Wir Verlorenen - Jana Taysen - E-Book

Wir Verlorenen E-Book

Jana Taysen

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Beschreibung

Dein Verstand weiß, dass du niemandem mehr trauen kannst – aber was tust du, wenn dein Herz etwas anderes verlangt? Die Welt, wie wir sie kannten, existiert seit einer verheerenden Katastrophe nicht mehr. Die junge Smilla weiß, dass es keinen Platz für Liebe und Glück geben kann. Bis sie ihren einstigen Nachbarn Falk wiedertrifft... Doch dann überschlagen sich die Ereignisse und Smilla befindet sich mitten in einer Spirale aus Verrat und Lügen. Wem kann sie noch trauen? Und welche zwielichtige Rolle spielt Falk bei alledem? Spannungsgeladen, philosophisch, leidenschaftlich – und aktueller denn je. Der erste Teil der "Wir Verlorenen-Trilogie"

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Kirschbuch Verlag

Zum Buch:

Smil­la führt mit ih­rer klei­nen Schwes­ter Je­ra ein tris­tes Le­ben in der Ei­fel. Die Welt, wie wir sie kann­ten, gibt es seit ei­ner ver­hee­ren­den Ka­ta­stro­phe nicht mehr. Wo vor­her Ge­set­ze und Ord­nung herrsch­ten, treibt nun der grau­sa­me Clan der Ver­lo­re­nen Jungssein Un­we­sen. Smil­la weiß, dass es in die­ser Welt kei­nen Platz für Lie­be und Glück mehr gibt. Bis sie ihren ein­sti­gen Nach­barn Falk wie­der­trifft …

 

Doch dann ge­rät Smil­la selbst in ei­ne Spi­ra­le aus Ver­rat und Lü­gen, die sie an al­lem zwei­feln lässt, wor­an sie noch glaub­te. Wem kann sie noch ver­trau­en, wenn es um das ei­ge­ne Über­le­ben geht? Und wel­che zwie­lich­ti­ge Rol­le spielt Falk bei all den Er­eig­nis­sen?

 

Ein span­nungs­ge­la­de­ner Ro­man voll Lei­den­schaft und Phi­lo­so­phie, der uns da­bei zu den wich­ti­gen Fra­gen des Le­bens führt.

Zur Au­to­rin:

Ja­na Tay­sen wur­de 1992 in Ha­gen ge­bo­ren und lebt mit Freund und Hund im aben­teu­er­li­chen Köln. Dort ar­bei­tet sie in ei­nem Markt­for­schungs­in­sti­tut. Zu­vor stu­dier­te sie Eng­lish Stu­dies und Me­di­en­wis­sen­schaf­ten im Ba­che­lor und Markt- und Me­di­en­for­schung im Mas­ter. Das Schrei­ben war schon von klein auf ein wich­ti­ger Teil von Ja­nas Le­ben und ei­ne ih­rer liebs­ten Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen. Sie liebt es, neue Wel­ten und Cha­rak­tere zu er­schaf­fen und selbst ganz und gar in die Ge­schich­ten ab­zu­tau­chen.

Jana Taysen

 

 

 

Wir Verlorenen

 

 

 

Roman

 

Kirschbuch Verlag
Im­pres­s­um Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbHNeß 1, 20457 Ham­burgSep­tem­ber 2020Co­py­right © 2022by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burgUm­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbHSatz: Qua­li­Fic­ti­on GmbHISBN 9783948736071

 

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1  Der Rei­sen­de

Smil­la lag im Laub un­ten am See und dach­te dar­über nach, war­um sie es schon wie­der ge­tan hat­te. Sie dach­te über­haupt oft nach, denn seit­dem die Welt un­ter­ge­gan­gen war, hat­te sie viel Zeit da­für.

Viel­leicht war das der Grund, war­um sie Ka­rens Re­geln ge­bro­chen hat­te – die gan­ze Zeit, die ihr zur Ver­fü­gung stand, und die Lan­ge­wei­le, die die­ser Über­fluss an Zeit mit sich brach­te. Mit Un­wis­sen konn­te sie ihr Ver­hal­ten nicht ent­schul­di­gen, schließ­lich wuss­te sie ge­nau, dass es ver­bo­ten war, in der Tal­sper­re zu schwim­men. Es war zu ge­fähr­lich, denn auf dem See konn­te man sie nur zu leicht ent­de­cken. Und sie durf­te nicht ent­deckt wer­den.

Smil­la stand auf und zog sich an. Sie hob das Ka­nin­chen auf, des­sen Blut sie sich mit dem ver­bo­te­nen Bad im See ab­ge­wa­schen hat­te, und band es kopf­über an den nächst­ge­le­ge­nen Ast. Es war ein­fa­cher, das Tier zu ver­ar­bei­ten, so­lan­ge der Kör­per noch warm war. War­te­te man zu lan­ge, wur­den die Glied­ma­ßen steif und das Blut zu dick. Am An­fang hat­te sie es nicht über sich ge­bracht, ih­re Beu­te ei­gen­hän­dig zu tö­ten. Als wä­re da ei­ne un­sicht­ba­re Schwel­le in ihrem In­nern, die sie nicht hat­te über­schrei­ten kön­nen. Doch dann war die­se Schwel­le lang­sam ver­schwun­den, denn sie war hin­der­lich ge­wor­den; ein Über­bleib­sel aus der Zeit, in der man nicht zu tö­ten brauch­te, weil das Fleisch in Un­men­gen und ro­sa ge­färbt im Kühl­re­gal auf ei­nen war­te­te.

Sie zog Gior­gi­os Jagd­mes­ser aus dem Hols­ter an ihrem Bein und schnitt das Fell an den Hin­ter­läu­fen des Ka­nin­chens ein. Wie man Klein­wild häu­te­te, hat­te sie in ei­nem Buch ge­le­sen, das sie nach dem Aus­bruch der Pla­ge aus der Stadt­bü­che­rei ge­klaut hat­te. Al­le hat­ten ge­klaut. Trotz­dem schäm­te sie sich bis zu die­sem Ta­ge da­für. Aber Wis­sen war über­le­bens­wich­tig.

Smil­la trenn­te das Fell wei­ter auf, bis zur Blu­me hoch. Ab da war es ganz leicht, die Haut vom Tier zu lö­sen. Fast, als wür­de man ei­ne Ba­na­ne schä­len.

Ein Kna­cken zer­riss die Stil­le. Sie ließ von dem Ka­nin­chen ab und fuhr her­um. Im Wald reg­te sich nichts. Smil­la kniff die Au­gen zu­sam­men. Vor der gro­ßen Pla­ge hat­te sie Kon­takt­lin­sen ge­tra­gen. In Mo­men­ten wie die­sen fehl­ten sie ihr und sie muss­te al­lein auf ih­re In­stink­te ver­trau­en.

Sie hielt den Atem an und lausch­te in den Wald hin­ein. Et­was ra­schel­te im Laub. Ei­ne Am­sel? Ei­ne Maus? Da­für war das Ra­scheln zu re­gel­mä­ßig. Schrit­te. Hat­te je­mand sie beim Ba­den beo­b­ach­tet? Hat­te man sie ent­deckt?

Ad­rena­lin spreng­te Smil­las Star­re. Sie kapp­te das Seil, an dem das Ka­nin­chen vom Baum hing. Dann zog sie sich an ei­nem Ast nach oben und klet­ter­te in die Baum­kro­ne. Wenn man auf ei­nen Bä­ren traf, soll­te man sich tot stel­len, schoss es ihr da­bei durch den Kopf. Auf kei­nen Fall durf­te man weg­lau­fen oder auf ei­nen Baum klet­tern. Das wuss­te sie aus ei­ner Ge­schich­te, die sie in der ach­ten Klas­se im Eng­lisch­un­ter­richt ge­le­sen hat­ten. Nur, dass ihr die­ses Wis­sen denk­bar we­nig half: In der Ei­fel gab es kei­ne Bä­ren. Da­für gab es Men­schen und die wa­ren manch­mal noch schlim­mer.

Smil­la kau­er­te sich zu­sam­men und ver­such­te, die Quel­le des Ge­räu­sches aus­zu­ma­chen. Dann sah sie ei­ne Ge­stalt zwi­schen den Bäu­men oben am Hang. An der Sta­tur und der Be­we­gung er­kann­te sie, dass es ein Mann war. Ihr Griff um das Mes­ser wur­de fes­ter, ihr Herz schlug noch schnel­ler.

Der Mann kam den Hang in ih­re Rich­tung hin­un­ter. Wenn er sie noch nicht be­merkt hat­te, dann wür­den spä­tes­tens das Blut und der Ka­nin­chen­pelz am Fuß des Bau­mes ver­ra­ten, dass sich in der Nä­he noch je­mand be­fand.

Smil­la kniff die Au­gen en­ger zu­sam­men, um mehr von der Ge­stalt zu er­ken­nen. Au­ßer den Men­schen im Quar­tier kann­te sie kei­ne Über­le­ben­den in die­ser Ge­gend. Aber sie wuss­te von ei­ni­gen. Und wenn das hier ei­ner von ih­nen war, wür­de sie sich et­was Ge­witz­te­res ein­fal­len las­sen müs­sen, als auf ei­nem Ast zu ho­cken und ab­zu­war­ten.

Der Mann war mitt­ler­wei­le so weit her­an­ge­kom­men, dass sie sein Ge­sicht aus­ma­chen konn­te. Sein Haar hing in wei­ßen Sträh­nen un­ter ei­ner grü­nen Woll­müt­ze her­vor und sei­ne Zü­ge wa­ren halb ver­deckt von ei­nem zot­te­li­gen, grau­en Bart. Er war alt. Zu alt, um zu den Ver­lo­re­nen Jungs zu ge­hö­ren. Die nah­men kei­ne Al­ten und Schwa­chen auf. Bei je­dem zwei­ten Schritt ver­zog er das Ge­sicht und gab ein lei­ses Zi­schen von sich. Er hum­pel­te.

Kurz über­leg­te Smil­la, ob sie aus ihrem Ver­steck sprin­gen und fort­lau­fen soll­te. Mit ei­nem ver­letz­ten Bein hat­te er kei­ne Chan­ce, sie ein­zu­ho­len. Doch dann be­schloss sie, zu ver­har­ren. Schließ­lich wuss­te sie nicht, ob er ir­gend­wel­che Schuss­waf­fen bei sich trug oder Mes­ser wer­fen konn­te. Viel­leicht si­mu­lier­te er auch bloß, da­mit sie sich in Si­cher­heit wog und ei­ne leich­te­re Beu­te ab­gab.

Als er nur noch we­ni­ge Me­ter von ihrem Baum ent­fernt war, hielt der Mann in­ne. Er hat­te das Ka­nin­chen­fell ent­deckt. Schwer­fäl­lig bück­te er sich, hob ei­nen Stock auf und stups­te das Fell an. Dann sah er auf. Er er­blick­te Smil­la so­fort.

Smil­las Mus­keln spann­ten sich in Angst an, als sich ih­re Bli­cke tra­fen. Im sel­ben Mo­ment er­griff sie der über­mäch­ti­ge Wunsch, zu über­le­ben. Sie wür­de sich mit je­der Fa­ser ihres aus­ge­hun­ger­ten Kör­pers ge­gen den Mann weh­ren. In­ner­lich wapp­ne­te sie sich für den Kampf. Auch wenn sie kei­nen Schim­mer hat­te, wie man kämpf­te.

»Gu­ten Tag«, sag­te er, zog sich die Müt­ze vom Kopf und rich­te­te sich lang­sam wie­der auf. Smil­la ant­wor­te­te nicht, hielt sei­nem Blick aber stand.

»Mein Na­me ist Ed­win. Dr. Ed­win Hab­s­tedt. Ich kom­me aus Bay­reuth und bin auf dem Weg nach Brüs­sel.« Er hielt sei­ne Müt­ze mit bei­den Hän­den vor der Brust und fum­mel­te an ei­nem lo­sen Fa­den her­um, wäh­rend er sprach. Er wirk­te un­si­cher, bei­na­he ängst­lich.

»Ich bin vor vier Ta­gen von ei­nem Hund an­ge­fal­len wor­den. Mei­nen Pro­vi­a­nt ha­be ich auf­ge­braucht. Und hier­mit…« Sei­ne Hand glitt nach un­ten und schob sei­nen Man­tel zur Sei­te. Zer­ris­se­ner Jeans­stoff und ge­trock­ne­tes Blut ka­men zum Vor­schein. »Hier­mit kann ich kaum noch ja­gen. Viel­leicht be­sit­zen Sie die Gü­te, Ihr Abend­brot mit mir zu tei­len?«

Smil­la fi­xier­te den Mann. Die Angst ge­bot ihr, sich nicht zu be­we­gen und nichts zu ant­wor­ten. Doch in der hin­ters­ten Ecke ihres Be­wusst­seins emp­fand sie Mit­leid für ihn. Er war alt. Er war al­lein. Und wenn es stimm­te, was er sag­te, dann war er auch noch ver­wun­det. Aber Mit­leid war ei­ne ge­fähr­li­che Sa­che, das wuss­te Smil­la. Sei­ne Be­haup­tung konn­te Teil ei­ner List sein. Am En­de steck­ten doch die Ver­lo­re­nen Jungs da­hin­ter.

»Ich ver­ste­he, dass Sie miss­trau­isch sind und dass Sie wahr­schein­lich selbst nicht viel zum Tei­len ha­ben. Aber ich bit­te Sie.« In sei­nem Blick lag et­was Fle­hen­des und Smil­la spür­te, wie sich et­was in ih­rer Brust zu­sam­men­zog. Sie schürz­te die Lip­pen, über­leg­te.

»Wie ist das mit dem Hund pas­siert?«, frag­te sie dann, um ihn auf die Pro­be zu stel­len. Wenn sei­ne Ge­schich­te aus­ge­dacht war, wür­de er sich nun schnell glaub­wür­di­ge De­tails über­le­gen müs­sen, oh­ne sich in Wi­der­sprü­che zu ver­stri­cken.

Ed­win hob die Schul­tern. »Er stand plötz­lich vor mir auf dem Weg. Ich bin um­ge­dreht, weil ich ihm nicht das Ge­fühl ge­ben woll­te, ei­ne Be­dro­hung zu sein. Da hat er sich von hin­ten in mein Bein ver­bis­sen.«

»War­um hat er wie­der von Ih­nen ab­ge­las­sen?«

»Ich ha­be mich auf ihn fal­len las­sen und ihm mit ei­nem Stein auf den Schä­del ge­schla­gen.«

»Ha­ben Sie ihn ge­tö­tet?«

»Ich bin mir nicht si­cher.«

»Wie kön­nen Sie nicht si­cher sein?«

»Ich ha­be ihn davon­lau­fen las­sen und ich weiß nicht, wie schwer ich ihn ver­letzt ha­be.«

So sehr sie sich auch an­streng­te, sie konn­te nie­mand an­de­res in der Um­ge­bung ent­de­cken. Kei­ne lau­ern­den Ver­lo­re­nen Jungs und auch sonst kei­ne Men­schen­see­le. Die Angst, die sie eben noch er­füllt hat­te, wich aus ihren Glie­dern. Ob das Men­schen­kennt­nis oder pu­rer Na­i­vi­tät ge­schul­det war, ver­moch­te Smil­la nicht zu sa­gen.

»Ich bin nicht al­lein«, er­wi­der­te Smil­la dann und hoff­te, we­der zu dro­hend, noch zu ängst­lich zu klin­gen. »Ich ge­hö­re zu ei­ner Grup­pe nicht weit von hier.«

Ed­win nick­te knapp und sah hoff­nungs­voll zu ihr auf. »Wür­den Sie mich dort mit hin­neh­men?«

Smil­la sank et­was in sich zu­sam­men, als ihr klar wur­de, dass sie den al­ten, ver­wun­de­ten Mann wür­de ent­täu­schen müs­sen. Denn im Quar­tier hat­ten sie vie­le Re­geln, die Smil­la meis­tens auch be­folg­te. Ei­ne davon, die wahr­schein­lich wich­tigs­te, schrieb vor, nie­mals Frem­den den ge­nau­en Stand­ort des Quar­tiers zu ver­ra­ten.

»Ich fürch­te, das kann ich nicht.«

Die Zü­ge des al­ten Man­nes er­schlaff­ten bei die­sen Wor­ten.

»Aber ich kann Ih­nen ei­ne Keu­le von mei­nem Ka­nin­chen dalas­sen«, bot Smil­la an.

Sei­ne Mie­ne hell­te sich et­was auf. »Das wä­re wun­der­bar.«

Smil­la warf ei­nen letz­ten Blick zum Hü­gel­kamm, aber da sie auch die­ses Mal kei­ne lau­ern­den Ge­fah­ren er­späh­te, klet­ter­te sie vom Baum her­ab. Der Mann wich ein paar Schrit­te zu­rück, als sie auf den Laub­bo­den sprang. Ob, um ihr zu zei­gen, dass er kei­ne Ge­fahr dar­stell­te, oder weil er selbst auf der Hut war, wuss­te sie nicht.

Smil­la band das Ka­nin­chen wie­der an den Ast und be­gann, ei­ne Keu­le ab­zu­tren­nen.

»Sie soll­ten aber bis zur Dun­kel­heit war­ten, bis Sie ein Feu­er ma­chen. Der Rauch könn­te Fein­de an­lo­cken.«

Dr. Ed­win Hab­s­tedt stütz­te sich am Baum ab und setz­te sich be­hut­sam ins Laub.

»Ist die Sek­te so­gar hier ak­tiv?«

Smil­la sah über­rascht vom Ka­nin­chen auf und Ed­win di­rekt in die Au­gen. »Die Sek­te? Nein. Ich dach­te, die wä­ren bloß er­fun­den.«

Ed­win lach­te grim­mig. »Wer weiß, viel­leicht wa­ren sie das am An­fang so­gar, aber mitt­ler­wei­le ha­ben sich ge­nug Spin­ner zu­sam­men­ge­fun­den. Und das ganz oh­ne so­zi­a­le Me­di­en.«

»Und stimmt es, was man über sie sagt?«, woll­te Smil­la wis­sen, oh­ne den Blick vom Ka­nin­chen zu wen­den. »Dass sie glau­ben, Gott wä­re schuld an der Pla­ge, und dass sie Men­schen­op­fer brin­gen, da­mit er sie er­löst?« Als ob das Le­ben nach der Pla­ge oh­ne re­li­gi­ö­sen Fa­na­tis­mus nicht schon an­stren­gend ge­nug wä­re.

»Ja, das kommt hin«, sag­te Ed­win. »Wenn Sie mit Fein­den nicht die Sek­te ge­meint ha­ben, wen mei­nen Sie dann?«

Smil­la zer­schnitt die letz­te wi­der­wil­li­ge Seh­ne am Hin­ter­lauf des Ka­nin­chens. »Die Ver­lo­re­nen Jungs«, ant­wor­te­te sie ihm dann. »Sie sind ei­ne Fuß­ball­mann­schaft aus Köln, die auf ei­nem Aus­flug in der Ei­fel war, als die Pla­ge sich aus­brei­te­te.«

»Kan­ni­ba­len?«

»Nicht, dass ich wüss­te. Aber sie be­trei­ben Men­schen­han­del und ver­füt­tern üb­rig ge­blie­be­ne Ge­fan­ge­ne ger­ne an ih­re Hun­de.«

Ed­win zog an­er­ken­nend die Au­gen­brau­en hoch. »Na, das wä­re in mei­nem Fall wirk­lich sehr iro­nisch.«

Smil­la reich­te Ed­win ein Stück ro­hes Fleisch. Er bedank­te sich und leg­te es be­hut­sam auf ei­nen Stein ne­ben sich. Er at­me­te schwer und Smil­la konn­te Schweiß­per­len auf sei­nen Wan­gen glit­zern se­hen. Es schien ihm wirk­lich schlecht zu ge­hen. Ob sie ihn hier ein­fach so zu­rück­las­sen konn­te?

»Ich bin üb­ri­gens Smil­la. Wir kön­nen uns von mir aus auch du­zen«, sag­te sie dann.

Ein flüch­ti­ges Lä­cheln spiel­te um Ed­wins Lip­pen. »Ger­ne. Es gibt kein Sie in An­ar­chie.« Er glucks­te, of­fen­sicht­lich zu­frie­den mit sei­nem klei­nen Reim, und Smil­la lä­chel­te höf­lich. Er hat­te ja recht. Bei den Um­stän­den, un­ter de­nen sie leb­ten, er­schien es wirk­lich al­bern, je­man­den zu sie­zen. Den­noch hat­te Smil­la sich die­se Um­gangs­form noch nicht ab­ge­wöhnt, wie so vie­les, was vor der Pla­ge ge­gol­ten und da­nach sei­ne Gül­tig­keit ver­lo­ren hat­te.

Sie ließ sich vor ihm im Laub nie­der. »War­um möch­test du nach Brüs­sel?«, woll­te sie wis­sen.

Ed­wins Au­gen leuch­te­ten auf. »Dort bau­en sie al­les wie­der auf. Die In­fra­struk­tur, die drei Ge­wal­ten, die Zi­vi­li­sa­ti­on.«

Smil­la run­zel­te die Stirn. »Und wo­her weißt du das?« Es war nicht das ers­te Mal, dass je­mand glaub­te, ir­gend­wo, weit, weit weg, wen­de sich al­les wie­der zum Gu­ten. Je­der kann­te ir­gend­wen, der je­man­den kann­te, der am Wie­der­auf­bau ei­ner Re­gie­rung be­tei­ligt oder von ei­nem Hilfs­kon­voi mit Nah­rung und Me­di­ka­men­ten ver­sorgt wor­den sein woll­te.

»Ich weiß es von ei­nem Rei­sen­den, der von Brüs­sel aus un­ter­wegs war, um sei­ne Fa­mi­lie dort hin­zu­ho­len«, ant­wor­te­te Ed­win.

Smil­la be­gut­ach­te­te ih­re blut­ver­schmier­ten Fin­ger. Ih­rer Er­fah­rung nach wa­ren all die­se Ge­schich­ten Mär­chen. Mär­chen, die man er­fand, um nicht den Ver­stand zu ver­lie­ren, wäh­rend man da­bei zu­sah, wie die Mensch­heit lang­sam aber si­cher aus­starb. »Wie kannst du dir si­cher sein, dass das stimmt?«

Ed­win zuck­te die Schul­tern. »Wo­her weiß ich, dass es nicht stimmt?«

Die Son­ne war in­zwi­schen hin­ter dem Ho­ri­zont ver­schwun­den und das Ta­ges­licht ver­lor mit je­der Se­kun­de an Kraft. Bald muss­te sie sich auf den Heim­weg ma­chen. Dann wür­de Ed­win al­lein hier sit­zen und dar­auf hof­fen müs­sen, dass er die Nacht über­leb­te.

»Zeig mir dei­ne Wun­de«, sag­te Smil­la ei­nem Im­puls fol­gend und kroch auf al­len vie­ren zu Ed­win.

Er sah sie ver­wun­dert an, dann wink­te er ab und zog sei­nen Man­tel en­ger. »Nicht nö­tig, das wird schon wie­der.«

»Zeig sie mir, ich ver­ste­he ei­ni­ges von Ver­let­zun­gen.«

»Bist du Kran­ken­schwes­ter… ge­we­sen?«

Sie schüt­tel­te den Kopf. »Ich ha­be bloß vie­le Ver­let­zun­gen ge­se­hen.«

Ed­win zö­ger­te, dann zog er den Man­tel ein Stück hoch. »Es ist halb so wild«, brumm­te er.

Smil­la beug­te sich wei­ter hin­un­ter. Ein üb­ler Ge­ruch stieg ihr ent­ge­gen. Dar­an, wie Men­schen ro­chen, die sich nicht mehr je­den Mor­gen mit Dusch­gel und Sham­poo rei­nig­ten, hat­te sie sich mitt­ler­wei­le ge­wöhnt. Sie hat­te sich dar­an ge­wöhnt, dass ih­re Haa­re fet­tig, ih­re Nä­gel per­ma­nent schmut­zig, ih­re Ach­seln und ih­re Scham wie­der haa­rig wa­ren. Aber Ed­win roch nicht nur un­ge­wa­schen, er stank nach Fäul­nis. Sie ver­such­te, sich nichts an­mer­ken zu las­sen, und schob den Fet­zen Jeans­stoff zur Sei­te, der die Wun­de be­deck­te. Das Fleisch dar­un­ter war zer­furcht wie ein frisch ge­pflüg­ter Acker. Die of­fe­nen Stel­len näss­ten und ei­ter­ten.

Smil­la wich zu­rück. »Die Wun­de muss ver­sorgt wer­den, sonst be­kommst du ei­ne Sep­sis.«

Oh­ne et­was zu er­wi­dern, sah Ed­win sie an. Dann nick­te er knapp. »Ich weiß.«

Smil­la biss sich auf die Un­ter­lip­pe und über­leg­te. Kei­ne Frem­den im Quar­tier. Das war die Re­gel. Und sie ver­stand die Re­gel. Selbst wenn Ed­win kei­ne di­rek­te Ge­fahr dar­stell­te – er konn­te sich bei den fal­schen Leu­ten ver­plap­pern oder ge­zwun­gen wer­den, ihren Stand­ort zu ver­ra­ten. Rau­ben und Plün­dern war für ei­nen gro­ßen Teil der Über­le­ben­den zum täg­lich Brot ge­wor­den. Aber was, wenn sie an sei­ner Stel­le wä­re? Die­ser Ge­dan­ke plag­te sie nicht zum ers­ten Mal. Sie war schon öf­ter in Si­tu­a­ti­o­nen ge­ra­ten, in de­nen sie hät­te hel­fen kön­nen. Und je­des Mal hat­te der Ge­dan­ke dar­an, wie sie sich in der La­ge des an­de­ren füh­len wür­de, es un­er­träg­lich ge­macht, sich ab­zu­wen­den und so zu tun, als wä­re nichts ge­sche­hen. Und doch hat­te sie ge­nau das im­mer wie­der tun müs­sen, um sich, ih­re klei­ne Schwes­ter und die an­de­ren aus ih­rer Grup­pe nicht in Ge­fahr zu brin­gen. Aber dies­mal konn­te sie es nicht über sich brin­gen. Dies­mal hat­te sie schon sein Ge­sicht ge­se­hen, sei­ne Stim­me ver­nom­men und die Hoff­nung dar­in ge­hört. Sie konn­te nicht die­je­ni­ge sein, die ihm die­se Hoff­nung wie­der nahm.

Smil­la stand auf und klopf­te sich Laub und Er­de von der Ho­se. »Komm mit«, sag­te sie dann und reich­te Ed­win die Hand.

Ei­ni­ge Se­kun­den lang sah Ed­win sie ver­wun­dert an. Dann ho­ben sich sei­ne Mund­win­kel zu ei­nem Lä­cheln und er zog sich an Smil­las Hand hoch. »Dan­ke«, sag­te er und voll­führ­te ei­ne un­be­hol­fe­ne Ver­beu­gung. »Dan­ke, Smil­la.«

»Ver­giss dein Abend­es­sen nicht«, mur­mel­te sie und deu­te­te auf die Keu­le. Sie schnür­te das Ka­nin­chen vom Ast ab und wi­ckel­te sich die Schnur ums Hand­ge­lenk. Dann trat sie den Heim­weg an und Ed­win folg­te ihr.

»Die an­de­ren, mit de­nen du zu­sam­men­lebst – wie vie­le seid ihr?«, frag­te Ed­win nach ei­ner Wei­le.

»Das wirst du schon se­hen, wenn wir da sind.«

»Wie weit ist es bis dort­hin?«

»Ein Stück­chen.«

Ed­win schien zu ver­ste­hen, dass Smil­la hier drau­ßen kei­ne De­tails zu der La­ge ihres Quar­tiers preis­ge­ben woll­te, denn er hör­te auf, Fra­gen zu stel­len.

»Er­zähl mir von dir«, sag­te Smil­la über ih­re Schul­ter, als ihr das Schwei­gen un­an­ge­nehm wur­de. »Hast du Fa­mi­lie?«

»Ja«, ant­wor­te­te Ed­win au­ßer Atem.

Smil­la dros­sel­te ihr Tem­po.

»Ei­nen Sohn.«

»Wo ist er?«

»Er ist tot.«

»Das tut mir leid.«

Ed­win seufz­te. »Er war ei­nes der ers­ten Op­fer der Pla­ge. Da­mals hät­te ich al­les ge­tan, um an sei­ner Stel­le zu ster­ben. Aber jetzt den­ke ich, so muss­te er we­nigs­tens das Cha­os und die Pa­nik nicht mehr mit­er­le­ben.«

Smil­la er­in­ner­te sich nur zu gut an die Pa­nik. An das Cha­os. Die Pla­ge war vor et­was mehr als vier Jah­ren in Nordame­ri­ka aus­ge­bro­chen und hat­te sich in ra­sen­der Ge­schwin­dig­keit auf die gan­ze Welt aus­ge­wei­tet. Die In­ku­ba­ti­ons­zeit war kurz, der Tod folg­te schon we­ni­ge Stun­den nach Aus­bruch der Krank­heit. Al­les ging so schnell, dass For­schung und Phar­ma­in­dus­trie kei­ne Zeit ge­blie­ben war, ein Ge­gen­mit­tel zu ent­wi­ckeln. Wo die Pla­ge her­ge­kom­men war, blieb eben­so un­ge­klärt. Smil­la wa­ren in den letz­ten Jah­ren zahl­rei­che The­o­ri­en zu Oh­ren ge­kom­men: Die ei­nen glaub­ten an ei­nen ur­zeit­li­chen Vi­rus, den der Kli­ma­wan­del aus dem Per­ma­frost­bo­den Alas­kas be­freit hat­te. An­de­re mein­ten, die Krank­heit ent­stam­me ei­ner Bio­waf­fe der Nord­ko­re­a­ner. Wie­der an­de­re hiel­ten das Gan­ze für Got­tes Zorn.

Grau­sam ge­nug, um Aus­druck von Got­tes Zorn sein zu kön­nen, war die Pla­ge al­le­mal. Doch viel grau­sa­mer war, was der Not­stand mit den Men­schen ge­macht hat­te. Sie wa­ren miss­trau­isch, ego­is­tisch und hart­her­zig ge­wor­den. Al­le hat­ten sich nur noch sich selbst ver­pflich­tet ge­fühlt. Aber die Pla­ge hat­te nicht nur das Mit­ge­fühl der Men­schen für­ein­an­der aus­ge­löscht. Je mehr Men­schen ge­stor­ben wa­ren, je wei­ter die Pa­nik an­ge­wach­sen war, des­to schnel­ler wa­ren auch die Re­vo­lu­ti­o­nen der Mensch­heit ver­schwun­den: De­mo­kra­tie, Ge­setz, Phar­ma­zie, Strom, In­dus­trie, In­ter­net, Di­gi­ta­li­sie­rung – die Lis­te war Tag für Tag län­ger ge­wor­den, bis das ge­sam­te Sys­tem zu­sam­men­ge­bro­chen war. Am En­de blie­ben nur lee­re Ge­bäu­de, ge­p­lün­der­te Lä­den und ein paar rat­lo­se Über­le­ben­de zu­rück. Und Smil­la war ei­ne von ih­nen. Die, die über­lebt hat­ten, schie­nen im­mun ge­gen die Pla­ge zu sein, denn Smil­la hat­te schon seit Jah­ren von nie­man­dem mehr ge­hört, den die Pla­ge er­wi­scht hat­te. Au­ßer­dem hat­te sie die Hand ih­rer er­krank­ten Mut­ter ge­hal­ten, ihr beim Ster­ben zu­ge­se­hen und sich trotz­dem nicht an­ge­steckt.

»Hast du Fa­mi­lie?«, gab Ed­win die Fra­ge schließ­lich zu­rück.

»Mei­ne Schwes­ter Je­ra. Mei­ne Mut­ter ist an der Pla­ge ge­stor­ben. Und mein Va­ter war ge­schäft­lich in der Nä­he von Ca­lais, als es los­ging. Um ge­nau zu sein, sind wir nur in der Ei­fel ge­lan­det, weil wir uns auf­ma­chen woll­ten, ihn zu su­chen«, er­klär­te Smil­la.

»Ihn su­chen?« In Ed­wins Stim­me schwang Ver­wun­de­rung mit. Wie so vie­le an­de­re hielt er es ver­mut­lich für äu­ßerst un­wahr­schein­lich, dass ihr Va­ter noch leb­te. Manch­mal tat Smil­la das auch. Nachts, wenn es dun­kel wur­de und die Welt noch viel ge­fähr­li­cher wirk­te, als sie oh­ne­hin schon war.

»Wir kom­men ur­sprüng­lich aus Köln, Je­ra und ich. Wir ha­ben dort ein Jahr ge­war­tet, dass er zu­rück­kommt. Aber dann wur­de es zu ge­fähr­lich für uns. Zwei Mäd­chen oh­ne Grup­pe, oh­ne Un­ter­stüt­zung et ce­te­ra. Wir woll­ten los, um ihn zu su­chen.«

»Und wie seid ihr dann hier, ir­gend­wo im nir­gend­wo, ge­lan­det?«

»Ich hat­te die Rei­se un­ter­schätzt. Wir wa­ren völ­lig aus­ge­hun­gert und hat­ten bei­de Fie­ber, als wir hier im Wald auf die Grup­pe ge­trof­fen sind, bei der wir nun le­ben.«

»Sie ha­ben euch auf­ge­nom­men«, schluss­fol­ger­te Ed­win.

»Ja«, sag­te Smil­la und merk­te, dass sie selbst ein we­nig über­rascht klang. Es gab nicht mehr vie­le Men­schen, die es auf sich ge­nom­men hät­ten, zwei zu­sätz­li­che hung­ri­ge Mä­gen zu fül­len. Je­ra und sie hat­ten Glück ge­habt, dass sie auf ge­nau sol­che Men­schen ge­trof­fen wa­ren.

»Al­so habt ihr auf­ge­hört, nach eu­rem Va­ter zu su­chen?« Ed­win blieb ste­hen und wisch­te sich den Schweiß von der Stirn.

Smil­la blieb eben­falls ste­hen. »Ihn zu su­chen war von An­fang an nichts als ei­ne Ver­zweif­lungs­tat. Wenn er über­lebt hat – wie hoch sind die Chan­cen, dass er die gan­ze Zeit über in Ca­lais ge­blie­ben ist?« Sie wink­te Ed­win zu sich, um ihm zu be­deu­ten, dass er sich wie­der in Be­we­gung set­zen soll­te. »Nicht sehr hoch«, beant­wor­te­te sie sich dann ih­re ei­ge­ne Fra­ge und lief wei­ter.

Ed­win ächz­te hin­ter ihr. »Hier in den Wäl­dern zu blei­ben ist si­cher das Bes­te für euch. Es ist wirk­lich un­ge­müt­lich ge­wor­den, vor al­lem in den Städ­ten. Ich ha­be auf mei­nem Weg viel ge­se­hen und kaum et­was davon war er­freu­lich.«

Sie ka­men an ei­nen schma­len Bach­lauf mit ei­ner Brü­cke. Smil­la streck­te ei­nen Arm aus, um Ed­win dar­an zu hin­dern, sie zu be­tre­ten. »Auf der Brü­cke hin­ter­las­sen wir Spu­ren. Ich sprin­ge lie­ber über den Bach.«

Sie setz­te ei­nen Fuß auf ei­nen Stein in der Mit­te des Stroms und hüpf­te hin­über. Dann reich­te sie Ed­win die Hand, um ihm übers Was­ser zu hel­fen.

Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter ge­lang­ten sie auf die Drei­bor­ner Hoch­flä­che. In der Abend­däm­merung wirk­ten die ver­blüh­ten Gins­ter­bü­sche und das gil­ben­de Gras sanft wie ein Pas­tell­ge­mäl­de.

»Ah, hier sind wir«, sag­te Ed­win mit ei­nem Blick in die Fer­ne. »Da drü­ben ist die Or­dens­burg Vo­gel­sang, nicht wahr?« Er deu­te­te in den Dunst über den Ber­gen am Ho­ri­zont.

»Ge­nau«, be­stä­tig­te Smil­la. »Warst du mal dort?«

»Ja, aber das ist über zwan­zig Jah­re her. Da­mals leb­te mei­ne Frau noch. Sie kam ger­ne zum Wan­dern in die Ei­fel. Hat­te ei­ne Cou­si­ne in Mon­schau.«

Ei­ne wei­te­re Vier­tel­stun­de ver­strich. Es war mitt­ler­wei­le dun­kel und nur die Ster­ne, die ver­ein­zelt zwi­schen den Wol­ken auf­blink­ten, er­mög­lich­ten es, in der Fins­ter­nis et­was zu er­ken­nen. Hin­ter den Gins­ter­bü­schen wur­den Um­ris­se sicht­bar, die sich kan­tig und ge­rad­li­nig von der um­ge­ben­den Na­tur ab­ho­ben. Sie wa­ren nur noch we­ni­ge Dut­zend Me­ter vom Quar­tier ent­fernt.

Smil­la blieb ste­hen und wand­te sich zu Ed­win um. «Ei­ne Sa­che noch«, sag­te sie. Bei dem Ge­dan­ken an Ka­ren und die an­de­ren wur­de ihr heiß und flau. «Ich brin­ge mich ge­ra­de selbst in ziem­lich gro­ße Schwie­rig­kei­ten, in­dem ich dich zu un­se­rem Quar­tier füh­re. Du musst mir ver­spre­chen, dass du zu nie­man­dem auch nur ei­ne Sil­be über uns ver­lierst. Nicht über un­se­re Grup­pe und auch nicht über un­se­ren Stand­ort.«

Ed­win sah sie aus erns­ten Au­gen an. Dann nick­te er.

»Ver­sprich es«, for­der­te Smil­la. Sie muss­te die Wor­te aus sei­nem Mund hö­ren, auch wenn Wor­te in die­ser Welt un­ge­fähr so viel Be­deu­tung hat­ten wie das Le­ben ei­ner Ein­tags­flie­ge.

»Ich schwö­re es dir so­gar«, sag­te Ed­win. »Von mir er­fährt nie­mand ir­gend­et­was.«

»Gut.« Smil­la setz­te sich wie­der in Be­we­gung. »Da vorn ist es näm­lich auch schon.«

»Aber das ist doch nicht Woll­sei­fen, oder?«, frag­te Ed­win, als sie die ers­ten wür­fel­haf­ten Bau­ten pas­sier­ten, die den bel­gi­schen Mi­li­tärs einst als Ku­lis­se für Kamp­f­übun­gen ge­dient hat­ten.

»Doch, ist es«, sag­te Smil­la. Sie bo­gen vom Pfad ab, der durch das Dorf führ­te. Dann stie­gen sie ei­ne Sen­ke hin­ab, in der hin­ter knor­ri­gen Na­del­ge­wäch­sen der Ein­gang zum Quar­tier ver­bor­gen lag. Sie hat­ten be­wusst kein Tor oder Ähn­li­ches vor den Zu­gang des Bun­kers ge­baut, da­mit nie­mand auf die Idee kam, hier wä­re et­was zu ho­len. Das Stahl­git­ter, das den Ein­gang einst ver­sperrt hat­te, war acht­los auf den Bo­den ge­wor­fen wor­den, und Grä­ser und Moo­se wu­cher­ten in ei­nem ste­tig dich­ter wer­den­den Netz dar­über. Smil­la tauch­te in die Fins­ter­nis der Bun­ker­gän­ge ein und stieg die Trep­pe ins Erd­reich hin­ab. Bis dort­hin reich­te nicht ein­mal das Licht der Ster­ne.

Auf der Hälf­te der Trep­pe be­merk­te sie, dass Ed­wins Schrit­te hin­ter ihr ver­stummt wa­ren. Sie hielt an, wand­te sich um und er­kann­te sei­ne Sil­hou­et­te im Ein­gang. »Es sind zwei­und­zwan­zig Stu­fen. Al­le in­takt, nur et­was rut­schig«, rief Smil­la ihm zu. Manch­mal ver­gaß sie, wie viel Über­win­dung es beim ers­ten Mal kos­te­te, blind in das schwar­ze Nichts un­ter ih­nen zu tre­ten.

»Okay«, sag­te Ed­win in er­stick­tem Ton­fall, be­weg­te sich aber kei­nen Zen­time­ter. Smil­la er­kann­te Angst in sei­ner Stim­me. Sie ver­stand ihn nur zu gut. In der Welt nach der Pla­ge wuss­te man nie, wem man trau­en konn­te. Je freund­li­cher und ent­ge­gen­kom­men­der je­mand war, des­to grö­ßer war die Wahr­schein­lich­keit, dass er nichts Gu­tes im Schil­de führ­te. Sie selbst wür­de un­ter kei­nen Um­stän­den je­man­dem in ei­nen fins­te­ren Gang fol­gen – so viel stand fest.

»Oder viel­leicht war­test du bes­ser dort oben«, sag­te sie al­so, um Ed­win aus sei­ner in­ner­li­chen Zwick­müh­le zu hel­fen. »Ich ge­be eben das Ka­nin­chen ab und fra­ge nach Ver­bands­zeug. Dann kom­me ich wie­der.«

»Ist gut.« Ed­win wich zu­rück un­ter den frei­en Him­mel.

Mit ei­li­gen Schrit­ten lief Smil­la den Gang ent­lang und bog nach rechts ab, wo wei­te­re glit­schi­ge Stu­fen tie­fer in die Er­de führ­ten. Am Fuß der Trep­pe er­streck­te sich ein Flur mit drei Tü­ren auf je­der Sei­te. Hin­ter der zwei­ten Tür links war der Bun­ker ein­ge­stürzt. So soll­te es zu­min­dest aus­se­hen, wenn je­mand mit ge­nug Licht und Mut hier her­un­ter kam. In Wirk­lich­keit aber war der Gang nicht ein­ge­stürzt. Ka­ren und ih­re Fa­mi­lie hat­ten Bau­schutt und Er­de her­ein ge­karrt und auf­ge­türmt, um es so aus­se­hen zu las­sen. Der Ge­steins­bro­cken in der rech­ten obe­ren Ecke war aus Sty­ro­por und ließ sich oh­ne Pro­ble­me aus dem Schutt­hau­fen her­aus­schie­ben. Durch das ent­ste­hen­de Loch ge­lang­te man ins Quar­tier.

Smil­la er­klomm den Schutt­hau­fen und duck­te sich durch den ge­hei­men Ein­gang. Auf der an­de­ren Sei­te war das Ge­röll mit Be­ton und Holz­bal­ken ge­si­chert und ei­ne un­ebene Trep­pe führ­te zu­rück auf fes­ten Bo­den. Smil­la schob ge­ra­de den fal­schen Ge­steins­bro­cken wie­der an sei­nen Platz, als sie Schrit­te im Flur hin­ter sich hör­te.

»Da bist du ja end­lich«, er­klang Ka­rens Stim­me.

Smil­la wand­te sich um und warf Ka­ren ein flüch­ti­ges Lä­cheln zu. Vor ei­nem Jahr hat­te ihr Haar noch erd­be­er­blond ge­glänzt, mitt­ler­wei­le war sie fast gänz­lich er­graut.

»Hast du nichts ge­fan­gen?«

»Doch, aber –«

»Sehr gut, her da­mit. Die an­de­ren rü­cken mir schon auf die Pel­le.«

Ka­ren streck­te die Hand aus und Smil­la reich­te ihr das Ka­nin­chen. Mit ge­run­zel­ter Stirn mus­ter­te ih­re An­füh­re­rin den drei­bei­ni­gen Ka­da­ver. »Du hast doch nicht et­wa schon davon ge­ges­sen, oder?«

Smil­la schüt­tel­te den Kopf. »Aber ich ha­be je­man­dem et­was davon ab­ge­ge­ben.«

Ka­ren sah von dem ver­stüm­mel­ten Ka­nin­chen auf. »Du hast was?«

Smil­la schluck­te beim An­blick von Ka­rens ent­geis­ter­ter Mie­ne.

»Ja, ei­nem al­ten Mann, der auf dem Weg nach Brüs­sel ist. Er ist ver­letzt und hat mich um Hil–«

»Du willst mir sa­gen, du bist ver­ant­wort­lich für das Abend­es­sen von sie­ben Leu­ten und gibst die Hälf­te ei­nes ma­ge­ren Ka­nin­chens an ei­nen Frem­den?«

Smil­la schlug den Blick nie­der. Au­gen­blick­lich wur­den ih­re Wan­gen vor Scham heiß. Als sie wie­der auf­sah, be­merk­te sie Je­ra und Gior­gio, die sich aus dem Wohn­zim­mer in den Flur lehn­ten, um das Ge­sche­hen zu ver­fol­gen.

»Ich ha­be ihm nur ei­ne Keu­le ge­ge­ben und –«

»Smil­la, wir ha­ben kla­re Re­geln für der­ar­ti­ge Be­geg­nun­gen. Hast du An­na et­wa schon ver­ges­sen?«

»Nein, na­tür­lich nicht. Aber ich hat­te Mit­leid.«

Ka­ren er­wi­der­te nichts und Smil­la wag­te es nicht, sie an­zu­se­hen. Ver­mut­lich kämpf­te sie mit den Trä­nen. Das tat sie im­mer, wenn An­nas Na­me fiel.

»Smil­la«, sag­te sie dann bloß, »du bist zu weich für die­se Welt.«

Hin­ter Ka­ren griff Je­ra sich in ei­ner dra­ma­ti­schen Ges­te ans Herz und tat so, als ob sie sich Trä­nen der Rüh­rung aus den Au­gen wisch­te. Gior­gio be­en­de­te ih­re Vor­stel­lung mit ei­nem Klaps auf ihren Hin­ter­kopf.

»Komm, dann hilf mir we­nigs­tens beim Ko­chen. Aber das kommt nie wie­der vor. Ist das klar?«

Smil­la biss sich auf die Lip­pe. »Ich hel­fe dir so­fort, aber… ich ha­be ihn viel­leicht mit­ge­bracht.«

»Mit­ge­bracht? Den Frem­den?« Ih­re Stim­me klang schrill.

Smil­la nick­te be­trof­fen, halb in Er­war­tung ei­ner Ohr­fei­ge. Aber als Ka­ren nur fas­sungs­los schnauf­te, re­de­te Smil­la wei­ter. »Er wur­de von ei­nem Hund an­ge­fal­len und sei­ne Wun­de sieht echt übel aus. Ich konn­te ihn nicht zu­rück­las­sen. Und er hät­te mir be­stimmt auch ge­hol­fen, wenn ich in Schwie­rig­kei­ten ge­we­sen wä­re.«

»Ja si­cher, Smil­la, weil wir so vie­le gu­te Er­fah­run­gen mit hilfs­be­rei­ten, frem­den Män­nern ge­macht ha­ben.«

»Er ist alt und er ist ein Dok­tor.«

»Oh, na dann«, sag­te Ka­ren und schüt­tel­te em­pört den Kopf. »Und was willst du bit­te mit ihm an­stel­len?«

»Ich will sei­ne Wun­de säu­bern und des­in­fi­zie­ren.«

Ka­rens Na­sen­flü­gel beb­ten, wie im­mer, wenn sie sich ent­schei­den muss­te, ob sie sich be­ru­hi­gen oder noch wü­ten­der wer­den woll­te.

»Na gut. Was an­de­res, als hilfs­be­reit zu sein, bleibt uns wohl auch nicht mehr üb­rig, wo du ihm schon un­se­ren Stand­ort ver­ra­ten hast.«

Smil­la at­me­te er­leich­tert aus.

»Kann ich zu­se­hen?«, rief Je­ra vom En­de des Flurs her.

Ka­ren wand­te sich mit ei­ner Selbst­ver­ständ­lich­keit zu ihr um, als hät­te sie die gan­ze Zeit ge­wusst, dass Je­ra lausch­te. »Du und Gior­gio helft beim Ge­mü­se­schnei­den, da gibt es kei­ne Aus­re­den!«

Je­ra quiek­te un­zu­frie­den. »Mann, ich has­se Schnip­peln.«

Mit ge­senk­tem Kopf lief Smil­la an Ka­ren vor­bei und auf die Tür zu, in der Gior­gio und Je­ra stan­den. »Wie blö­de du bist«, sag­te Je­ra, als Smil­la vor­bei­ging, und trat nach ihren Fü­ßen.

»Sei bloß still, Je­ra«, brumm­te sie und trat zu­rück.

Sie lief vor­bei an Lars, der in sei­nem Ses­sel vor dem Ka­min saß und rief: »Was hast du nun schon wie­der an­ge­stellt?« Vor­bei an sei­nen und Ka­rens Töch­tern Sa­rah und Ma­rie, die am Ess­tisch Klei­dung und Be­zü­ge flick­ten. Dann ge­lang­te sie in den Flur und die dar­an an­gren­zen­de Vor­rats­kam­mer.

Der Ver­bands­kas­ten hat­te sich seit Gior­gi­os An­kunft im Quar­tier sicht­lich ge­leert. Ein Jahr war es her, dass er blu­tend und wei­nend zu ih­nen ge­sto­ßen war. Ein Jahr, seit­dem sie An­na ver­lo­ren hat­ten.

Ei­lig stopf­te Smil­la Sal­be, ei­nen Fet­zen Bett­tuch und Mull­bin­den in ih­re Ja­cken­ta­schen. Dann ver­ließ sie die Vor­rats­kam­mer und ging in die Koch­ecke im Wohn­zim­mer. Dort schöpf­te sie Was­ser aus ei­nem höl­zer­nen Fass in ei­ne Plas­tik­schüs­sel und be­gab sich zu­rück in den Flur, der aus dem Quar­tier her­aus führ­te.

Ed­win hat­te sich ein paar Me­ter ent­fernt vom Bun­ker auf den Bo­den ge­setzt. Als Smil­la ins Freie trat und auf ihn zu­kam, stand er auf. »Und?«, frag­te er. »Hast du Ver­bands­zeug be­kom­men?«

Smil­la warf ihm ei­nen fins­te­ren Blick zu, wäh­rend sie die Schüs­sel mit dem Was­ser zu ihm ba­lan­cier­te. »Dei­net­we­gen ha­be ich ganz schön Är­ger am Hals«, sag­te sie dann bloß.

Sie stell­te die Schüs­sel mit Was­ser be­hut­sam ins Moos und hol­te den Fet­zen Bett­tuch aus ih­rer Ja­cken­ta­sche. »Zieh am bes­ten dei­ne Ho­se aus«, wies sie ihn an.

Ed­win gab ein un­de­fi­nier­ba­res Ge­räusch von sich. »Ich ver­arz­te mich schon selbst. Du hast ge­nug für mich ge­tan.«

»Lass mich das ma­chen. Dann weiß ich we­nigs­tens, dass es rich­tig ge­macht wur­de«, wi­der­sprach Smil­la.

Ed­win zö­ger­te, seufz­te dann er­ge­ben und knöpf­te sei­ne Ho­se auf.

Smil­la tunk­te das Stück Laken ins Was­ser und be­gann sanft, die Haut um die Wun­de her­um zu säu­bern. »Es blu­tet nicht mehr, das ist gut. Wie lan­ge hat es ge­blu­tet?«

»Die ers­te Nacht durch. Dann wur­de es we­ni­ger, aber durch die stän­di­ge Be­we­gung geht die Wun­de im­mer wie­der auf.«

Smil­la tunk­te das Tuch er­neut ins Was­ser. Oh­ne den Schutz der Jeans war Ed­wins Ge­stank bei­na­he un­er­träg­lich. Für ei­nen kur­z­en Mo­ment be­fand sie sich in der Li­nie 18 vom Köl­ner Haupt­bahn­hof Rich­tung Bar­ba­ros­sa­platz. Auf der Sitz­bank hin­ter ihr hing der Pen­ner, der so oft in die­ser Li­nie um Geld bat – be­sin­nungs­los, in sei­nen ei­ge­nen Fä­ka­li­en sit­zend. Die an­de­ren Pas­sa­gie­re wa­ren aus­ge­stie­gen oder in den vor­de­ren Teil der Bahn ge­flüch­tet. Nur Smil­la war sit­zen ge­blie­ben und hat­te den Ge­stank aus­ge­hal­ten.

Als sie den gröbs­ten Schmutz von Ed­wins Haut ent­fernt hat­te, sah sie, wie breit der Spalt war, den der Hund in sein Fleisch ge­schla­gen hat­te. Es war nicht bloß der Ab­druck ei­nes Raub­tier­kie­fers. Die Wun­de klaff­te weit aus­ein­an­der. »Das muss ge­näht wer­den«, sag­te sie und ließ das Tuch sin­ken. »Ich ho­le Näh­zeug.«

Sie stand auf und lief zu­rück in den Bun­ker.

»Ist die Wun­de schon ver­sorgt?«, frag­te Ka­ren ver­wun­dert, als Smil­la durch die Tür zum Wohn­zim­mer kam.

»Sie muss ge­näht wer­den«, ant­wor­te­te sie im Vor­bei­ge­hen. Sie hoff­te, ei­ner neu­er­li­chen Wel­le des Är­gers zu ent­ge­hen, wenn sie schnell ge­nug wie­der au­ßer Sicht war.

Als Smil­la mit Na­del und Zwirn zu­rück aus der Vor­rats­kam­mer kam, stand Ka­ren im Flur und ver­sperr­te ihr den Durch­gang. »Ist die Wun­de tief?«, frag­te sie mit ge­dämpf­ter Stim­me.

»Ja.«

Ka­ren warf ei­nen Sei­ten­blick zu Lars, der noch im­mer in sei­nem Ses­sel saß und zu­frie­den ins Ka­min­feu­er starr­te. Dann seufz­te sie und sag­te: »Nun bring ihn schon rein. Du kannst in der Dun­kel­heit doch kei­ne Wun­de nä­hen.«

»Okay«, sag­te Smil­la er­leich­tert, »dan­ke.«

»Er hat zu dan­ken.«

Ei­lig stopf­te Smil­la Na­del und Zwirn zu der Mull­bin­de in ih­rer Ja­cken­ta­sche und lief zu­rück zu Ed­win.

»Du kannst rein­kom­men«, sag­te sie au­ßer Atem, als sie bei ihm an­kam.

»Bist du si­cher?«

»Ja, hier drau­ßen se­he ich nicht ge­nug.« Sie bück­te sich nach der Plas­tik­schüs­sel und dem Stück Laken, wäh­rend Ed­win schwer­fäl­lig sei­ne Ho­se wie­der hoch­zog.

Dies­mal folg­te Ed­win ihr in die Fins­ter­nis des Quar­tiers. Viel­leicht hat­te er re­a­li­siert, dass ihm gar nichts an­de­res üb­rig blieb. Viel­leicht hat­te er aber auch beim An­blick von Sal­be und Mull­bin­de er­kannt, dass Smil­la ihm wirk­lich nur hel­fen woll­te.

»Hier rechts«, lei­te­te sie ihn an, als sie an die Stel­le ka­men, wo sich der Flur t-för­mig spal­te­te. »Und hier ist noch ei­ne Trep­pe, sech­zehn Stu­fen.«

»Wie habt ihr die­sen Ort ge­fun­den?«, frag­te er. Sie hör­te sei­nen Arm tas­tend an der Wand ent­lang strei­fen, sei­ne un­re­gel­mä­ßi­gen Schrit­te auf dem Be­ton­bo­den.

»Die meis­ten aus mei­ner Grup­pe kom­men aus der Ge­gend. Den Bun­ker hat­ten sie lan­ge vor der Pla­ge bei ei­nem Aus­flug ent­deckt. Als die Pla­ge aus­brach, ha­ben sie sich aus Angst hier­hin zu­rück­ge­zo­gen.«

Sie ge­lang­ten an die Bar­ri­ka­de aus Schutt.

»Das könn­te jetzt schwie­rig wer­den«, kün­dig­te Smil­la an und klet­ter­te zu dem fal­schen Stein hin­auf. Sie stell­te die Plas­tik­scha­le mit Was­ser ab und stieg zu­rück, um Ed­win zu hel­fen. Er muss­te sich auf den Hin­tern set­zen und rück­wärts durch das Loch rob­ben. Auf der an­de­ren Sei­te an­ge­kom­men, brauch­te er Smil­la als Stüt­ze, um die Stu­fen wie­der her­ab­zu­stei­gen. Sie warf ihm ei­nen heim­li­chen Blick zu, als sie auf fes­ten Bo­den ge­lang­ten. Auf sei­ner Stirn stand Schweiß und er wirk­te aus­ge­laugt.

Als sie mit ihm das Wohn­zim­mer be­trat, hat­ten sich die an­de­ren hin­ter dem Ess­tisch zu ei­nem krie­ge­ri­schen Be­grü­ßungs­ko­mi­tee auf­ge­reiht. Lars hat­te sei­ne Jagd­müt­ze auf­ge­setzt, Ka­ren die Ar­me vor der Brust ver­schränkt, Sa­rah ih­re Haa­re zu­rück­ge­bun­den, Ma­rie ihren Ro­sen­kranz in den Fin­gern und Je­ra den lä­cher­li­chen Speer un­ter ihrem Bett her­vor­ge­holt, an dem sie je­den Abend her­um­schnitz­te. Nur Gior­gio hat­te sich kei­ne Mü­he ge­ge­ben, stär­ker oder här­ter aus­zu­se­hen, als er war. Er saß am Kü­chen­tisch und schäl­te Kar­tof­feln.

»Das ist Ed­win«, sag­te Smil­la und ver­such­te, ge­löst zu klin­gen.

»Gu­ten Abend.« Ed­win voll­führ­te die knap­pe Ver­beu­gung, die er auch schon ihr ge­wid­met hat­te. »Und dan­ke für eu­re Gast­freund­schaft.«

»Nichts zu dan­ken«, sag­te Ka­ren. Sie griff hin­ter sich und hol­te ei­ne Fla­sche her­vor, die stark nach Schnaps aus­sah. »Wenn Sie ge­näht wer­den müs­sen, soll­ten Sie sich vor­her et­was Mut an­trin­ken.« Sie stell­te ein Glas auf den Tisch und goss zwei Fin­ger­breit brau­ne Flüs­sig­keit ein.

»Das ist doch nicht nö­tig«, sag­te Ed­win und wink­te ab.

»Doch, glau­ben Sie mir, ist es.« Sie kam um den Tisch her­um und reich­te ihm den Schnaps. In der­sel­ben Be­we­gung nahm sie ihm die Ka­nin­chen­keu­le ab. »Die schmeckt ge­kocht bes­ser.« Dann ging sie zu­rück zur An­rich­te.

Ed­win schwenk­te sei­nen un­ge­kühl­ten Drink und roch dar­an, be­vor er ihn in ei­nem Zug hin­un­ter­kipp­te.

»Setz dich«, sag­te Smil­la und wies auf ei­nen der Kü­chen­stüh­le. Ed­win tat, wie ihm ge­hei­ßen.

»Hast du das Des­in­fek­ti­ons­spray?«, frag­te Ka­ren über ih­re Schul­ter.

»Nein, nur die Jod­sal­be.«

»Ma­rie, hol Smil­la das Des­in­fek­ti­ons­spray. Wenn wir schon Not­arzt spie­len, dann rich­tig.«

Mit ei­nem kur­z­en Ni­cken ver­schwand Ma­rie in Rich­tung Vor­rats­kam­mer.

Smil­la zog sich ei­nen Stuhl her­an und ließ sich vor Ed­win dar­auf nie­der. Je­ra und Gior­gio tra­ten hin­ter sie, wäh­rend Sa­rah und Lars das Ge­sche­hen von der an­de­ren Sei­te des Ti­sches ver­folg­ten.

»Zeig mal dei­ne Wun­de«, for­der­te Je­ra gie­rig.

Ed­win klapp­te das zer­ris­se­ne Stück Jeans zur Sei­te.

»Wow«, mur­mel­te Je­ra. »Hat das weh ge­tan? Al­so, so rich­tig weh ge­tan?«

»Ab­so­lut«, sag­te Ed­win und zwin­ker­te Je­ra zu.

»Wie ist das pas­siert? War das et­wa ein Wolf? Es sieht nach ei­nem Wolf aus.«

»Ein Hund«, ant­wor­te­te Smil­la für Ed­win. »Du musst die Ho­se ein Stück run­ter­zie­hen, sonst kann ich nicht ver­nünf­tig nä­hen.«

Dies­mal pro­tes­tier­te Ed­win nicht.

Sie hör­te, wie Lars sich an­ge­strengt räus­per­te, als die Wun­de ganz zum Vor­schein kam. Er konn­te Hüh­nern den Kopf um­dre­hen und oh­ne mit der Wim­per zu zu­cken Klein­wild aus­neh­men, aber von Men­schen­blut wur­de ihm flau.

»Das gibt be­stimmt ei­ne coo­le Nar­be«, mein­te Je­ra und lehn­te sich nä­her zu Ed­win. »Ich ha­be auch Nar­ben, willst du mal se­hen?«

In die­sem Mo­ment kam Ma­rie aus der Vor­rats­kam­mer zu­rück und stell­te das Des­in­fek­ti­ons­mit­tel ne­ben Smil­la auf den Kü­chen­tisch.

»Je­ra, du nervst«, sag­te Smil­la zu ih­rer klei­nen Schwes­ter. »Hilf mir lie­ber, viel­leicht lernst du ja so­gar was da­bei.«

Je­ra knie­te sich auf den Bo­den zwi­schen Ed­win und Smil­la. »Du hast es zu­erst sau­ber ge­macht, ja?«, frag­te sie und Smil­la nick­te.

»Jetzt des­in­fi­zierst du es?«

»Ge­nau.«

»Guck, ich weiß das al­les schon«, sag­te Je­ra zu Ed­win. »Mei­ne Schwes­ter hält mich für blöd.«

»Oh, das ha­ben Schwes­tern so an sich.«

»Hast du auch ei­ne Schwes­ter?«

Ed­win sog scharf die Luft ein, als Smil­la das Des­in­fek­ti­ons­spray in sei­ne Wun­de sprüh­te.

»Ja, vier so­gar«, ant­wor­te­te er mit zu­sam­men­ge­press­ten Zäh­nen.

»Vier Smil­las«, mur­mel­te Je­ra, »da wür­de ich ver­rückt wer­den!«

Gior­gio lach­te tro­cken. »Und Ka­ren erst.«

 

Nach­dem Smil­la Ed­wins Wun­de ge­näht, mit Jod­sal­be ein­ge­cremt und ver­bun­den hat­te, war er kaum mehr an­sprech­bar. Sei­ne Lip­pen hat­ten ei­nen fah­len Ton an­ge­nom­men, sein Blick war neb­lig. Lars und Gior­gio muss­ten ihn zur Couch tra­gen, da er zwei­mal bei­na­he vom Stuhl ge­sackt wä­re.

Je­ra setz­te sich vor die Couch und nutz­te Ed­wins Wehr­lo­sig­keit aus, um ihm al­ler­lei Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die Smil­la und die an­de­ren schon et­li­che Ma­le ge­hört hat­ten. »Ein­mal, da war ich drei oder so, da saß ich hin­ten auf dem Fahr­rad von mei­ner Ma­ma und mein Bein ist in die Spei­chen ge­kom­men…« Ab und zu brumm­te Ed­win er­staunt oder zu­stim­mend, ob­wohl Smil­la be­zwei­fel­te, dass er ihr fol­gen konn­te.

»Meinst du, er über­lebt die Nacht?«, flüs­ter­te Gior­gio na­he an Smil­las Ohr. Sie sa­ßen vor dem Ka­min­feu­er und pass­ten auf, dass Ka­rens Ka­nin­chen­ein­topf nicht an­brann­te.

Smil­la nick­te. »Er ist bloß er­schöpft und jetzt, wo er in Si­cher­heit ist, holt ihn das ein. Nach ei­ner rich­ti­gen Mahl­zeit und ei­ner Nacht Schlaf wird er wie­der bei Kräf­ten sein.«

Gior­gi­os brau­ne Au­gen wan­der­ten un­be­hag­lich in Ed­wins Rich­tung und er nick­te. »Ich weiß noch, wie ich auf die­ser Couch lag und von Je­ra be­schallt wur­de.«

»Ja, ich ha­be auch ge­ra­de dar­an ge­dacht«, ge­stand Smil­la, »ein Jahr ist das schon her.«

Ei­ne Wei­le starr­ten sie schwei­gend ins Feu­er. »Glaubst du, sie sind noch im­mer dort?«

»War­um soll­ten die Ver­lo­re­nen Jungs Vo­gel­sang auf­ge­ge­ben ha­ben? Du hast doch selbst ge­sagt, dass sie es mit viel Auf­wand zu ei­ner un­ein­nehm­ba­ren Fes­tung ge­macht ha­ben.«

»Ja, schon, aber ich ha­be seit der Sa­che mit An­na nie wie­der ei­nen von ih­nen ge­se­hen.«

Smil­la nahm den Holz­löf­fel vom Tel­ler ne­ben sich und rühr­te den Ein­topf um.

»Das ist doch gut. Dann schei­nen sie bis heu­te kei­nen Schim­mer zu ha­ben, dass du über­lebt hast.«

Gior­gio hielt den Blick aufs Feu­er ge­rich­tet, aber sein Fo­kus drif­te­te in wei­te Fer­ne ab. »Ich ha­be schon wie­der von ihr ge­träumt.«

Smil­la wuss­te nicht, was sie dar­auf ant­wor­ten soll­te, al­so rühr­te sie wei­ter im Ein­topf. Sie re­de­te nicht gern über An­na, denn es tat weh. Sie war die ein­zi­ge in der Grup­pe ge­we­sen, die wirk­lich ih­re Freun­din ge­we­sen war.

Gior­gio seufz­te. »Ich kann nicht auf­hö­ren, mich zu fra­gen, ob es ir­gend­wie an­ders hät­te en­den kön­nen, wenn ich nur –«

»Du woll­test ihr hel­fen«, un­ter­brach Smil­la ihn. Die Schuld kam im­mer wie­der über ihn und sie wuss­te nicht, was sie sa­gen konn­te, um sein Ge­wis­sen zu er­leich­tern. Sie wuss­te nicht ein­mal mit Si­cher­heit, ob sie das über­haupt konn­te. Ja, Gior­gio hat­te An­na nur hel­fen wol­len. Aber am En­de war sie da­bei ums Le­ben ge­kom­men.

»Und wenn ich schon nicht auf­hö­ren kann, dar­über nach­zu­den­ken, wie geht es dann wohl erst Ka­ren und Lars… und Ma­rie… und Sa­rah. Es ist nur ei­ne Fra­ge der Zeit, bis sie mich raus­schmei­ßen, weil ich… weil ich…«

Smil­la griff nach Gior­gi­os Hand. »Hör auf da­mit«, sag­te sie und blick­te ihm tief in die Au­gen. »Du musst da­mit auf­hö­ren.«

Er schluck­te, dann nick­te er.

»Was macht der Ein­topf?« Ka­ren kam zu ih­nen und beug­te sich zum Ka­min her­ab.

»Sieht gut aus«, ant­wor­te­te Smil­la.

»Hast du schon pro­biert, ob die Kar­tof­feln durch sind?«

»Nein.«

Ka­ren nahm den Löf­fel aus Smil­las Hand und fisch­te ein Stück Kar­tof­fel aus dem Topf. Sie biss hin­ein und reich­te die an­de­re Hälf­te Gior­gio. »Was meinst du?«

Er nahm es ent­ge­gen, pus­te­te und steck­te es in den Mund. Dann reck­te er den Dau­men in die Luft. »Ist durch, schmeckt su­per.«

»Dan­ke«, sag­te Ka­ren und lä­chel­te. Sie ging zu­rück in die Koch­ecke und hol­te Tel­ler aus dem Hän­ge­schrank.

»Jap, sie scheint kurz davor, dich raus­zu­schmei­ßen«, sag­te Smil­la und grins­te Gior­gio an. Sie griff nach dem Topf­lap­pen, der an ei­nem Ha­ken ne­ben dem Ka­min hing, und zog den Kes­sel in sei­ner Hal­te­rung nach oben, da­mit der Ein­topf auf­hör­te zu ko­chen.

Gior­gio mach­te ein un­glü­ck­li­ches Ge­räusch. »Es will mir ein­fach nicht aus dem Kopf.«

»Das ist doch gut so. Das zeigt, dass du nicht wie die an­de­ren Ver­lo­re­nen Jungs bist«, ant­wor­te­te Smil­la. Dann stand sie auf.

»Gior­gio, du kannst gleich da drü­ben blei­ben und uns al­len Ein­topf auf­tun«, rief Ka­ren ih­nen zu. »Ma­rie, bring ihm die Tel­ler.«

Smil­la ging zu Ed­win, der mitt­ler­wei­le wie­der et­was mehr Far­be hat­te und Jeras Ge­schich­ten nun mit grö­ße­rer Auf­merk­sam­keit lausch­te.

»Wir hat­ten ein Meer­schwein­chen, das hieß Pe­ga­sus, aber das ist weg­ge­lau­fen.«

»Komm, Je­ra«, un­ter­brach Smil­la sie, »hilf Gior­gio beim Es­sen­ver­tei­len.«

Je­ra stand oh­ne Wi­der­wor­te auf und lief zu Gior­gio.

Smil­la moch­te die Ge­schich­te von Pe­ga­sus nicht. Er war nicht weg­ge­lau­fen. Ih­re Mut­ter hat­te ihn ei­ni­ge Wo­chen nach Aus­bruch der Pla­ge ge­kocht, weil ein be­waff­ne­tes Paar En­de vier­zig ih­re ge­sam­ten Vor­rä­te ge­stoh­len hat­te. Smil­la war wü­tend ge­we­sen und hat­te die ers­te ver­nünf­ti­ge Mahl­zeit seit Ta­gen nicht an­ge­rührt. Sie hat­te kein Wort mehr mit ih­rer Mut­ter ge­wech­selt. Dann war sie krank ge­wor­den und in­ner­halb we­ni­ger Stun­den ge­stor­ben.

»Wie fühlst du dich?«, frag­te sie Ed­win.

»Schlech­ter, als ich er­war­tet ha­be.«

»Kannst du auf­ste­hen? Es gibt Es­sen.«

Ed­win zog sich an der So­fa­leh­ne in ei­ne auf­rech­te Po­si­ti­on. Dann hol­te er mit sei­nem Ober­kör­per Schwung und stand auf. Smil­la reich­te ihm den Arm und er hak­te sich ein. Er wirk­te um ein Dut­zend Jah­re äl­ter als noch vor kaum ei­ner Stun­de.

Lars, der Ed­wins be­däch­ti­gen Gang zum Ess­tisch ver­folg­te, schien das glei­che durch den Kopf zu ge­hen und er frag­te: »So, wie kommt’s, dass Sie ganz al­lein durch die Ei­fel wan­dern? Würd mich je­mand fra­gen, würd ich be­haup­ten, Sie sind le­bens­mü­de.«

»Ich bin auf dem Weg nach Brüs­sel«, sag­te Ed­win und ließ sich auf dem Stuhl nie­der, auf dem Smil­la ihn ge­näht hat­te. Es kleb­te fri­sches Blut dar­an.

»Brüs­sel? Das ist aber noch ein lan­ger Weg.«

»Ich kom­me von Bay­reuth. Um­keh­ren lohnt sich jetzt auch nicht mehr.« Ed­win grins­te schief.

Je­ra brach­te die ers­ten Tel­ler mit damp­fen­dem Ein­topf. Ei­nen stell­te sie vor Lars, den an­de­ren vor Ed­win. »Was ist Brüs­sel?«, frag­te sie.

»Ei­ne wun­der­ba­re Stadt«, ant­wor­te­te Ed­win und Smil­la sah, dass ein Leuch­ten in sei­ne Au­gen trat.

»Dort bau­en sie al­les wie­der auf.« Das Ge­spräch, das Smil­la be­reits im Wald mit Ed­win ge­führt hat­te, wie­der­hol­te sich und sie spür­te, dass die an­de­ren Grup­pen­mit­glie­der eben­falls skep­tisch wa­ren, ob die Ge­schich­te, die Ed­win ge­hört hat­te, zu glau­ben war.

»Ich weiß, ich weiß«, sag­te Ed­win, der mit die­ser Art von Ge­spräch schon Er­fah­rung zu ha­ben schien. »Dass ir­gend­wo an­geb­lich al­les zum Al­ten zu­rück­kehrt, habt ihr si­cher­lich schon zig­mal ge­hört.«

Gior­gio zuck­te die Schul­tern, oh­ne den Blick von sei­nem Ein­topf zu he­ben, Sa­rah und Ma­rie nick­ten knapp. Lars zeig­te kei­ne Re­gung, wäh­rend Ka­ren Ed­win mit ge­run­zel­ter Stirn ta­xier­te.

»Aber der Mann, der es mir er­zählt hat, kam schließ­lich selbst aus Brüs­sel. Es war nicht nur Hö­ren­sa­gen, son­dern ein Be­richt aus ers­ter Hand.«

»Es könn­te ei­ne List ge­we­sen sein«, mein­te Ka­ren, »um Men­schen an­zu­lo­cken. Viel­leicht steckt die Sek­te, ei­ne Räu­ber­ban­de oder ein Kan­ni­ba­len­ring da­hin­ter.«

»Oder es war blö­des Ge­re­de, um sich in­ter­es­sant zu ma­chen«, grum­mel­te Lars. »Und nur mal an­ge­nom­men, in Brüs­sel lie­fe das Le­ben auch nur et­was ge­re­gel­ter als wo­an­ders – war­um soll­ten die der gan­zen Welt davon er­zäh­len? Da­mit wür­den sie doch nur Tür und Tor für al­les Üb­le da drau­ßen öff­nen.«

»Rich­tig. Aus die­sem Grund ha­ben wir ja auch die Re­gel auf­ge­stellt, nie­man­dem von un­se­rem Quar­tier zu er­zäh­len. Wir ha­ben es gut hier und so soll es auch blei­ben«, sag­te Ka­ren.

Smil­la wuss­te, dass dies ei­ne Spit­ze ge­gen sie war. Aber sie fand die Vor­stel­lung er­mu­ti­gend, dass es in nicht all­zu wei­ter Fer­ne ei­nen Ort gä­be, an dem die Men­schen in Har­mo­nie, Si­cher­heit und Wohl­stand mit­ein­an­der leb­ten. Sie konn­ten schließ­lich nicht ewig in ei­nem Loch in der Er­de aus­har­ren. Das muss­te Ka­ren eben­falls klar sein.

»Der Markt in Mon­schau funk­ti­o­niert doch ei­gent­lich nach dem glei­chen Prin­zip«, gab sie al­so zu be­den­ken. »Vie­le Men­schen pro­fi­tie­ren von dem, was die je­weils an­de­ren an­bie­ten und des­halb kommt kei­ner auf die Idee, den Markt durch Über­fäl­le oder Ähn­li­ches zu ge­fähr­den.«

Ka­ren sah von ihrem Tel­ler auf und sag­te mit un­er­war­te­ter Hef­tig­keit: »Das ist nicht das Glei­che, Smil­la. Es ist bloß ein Markt und kein neu­es Sys­tem. Am En­de des Ta­ges keh­ren al­le wie­der in ih­re Quar­tie­re und Ver­ste­cke zu­rück und le­ben ihr ei­ge­nes Le­ben.« Sie wand­te sich wie­der ihrem Ein­topf zu. »Egal, was in Brüs­sel ist oder nicht ist – wir ha­ben ein Dach über dem Kopf, Es­sen im Bauch und auch sonst al­les, was wir zum Über­le­ben brau­chen. Und jetzt will ich nichts mehr davon hö­ren.«

So war es im­mer. Je­des Ge­rücht über ei­nen bes­se­ren Ort, je­de ge­wag­te Idee für die Zu­kunft der Grup­pe wur­de im Keim er­stickt, be­vor sie über­mäch­tig wer­den und für Un­ru­he sor­gen konn­te. Das war nur zu ihrem Bes­ten. Aber nicht im­mer fühl­te es sich da­nach an.

Un­an­ge­nehm be­rührt kratz­te Ed­win sich das Kinn. Es war si­cher­lich nicht an­ge­nehm, erst von Frem­den ver­arz­tet und ver­pflegt zu wer­den, nur um dann für Streit zu sor­gen. Mit ei­nem klei­nen Lä­cheln in sei­ne Rich­tung ver­such­te Smil­la, sein Un­wohl­sein auf­zu­fan­gen.

Nie­mand sag­te mehr ein Wort und in un­be­hag­li­ches Schwei­gen gehüllt leer­ten sie ih­re Tel­ler. Nach dem Es­sen wur­de Ed­win auf der Couch ein­quar­tiert, Gior­gio muss­te auf den Tep­pich vor dem Ka­min aus­wei­chen. Ka­ren und Lars ver­ab­schie­de­ten sich mit ei­nem knap­pen »Gu­te Nacht« und auch Ma­rie, Sa­rah, Je­ra und Smil­la zo­gen sich in das Zim­mer zu­rück, das sie sich zu viert teil­ten.

Als Smil­la und Je­ra in die Grup­pe auf­ge­nom­men wor­den wa­ren, hat­ten sie den Raum mit Tep­pi­chen und al­ten Laken zwei­ge­teilt. Hin­ter dem be­helfs­mä­ßi­gen Raum­tren­ner be­fan­den sich Ma­ries und Sa­rahs Bet­ten, davor Smil­las und Jeras. Ma­rie war erst zwölf und ver­stand sich so gut mit Je­ra, dass es die­ser so­gar zu ge­fal­len schien, sich das Zim­mer mit ihr zu tei­len. Smil­la hin­ge­gen hat­te nie wirk­lich auf­ge­hört, sich un­wohl mit die­sem Ar­ran­ge­ment zu füh­len. Ma­rie war da­bei nicht das Pro­blem und auch mit An­na, die bis vor ei­nem Jahr eben­falls das Zim­mer mit ih­nen ge­teilt hat­te, war sie sehr gut aus­ge­kom­men. Mit Sa­rah hin­ge­gen hat­te sie sich nie an­freun­den kön­nen. Sie war drei Jah­re äl­ter als Smil­la und wirk­te in ih­rer stil­len Di­stan­ziert­heit wie ei­ne gro­ße Schwes­ter, die man im­mer stör­te oder nerv­te, egal, was man tat.

Ma­rie und Sa­rah ver­schwan­den mit ge­mur­mel­ten Gu­te-Nacht-Wün­schen auf ih­re Sei­te des Tep­pichs und Smil­la ließ sich er­schöpft auf ihr Bett sin­ken. Sie nahm ei­nen jun­gen Ei­chen­zweig aus ei­nem Glas in ihrem Re­gal und zer­kau­te ihn an ei­nem En­de. So stell­te sie je­den Abend ei­ne be­helfs­mä­ßi­ge Zahn­bürs­te her. Die Idee hat­te sie aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on, die sie sich mit ihrem Va­ter an­ge­se­hen hat­te. Laut die­ser war Ka­ri­es erst zu ei­nem Pro­blem ge­wor­den, als die Men­schen an­ge­fan­gen hat­ten, Ge­trei­de an­zu­bau­en. Die Koh­len­hy­dra­te aus dem Ge­trei­de wa­ren nichts an­de­res als Zu­cker und der griff den Zahn­schmelz an. Oder so ähn­lich. Auch wenn sie sich nicht mehr so sehr um ein ge­pfleg­tes Äu­ße­res scher­te wie vor der Pla­ge – fau­li­ge Zäh­ne woll­te Smil­la um je­den Preis ver­mei­den.

»Muss ich noch le­sen üben?«, frag­te Je­ra, eben­falls ei­nen Ei­chen­zweig im Mund­win­kel, und warf ei­nen flüch­ti­gen Blick auf die Bü­cher, die sich auf ihrem Nacht­tisch sta­pel­ten.

»Nein, schon gut«, sag­te Smil­la. Sie säg­te das be­nutz­te En­de des Zweigs mit Gior­gi­os Jagd­mes­ser ab und warf es in den Nacht­topf. Sie gähn­te, schlüpf­te aus ihren Schu­hen und ver­kroch sich un­ter ih­rer De­cke. »Aber mor­gen wie­der«, füg­te sie dann hin­zu und hoff­te, streng zu klin­gen.

»In Ord­nung«, ant­wor­te­te Je­ra.

Mü­de blin­zelnd sah Smil­la ihr da­bei zu, wie sie ins Bett schlüpf­te. Je­ra sträub­te sich mit al­ler Macht ge­gen Smil­las Un­ter­richt. Ma­the lern­te sie noch am liebs­ten, weil sie wuss­te, dass sie es ir­gend­wann ein­mal für Ver­hand­lun­gen auf dem Mon­schau­er Markt be­nö­ti­gen wür­de. Auch die we­ni­gen Din­ge aus Bio­lo­gie und Phy­sik, an die Smil­la sich noch er­in­ner­te, nahm sie in­ter­es­siert auf. Aber Le­sen, Schrei­ben, Eng­lisch – wer brauch­te das schon? Wenn es nach Je­ra ge­gan­gen wä­re, nie­mand. Aber für Smil­la wa­ren die­se Fä­hig­kei­ten der ein­zi­ge Weg, der ver­läss­lich zu­rück in die Zeit vor der Pla­ge führ­te. Je­ra die­se Din­ge nicht bei­zu­brin­gen, wä­re ei­nem Ver­rat an ih­rer Ver­gan­gen­heit gleich­ge­kom­men.

Sie la­gen sich ge­gen­über und schau­ten sich an. »Ich mach das Licht aus, ja?«, sag­te Smil­la dann.

Je­ra nick­te. »Gu­te Nacht.«

»Gu­te Nacht.«

Sie pus­te­te die Talg­ker­ze aus, die ne­ben dem Bü­cher­sta­pel auf dem Nacht­tisch stand. Dann schloss Smil­la die Au­gen und ent­schweb­te so­fort in ei­nen ge­dan­ken­lo­sen Halb­schlaf. Zu über­le­ben war an­stren­gend.

 

Am nächs­ten Mor­gen be­glei­te­te Smil­la Ed­win bis zum Bun­ke­rein­gang. Die an­de­ren wa­ren nicht mit­ge­kom­men, um sich von ihm zu ver­ab­schie­den.

Im Licht des an­bre­chen­den Ta­ges warf Smil­la noch ei­nen Blick auf die Wun­de. Das Fleisch war ab­ge­schwol­len und hat­te auf­ge­hört zu näs­sen. Nach­dem Smil­la die Mull­bin­de wie­der fest­ge­steckt hat­te, mach­te Ed­win sich un­ter ste­ti­ger Be­kun­dung sei­ner Dank­bar­keit auf den Weg nach Brüs­sel.

Als Smil­la zu­rück ins Quar­tier kam, war be­reits wie­der al­les so, als wä­re Ed­win über­haupt nicht da ge­we­sen. Die Couch ge­hör­te wie­der Gior­gio, die Bluts­trop­fen wa­ren vom Stuhl ge­wischt und Ka­ren ver­teil­te die Auf­ga­ben für den be­vor­ste­hen­den Tag.

2  Der Nach­bar

Eine Wo­che war ver­gan­gen, seit Ed­win bei ih­nen über­nach­tet hat­te und Ka­rens Wut über Smil­las »ver­ant­wor­tungs­lo­ses Ver­hal­ten« schien lang­sam ab­zu­flau­en. In den ver­gan­ge­nen Ta­gen hat­te sie im­mer wie­der ge­gen Smil­la ge­sti­chelt oder ihr aus dem Nichts ei­ne Stand­pau­ke ge­hal­ten. Je­den Tag aufs Neue hat­te sie ihr die an­stren­gends­ten und lang­wei­ligs­ten Auf­ga­ben zu­ge­teilt. Aber an die­sem Tag schien ihr Är­ger end­lich ver­flo­gen zu sein, denn nach dem Mit­tag­es­sen schick­te Ka­ren Smil­la zum An­geln an die Urft­tal­sper­re. An­geln war ei­ne ih­rer Lieb­lings­auf­ga­ben. Sie konn­te das Ta­ges­licht se­hen und wenn sie Glück hat­te, auch Son­ne auf ih­rer Haut spü­ren. Sie konn­te fri­sche, kla­re Luft at­men und für ein paar Stun­den den mod­ri­gen Ge­ruch des Bun­kers ver­ges­sen. Und wenn Gior­gio mit­kam, dann hat­te sie so­gar je­man­den zum Re­den. Aber an die­sem Tag war es nicht Gior­gio, der ihr zu­ge­teilt wur­de, son­dern Je­ra. Das war wohl Ka­rens Art, Smil­la wis­sen zu las­sen, dass noch nicht al­les ver­ge­ben und ver­ges­sen war. Zwar ver­brach­te Smil­la un­heim­lich ger­ne Zeit mit ih­rer klei­nen Schwes­ter. Aber un­ten am See, so weit ent­fernt vom Schutz des Bun­kers, konn­te sie die Zeit mit ihr nicht ge­nie­ßen. Wenn Je­ra je­mals et­was zu­stie­ße… sie konn­te die­sen Ge­dan­ken nicht zu En­de den­ken.

Nach dem Es­sen hol­te Smil­la ih­re Schu­he un­ter ihrem Bett her­vor und griff nach ihrem Man­tel und ihrem Ruck­sack. Sie wür­de bald ei­nen neu­en brau­chen, aber die­ser hier hat­te ihrem Va­ter ge­hört und sie brach­te es nicht über sich, ihn weg­zu­wer­fen. Sie stell­te sich das Ge­sicht ihres Va­ters vor, wenn sie ihn fan­den und ihm sei­nen wein­ro­ten Ruck­sack mit den vie­len Fä­chern über­ge­ben konn­ten. Ih­re Mut­ter hat­te ihm die­sen Ruck­sack auf sei­nen Wunsch hin zu Weih­nach­ten ge­schenkt. »Ich weiß gar nicht, was du mit so vie­len Fä­chern willst«, hat­te sie da­mals noch ge­sagt und ihm schul­ter­zu­ckend das bun­te Päck­chen über­reicht. Und tat­säch­lich hat­ten die Ta­schen in der Fa­mi­lie oft­mals für Dis­kus­si­o­nen und Ver­wir­rung ge­sorgt. Im­mer­zu be­stand Un­klar­heit dar­über, ob das vor­ders­te Fach das­je­ni­ge war, das di­rekt am Rü­cken an­lag, oder das, das vom Kör­per weg zeig­te. Smil­la lä­chel­te. Ih­re El­tern ver­miss­te sie mehr als al­les an­de­re.

Sie schlüpf­te in ih­re Schu­he und ver­stau­te ei­ne Fla­sche Was­ser im Ruck­sack ihres Va­ters. Für Je­ra pack­te sie ei­nes der Bü­cher von ihrem Nacht­tisch ein. Beim An­geln wür­den sie viel Zeit ha­ben, Le­sen zu üben.

Je­ra war­te­te im Wohn­zim­mer be­reits auf sie. »Da bist du ja end­lich, du lah­me Schne­cke«, rief sie, als Smil­la in den Raum trat. Dann kro­chen sie hin­ter­ein­an­der durch den fal­schen Schutt­hau­fen und stie­gen die Trep­pen zum Aus­gang hin­auf. Zwi­schen den Ku­lis­sen­häu­sern wink­ten sie Sa­rah und Ma­rie zum Ab­schied, die auf dem Weg zum Hüh­ner­stall wa­ren, um ihn zu säu­bern und die Ei­er ein­zu­sam­meln. Den Hüh­ner­stall hat­te Lars an­ge­legt. Er war ein her­vor­ra­gen­der Heim­wer­ker. Mit Ple­xi­glas, Pap­pe und Iso­lier­schaum hat­te er die Fens­ter des Hüh­ner­stalls bei­na­he schall­dicht be­kom­men. Nur, wenn man di­rekt vor dem au­gen­schein­lich ver­las­se­nen und mit Bret­tern ver­na­gel­ten Haus stand, konn­te man ab und an ein be­son­ders laut ze­tern­des Huhn oder den ge­le­gent­li­chen Hah­nen­schrei ver­neh­men. Über die Jah­re hat­te Lars al­le mög­li­chen Vor­rich­tun­gen und Ap­pa­ra­te ent­wi­ckelt, die ih­nen das Le­ben er­leich­ter­ten. Ne­ben dem Hüh­ner­stall gab es so in­zwi­schen wei­te­re Räu­me und Dach­ter­ras­sen, wo sie Ge­mü­se an­bau­ten und im Som­mer un­be­ob­ach­tet und un­be­sorgt Zeit ver­brin­gen konn­ten. Au­ßer­dem hat­te Lars ein Rohr mit Fil­ter­auf­satz in den Bun­ker ge­lei­tet, so­dass im­mer fri­sches Was­ser ver­füg­bar war. Auch die zahl­rei­chen Fal­len, die sie über­all im Wald auf­ge­stellt hat­ten, hat­te er ge­plant und ge­baut. Al­ler­dings wa­ren Fal­len, ins­be­son­de­re sol­che, in de­nen et­was ge­fan­gen wor­den war, für al­le Frem­den ein kla­res Zei­chen, dass sich je­mand in der Um­ge­bung auf­hielt. Mehr­mals wa­ren die Schlin­gen und Kis­ten, ge­nau wie die Beu­te, die sie dar­in ge­fan­gen hat­ten, so­gar ge­klaut wor­den. Aus die­sem Grund hat­ten sie die Fal­len schließ­lich auf­ge­ge­ben. Sie pas­sier­ten die Kir­che Sankt Ro­chus mit den In­for­ma­ti­ons­ta­feln, die über die Ge­schich­te des Ge­bäu­des und des Dor­fes be­rich­te­ten. Ka­ren hat­te vor­ge­schla­gen, die Schil­der ab­zu­bau­en. Sie be­fürch­te­te, dass sie das In­ter­es­se von No­ma­den oder Rei­sen­den we­cken und im schlimms­ten Fall zur Ent­de­ckung des Quar­tiers füh­ren wür­den. Aber Smil­la hat­te sie wie­der von die­ser Idee ab­ge­bracht. Sie moch­te die Ta­feln. Ihr ge­fiel der Ge­dan­ke, dass hier bis vor we­ni­gen Jah­ren fried­li­che Wan­de­rer an­ge­hal­ten hat­ten, um et­was über Woll­sei­fen zu er­fah­ren. Manch­mal las sie die Tex­te, wenn sie vom Ja­gen, Sam­meln oder An­geln kam. Dann stell­te sie sich vor, sie selbst sei nur ein fried­li­cher Wan­de­rer, der in ein paar Stun­den in den Zug stei­gen und zu­rück nach Hau­se fah­ren wür­de.

Hin­ter der Kir­che über­quer­ten sie den einst brei­ten Wan­der­weg, der zu ei­nem un­weg­sa­men Pfad zu­sam­men­ge­schrumpft war, und schlüpf­ten ins Di­ckicht. Es wa­ren erst vier Jah­re ver­gan­gen, seit die Pla­ge die Welt für im­mer ver­än­dert hat­te. Aber mehr hat­te es nicht ge­braucht, um die Hoch­flä­che und ih­re Wan­der­we­ge in ei­nen jun­gen Ur­wald zu­rück­zu­ver­wan­deln: Klei­ne Bu­chen, Ei­chen und Fich­ten dräng­ten sich vom Wald­rand her im­mer wei­ter in die Wie­sen, auf de­nen einst Scha­fe ge­grast und Trup­pen ge­übt hat­ten.

Ein schma­ler Wild­pass führ­te Smil­la und Je­ra über die Hoch­flä­che und in ei­nen Tan­nen­wald. Hier wa­ren die Bäu­me äl­ter und grö­ßer und stan­den nicht so eng bei­ein­an­der. Der Wald­bo­den war nur von Tan­nen­na­deln und hier und da von moo­si­gen Ge­steins­bro­cken be­deckt, so­dass sie schnel­ler vor­an­ka­men.

Sie gin­gen im Stech­schritt ne­ben­ein­an­der her, oh­ne ein Wort zu spre­chen. Smil­la re­de­te nicht ger­ne, wenn sie drau­ßen im Wald wa­ren. Es konn­te die Auf­merk­sam­keit von Fein­den auf sie zie­hen. Au­ßer­dem woll­te sie so schnell wie mög­lich zu der klei­nen Bucht ge­lan­gen, in die um die­se Zeit Son­nen­licht fiel.

Nach ei­ner gu­ten Drei­vier­tel­stun­de ge­lang­ten sie an das Ufer der Urft­tal­sper­re. Zu Smil­las gro­ßer Freu­de hat­te die Son­ne Dunst und Wol­ken ver­trie­ben und schien glit­zernd auf die Was­ser­ober­flä­che. Die Luft war zwar noch kalt, aber viel­leicht wür­de es im Lau­fe des Nach­mit­tags warm ge­nug wer­den, so­dass sie den Man­tel aus­zie­hen und sich ein we­nig son­nen kön­nen wür­de.

Schwei­gend leg­ten sie ihr Ge­päck ab, brach­ten die Kö­der an den An­gel­ru­ten an und war­fen sie aus. Dann setz­ten sie sich ins Laub und war­te­ten. Nach ei­ner Wei­le, in der kein un­ge­wöhn­li­ches Ge­räusch aus dem Wald hin­ter ih­nen er­klun­gen war und Smil­la an­fing, sich et­was si­che­rer zu füh­len, hol­te sie das Buch für Je­ra aus ihrem Ruck­sack und reich­te es ihr.

Je­ra mach­te ei­ne un­glü­ck­li­che, fast an­ge­wi­der­te Mie­ne, nahm das Buch aber ent­ge­gen. »Pe­ter und der Wolf«, las sie lang­sam und an­ge­strengt vor.

Smil­la nick­te.

»Ich will aber nicht le­sen üben. Kann ich nicht spä­ter?«

»Nein. Du hast ges­tern schon nicht ge­übt.«

»Du hast ges­tern selbst ge­sagt, ich muss nicht üben!«, pro­tes­tier­te Je­ra.

»Ja, und heu­te sa­ge ich, du musst.«

Je­ra zog ei­nen Schmoll­mund.

»Wenn du fer­tig bist, le­se ich dir aus Har­ry Pot­ter vor.«

Da er­hell­te sich Jeras Mie­ne. Be­reit­wil­lig schlug sie das Buch auf und fing holp­rig an zu le­sen. Die Son­ne hat­te Smil­las Man­tel in­zwi­schen so stark auf­ge­heizt, dass sie an­fing, dar­in zu schwit­zen. Sie ent­le­dig­te sich des Man­tels und krem­pel­te die Är­mel ihres Ober­teils hoch.

Nach den ers­ten fünf Sei­ten – für die Je­ra ei­ne ge­fühl­te Ewig­keit ge­braucht hat­te – biss der ers­te Fisch an. Er war klein und hat­te röt­li­che Flos­sen. Aus Er­fah­rung wuss­te Smil­la, dass die­se Fisch­art furcht­bar vie­le Grä­ten hat­te. Aber in der Welt nach der Pla­ge konn­te man nicht wäh­le­risch sein. Sie lös­te den Fisch vom An­gel­ha­ken und warf ihn in den mit Was­ser ge­füll­ten gel­ben Plas­tik­ei­mer ne­ben sich. We­nig spä­ter biss ein wei­te­rer Fisch an, ei­ne See­fo­rel­le.

»Kann ich jetzt auf­hö­ren?«, murr­te Je­ra, die sich zu­vor schon über ihren fus­se­li­gen Mund be­schwert hat­te.

»Na gut, mei­net­we­gen«, ant­wor­te­te Smil­la, wäh­rend sie die See­fo­rel­le in den Ei­mer glei­ten ließ.

Je­ra schlug das Buch mit ei­nem Seuf­zer zu und ver­stau­te es in Smil­las Ruck­sack. »Glaubst du, Pa­pa ist in Brüs­sel?«

Die Fra­ge traf Smil­la un­vor­be­rei­tet und ei­nen Au­gen­blick lang war es ihr un­mög­lich, et­was zu den­ken oder zu sa­gen. Je­ra frag­te nicht oft nach ihren El­tern, wahr­schein­lich weil sie ein­fach kaum Er­in­ne­run­gen an Davor hat­te. Sie war erst fünf ge­we­sen, als die Pla­ge aus­ge­bro­chen war. Nicht sel­ten wünsch­te Smil­la sich, je­man­den in ihrem Al­ter zu ha­ben, mit dem sie über frü­her re­den konn­te – über ihr Haus in Köln-Zoll­stock, über ih­re El­tern, über ih­re Freun­de und Nach­barn, über ei­ne Zeit, in der al­les auf wun­der­sa­me Wei­se in Ord­nung ge­we­sen war.

---ENDE DER LESEPROBE---