie studiert erst mal nicht, obwohl sie ihr bei Clonlara erworbenes Highschool-Diplom zusammen mit einem College-Prep-Test, wie zum Beispiel dem SAT, in einer Einzelfallentscheidung anerkennen lassen könnte und so im Studiengang »Mediendesign« oder »Grafik & Design« aufgenommen würde.

Sie hat von zu vielen fertigen Grafikern und Künstlern die Warnung bekommen, dass auch dort versucht würde, die Ausbildung ihres ureigensten künstlerischen Ausdrucks zu unterbinden und sie in eine von der Fachhochschule oder Uni präferierte Richtung gedrängt würde. Dieser Gefahr will sie sich nicht aussetzen.

Zudem verkommen wohl auch die künstlerischen Studiengänge immer mehr zum Bulimiestudium, in dem nur noch viel zu viele theoretische Inhalte für die Wiedergabe ins Kurzzeitgedächtnis geprügelt werden, um sie in den viel zu zahlreichen Prüfungen wieder auszuspeien und dann nachher nichts mehr davon zu wissen, geschweige denn, verschiedenes Wissen aufbauend zu vernetzen, um das große Ganze zu verstehen.

Linus hatte letztlich auch einen seiner Freunde hier, um ihm bei der Prüfungsvorbereitung für Hochschulprüfungen zu helfen. Dieser musste sieben Prüfungen in elf Tagen ablegen, die zumeist sehr komplexen Stoff abfragten und manchmal nicht mal von Vorlesungen gestützt wurden, diese fielen nämlich fast zur Hälfte einfach aus, weil der Dozent auch noch andere Aufgaben am Institut übernommen hatte.

Der arme Freund war ganz verzweifelt und enorm unter Druck. Auf unsere Fragen nach Details im Stoff, die uns interessierten, konnte er uns keine Antworten geben, er war nur noch mit Auswendiglernen dessen beschäftigt, was ihm die Professoren an die Hand gaben, für Verständnis und Vertiefung war da kein Platz und keine Kraft mehr. Geschweige denn zum Forschen.

Mein Mann, der ja nun lange Jahre Berufserfahrung als Informatiker hat, berichtet auch immer wieder von traurigen Begegnungen mit Studentenpraktikanten, die auch nach Jahren noch nicht die Grundzüge des Berufes wie das Programmieren erlernt haben und nicht imstande sind, auch nur kleine Projekte zu planen, geschweige denn umzusetzen.

Da lobe ich mir Linus’ Studium an der Fernuniversität in Hagen. Er ist dort zwar nicht völlig frei in seinen Entscheidungen, was die Fächerinhalte angeht, aber zumindest schon viel freier als er es an den Präsenzuniversitäten wäre. Und er kann in seinem Tempo lernen, sich die Zeit nehmen, die er braucht, um das Wissen auch sacken zu lassen, es mit zuvor Gelerntem zu verknüpfen und in seinem Job anzuwenden. Denn die Studienform lässt ihm den Raum, gleichzeitig schon in seinem Beruf zu arbeiten. Seit er vom Gesetz her alt genug dazu war, jobbt er als Programmierer.

Und er kann nebenher noch forschen. Derzeit nimmt er an Online-Veranstaltungen eines Stanford-Professors zu »Künstlicher Intelligenz« auf der Plattform coursera.org teil. Diese Inhalte kommen im Bachelorstudiengang der Fernuni noch nicht vor, interessieren ihn aber sehr, es wird wohl sein zukünftiges Spezialgebiet.

Und nein, Felicia macht auch keine Lehre, warum sollte sie? Sie hat ja jede Unterstützung von ihren Künstlermentoren, die ihr schon versprochen haben, sie auch mit anderen befreundeten Künstlern und somit immer wieder neuen künstlerischen Ausdrucksformen in Kontakt zu bringen.

Wenn sie darüber hinaus noch weitere Arbeitsfelder interessieren, kann sie Praktika in den entsprechenden Firmen machen. Eine Lehre würde ihr nur wieder vorschreiben, wann sie welche Inhalte zu lernen und umzusetzen hat, und sie müsste zusätzlich noch die Berufsschule besuchen, denn dann unterläge sie ja wieder der Schulpflicht.

Nein, die Freiheit, die sie jetzt hat, wird Felicia nicht wieder aufgeben.

Das System der Angst

»Lass sie erst mal was Anständiges lernen!« – Was heißt das überhaupt? Was ist denn unanständig daran, dass Felicia ihre Berufung zum Beruf machen möchte? Wir stellen immer wieder fest, dass die meisten Menschen in den Industriestaaten, insbesondere hier in Deutschland, maximierten finanziellen Erfolg weit über das persönliche Glück stellen.

Und zudem gibt es eine weit verbreitete Überzeugung, dass Arbeit keinen Spaß machen darf. Arbeit muss hart sein, der Montag furchtbar, der Mittwoch Bergfest und der Freitag endlich kommen! Die einzige Zeit, die wirklich schön sein darf, ist der Urlaub und auch der will hart verdient sein und muss möglichst viel kosten, möglichst weit weg sein und möglichst viel Eindruck schinden, um zu zeigen, dass man wer ist und sich was leisten kann!

»So war es schon immer und so wird es bleiben«, ist reichlich oft die Überzeugung. Ich fürchte, dass auch deshalb die meisten Eltern ihre Kinder, teils sogar mit Hilfe einer täglichen Verabreichung von starken Psychopharmaka, dazu drängen, sich schon in der Kita und dann später in der Schule und weiteren Ausbildung an das System anzupassen, da sie sich ein anderes Arbeitsleben gar nicht vorstellen können, sind sie ja selbst diesen Weg so gegangen und kennen nur diesen.

Doch wo führt das hin? Uns fällt in Gesprächen mit anderen immer öfter auf, wie unglücklich die Menschen sind, dass sie mehr oder minder zufällig in ihren Berufen und Lebenssituationen gelandet sind und ihre Begabungen, wenn überhaupt, nur noch als (oft belächeltes) Hobby ausüben.

Das Gros der Menschen in diesem Land läuft mit einem langen Gesicht herum und ist eigentlich permanent am Meckern. Kein Wunder! Sind sie doch in ihren Bedürfnissen und ihren Begabungen von Anfang an nicht ernst genug genommen, sondern klein gemacht worden. Und wer unter Druck steht und sich minderwertig fühlt, keilt eben aus.

Dabei geht es uns gut! Wir haben genug zu essen, ein festes Dach über dem Kopf, fließendes sauberes Wasser aus dem Hahn, Heizungen für den Winter, Kleidung, ein Gesundheitssystem. Das ist weit mehr als die meisten Menschen auf der Welt besitzen.

Und wenn wir uns jetzt noch dahin entwickelten, dass jeder Mensch dorthin kommen würde, wo er von seinen Neigungen und Talenten her hingehört, könnte es kaum besser für jeden sein, selbst unter dem Aspekt ökonomischer Interessen der Gesellschaft, der für die politisch Verantwortlichen ja leider das Hauptkriterium darstellt.

Menschen, die gern in ihren Berufen arbeiten und dabei sie selbst sein können mit allen ihren angeborenen unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen, leisten mehr, und das ohne krank zu werden oder sich mit Hilfe von Medikamenten zur Arbeit zu schleppen. Wir hätten damit als Einzelne, aber auch als Gesellschaft eine Win-win-Situation. Mir will nicht in den Kopf, warum an diesem alten Zopf festgehalten wird.

Vermutlich ist es die Angst vor Veränderung. Zu viele Menschen neigen leider dazu, lieber an dem Verhassten und Beängstigenden festzuhalten, anstatt etwas zu wagen, weil sie da wenigstens wissen, woran sie sind, und sich so einigermaßen sicher fühlen. Irgendwie scheint unsere gesamte Gesellschaft auf diesen Ängsten und Glaubenssätzen zu basieren.

Schule zum Beispiel funktioniert fast nur so: Jeder hat Angst vor jedem, die Kinder spüren den Druck der Erwartungen der Eltern, haben Angst vor den Noten und den Lehrern und leider auch nicht selten vor den Mitschülern, die wiederum ihren Druck durch verbale und körperliche Gewalt an sie weitergeben.

Die Eltern haben Angst vor den Lehrern, dem Schulleiter und sorgen sich um die Noten und ob ihr Sprössling wohl eine akademische Ausbildung zustande bringt, denn ohne, so ist die weit verbreitete Überzeugung, landet man unter der Brücke.

Die Lehrer fürchten sich vor den Eltern und deren Anwälten, vor der Schulleitung und dem Schulamt und Ministerium und so weiter.

Diese Angst geht so weit, dass Kinder sogar regelmäßig krank in die Kita oder zur Schule geschickt werden. Mit viel Glück dürfen sie noch so lange sie Fieber haben zu Hause bleiben, aber so schnell wie möglich sind sie dann wieder leichenblass und immer noch geschwächt unterwegs. Und bei diesem Spiel machen zu viele Kinderärzte auch noch beherzt mit.

Wann genau ist eigentlich die Rekonvaleszenz aus unseren Köpfen und unserem Handeln verschwunden?

Bedürfnisorientiertes Aufwachsen und Lernen

Und so kommt es, dass das Wichtigste völlig aus dem Fokus gerät: Das Kind und seine Bedürfnisse! In seiner Individualität und seinem Recht darauf, der- oder diejenige zu sein, als die sie auf die Welt gekommen sind.

Der eine ist stiller und braucht vielleicht auch mehr Zeit für manches. Die andere ist forsch, immer schnell und will gleich alles und zwar sofort. Man kann sie nicht gleichschalten, nicht in eine Form pressen, wenn man möchte, dass sie sie selbst bleiben und sich möglichst positiv entwickeln können. Und was auch gerne vergessen wird: Kinder lernen gerne und ständig, sie kommen so zur Welt, begierig alles aufzusaugen. Das müssen sie auch! Rein von der Evolution her ist es das Beste, was sie machen können, um von kleinen Menschen zu großen zu werden und überleben zu können, wenn die Eltern nicht mehr für sie da sein können.

Und sie lernen so begeistert! Ihre Augen leuchten, der Mund und der Geist stehen nicht still, immer wieder tun sich neue Fragen auf, die nach Antworten verlangen, alles wird immer wieder ausprobiert und geübt, bis es zur eigenen Zufriedenheit klappt. So lernen sie zum Beispiel in jüngsten Jahren solche komplexen Dinge wie sprechen und laufen und so können sie auch alles andere für ihr Leben wichtige erlernen. Wir können und dürfen sie dabei am besten nur auf ihrem Weg begleiten und ihnen mit unserer Lebenserfahrung und Ressourcen zur Seite stehen.

Das alles ist beim selbstbestimmten Lernen/Freilernen möglich. Es ist bedürfnisorientiert, respektvoll gegenüber dem Individuum und zudem auch zukunftsorientiert. Auch das ist etwas, das wir auf unserem Weg gelernt haben: Schulstoffinhalte richten den Blick in den meisten Fällen zurück, selten in die Gegenwart, so gut wie nie in die Zukunft.

Gegenwarts- und zukunftsorientiertes Lernen – Sozialkompetenz

Dadurch, dass wir unsere Projekte an den Interessen von Linus und Felicia ausrichten konnten, kamen ganz andere Lerninhalte »auf den Tisch«, und das in sehr jungen Jahren.

Zum Beispiel beschäftigten wir uns, zusammen mit einer erwachsenen und ebenfalls sehr breitgefächert interessierten Freundin, mit der Gentechnik bei Pflanzen und Menschen und hatten lange vor Fukushima ein großes Projekt zur Energiegewinnung durchgeführt, das mit einer Empfehlung an die Bundesregierung endete und den Weg aus der gefährlichen Kernenergie bereits aufzeigte. Die Bestätigung für unsere Pläne bekamen wir dann in der Berichterstattung zur Atomkatastrophe in Japan.

Nach den Reaktorunfällen in Fukushima war es für uns selbstverständlich, durch die Planung und Durchführung von Mahnwachen, auch wieder politisch aktiv zu werden, so wie zuvor schon in anderen Bürgerinitiativen.

Zusammen mit Menschen verschiedenster Ausbildungs- und Altersstufen und Nationalitäten kämpften wir dort gegen den Bau einer Umgehungsstraße durch unser letztes Naherholungsgebiet und fuhren über einen erwirkten Bürgerentscheid einen fulminanten Sieg ein. Genauso engagierten wir uns für die Verbesserung der Lebensqualität der Menschen hier in der Nähe des Frankfurter Flughafens, der ja mitten im Ballungsgebiet liegt und immer noch mehr anwächst und mit dem weiter ansteigenden Lärm und den Emissionen Menschen, Tiere und die Umwelt immer stärker belastet. Unser stetiger und kreativer Protest hat sicher zu der gerichtlichen Entscheidung für ein Nachtflugverbot beigetragen.

Jeder in den Gruppen übernahm das, was er am besten konnte, und alle unterstützten sich gegenseitig für das gemeinsame Ziel. Das führte nicht nur zum inhaltlichen Erfolg, sondern auch zu neuen Denkansätzen, einem positiven Gruppenzugehörigkeitsgefühl und nachhaltigen Freundschaften.

Das sind doch wesentlich wichtigere Lern- und Lebenserfahrungen als der trockene Unterricht von Fakten in der Schule. Hier lasen und hörten Felicia und Linus nicht nur von Revolutionen, sondern konnten mit anderen Menschen zusammen erleben, dass sie ernst genommen werden in ihren Bedürfnissen und dass sie bei Dingen, die ihnen nicht gut tun, gemeinsam mit anderen Betroffenen Veränderungen herbeiführen können. Das ist in meinen Augen das wahre Lernen von sozialer Kompetenz, die man sich angeblich, laut der einschlägigen Gerichtsurteile, nur im Klassenzimmer aneignen kann.

Von diesen Erfolgen beflügelt gingen die beiden dann, zusammen mit ihrer inzwischen festen Lerngruppe aus Jugendlichen und Erwachsenen, weltumspannende Themen an. In einem breit angelegten Projekt beschäftigten sie sich mit der Ernährung der Weltbevölkerung unter verschiedensten Aspekten wie zum Beispiel:

Gesunde Ernährung – Was ist das? Haben alle Menschen dazu Zugang?Bioanbau vs. konventioneller Anbau – Wie kann man alle Menschen auf der Welt mit lokal angebauten Biolebensmitteln ausreichend versorgen?Lebens- und Ernährungsweisen wie Vegetarismus, Veganismus und so weiterEss-Störungen – Welche gibt es? Wie entstehen sie? Was kann man dagegen tun?Zusatzstoffe in der Nahrung und deren Grenzwerte – Wer legt wo die Grenzen fest und testet vorher?Veränderungen von der Agrarwirtschaft zur industriellen Lebensmittelproduktion – Wie verändern sich die Lebensmittel, wie die Bedingungen für die Tiere und Landwirte, wer verdient daran?Einsatz von Pestiziden und Gentechnik in der industriellen Landwirtschaft und deren Auswirkungen wie zum Beispiel das BienensterbenAnbau von Nahrung für Biotreibstoff und die Auswirkungen dessen auf die Flora und Fauna vor Ort, Trinkwasserabfüllung in Flaschen zum Verkauf – Ist Trinkwasser ein Menschenrecht?Globaler Handel mit Lebensmitteln – Ethische Betrachtungen vs. ProfitdenkenLebensmittelberge im Müll der Industriestaaten – Gesetze, die dazu führen, undVermeidung des Mülls durch Foodsharing und andere Ideen, Permakultur

Zu all diesen Themen entstanden Bildschirmpräsentationen, die Felicia und Linus anderen zeigten und erläuterten. Sie haben jetzt eine genaue Vorstellung davon, wie die Nahrungsmittelproduktion und der Handel damit weltweit funktionieren und haben dies unter gesellschaftspolitischen, wissenschaftlichen und ethischen Aspekten beleuchtet und das aus eigenem Antrieb in nur wenigen Wochen.

Sie haben sich Dokumentationen angesehen, Zusatzmaterial in Büchern, dem Internet und den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern dazu gesucht und gefunden und ihre Erkenntnisse und Erfahrungen mit vielen verschiedenen Menschen besprochen und ausgetauscht.

Wie viele Fächer wären dafür in der Schule nötig gewesen? Und pro Fach hätte es, wenn überhaupt, immer nur ein Häppchen gegeben, mal hier, mal dort, nicht miteinander vernetzt und schon gar nicht im eigenen Tempo und den selbstgewählten Materialien und mit Menschen verschiedenster Herkunft, Ausbildungs- und Altersstufen! Viele Themen davon stehen selbst in der Oberstufe nicht im Lehrplan, da haben wir aus Neugierde mal nachgesehen.

Dabei sind das doch die Dinge, die junge Menschen brauchen. Verstehen, was heute in der Welt vor sich geht, um dann die Gegenwart und die Zukunft für sich und andere mitgestalten zu können!

Unsere Wünsche an das Bildungssystem

Wir wünschen uns, dass die Schulpflicht in Deutschland aufgehoben und durch ein Recht auf Bildung ersetzt wird. Dieses Recht soll auch das Recht auf selbstbestimmtes Lernen enthalten.

Den Kindern und Familien soll es frei gestellt werden, wie, wann, wo und mit wem sie ihre Bildung gestalten möchten. Ob sie das alleine, in kleinen oder großen Gruppen tun möchten oder auch in einer Mischung derer.

Wir können uns auch Kooperationen zwischen Schulen und Freilernern beziehungsweise Freilerner-Gruppen, zum Beispiel für gemeinsame Projekte, wie Forschungsgruppen, Theater, Chor oder Ausflüge und Reisen oder die Nutzung von Ressourcen vorstellen.

Es könnte Zentren geben, wie zum Beispiel die Familienzentren, die eine Basis für die Freilerner-Familien bieten, für regelmäßige Treffen und Austausch, für Angebote mit kreativem und edukativem Inhalt, auf freiwilliger Basis versteht sich. Diese Zentren wären nach außen offen für jeden Menschen.

Es wäre so viel möglich, wenn sich diese Art des Lebens und Lernens nicht mehr verstecken müsste und nicht mehr kriminalisiert würde!

Lasst uns aus dem System der Angst ausbrechen und eines des Vertrauens aufbauen! Vertrauen in unsere Kinder, in ihre Fähigkeiten, Begabungen und ihre Begeisterung und in eine glückliche Zukunft.

April 2015

Unser Weg in die Freiheit

Familie Strube mit Alexa, Teo und Fritz

Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Autorin: Nikola Strube

Ja, klar wussten wir, dass Schule irgendwie nicht funktioniert. Klar versuchten wir das Beste draus zu machen. Und ja, ich dachte, Eltern wie wir kriegen das problemlos hin. Unsere Tochter Alexa war zunächst auf einer normalen Regelgrundschule. Nach einem Jahr wechselte sie zu einer staatlich anerkannten Ersatzschule – eine durch eine Familie frisch gegründete Schule mit ganz neuem Konzept. Wir hatten Lust darauf und sie hatte Lust darauf. Nun sollte es mit kleinen Klassen, ohne Tornister, ohne Hausaufgaben, mit viel Bewegung und Spaß am Lernen bilingual (unsere Tochter ist sehr an Sprachen interessiert) weitergehen. Wir Eltern hätten es uns immer noch anders vorgestellt, aber Alexa ging gerne in die neue Schule. Wir fanden unseren Weg, gaben ihr genügend Auszeiten, ersparten ihr den von den Lehrern empfohlenen »Förderunterricht« und nahmen ihr den Druck, wo wir nur konnten. Aber regelmäßige Bauch-, Rücken-, Kopf- und allerlei weitere wechselnde Schmerzen waren und sind Alltagsbegleiter.

Wir schlugen uns durch und dachten, so wird es mit den anderen Familienmitgliedern weitergehen. Die Voraussetzungen standen gut. Unser Sohn Teo kam mit vielen seiner Freunde aus dem Kindergarten zusammen in eine Klasse. Die Vorfreude war groß und da er die Schule, Lehrer und viele Kinder schon durch seine Schwester kannte, konnte eigentlich nichts schief gehen. Es war ein Heimspiel. Auch wir Eltern freuten uns total, denn wir hofften, dass endlich die Anspannung der letzten Monate abfallen würde, wenn er nun endlich ein Schuljunge ist. Wir haben das ganze Theater mitgemacht, die scheinheilige Schul-Vorfreude, in der Hoffnung, dass einen die gemeinsame Heuchelei vielleicht ein paar Jahre über die Realität hinwegträgt, dass Söhne und Töchter vielleicht nicht merken, was abgeht. Es tut mir leid, dass ich da mitgemacht habe. Das war nicht fair. Auch das, was danach kam, war eigentlich nicht fair. Er war so ehrlich, so klar, so authentisch. Aber wir haben weggeschaut. Denn wir wussten es nicht besser. Wir dachten, Kinder müssen zur Schule gehen.

Das Erste, was Teo betrübte, war die Enttäuschung, dass nur ein Kind »Star of the week« wurde. Und es war nicht unser Sohn. Auch in der Woche darauf nicht. Teo wurde nicht »Star of the week«, obwohl er sich so viel Mühe gab, in all dem Trubel der ersten Tage und Wochen. Hinzu kam so etwas wie eine »Benimm-Ampel«. Wenn der Tag beginnt, starten alle Kinder auf Grün. Bei Fehlverhalten landet man irgendwann auf Gelb, vielleicht sogar auf Rot. Die Kinder, die das Fehlverhalten an den Tag legen, haben sich scheinbar mit der Ampel abgefunden, ihnen bleibt nichts anderes übrig. Aber unser Sohn kommt nicht damit klar, ihn setzt es furchtbar unter Druck. Und so geht es weiter. Beim Sport bekommen nur diejenigen »Teampoints«, die sich am schnellsten umziehen. Die Kinder sitzen lange im Unterricht und müssen viele Arbeitsblätter ausfüllen. Es gefällt Teo nicht in der Schule. Die Anspannung fällt nicht ab, stattdessen beginnt ein allmorgendliches Überredungsritual, das zunehmend aufwändiger und aufreibender wird. Ein ganzes Jahr lang geben wir unser elterliches Bestes. Wir lassen Teo zu Hause »Star of the week« werden, reden mit der Lehrerin, lassen ihn oft zu Hause und hoffen, dass er einfach doch nur ein wenig mehr Zeit braucht. Es gibt auch Grund zur Freude, denn er hat viele Freunde, mit denen er nach dem Unterricht in der Betreuung spielen kann. Er möchte deswegen oft bis 17 Uhr in der Einrichtung sein, weil er noch mit seinen Freunden spielen will. Das ließ uns auch eine ganze Weile denken, dass es so schlimm dann nicht sein kann. Es war ein Missverständnis: Wir dachten, Teo will morgens nicht hin, aber wenn er erst einmal da ist, will er so lange wie möglich bleiben. Erst spät verstanden wir, dass er nicht so lange wie möglich in der Schule bleiben möchte, sondern in der Betreuung, weil dort die Mädchen und Jungen machen können, worauf sie Lust haben: spielen und Spaß haben. Ich hörte von Erwachsenen aus der Schule auch nur Gutes über ihn: Teo sei gut angekommen, komme mit Kindern und Erwachsenen klar und den schulischen Anforderungen werde er voll und ganz gerecht. Sein Unbehagen war uns lange ein Rätsel.

Es gab Zeiten, da freute ich mich regelrecht, wenn Teo lange in der Schule sein wollte, weil er zu Hause kaum noch zu ertragen war. Dass er sich zurückzog, war noch das angenehmste Verhalten seinerseits. Jedes Zusammensein mit ihm war hoch anstrengend, denn er war sehr launisch und explodierte bei jeder Gelegenheit. Ich mochte ihn oft nicht einmal ansprechen, meinen eigenen geliebten Sohn. Wenn er einen Freund zu Besuch hatte, lief alles super. Aber sobald er Raum hatte, sich fallen zu lassen, konnte er nicht mehr. Wir hatten so viel Geduld, immer wieder, immer wieder. Aber es reichte nie. Es tut mir so leid. Teo muss gedacht haben, wir verstehen ihn nicht. Dabei verstanden wir ihn doch. Wir haben natürlich versucht, ihm das zu vermitteln. Aber wie glaubwürdig waren wir, haben wir ihn doch jeden Tag wieder genötigt, den Schulbesuch anzutreten? Es war nie ein beruhigender Anblick, ihn mit seinem Ranzen die Treppe zur Schule hochgehen zu sehen. Ich spürte keine Unbeschwertheit. Aber sollten Menschen mit sieben Jahren nicht noch unbeschwert sein? Sollten nicht Menschen generell unbeschwert sein dürfen? Teo sagte uns immer und immer wieder, er möchte nicht zur Schule. Darauf konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingehen. Er sagte uns auch, er möchte auf eine andere Schule. Das konnten wir einrichten. Wir ließen ihn an einer Freien Schule hospitieren. Obwohl ich dachte, er hatte dort einen guten Tag, war für ihn schnell klar: Wenn Schule, dann die, wo er seine Freunde hat.

Wir sind eine fünfköpfige Familie. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Es war keine leichte Zeit. Als das erste Schuljahr vorbei war, starteten wir motiviert in die Sommerferien. Wir redeten uns wieder einmal ein, dass alles halb so schlimm ist: »Teo hat das erste Jahr überstanden, wir haben das erste Jahr überstanden. Jetzt verbringen wir entspannte Ferien und dann geht’s mit voller Kraft voraus weiter, als gestärkter Zweitklässler.«