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Dein Verstand weiß, dass du niemandem mehr trauen kannst – aber was tust du, wenn dein Herz etwas anderes verlangt? Die Welt, wie wir sie kannten, existiert seit einer verheerenden Katastrophe nicht mehr. Die junge Smilla weiß, dass es keinen Platz für Liebe und Glück geben kann. Bis sie ihren einstigen Nachbarn Falk wiedertrifft... Doch dann überschlagen sich die Ereignisse und Smilla befindet sich mitten in einer Spirale aus Verrat und Lügen. Wem kann sie noch trauen? Und welche zwielichtige Rolle spielt Falk bei alledem? Spannungsgeladen, philosophisch, leidenschaftlich – und aktueller denn je. Der erste Teil der "Wir Verlorenen-Trilogie"
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Zum Buch:
Smilla führt mit ihrer kleinen Schwester Jera ein tristes Leben in der Eifel. Die Welt, wie wir sie kannten, gibt es seit einer verheerenden Katastrophe nicht mehr. Wo vorher Gesetze und Ordnung herrschten, treibt nun der grausame Clan der Verlorenen Jungssein Unwesen. Smilla weiß, dass es in dieser Welt keinen Platz für Liebe und Glück mehr gibt. Bis sie ihren einstigen Nachbarn Falk wiedertrifft …
Doch dann gerät Smilla selbst in eine Spirale aus Verrat und Lügen, die sie an allem zweifeln lässt, woran sie noch glaubte. Wem kann sie noch vertrauen, wenn es um das eigene Überleben geht? Und welche zwielichtige Rolle spielt Falk bei all den Ereignissen?
Ein spannungsgeladener Roman voll Leidenschaft und Philosophie, der uns dabei zu den wichtigen Fragen des Lebens führt.
Zur Autorin:
Jana Taysen wurde 1992 in Hagen geboren und lebt mit Freund und Hund im abenteuerlichen Köln. Dort arbeitet sie in einem Marktforschungsinstitut. Zuvor studierte sie English Studies und Medienwissenschaften im Bachelor und Markt- und Medienforschung im Master. Das Schreiben war schon von klein auf ein wichtiger Teil von Janas Leben und eine ihrer liebsten Freizeitbeschäftigungen. Sie liebt es, neue Welten und Charaktere zu erschaffen und selbst ganz und gar in die Geschichten abzutauchen.
Smilla lag im Laub unten am See und dachte darüber nach, warum sie es schon wieder getan hatte. Sie dachte überhaupt oft nach, denn seitdem die Welt untergegangen war, hatte sie viel Zeit dafür.
Vielleicht war das der Grund, warum sie Karens Regeln gebrochen hatte – die ganze Zeit, die ihr zur Verfügung stand, und die Langeweile, die dieser Überfluss an Zeit mit sich brachte. Mit Unwissen konnte sie ihr Verhalten nicht entschuldigen, schließlich wusste sie genau, dass es verboten war, in der Talsperre zu schwimmen. Es war zu gefährlich, denn auf dem See konnte man sie nur zu leicht entdecken. Und sie durfte nicht entdeckt werden.
Smilla stand auf und zog sich an. Sie hob das Kaninchen auf, dessen Blut sie sich mit dem verbotenen Bad im See abgewaschen hatte, und band es kopfüber an den nächstgelegenen Ast. Es war einfacher, das Tier zu verarbeiten, solange der Körper noch warm war. Wartete man zu lange, wurden die Gliedmaßen steif und das Blut zu dick. Am Anfang hatte sie es nicht über sich gebracht, ihre Beute eigenhändig zu töten. Als wäre da eine unsichtbare Schwelle in ihrem Innern, die sie nicht hatte überschreiten können. Doch dann war diese Schwelle langsam verschwunden, denn sie war hinderlich geworden; ein Überbleibsel aus der Zeit, in der man nicht zu töten brauchte, weil das Fleisch in Unmengen und rosa gefärbt im Kühlregal auf einen wartete.
Sie zog Giorgios Jagdmesser aus dem Holster an ihrem Bein und schnitt das Fell an den Hinterläufen des Kaninchens ein. Wie man Kleinwild häutete, hatte sie in einem Buch gelesen, das sie nach dem Ausbruch der Plage aus der Stadtbücherei geklaut hatte. Alle hatten geklaut. Trotzdem schämte sie sich bis zu diesem Tage dafür. Aber Wissen war überlebenswichtig.
Smilla trennte das Fell weiter auf, bis zur Blume hoch. Ab da war es ganz leicht, die Haut vom Tier zu lösen. Fast, als würde man eine Banane schälen.
Ein Knacken zerriss die Stille. Sie ließ von dem Kaninchen ab und fuhr herum. Im Wald regte sich nichts. Smilla kniff die Augen zusammen. Vor der großen Plage hatte sie Kontaktlinsen getragen. In Momenten wie diesen fehlten sie ihr und sie musste allein auf ihre Instinkte vertrauen.
Sie hielt den Atem an und lauschte in den Wald hinein. Etwas raschelte im Laub. Eine Amsel? Eine Maus? Dafür war das Rascheln zu regelmäßig. Schritte. Hatte jemand sie beim Baden beobachtet? Hatte man sie entdeckt?
Adrenalin sprengte Smillas Starre. Sie kappte das Seil, an dem das Kaninchen vom Baum hing. Dann zog sie sich an einem Ast nach oben und kletterte in die Baumkrone. Wenn man auf einen Bären traf, sollte man sich tot stellen, schoss es ihr dabei durch den Kopf. Auf keinen Fall durfte man weglaufen oder auf einen Baum klettern. Das wusste sie aus einer Geschichte, die sie in der achten Klasse im Englischunterricht gelesen hatten. Nur, dass ihr dieses Wissen denkbar wenig half: In der Eifel gab es keine Bären. Dafür gab es Menschen und die waren manchmal noch schlimmer.
Smilla kauerte sich zusammen und versuchte, die Quelle des Geräusches auszumachen. Dann sah sie eine Gestalt zwischen den Bäumen oben am Hang. An der Statur und der Bewegung erkannte sie, dass es ein Mann war. Ihr Griff um das Messer wurde fester, ihr Herz schlug noch schneller.
Der Mann kam den Hang in ihre Richtung hinunter. Wenn er sie noch nicht bemerkt hatte, dann würden spätestens das Blut und der Kaninchenpelz am Fuß des Baumes verraten, dass sich in der Nähe noch jemand befand.
Smilla kniff die Augen enger zusammen, um mehr von der Gestalt zu erkennen. Außer den Menschen im Quartier kannte sie keine Überlebenden in dieser Gegend. Aber sie wusste von einigen. Und wenn das hier einer von ihnen war, würde sie sich etwas Gewitzteres einfallen lassen müssen, als auf einem Ast zu hocken und abzuwarten.
Der Mann war mittlerweile so weit herangekommen, dass sie sein Gesicht ausmachen konnte. Sein Haar hing in weißen Strähnen unter einer grünen Wollmütze hervor und seine Züge waren halb verdeckt von einem zotteligen, grauen Bart. Er war alt. Zu alt, um zu den Verlorenen Jungs zu gehören. Die nahmen keine Alten und Schwachen auf. Bei jedem zweiten Schritt verzog er das Gesicht und gab ein leises Zischen von sich. Er humpelte.
Kurz überlegte Smilla, ob sie aus ihrem Versteck springen und fortlaufen sollte. Mit einem verletzten Bein hatte er keine Chance, sie einzuholen. Doch dann beschloss sie, zu verharren. Schließlich wusste sie nicht, ob er irgendwelche Schusswaffen bei sich trug oder Messer werfen konnte. Vielleicht simulierte er auch bloß, damit sie sich in Sicherheit wog und eine leichtere Beute abgab.
Als er nur noch wenige Meter von ihrem Baum entfernt war, hielt der Mann inne. Er hatte das Kaninchenfell entdeckt. Schwerfällig bückte er sich, hob einen Stock auf und stupste das Fell an. Dann sah er auf. Er erblickte Smilla sofort.
Smillas Muskeln spannten sich in Angst an, als sich ihre Blicke trafen. Im selben Moment ergriff sie der übermächtige Wunsch, zu überleben. Sie würde sich mit jeder Faser ihres ausgehungerten Körpers gegen den Mann wehren. Innerlich wappnete sie sich für den Kampf. Auch wenn sie keinen Schimmer hatte, wie man kämpfte.
»Guten Tag«, sagte er, zog sich die Mütze vom Kopf und richtete sich langsam wieder auf. Smilla antwortete nicht, hielt seinem Blick aber stand.
»Mein Name ist Edwin. Dr. Edwin Habstedt. Ich komme aus Bayreuth und bin auf dem Weg nach Brüssel.« Er hielt seine Mütze mit beiden Händen vor der Brust und fummelte an einem losen Faden herum, während er sprach. Er wirkte unsicher, beinahe ängstlich.
»Ich bin vor vier Tagen von einem Hund angefallen worden. Meinen Proviant habe ich aufgebraucht. Und hiermit…« Seine Hand glitt nach unten und schob seinen Mantel zur Seite. Zerrissener Jeansstoff und getrocknetes Blut kamen zum Vorschein. »Hiermit kann ich kaum noch jagen. Vielleicht besitzen Sie die Güte, Ihr Abendbrot mit mir zu teilen?«
Smilla fixierte den Mann. Die Angst gebot ihr, sich nicht zu bewegen und nichts zu antworten. Doch in der hintersten Ecke ihres Bewusstseins empfand sie Mitleid für ihn. Er war alt. Er war allein. Und wenn es stimmte, was er sagte, dann war er auch noch verwundet. Aber Mitleid war eine gefährliche Sache, das wusste Smilla. Seine Behauptung konnte Teil einer List sein. Am Ende steckten doch die Verlorenen Jungs dahinter.
»Ich verstehe, dass Sie misstrauisch sind und dass Sie wahrscheinlich selbst nicht viel zum Teilen haben. Aber ich bitte Sie.« In seinem Blick lag etwas Flehendes und Smilla spürte, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog. Sie schürzte die Lippen, überlegte.
»Wie ist das mit dem Hund passiert?«, fragte sie dann, um ihn auf die Probe zu stellen. Wenn seine Geschichte ausgedacht war, würde er sich nun schnell glaubwürdige Details überlegen müssen, ohne sich in Widersprüche zu verstricken.
Edwin hob die Schultern. »Er stand plötzlich vor mir auf dem Weg. Ich bin umgedreht, weil ich ihm nicht das Gefühl geben wollte, eine Bedrohung zu sein. Da hat er sich von hinten in mein Bein verbissen.«
»Warum hat er wieder von Ihnen abgelassen?«
»Ich habe mich auf ihn fallen lassen und ihm mit einem Stein auf den Schädel geschlagen.«
»Haben Sie ihn getötet?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Wie können Sie nicht sicher sein?«
»Ich habe ihn davonlaufen lassen und ich weiß nicht, wie schwer ich ihn verletzt habe.«
So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte niemand anderes in der Umgebung entdecken. Keine lauernden Verlorenen Jungs und auch sonst keine Menschenseele. Die Angst, die sie eben noch erfüllt hatte, wich aus ihren Gliedern. Ob das Menschenkenntnis oder purer Naivität geschuldet war, vermochte Smilla nicht zu sagen.
»Ich bin nicht allein«, erwiderte Smilla dann und hoffte, weder zu drohend, noch zu ängstlich zu klingen. »Ich gehöre zu einer Gruppe nicht weit von hier.«
Edwin nickte knapp und sah hoffnungsvoll zu ihr auf. »Würden Sie mich dort mit hinnehmen?«
Smilla sank etwas in sich zusammen, als ihr klar wurde, dass sie den alten, verwundeten Mann würde enttäuschen müssen. Denn im Quartier hatten sie viele Regeln, die Smilla meistens auch befolgte. Eine davon, die wahrscheinlich wichtigste, schrieb vor, niemals Fremden den genauen Standort des Quartiers zu verraten.
»Ich fürchte, das kann ich nicht.«
Die Züge des alten Mannes erschlafften bei diesen Worten.
»Aber ich kann Ihnen eine Keule von meinem Kaninchen dalassen«, bot Smilla an.
Seine Miene hellte sich etwas auf. »Das wäre wunderbar.«
Smilla warf einen letzten Blick zum Hügelkamm, aber da sie auch dieses Mal keine lauernden Gefahren erspähte, kletterte sie vom Baum herab. Der Mann wich ein paar Schritte zurück, als sie auf den Laubboden sprang. Ob, um ihr zu zeigen, dass er keine Gefahr darstellte, oder weil er selbst auf der Hut war, wusste sie nicht.
Smilla band das Kaninchen wieder an den Ast und begann, eine Keule abzutrennen.
»Sie sollten aber bis zur Dunkelheit warten, bis Sie ein Feuer machen. Der Rauch könnte Feinde anlocken.«
Dr. Edwin Habstedt stützte sich am Baum ab und setzte sich behutsam ins Laub.
»Ist die Sekte sogar hier aktiv?«
Smilla sah überrascht vom Kaninchen auf und Edwin direkt in die Augen. »Die Sekte? Nein. Ich dachte, die wären bloß erfunden.«
Edwin lachte grimmig. »Wer weiß, vielleicht waren sie das am Anfang sogar, aber mittlerweile haben sich genug Spinner zusammengefunden. Und das ganz ohne soziale Medien.«
»Und stimmt es, was man über sie sagt?«, wollte Smilla wissen, ohne den Blick vom Kaninchen zu wenden. »Dass sie glauben, Gott wäre schuld an der Plage, und dass sie Menschenopfer bringen, damit er sie erlöst?« Als ob das Leben nach der Plage ohne religiösen Fanatismus nicht schon anstrengend genug wäre.
»Ja, das kommt hin«, sagte Edwin. »Wenn Sie mit Feinden nicht die Sekte gemeint haben, wen meinen Sie dann?«
Smilla zerschnitt die letzte widerwillige Sehne am Hinterlauf des Kaninchens. »Die Verlorenen Jungs«, antwortete sie ihm dann. »Sie sind eine Fußballmannschaft aus Köln, die auf einem Ausflug in der Eifel war, als die Plage sich ausbreitete.«
»Kannibalen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Aber sie betreiben Menschenhandel und verfüttern übrig gebliebene Gefangene gerne an ihre Hunde.«
Edwin zog anerkennend die Augenbrauen hoch. »Na, das wäre in meinem Fall wirklich sehr ironisch.«
Smilla reichte Edwin ein Stück rohes Fleisch. Er bedankte sich und legte es behutsam auf einen Stein neben sich. Er atmete schwer und Smilla konnte Schweißperlen auf seinen Wangen glitzern sehen. Es schien ihm wirklich schlecht zu gehen. Ob sie ihn hier einfach so zurücklassen konnte?
»Ich bin übrigens Smilla. Wir können uns von mir aus auch duzen«, sagte sie dann.
Ein flüchtiges Lächeln spielte um Edwins Lippen. »Gerne. Es gibt kein Sie in Anarchie.« Er gluckste, offensichtlich zufrieden mit seinem kleinen Reim, und Smilla lächelte höflich. Er hatte ja recht. Bei den Umständen, unter denen sie lebten, erschien es wirklich albern, jemanden zu siezen. Dennoch hatte Smilla sich diese Umgangsform noch nicht abgewöhnt, wie so vieles, was vor der Plage gegolten und danach seine Gültigkeit verloren hatte.
Sie ließ sich vor ihm im Laub nieder. »Warum möchtest du nach Brüssel?«, wollte sie wissen.
Edwins Augen leuchteten auf. »Dort bauen sie alles wieder auf. Die Infrastruktur, die drei Gewalten, die Zivilisation.«
Smilla runzelte die Stirn. »Und woher weißt du das?« Es war nicht das erste Mal, dass jemand glaubte, irgendwo, weit, weit weg, wende sich alles wieder zum Guten. Jeder kannte irgendwen, der jemanden kannte, der am Wiederaufbau einer Regierung beteiligt oder von einem Hilfskonvoi mit Nahrung und Medikamenten versorgt worden sein wollte.
»Ich weiß es von einem Reisenden, der von Brüssel aus unterwegs war, um seine Familie dort hinzuholen«, antwortete Edwin.
Smilla begutachtete ihre blutverschmierten Finger. Ihrer Erfahrung nach waren all diese Geschichten Märchen. Märchen, die man erfand, um nicht den Verstand zu verlieren, während man dabei zusah, wie die Menschheit langsam aber sicher ausstarb. »Wie kannst du dir sicher sein, dass das stimmt?«
Edwin zuckte die Schultern. »Woher weiß ich, dass es nicht stimmt?«
Die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden und das Tageslicht verlor mit jeder Sekunde an Kraft. Bald musste sie sich auf den Heimweg machen. Dann würde Edwin allein hier sitzen und darauf hoffen müssen, dass er die Nacht überlebte.
»Zeig mir deine Wunde«, sagte Smilla einem Impuls folgend und kroch auf allen vieren zu Edwin.
Er sah sie verwundert an, dann winkte er ab und zog seinen Mantel enger. »Nicht nötig, das wird schon wieder.«
»Zeig sie mir, ich verstehe einiges von Verletzungen.«
»Bist du Krankenschwester… gewesen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe bloß viele Verletzungen gesehen.«
Edwin zögerte, dann zog er den Mantel ein Stück hoch. »Es ist halb so wild«, brummte er.
Smilla beugte sich weiter hinunter. Ein übler Geruch stieg ihr entgegen. Daran, wie Menschen rochen, die sich nicht mehr jeden Morgen mit Duschgel und Shampoo reinigten, hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass ihre Haare fettig, ihre Nägel permanent schmutzig, ihre Achseln und ihre Scham wieder haarig waren. Aber Edwin roch nicht nur ungewaschen, er stank nach Fäulnis. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und schob den Fetzen Jeansstoff zur Seite, der die Wunde bedeckte. Das Fleisch darunter war zerfurcht wie ein frisch gepflügter Acker. Die offenen Stellen nässten und eiterten.
Smilla wich zurück. »Die Wunde muss versorgt werden, sonst bekommst du eine Sepsis.«
Ohne etwas zu erwidern, sah Edwin sie an. Dann nickte er knapp. »Ich weiß.«
Smilla biss sich auf die Unterlippe und überlegte. Keine Fremden im Quartier. Das war die Regel. Und sie verstand die Regel. Selbst wenn Edwin keine direkte Gefahr darstellte – er konnte sich bei den falschen Leuten verplappern oder gezwungen werden, ihren Standort zu verraten. Rauben und Plündern war für einen großen Teil der Überlebenden zum täglich Brot geworden. Aber was, wenn sie an seiner Stelle wäre? Dieser Gedanke plagte sie nicht zum ersten Mal. Sie war schon öfter in Situationen geraten, in denen sie hätte helfen können. Und jedes Mal hatte der Gedanke daran, wie sie sich in der Lage des anderen fühlen würde, es unerträglich gemacht, sich abzuwenden und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Und doch hatte sie genau das immer wieder tun müssen, um sich, ihre kleine Schwester und die anderen aus ihrer Gruppe nicht in Gefahr zu bringen. Aber diesmal konnte sie es nicht über sich bringen. Diesmal hatte sie schon sein Gesicht gesehen, seine Stimme vernommen und die Hoffnung darin gehört. Sie konnte nicht diejenige sein, die ihm diese Hoffnung wieder nahm.
Smilla stand auf und klopfte sich Laub und Erde von der Hose. »Komm mit«, sagte sie dann und reichte Edwin die Hand.
Einige Sekunden lang sah Edwin sie verwundert an. Dann hoben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln und er zog sich an Smillas Hand hoch. »Danke«, sagte er und vollführte eine unbeholfene Verbeugung. »Danke, Smilla.«
»Vergiss dein Abendessen nicht«, murmelte sie und deutete auf die Keule. Sie schnürte das Kaninchen vom Ast ab und wickelte sich die Schnur ums Handgelenk. Dann trat sie den Heimweg an und Edwin folgte ihr.
»Die anderen, mit denen du zusammenlebst – wie viele seid ihr?«, fragte Edwin nach einer Weile.
»Das wirst du schon sehen, wenn wir da sind.«
»Wie weit ist es bis dorthin?«
»Ein Stückchen.«
Edwin schien zu verstehen, dass Smilla hier draußen keine Details zu der Lage ihres Quartiers preisgeben wollte, denn er hörte auf, Fragen zu stellen.
»Erzähl mir von dir«, sagte Smilla über ihre Schulter, als ihr das Schweigen unangenehm wurde. »Hast du Familie?«
»Ja«, antwortete Edwin außer Atem.
Smilla drosselte ihr Tempo.
»Einen Sohn.«
»Wo ist er?«
»Er ist tot.«
»Das tut mir leid.«
Edwin seufzte. »Er war eines der ersten Opfer der Plage. Damals hätte ich alles getan, um an seiner Stelle zu sterben. Aber jetzt denke ich, so musste er wenigstens das Chaos und die Panik nicht mehr miterleben.«
Smilla erinnerte sich nur zu gut an die Panik. An das Chaos. Die Plage war vor etwas mehr als vier Jahren in Nordamerika ausgebrochen und hatte sich in rasender Geschwindigkeit auf die ganze Welt ausgeweitet. Die Inkubationszeit war kurz, der Tod folgte schon wenige Stunden nach Ausbruch der Krankheit. Alles ging so schnell, dass Forschung und Pharmaindustrie keine Zeit geblieben war, ein Gegenmittel zu entwickeln. Wo die Plage hergekommen war, blieb ebenso ungeklärt. Smilla waren in den letzten Jahren zahlreiche Theorien zu Ohren gekommen: Die einen glaubten an einen urzeitlichen Virus, den der Klimawandel aus dem Permafrostboden Alaskas befreit hatte. Andere meinten, die Krankheit entstamme einer Biowaffe der Nordkoreaner. Wieder andere hielten das Ganze für Gottes Zorn.
Grausam genug, um Ausdruck von Gottes Zorn sein zu können, war die Plage allemal. Doch viel grausamer war, was der Notstand mit den Menschen gemacht hatte. Sie waren misstrauisch, egoistisch und hartherzig geworden. Alle hatten sich nur noch sich selbst verpflichtet gefühlt. Aber die Plage hatte nicht nur das Mitgefühl der Menschen füreinander ausgelöscht. Je mehr Menschen gestorben waren, je weiter die Panik angewachsen war, desto schneller waren auch die Revolutionen der Menschheit verschwunden: Demokratie, Gesetz, Pharmazie, Strom, Industrie, Internet, Digitalisierung – die Liste war Tag für Tag länger geworden, bis das gesamte System zusammengebrochen war. Am Ende blieben nur leere Gebäude, geplünderte Läden und ein paar ratlose Überlebende zurück. Und Smilla war eine von ihnen. Die, die überlebt hatten, schienen immun gegen die Plage zu sein, denn Smilla hatte schon seit Jahren von niemandem mehr gehört, den die Plage erwischt hatte. Außerdem hatte sie die Hand ihrer erkrankten Mutter gehalten, ihr beim Sterben zugesehen und sich trotzdem nicht angesteckt.
»Hast du Familie?«, gab Edwin die Frage schließlich zurück.
»Meine Schwester Jera. Meine Mutter ist an der Plage gestorben. Und mein Vater war geschäftlich in der Nähe von Calais, als es losging. Um genau zu sein, sind wir nur in der Eifel gelandet, weil wir uns aufmachen wollten, ihn zu suchen«, erklärte Smilla.
»Ihn suchen?« In Edwins Stimme schwang Verwunderung mit. Wie so viele andere hielt er es vermutlich für äußerst unwahrscheinlich, dass ihr Vater noch lebte. Manchmal tat Smilla das auch. Nachts, wenn es dunkel wurde und die Welt noch viel gefährlicher wirkte, als sie ohnehin schon war.
»Wir kommen ursprünglich aus Köln, Jera und ich. Wir haben dort ein Jahr gewartet, dass er zurückkommt. Aber dann wurde es zu gefährlich für uns. Zwei Mädchen ohne Gruppe, ohne Unterstützung et cetera. Wir wollten los, um ihn zu suchen.«
»Und wie seid ihr dann hier, irgendwo im nirgendwo, gelandet?«
»Ich hatte die Reise unterschätzt. Wir waren völlig ausgehungert und hatten beide Fieber, als wir hier im Wald auf die Gruppe getroffen sind, bei der wir nun leben.«
»Sie haben euch aufgenommen«, schlussfolgerte Edwin.
»Ja«, sagte Smilla und merkte, dass sie selbst ein wenig überrascht klang. Es gab nicht mehr viele Menschen, die es auf sich genommen hätten, zwei zusätzliche hungrige Mägen zu füllen. Jera und sie hatten Glück gehabt, dass sie auf genau solche Menschen getroffen waren.
»Also habt ihr aufgehört, nach eurem Vater zu suchen?« Edwin blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Smilla blieb ebenfalls stehen. »Ihn zu suchen war von Anfang an nichts als eine Verzweiflungstat. Wenn er überlebt hat – wie hoch sind die Chancen, dass er die ganze Zeit über in Calais geblieben ist?« Sie winkte Edwin zu sich, um ihm zu bedeuten, dass er sich wieder in Bewegung setzen sollte. »Nicht sehr hoch«, beantwortete sie sich dann ihre eigene Frage und lief weiter.
Edwin ächzte hinter ihr. »Hier in den Wäldern zu bleiben ist sicher das Beste für euch. Es ist wirklich ungemütlich geworden, vor allem in den Städten. Ich habe auf meinem Weg viel gesehen und kaum etwas davon war erfreulich.«
Sie kamen an einen schmalen Bachlauf mit einer Brücke. Smilla streckte einen Arm aus, um Edwin daran zu hindern, sie zu betreten. »Auf der Brücke hinterlassen wir Spuren. Ich springe lieber über den Bach.«
Sie setzte einen Fuß auf einen Stein in der Mitte des Stroms und hüpfte hinüber. Dann reichte sie Edwin die Hand, um ihm übers Wasser zu helfen.
Eine halbe Stunde später gelangten sie auf die Dreiborner Hochfläche. In der Abenddämmerung wirkten die verblühten Ginsterbüsche und das gilbende Gras sanft wie ein Pastellgemälde.
»Ah, hier sind wir«, sagte Edwin mit einem Blick in die Ferne. »Da drüben ist die Ordensburg Vogelsang, nicht wahr?« Er deutete in den Dunst über den Bergen am Horizont.
»Genau«, bestätigte Smilla. »Warst du mal dort?«
»Ja, aber das ist über zwanzig Jahre her. Damals lebte meine Frau noch. Sie kam gerne zum Wandern in die Eifel. Hatte eine Cousine in Monschau.«
Eine weitere Viertelstunde verstrich. Es war mittlerweile dunkel und nur die Sterne, die vereinzelt zwischen den Wolken aufblinkten, ermöglichten es, in der Finsternis etwas zu erkennen. Hinter den Ginsterbüschen wurden Umrisse sichtbar, die sich kantig und geradlinig von der umgebenden Natur abhoben. Sie waren nur noch wenige Dutzend Meter vom Quartier entfernt.
Smilla blieb stehen und wandte sich zu Edwin um. «Eine Sache noch«, sagte sie. Bei dem Gedanken an Karen und die anderen wurde ihr heiß und flau. «Ich bringe mich gerade selbst in ziemlich große Schwierigkeiten, indem ich dich zu unserem Quartier führe. Du musst mir versprechen, dass du zu niemandem auch nur eine Silbe über uns verlierst. Nicht über unsere Gruppe und auch nicht über unseren Standort.«
Edwin sah sie aus ernsten Augen an. Dann nickte er.
»Versprich es«, forderte Smilla. Sie musste die Worte aus seinem Mund hören, auch wenn Worte in dieser Welt ungefähr so viel Bedeutung hatten wie das Leben einer Eintagsfliege.
»Ich schwöre es dir sogar«, sagte Edwin. »Von mir erfährt niemand irgendetwas.«
»Gut.« Smilla setzte sich wieder in Bewegung. »Da vorn ist es nämlich auch schon.«
»Aber das ist doch nicht Wollseifen, oder?«, fragte Edwin, als sie die ersten würfelhaften Bauten passierten, die den belgischen Militärs einst als Kulisse für Kampfübungen gedient hatten.
»Doch, ist es«, sagte Smilla. Sie bogen vom Pfad ab, der durch das Dorf führte. Dann stiegen sie eine Senke hinab, in der hinter knorrigen Nadelgewächsen der Eingang zum Quartier verborgen lag. Sie hatten bewusst kein Tor oder Ähnliches vor den Zugang des Bunkers gebaut, damit niemand auf die Idee kam, hier wäre etwas zu holen. Das Stahlgitter, das den Eingang einst versperrt hatte, war achtlos auf den Boden geworfen worden, und Gräser und Moose wucherten in einem stetig dichter werdenden Netz darüber. Smilla tauchte in die Finsternis der Bunkergänge ein und stieg die Treppe ins Erdreich hinab. Bis dorthin reichte nicht einmal das Licht der Sterne.
Auf der Hälfte der Treppe bemerkte sie, dass Edwins Schritte hinter ihr verstummt waren. Sie hielt an, wandte sich um und erkannte seine Silhouette im Eingang. »Es sind zweiundzwanzig Stufen. Alle intakt, nur etwas rutschig«, rief Smilla ihm zu. Manchmal vergaß sie, wie viel Überwindung es beim ersten Mal kostete, blind in das schwarze Nichts unter ihnen zu treten.
»Okay«, sagte Edwin in ersticktem Tonfall, bewegte sich aber keinen Zentimeter. Smilla erkannte Angst in seiner Stimme. Sie verstand ihn nur zu gut. In der Welt nach der Plage wusste man nie, wem man trauen konnte. Je freundlicher und entgegenkommender jemand war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Sie selbst würde unter keinen Umständen jemandem in einen finsteren Gang folgen – so viel stand fest.
»Oder vielleicht wartest du besser dort oben«, sagte sie also, um Edwin aus seiner innerlichen Zwickmühle zu helfen. »Ich gebe eben das Kaninchen ab und frage nach Verbandszeug. Dann komme ich wieder.«
»Ist gut.« Edwin wich zurück unter den freien Himmel.
Mit eiligen Schritten lief Smilla den Gang entlang und bog nach rechts ab, wo weitere glitschige Stufen tiefer in die Erde führten. Am Fuß der Treppe erstreckte sich ein Flur mit drei Türen auf jeder Seite. Hinter der zweiten Tür links war der Bunker eingestürzt. So sollte es zumindest aussehen, wenn jemand mit genug Licht und Mut hier herunter kam. In Wirklichkeit aber war der Gang nicht eingestürzt. Karen und ihre Familie hatten Bauschutt und Erde herein gekarrt und aufgetürmt, um es so aussehen zu lassen. Der Gesteinsbrocken in der rechten oberen Ecke war aus Styropor und ließ sich ohne Probleme aus dem Schutthaufen herausschieben. Durch das entstehende Loch gelangte man ins Quartier.
Smilla erklomm den Schutthaufen und duckte sich durch den geheimen Eingang. Auf der anderen Seite war das Geröll mit Beton und Holzbalken gesichert und eine unebene Treppe führte zurück auf festen Boden. Smilla schob gerade den falschen Gesteinsbrocken wieder an seinen Platz, als sie Schritte im Flur hinter sich hörte.
»Da bist du ja endlich«, erklang Karens Stimme.
Smilla wandte sich um und warf Karen ein flüchtiges Lächeln zu. Vor einem Jahr hatte ihr Haar noch erdbeerblond geglänzt, mittlerweile war sie fast gänzlich ergraut.
»Hast du nichts gefangen?«
»Doch, aber –«
»Sehr gut, her damit. Die anderen rücken mir schon auf die Pelle.«
Karen streckte die Hand aus und Smilla reichte ihr das Kaninchen. Mit gerunzelter Stirn musterte ihre Anführerin den dreibeinigen Kadaver. »Du hast doch nicht etwa schon davon gegessen, oder?«
Smilla schüttelte den Kopf. »Aber ich habe jemandem etwas davon abgegeben.«
Karen sah von dem verstümmelten Kaninchen auf. »Du hast was?«
Smilla schluckte beim Anblick von Karens entgeisterter Miene.
»Ja, einem alten Mann, der auf dem Weg nach Brüssel ist. Er ist verletzt und hat mich um Hil–«
»Du willst mir sagen, du bist verantwortlich für das Abendessen von sieben Leuten und gibst die Hälfte eines mageren Kaninchens an einen Fremden?«
Smilla schlug den Blick nieder. Augenblicklich wurden ihre Wangen vor Scham heiß. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie Jera und Giorgio, die sich aus dem Wohnzimmer in den Flur lehnten, um das Geschehen zu verfolgen.
»Ich habe ihm nur eine Keule gegeben und –«
»Smilla, wir haben klare Regeln für derartige Begegnungen. Hast du Anna etwa schon vergessen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich hatte Mitleid.«
Karen erwiderte nichts und Smilla wagte es nicht, sie anzusehen. Vermutlich kämpfte sie mit den Tränen. Das tat sie immer, wenn Annas Name fiel.
»Smilla«, sagte sie dann bloß, »du bist zu weich für diese Welt.«
Hinter Karen griff Jera sich in einer dramatischen Geste ans Herz und tat so, als ob sie sich Tränen der Rührung aus den Augen wischte. Giorgio beendete ihre Vorstellung mit einem Klaps auf ihren Hinterkopf.
»Komm, dann hilf mir wenigstens beim Kochen. Aber das kommt nie wieder vor. Ist das klar?«
Smilla biss sich auf die Lippe. »Ich helfe dir sofort, aber… ich habe ihn vielleicht mitgebracht.«
»Mitgebracht? Den Fremden?« Ihre Stimme klang schrill.
Smilla nickte betroffen, halb in Erwartung einer Ohrfeige. Aber als Karen nur fassungslos schnaufte, redete Smilla weiter. »Er wurde von einem Hund angefallen und seine Wunde sieht echt übel aus. Ich konnte ihn nicht zurücklassen. Und er hätte mir bestimmt auch geholfen, wenn ich in Schwierigkeiten gewesen wäre.«
»Ja sicher, Smilla, weil wir so viele gute Erfahrungen mit hilfsbereiten, fremden Männern gemacht haben.«
»Er ist alt und er ist ein Doktor.«
»Oh, na dann«, sagte Karen und schüttelte empört den Kopf. »Und was willst du bitte mit ihm anstellen?«
»Ich will seine Wunde säubern und desinfizieren.«
Karens Nasenflügel bebten, wie immer, wenn sie sich entscheiden musste, ob sie sich beruhigen oder noch wütender werden wollte.
»Na gut. Was anderes, als hilfsbereit zu sein, bleibt uns wohl auch nicht mehr übrig, wo du ihm schon unseren Standort verraten hast.«
Smilla atmete erleichtert aus.
»Kann ich zusehen?«, rief Jera vom Ende des Flurs her.
Karen wandte sich mit einer Selbstverständlichkeit zu ihr um, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass Jera lauschte. »Du und Giorgio helft beim Gemüseschneiden, da gibt es keine Ausreden!«
Jera quiekte unzufrieden. »Mann, ich hasse Schnippeln.«
Mit gesenktem Kopf lief Smilla an Karen vorbei und auf die Tür zu, in der Giorgio und Jera standen. »Wie blöde du bist«, sagte Jera, als Smilla vorbeiging, und trat nach ihren Füßen.
»Sei bloß still, Jera«, brummte sie und trat zurück.
Sie lief vorbei an Lars, der in seinem Sessel vor dem Kamin saß und rief: »Was hast du nun schon wieder angestellt?« Vorbei an seinen und Karens Töchtern Sarah und Marie, die am Esstisch Kleidung und Bezüge flickten. Dann gelangte sie in den Flur und die daran angrenzende Vorratskammer.
Der Verbandskasten hatte sich seit Giorgios Ankunft im Quartier sichtlich geleert. Ein Jahr war es her, dass er blutend und weinend zu ihnen gestoßen war. Ein Jahr, seitdem sie Anna verloren hatten.
Eilig stopfte Smilla Salbe, einen Fetzen Betttuch und Mullbinden in ihre Jackentaschen. Dann verließ sie die Vorratskammer und ging in die Kochecke im Wohnzimmer. Dort schöpfte sie Wasser aus einem hölzernen Fass in eine Plastikschüssel und begab sich zurück in den Flur, der aus dem Quartier heraus führte.
Edwin hatte sich ein paar Meter entfernt vom Bunker auf den Boden gesetzt. Als Smilla ins Freie trat und auf ihn zukam, stand er auf. »Und?«, fragte er. »Hast du Verbandszeug bekommen?«
Smilla warf ihm einen finsteren Blick zu, während sie die Schüssel mit dem Wasser zu ihm balancierte. »Deinetwegen habe ich ganz schön Ärger am Hals«, sagte sie dann bloß.
Sie stellte die Schüssel mit Wasser behutsam ins Moos und holte den Fetzen Betttuch aus ihrer Jackentasche. »Zieh am besten deine Hose aus«, wies sie ihn an.
Edwin gab ein undefinierbares Geräusch von sich. »Ich verarzte mich schon selbst. Du hast genug für mich getan.«
»Lass mich das machen. Dann weiß ich wenigstens, dass es richtig gemacht wurde«, widersprach Smilla.
Edwin zögerte, seufzte dann ergeben und knöpfte seine Hose auf.
Smilla tunkte das Stück Laken ins Wasser und begann sanft, die Haut um die Wunde herum zu säubern. »Es blutet nicht mehr, das ist gut. Wie lange hat es geblutet?«
»Die erste Nacht durch. Dann wurde es weniger, aber durch die ständige Bewegung geht die Wunde immer wieder auf.«
Smilla tunkte das Tuch erneut ins Wasser. Ohne den Schutz der Jeans war Edwins Gestank beinahe unerträglich. Für einen kurzen Moment befand sie sich in der Linie 18 vom Kölner Hauptbahnhof Richtung Barbarossaplatz. Auf der Sitzbank hinter ihr hing der Penner, der so oft in dieser Linie um Geld bat – besinnungslos, in seinen eigenen Fäkalien sitzend. Die anderen Passagiere waren ausgestiegen oder in den vorderen Teil der Bahn geflüchtet. Nur Smilla war sitzen geblieben und hatte den Gestank ausgehalten.
Als sie den gröbsten Schmutz von Edwins Haut entfernt hatte, sah sie, wie breit der Spalt war, den der Hund in sein Fleisch geschlagen hatte. Es war nicht bloß der Abdruck eines Raubtierkiefers. Die Wunde klaffte weit auseinander. »Das muss genäht werden«, sagte sie und ließ das Tuch sinken. »Ich hole Nähzeug.«
Sie stand auf und lief zurück in den Bunker.
»Ist die Wunde schon versorgt?«, fragte Karen verwundert, als Smilla durch die Tür zum Wohnzimmer kam.
»Sie muss genäht werden«, antwortete sie im Vorbeigehen. Sie hoffte, einer neuerlichen Welle des Ärgers zu entgehen, wenn sie schnell genug wieder außer Sicht war.
Als Smilla mit Nadel und Zwirn zurück aus der Vorratskammer kam, stand Karen im Flur und versperrte ihr den Durchgang. »Ist die Wunde tief?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.
»Ja.«
Karen warf einen Seitenblick zu Lars, der noch immer in seinem Sessel saß und zufrieden ins Kaminfeuer starrte. Dann seufzte sie und sagte: »Nun bring ihn schon rein. Du kannst in der Dunkelheit doch keine Wunde nähen.«
»Okay«, sagte Smilla erleichtert, »danke.«
»Er hat zu danken.«
Eilig stopfte Smilla Nadel und Zwirn zu der Mullbinde in ihrer Jackentasche und lief zurück zu Edwin.
»Du kannst reinkommen«, sagte sie außer Atem, als sie bei ihm ankam.
»Bist du sicher?«
»Ja, hier draußen sehe ich nicht genug.« Sie bückte sich nach der Plastikschüssel und dem Stück Laken, während Edwin schwerfällig seine Hose wieder hochzog.
Diesmal folgte Edwin ihr in die Finsternis des Quartiers. Vielleicht hatte er realisiert, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb. Vielleicht hatte er aber auch beim Anblick von Salbe und Mullbinde erkannt, dass Smilla ihm wirklich nur helfen wollte.
»Hier rechts«, leitete sie ihn an, als sie an die Stelle kamen, wo sich der Flur t-förmig spaltete. »Und hier ist noch eine Treppe, sechzehn Stufen.«
»Wie habt ihr diesen Ort gefunden?«, fragte er. Sie hörte seinen Arm tastend an der Wand entlang streifen, seine unregelmäßigen Schritte auf dem Betonboden.
»Die meisten aus meiner Gruppe kommen aus der Gegend. Den Bunker hatten sie lange vor der Plage bei einem Ausflug entdeckt. Als die Plage ausbrach, haben sie sich aus Angst hierhin zurückgezogen.«
Sie gelangten an die Barrikade aus Schutt.
»Das könnte jetzt schwierig werden«, kündigte Smilla an und kletterte zu dem falschen Stein hinauf. Sie stellte die Plastikschale mit Wasser ab und stieg zurück, um Edwin zu helfen. Er musste sich auf den Hintern setzen und rückwärts durch das Loch robben. Auf der anderen Seite angekommen, brauchte er Smilla als Stütze, um die Stufen wieder herabzusteigen. Sie warf ihm einen heimlichen Blick zu, als sie auf festen Boden gelangten. Auf seiner Stirn stand Schweiß und er wirkte ausgelaugt.
Als sie mit ihm das Wohnzimmer betrat, hatten sich die anderen hinter dem Esstisch zu einem kriegerischen Begrüßungskomitee aufgereiht. Lars hatte seine Jagdmütze aufgesetzt, Karen die Arme vor der Brust verschränkt, Sarah ihre Haare zurückgebunden, Marie ihren Rosenkranz in den Fingern und Jera den lächerlichen Speer unter ihrem Bett hervorgeholt, an dem sie jeden Abend herumschnitzte. Nur Giorgio hatte sich keine Mühe gegeben, stärker oder härter auszusehen, als er war. Er saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln.
»Das ist Edwin«, sagte Smilla und versuchte, gelöst zu klingen.
»Guten Abend.« Edwin vollführte die knappe Verbeugung, die er auch schon ihr gewidmet hatte. »Und danke für eure Gastfreundschaft.«
»Nichts zu danken«, sagte Karen. Sie griff hinter sich und holte eine Flasche hervor, die stark nach Schnaps aussah. »Wenn Sie genäht werden müssen, sollten Sie sich vorher etwas Mut antrinken.« Sie stellte ein Glas auf den Tisch und goss zwei Fingerbreit braune Flüssigkeit ein.
»Das ist doch nicht nötig«, sagte Edwin und winkte ab.
»Doch, glauben Sie mir, ist es.« Sie kam um den Tisch herum und reichte ihm den Schnaps. In derselben Bewegung nahm sie ihm die Kaninchenkeule ab. »Die schmeckt gekocht besser.« Dann ging sie zurück zur Anrichte.
Edwin schwenkte seinen ungekühlten Drink und roch daran, bevor er ihn in einem Zug hinunterkippte.
»Setz dich«, sagte Smilla und wies auf einen der Küchenstühle. Edwin tat, wie ihm geheißen.
»Hast du das Desinfektionsspray?«, fragte Karen über ihre Schulter.
»Nein, nur die Jodsalbe.«
»Marie, hol Smilla das Desinfektionsspray. Wenn wir schon Notarzt spielen, dann richtig.«
Mit einem kurzen Nicken verschwand Marie in Richtung Vorratskammer.
Smilla zog sich einen Stuhl heran und ließ sich vor Edwin darauf nieder. Jera und Giorgio traten hinter sie, während Sarah und Lars das Geschehen von der anderen Seite des Tisches verfolgten.
»Zeig mal deine Wunde«, forderte Jera gierig.
Edwin klappte das zerrissene Stück Jeans zur Seite.
»Wow«, murmelte Jera. »Hat das weh getan? Also, so richtig weh getan?«
»Absolut«, sagte Edwin und zwinkerte Jera zu.
»Wie ist das passiert? War das etwa ein Wolf? Es sieht nach einem Wolf aus.«
»Ein Hund«, antwortete Smilla für Edwin. »Du musst die Hose ein Stück runterziehen, sonst kann ich nicht vernünftig nähen.«
Diesmal protestierte Edwin nicht.
Sie hörte, wie Lars sich angestrengt räusperte, als die Wunde ganz zum Vorschein kam. Er konnte Hühnern den Kopf umdrehen und ohne mit der Wimper zu zucken Kleinwild ausnehmen, aber von Menschenblut wurde ihm flau.
»Das gibt bestimmt eine coole Narbe«, meinte Jera und lehnte sich näher zu Edwin. »Ich habe auch Narben, willst du mal sehen?«
In diesem Moment kam Marie aus der Vorratskammer zurück und stellte das Desinfektionsmittel neben Smilla auf den Küchentisch.
»Jera, du nervst«, sagte Smilla zu ihrer kleinen Schwester. »Hilf mir lieber, vielleicht lernst du ja sogar was dabei.«
Jera kniete sich auf den Boden zwischen Edwin und Smilla. »Du hast es zuerst sauber gemacht, ja?«, fragte sie und Smilla nickte.
»Jetzt desinfizierst du es?«
»Genau.«
»Guck, ich weiß das alles schon«, sagte Jera zu Edwin. »Meine Schwester hält mich für blöd.«
»Oh, das haben Schwestern so an sich.«
»Hast du auch eine Schwester?«
Edwin sog scharf die Luft ein, als Smilla das Desinfektionsspray in seine Wunde sprühte.
»Ja, vier sogar«, antwortete er mit zusammengepressten Zähnen.
»Vier Smillas«, murmelte Jera, »da würde ich verrückt werden!«
Giorgio lachte trocken. »Und Karen erst.«
Nachdem Smilla Edwins Wunde genäht, mit Jodsalbe eingecremt und verbunden hatte, war er kaum mehr ansprechbar. Seine Lippen hatten einen fahlen Ton angenommen, sein Blick war neblig. Lars und Giorgio mussten ihn zur Couch tragen, da er zweimal beinahe vom Stuhl gesackt wäre.
Jera setzte sich vor die Couch und nutzte Edwins Wehrlosigkeit aus, um ihm allerlei Geschichten zu erzählen, die Smilla und die anderen schon etliche Male gehört hatten. »Einmal, da war ich drei oder so, da saß ich hinten auf dem Fahrrad von meiner Mama und mein Bein ist in die Speichen gekommen…« Ab und zu brummte Edwin erstaunt oder zustimmend, obwohl Smilla bezweifelte, dass er ihr folgen konnte.
»Meinst du, er überlebt die Nacht?«, flüsterte Giorgio nahe an Smillas Ohr. Sie saßen vor dem Kaminfeuer und passten auf, dass Karens Kanincheneintopf nicht anbrannte.
Smilla nickte. »Er ist bloß erschöpft und jetzt, wo er in Sicherheit ist, holt ihn das ein. Nach einer richtigen Mahlzeit und einer Nacht Schlaf wird er wieder bei Kräften sein.«
Giorgios braune Augen wanderten unbehaglich in Edwins Richtung und er nickte. »Ich weiß noch, wie ich auf dieser Couch lag und von Jera beschallt wurde.«
»Ja, ich habe auch gerade daran gedacht«, gestand Smilla, »ein Jahr ist das schon her.«
Eine Weile starrten sie schweigend ins Feuer. »Glaubst du, sie sind noch immer dort?«
»Warum sollten die Verlorenen Jungs Vogelsang aufgegeben haben? Du hast doch selbst gesagt, dass sie es mit viel Aufwand zu einer uneinnehmbaren Festung gemacht haben.«
»Ja, schon, aber ich habe seit der Sache mit Anna nie wieder einen von ihnen gesehen.«
Smilla nahm den Holzlöffel vom Teller neben sich und rührte den Eintopf um.
»Das ist doch gut. Dann scheinen sie bis heute keinen Schimmer zu haben, dass du überlebt hast.«
Giorgio hielt den Blick aufs Feuer gerichtet, aber sein Fokus driftete in weite Ferne ab. »Ich habe schon wieder von ihr geträumt.«
Smilla wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also rührte sie weiter im Eintopf. Sie redete nicht gern über Anna, denn es tat weh. Sie war die einzige in der Gruppe gewesen, die wirklich ihre Freundin gewesen war.
Giorgio seufzte. »Ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, ob es irgendwie anders hätte enden können, wenn ich nur –«
»Du wolltest ihr helfen«, unterbrach Smilla ihn. Die Schuld kam immer wieder über ihn und sie wusste nicht, was sie sagen konnte, um sein Gewissen zu erleichtern. Sie wusste nicht einmal mit Sicherheit, ob sie das überhaupt konnte. Ja, Giorgio hatte Anna nur helfen wollen. Aber am Ende war sie dabei ums Leben gekommen.
»Und wenn ich schon nicht aufhören kann, darüber nachzudenken, wie geht es dann wohl erst Karen und Lars… und Marie… und Sarah. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich rausschmeißen, weil ich… weil ich…«
Smilla griff nach Giorgios Hand. »Hör auf damit«, sagte sie und blickte ihm tief in die Augen. »Du musst damit aufhören.«
Er schluckte, dann nickte er.
»Was macht der Eintopf?« Karen kam zu ihnen und beugte sich zum Kamin herab.
»Sieht gut aus«, antwortete Smilla.
»Hast du schon probiert, ob die Kartoffeln durch sind?«
»Nein.«
Karen nahm den Löffel aus Smillas Hand und fischte ein Stück Kartoffel aus dem Topf. Sie biss hinein und reichte die andere Hälfte Giorgio. »Was meinst du?«
Er nahm es entgegen, pustete und steckte es in den Mund. Dann reckte er den Daumen in die Luft. »Ist durch, schmeckt super.«
»Danke«, sagte Karen und lächelte. Sie ging zurück in die Kochecke und holte Teller aus dem Hängeschrank.
»Jap, sie scheint kurz davor, dich rauszuschmeißen«, sagte Smilla und grinste Giorgio an. Sie griff nach dem Topflappen, der an einem Haken neben dem Kamin hing, und zog den Kessel in seiner Halterung nach oben, damit der Eintopf aufhörte zu kochen.
Giorgio machte ein unglückliches Geräusch. »Es will mir einfach nicht aus dem Kopf.«
»Das ist doch gut so. Das zeigt, dass du nicht wie die anderen Verlorenen Jungs bist«, antwortete Smilla. Dann stand sie auf.
»Giorgio, du kannst gleich da drüben bleiben und uns allen Eintopf auftun«, rief Karen ihnen zu. »Marie, bring ihm die Teller.«
Smilla ging zu Edwin, der mittlerweile wieder etwas mehr Farbe hatte und Jeras Geschichten nun mit größerer Aufmerksamkeit lauschte.
»Wir hatten ein Meerschweinchen, das hieß Pegasus, aber das ist weggelaufen.«
»Komm, Jera«, unterbrach Smilla sie, »hilf Giorgio beim Essenverteilen.«
Jera stand ohne Widerworte auf und lief zu Giorgio.
Smilla mochte die Geschichte von Pegasus nicht. Er war nicht weggelaufen. Ihre Mutter hatte ihn einige Wochen nach Ausbruch der Plage gekocht, weil ein bewaffnetes Paar Ende vierzig ihre gesamten Vorräte gestohlen hatte. Smilla war wütend gewesen und hatte die erste vernünftige Mahlzeit seit Tagen nicht angerührt. Sie hatte kein Wort mehr mit ihrer Mutter gewechselt. Dann war sie krank geworden und innerhalb weniger Stunden gestorben.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie Edwin.
»Schlechter, als ich erwartet habe.«
»Kannst du aufstehen? Es gibt Essen.«
Edwin zog sich an der Sofalehne in eine aufrechte Position. Dann holte er mit seinem Oberkörper Schwung und stand auf. Smilla reichte ihm den Arm und er hakte sich ein. Er wirkte um ein Dutzend Jahre älter als noch vor kaum einer Stunde.
Lars, der Edwins bedächtigen Gang zum Esstisch verfolgte, schien das gleiche durch den Kopf zu gehen und er fragte: »So, wie kommt’s, dass Sie ganz allein durch die Eifel wandern? Würd mich jemand fragen, würd ich behaupten, Sie sind lebensmüde.«
»Ich bin auf dem Weg nach Brüssel«, sagte Edwin und ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf dem Smilla ihn genäht hatte. Es klebte frisches Blut daran.
»Brüssel? Das ist aber noch ein langer Weg.«
»Ich komme von Bayreuth. Umkehren lohnt sich jetzt auch nicht mehr.« Edwin grinste schief.
Jera brachte die ersten Teller mit dampfendem Eintopf. Einen stellte sie vor Lars, den anderen vor Edwin. »Was ist Brüssel?«, fragte sie.
»Eine wunderbare Stadt«, antwortete Edwin und Smilla sah, dass ein Leuchten in seine Augen trat.
»Dort bauen sie alles wieder auf.« Das Gespräch, das Smilla bereits im Wald mit Edwin geführt hatte, wiederholte sich und sie spürte, dass die anderen Gruppenmitglieder ebenfalls skeptisch waren, ob die Geschichte, die Edwin gehört hatte, zu glauben war.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Edwin, der mit dieser Art von Gespräch schon Erfahrung zu haben schien. »Dass irgendwo angeblich alles zum Alten zurückkehrt, habt ihr sicherlich schon zigmal gehört.«
Giorgio zuckte die Schultern, ohne den Blick von seinem Eintopf zu heben, Sarah und Marie nickten knapp. Lars zeigte keine Regung, während Karen Edwin mit gerunzelter Stirn taxierte.
»Aber der Mann, der es mir erzählt hat, kam schließlich selbst aus Brüssel. Es war nicht nur Hörensagen, sondern ein Bericht aus erster Hand.«
»Es könnte eine List gewesen sein«, meinte Karen, »um Menschen anzulocken. Vielleicht steckt die Sekte, eine Räuberbande oder ein Kannibalenring dahinter.«
»Oder es war blödes Gerede, um sich interessant zu machen«, grummelte Lars. »Und nur mal angenommen, in Brüssel liefe das Leben auch nur etwas geregelter als woanders – warum sollten die der ganzen Welt davon erzählen? Damit würden sie doch nur Tür und Tor für alles Üble da draußen öffnen.«
»Richtig. Aus diesem Grund haben wir ja auch die Regel aufgestellt, niemandem von unserem Quartier zu erzählen. Wir haben es gut hier und so soll es auch bleiben«, sagte Karen.
Smilla wusste, dass dies eine Spitze gegen sie war. Aber sie fand die Vorstellung ermutigend, dass es in nicht allzu weiter Ferne einen Ort gäbe, an dem die Menschen in Harmonie, Sicherheit und Wohlstand miteinander lebten. Sie konnten schließlich nicht ewig in einem Loch in der Erde ausharren. Das musste Karen ebenfalls klar sein.
»Der Markt in Monschau funktioniert doch eigentlich nach dem gleichen Prinzip«, gab sie also zu bedenken. »Viele Menschen profitieren von dem, was die jeweils anderen anbieten und deshalb kommt keiner auf die Idee, den Markt durch Überfälle oder Ähnliches zu gefährden.«
Karen sah von ihrem Teller auf und sagte mit unerwarteter Heftigkeit: »Das ist nicht das Gleiche, Smilla. Es ist bloß ein Markt und kein neues System. Am Ende des Tages kehren alle wieder in ihre Quartiere und Verstecke zurück und leben ihr eigenes Leben.« Sie wandte sich wieder ihrem Eintopf zu. »Egal, was in Brüssel ist oder nicht ist – wir haben ein Dach über dem Kopf, Essen im Bauch und auch sonst alles, was wir zum Überleben brauchen. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«
So war es immer. Jedes Gerücht über einen besseren Ort, jede gewagte Idee für die Zukunft der Gruppe wurde im Keim erstickt, bevor sie übermächtig werden und für Unruhe sorgen konnte. Das war nur zu ihrem Besten. Aber nicht immer fühlte es sich danach an.
Unangenehm berührt kratzte Edwin sich das Kinn. Es war sicherlich nicht angenehm, erst von Fremden verarztet und verpflegt zu werden, nur um dann für Streit zu sorgen. Mit einem kleinen Lächeln in seine Richtung versuchte Smilla, sein Unwohlsein aufzufangen.
Niemand sagte mehr ein Wort und in unbehagliches Schweigen gehüllt leerten sie ihre Teller. Nach dem Essen wurde Edwin auf der Couch einquartiert, Giorgio musste auf den Teppich vor dem Kamin ausweichen. Karen und Lars verabschiedeten sich mit einem knappen »Gute Nacht« und auch Marie, Sarah, Jera und Smilla zogen sich in das Zimmer zurück, das sie sich zu viert teilten.
Als Smilla und Jera in die Gruppe aufgenommen worden waren, hatten sie den Raum mit Teppichen und alten Laken zweigeteilt. Hinter dem behelfsmäßigen Raumtrenner befanden sich Maries und Sarahs Betten, davor Smillas und Jeras. Marie war erst zwölf und verstand sich so gut mit Jera, dass es dieser sogar zu gefallen schien, sich das Zimmer mit ihr zu teilen. Smilla hingegen hatte nie wirklich aufgehört, sich unwohl mit diesem Arrangement zu fühlen. Marie war dabei nicht das Problem und auch mit Anna, die bis vor einem Jahr ebenfalls das Zimmer mit ihnen geteilt hatte, war sie sehr gut ausgekommen. Mit Sarah hingegen hatte sie sich nie anfreunden können. Sie war drei Jahre älter als Smilla und wirkte in ihrer stillen Distanziertheit wie eine große Schwester, die man immer störte oder nervte, egal, was man tat.
Marie und Sarah verschwanden mit gemurmelten Gute-Nacht-Wünschen auf ihre Seite des Teppichs und Smilla ließ sich erschöpft auf ihr Bett sinken. Sie nahm einen jungen Eichenzweig aus einem Glas in ihrem Regal und zerkaute ihn an einem Ende. So stellte sie jeden Abend eine behelfsmäßige Zahnbürste her. Die Idee hatte sie aus einer Dokumentation, die sie sich mit ihrem Vater angesehen hatte. Laut dieser war Karies erst zu einem Problem geworden, als die Menschen angefangen hatten, Getreide anzubauen. Die Kohlenhydrate aus dem Getreide waren nichts anderes als Zucker und der griff den Zahnschmelz an. Oder so ähnlich. Auch wenn sie sich nicht mehr so sehr um ein gepflegtes Äußeres scherte wie vor der Plage – faulige Zähne wollte Smilla um jeden Preis vermeiden.
»Muss ich noch lesen üben?«, fragte Jera, ebenfalls einen Eichenzweig im Mundwinkel, und warf einen flüchtigen Blick auf die Bücher, die sich auf ihrem Nachttisch stapelten.
»Nein, schon gut«, sagte Smilla. Sie sägte das benutzte Ende des Zweigs mit Giorgios Jagdmesser ab und warf es in den Nachttopf. Sie gähnte, schlüpfte aus ihren Schuhen und verkroch sich unter ihrer Decke. »Aber morgen wieder«, fügte sie dann hinzu und hoffte, streng zu klingen.
»In Ordnung«, antwortete Jera.
Müde blinzelnd sah Smilla ihr dabei zu, wie sie ins Bett schlüpfte. Jera sträubte sich mit aller Macht gegen Smillas Unterricht. Mathe lernte sie noch am liebsten, weil sie wusste, dass sie es irgendwann einmal für Verhandlungen auf dem Monschauer Markt benötigen würde. Auch die wenigen Dinge aus Biologie und Physik, an die Smilla sich noch erinnerte, nahm sie interessiert auf. Aber Lesen, Schreiben, Englisch – wer brauchte das schon? Wenn es nach Jera gegangen wäre, niemand. Aber für Smilla waren diese Fähigkeiten der einzige Weg, der verlässlich zurück in die Zeit vor der Plage führte. Jera diese Dinge nicht beizubringen, wäre einem Verrat an ihrer Vergangenheit gleichgekommen.
Sie lagen sich gegenüber und schauten sich an. »Ich mach das Licht aus, ja?«, sagte Smilla dann.
Jera nickte. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Sie pustete die Talgkerze aus, die neben dem Bücherstapel auf dem Nachttisch stand. Dann schloss Smilla die Augen und entschwebte sofort in einen gedankenlosen Halbschlaf. Zu überleben war anstrengend.
Am nächsten Morgen begleitete Smilla Edwin bis zum Bunkereingang. Die anderen waren nicht mitgekommen, um sich von ihm zu verabschieden.
Im Licht des anbrechenden Tages warf Smilla noch einen Blick auf die Wunde. Das Fleisch war abgeschwollen und hatte aufgehört zu nässen. Nachdem Smilla die Mullbinde wieder festgesteckt hatte, machte Edwin sich unter stetiger Bekundung seiner Dankbarkeit auf den Weg nach Brüssel.
Als Smilla zurück ins Quartier kam, war bereits wieder alles so, als wäre Edwin überhaupt nicht da gewesen. Die Couch gehörte wieder Giorgio, die Blutstropfen waren vom Stuhl gewischt und Karen verteilte die Aufgaben für den bevorstehenden Tag.
Eine Woche war vergangen, seit Edwin bei ihnen übernachtet hatte und Karens Wut über Smillas »verantwortungsloses Verhalten« schien langsam abzuflauen. In den vergangenen Tagen hatte sie immer wieder gegen Smilla gestichelt oder ihr aus dem Nichts eine Standpauke gehalten. Jeden Tag aufs Neue hatte sie ihr die anstrengendsten und langweiligsten Aufgaben zugeteilt. Aber an diesem Tag schien ihr Ärger endlich verflogen zu sein, denn nach dem Mittagessen schickte Karen Smilla zum Angeln an die Urfttalsperre. Angeln war eine ihrer Lieblingsaufgaben. Sie konnte das Tageslicht sehen und wenn sie Glück hatte, auch Sonne auf ihrer Haut spüren. Sie konnte frische, klare Luft atmen und für ein paar Stunden den modrigen Geruch des Bunkers vergessen. Und wenn Giorgio mitkam, dann hatte sie sogar jemanden zum Reden. Aber an diesem Tag war es nicht Giorgio, der ihr zugeteilt wurde, sondern Jera. Das war wohl Karens Art, Smilla wissen zu lassen, dass noch nicht alles vergeben und vergessen war. Zwar verbrachte Smilla unheimlich gerne Zeit mit ihrer kleinen Schwester. Aber unten am See, so weit entfernt vom Schutz des Bunkers, konnte sie die Zeit mit ihr nicht genießen. Wenn Jera jemals etwas zustieße… sie konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken.
Nach dem Essen holte Smilla ihre Schuhe unter ihrem Bett hervor und griff nach ihrem Mantel und ihrem Rucksack. Sie würde bald einen neuen brauchen, aber dieser hier hatte ihrem Vater gehört und sie brachte es nicht über sich, ihn wegzuwerfen. Sie stellte sich das Gesicht ihres Vaters vor, wenn sie ihn fanden und ihm seinen weinroten Rucksack mit den vielen Fächern übergeben konnten. Ihre Mutter hatte ihm diesen Rucksack auf seinen Wunsch hin zu Weihnachten geschenkt. »Ich weiß gar nicht, was du mit so vielen Fächern willst«, hatte sie damals noch gesagt und ihm schulterzuckend das bunte Päckchen überreicht. Und tatsächlich hatten die Taschen in der Familie oftmals für Diskussionen und Verwirrung gesorgt. Immerzu bestand Unklarheit darüber, ob das vorderste Fach dasjenige war, das direkt am Rücken anlag, oder das, das vom Körper weg zeigte. Smilla lächelte. Ihre Eltern vermisste sie mehr als alles andere.
Sie schlüpfte in ihre Schuhe und verstaute eine Flasche Wasser im Rucksack ihres Vaters. Für Jera packte sie eines der Bücher von ihrem Nachttisch ein. Beim Angeln würden sie viel Zeit haben, Lesen zu üben.
Jera wartete im Wohnzimmer bereits auf sie. »Da bist du ja endlich, du lahme Schnecke«, rief sie, als Smilla in den Raum trat. Dann krochen sie hintereinander durch den falschen Schutthaufen und stiegen die Treppen zum Ausgang hinauf. Zwischen den Kulissenhäusern winkten sie Sarah und Marie zum Abschied, die auf dem Weg zum Hühnerstall waren, um ihn zu säubern und die Eier einzusammeln. Den Hühnerstall hatte Lars angelegt. Er war ein hervorragender Heimwerker. Mit Plexiglas, Pappe und Isolierschaum hatte er die Fenster des Hühnerstalls beinahe schalldicht bekommen. Nur, wenn man direkt vor dem augenscheinlich verlassenen und mit Brettern vernagelten Haus stand, konnte man ab und an ein besonders laut zeterndes Huhn oder den gelegentlichen Hahnenschrei vernehmen. Über die Jahre hatte Lars alle möglichen Vorrichtungen und Apparate entwickelt, die ihnen das Leben erleichterten. Neben dem Hühnerstall gab es so inzwischen weitere Räume und Dachterrassen, wo sie Gemüse anbauten und im Sommer unbeobachtet und unbesorgt Zeit verbringen konnten. Außerdem hatte Lars ein Rohr mit Filteraufsatz in den Bunker geleitet, sodass immer frisches Wasser verfügbar war. Auch die zahlreichen Fallen, die sie überall im Wald aufgestellt hatten, hatte er geplant und gebaut. Allerdings waren Fallen, insbesondere solche, in denen etwas gefangen worden war, für alle Fremden ein klares Zeichen, dass sich jemand in der Umgebung aufhielt. Mehrmals waren die Schlingen und Kisten, genau wie die Beute, die sie darin gefangen hatten, sogar geklaut worden. Aus diesem Grund hatten sie die Fallen schließlich aufgegeben. Sie passierten die Kirche Sankt Rochus mit den Informationstafeln, die über die Geschichte des Gebäudes und des Dorfes berichteten. Karen hatte vorgeschlagen, die Schilder abzubauen. Sie befürchtete, dass sie das Interesse von Nomaden oder Reisenden wecken und im schlimmsten Fall zur Entdeckung des Quartiers führen würden. Aber Smilla hatte sie wieder von dieser Idee abgebracht. Sie mochte die Tafeln. Ihr gefiel der Gedanke, dass hier bis vor wenigen Jahren friedliche Wanderer angehalten hatten, um etwas über Wollseifen zu erfahren. Manchmal las sie die Texte, wenn sie vom Jagen, Sammeln oder Angeln kam. Dann stellte sie sich vor, sie selbst sei nur ein friedlicher Wanderer, der in ein paar Stunden in den Zug steigen und zurück nach Hause fahren würde.
Hinter der Kirche überquerten sie den einst breiten Wanderweg, der zu einem unwegsamen Pfad zusammengeschrumpft war, und schlüpften ins Dickicht. Es waren erst vier Jahre vergangen, seit die Plage die Welt für immer verändert hatte. Aber mehr hatte es nicht gebraucht, um die Hochfläche und ihre Wanderwege in einen jungen Urwald zurückzuverwandeln: Kleine Buchen, Eichen und Fichten drängten sich vom Waldrand her immer weiter in die Wiesen, auf denen einst Schafe gegrast und Truppen geübt hatten.
Ein schmaler Wildpass führte Smilla und Jera über die Hochfläche und in einen Tannenwald. Hier waren die Bäume älter und größer und standen nicht so eng beieinander. Der Waldboden war nur von Tannennadeln und hier und da von moosigen Gesteinsbrocken bedeckt, sodass sie schneller vorankamen.
Sie gingen im Stechschritt nebeneinander her, ohne ein Wort zu sprechen. Smilla redete nicht gerne, wenn sie draußen im Wald waren. Es konnte die Aufmerksamkeit von Feinden auf sie ziehen. Außerdem wollte sie so schnell wie möglich zu der kleinen Bucht gelangen, in die um diese Zeit Sonnenlicht fiel.
Nach einer guten Dreiviertelstunde gelangten sie an das Ufer der Urfttalsperre. Zu Smillas großer Freude hatte die Sonne Dunst und Wolken vertrieben und schien glitzernd auf die Wasseroberfläche. Die Luft war zwar noch kalt, aber vielleicht würde es im Laufe des Nachmittags warm genug werden, sodass sie den Mantel ausziehen und sich ein wenig sonnen können würde.
Schweigend legten sie ihr Gepäck ab, brachten die Köder an den Angelruten an und warfen sie aus. Dann setzten sie sich ins Laub und warteten. Nach einer Weile, in der kein ungewöhnliches Geräusch aus dem Wald hinter ihnen erklungen war und Smilla anfing, sich etwas sicherer zu fühlen, holte sie das Buch für Jera aus ihrem Rucksack und reichte es ihr.
Jera machte eine unglückliche, fast angewiderte Miene, nahm das Buch aber entgegen. »Peter und der Wolf«, las sie langsam und angestrengt vor.
Smilla nickte.
»Ich will aber nicht lesen üben. Kann ich nicht später?«
»Nein. Du hast gestern schon nicht geübt.«
»Du hast gestern selbst gesagt, ich muss nicht üben!«, protestierte Jera.
»Ja, und heute sage ich, du musst.«
Jera zog einen Schmollmund.
»Wenn du fertig bist, lese ich dir aus Harry Potter vor.«
Da erhellte sich Jeras Miene. Bereitwillig schlug sie das Buch auf und fing holprig an zu lesen. Die Sonne hatte Smillas Mantel inzwischen so stark aufgeheizt, dass sie anfing, darin zu schwitzen. Sie entledigte sich des Mantels und krempelte die Ärmel ihres Oberteils hoch.
Nach den ersten fünf Seiten – für die Jera eine gefühlte Ewigkeit gebraucht hatte – biss der erste Fisch an. Er war klein und hatte rötliche Flossen. Aus Erfahrung wusste Smilla, dass diese Fischart furchtbar viele Gräten hatte. Aber in der Welt nach der Plage konnte man nicht wählerisch sein. Sie löste den Fisch vom Angelhaken und warf ihn in den mit Wasser gefüllten gelben Plastikeimer neben sich. Wenig später biss ein weiterer Fisch an, eine Seeforelle.
»Kann ich jetzt aufhören?«, murrte Jera, die sich zuvor schon über ihren fusseligen Mund beschwert hatte.
»Na gut, meinetwegen«, antwortete Smilla, während sie die Seeforelle in den Eimer gleiten ließ.
Jera schlug das Buch mit einem Seufzer zu und verstaute es in Smillas Rucksack. »Glaubst du, Papa ist in Brüssel?«
Die Frage traf Smilla unvorbereitet und einen Augenblick lang war es ihr unmöglich, etwas zu denken oder zu sagen. Jera fragte nicht oft nach ihren Eltern, wahrscheinlich weil sie einfach kaum Erinnerungen an Davor hatte. Sie war erst fünf gewesen, als die Plage ausgebrochen war. Nicht selten wünschte Smilla sich, jemanden in ihrem Alter zu haben, mit dem sie über früher reden konnte – über ihr Haus in Köln-Zollstock, über ihre Eltern, über ihre Freunde und Nachbarn, über eine Zeit, in der alles auf wundersame Weise in Ordnung gewesen war.