Wir Verstoßenen - Jana Taysen - E-Book

Wir Verstoßenen E-Book

Jana Taysen

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

“Du vertraust mir nicht? Ich kann dir versprechen: Das beruht auf Gegenseitigkeit.” Die junge Smilla ist auf der Flucht, als ihre kleine Schwester Jera verschwindet. Und es kommt noch schlimmer: Die Sekte, die seit dem Zusammenbruch der Zivilisation für Angst und Schrecken sorgt, soll in Jeras Verschwinden verwickelt sein … Auf ihrem verzweifelten Weg durch die Eifel erhält Smilla Unterstützung ausgerechnet von denjenigen, denen sie am wenigsten vertraut - und sie ahnt, dass dies ein Spiel mit dem Feuer ist. Ein Feuer, das alles zu verschlingen droht, was Smilla am meisten liebt … “Dieser Roman ist wie eine ganze Welt aus Mut, Angst und Menschlichkeit. Und unbedingter Liebe. Eine grandiose Fortführung der ‘Wir Verlorenen’-Trilogie.” (Band II)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kirschbuch Verlag

Zum Buch:

»Du ver­traust mir nicht? Ich kann dir ver­spre­chen: Das be­ruht auf Ge­gen­sei­tig­keit.«

 

Die jun­ge Smil­la ist auf der Flucht, als ih­re klei­ne Schwes­ter Je­ra ver­schwin­det. Und es kommt noch schlim­mer: Die Sek­te, die seit dem Zu­sam­men­bruch der Zi­vi­li­sa­ti­on für Angst und Schre­cken sorgt, soll in Jeras Ver­schwin­den ver­wi­ckelt sein …

Auf ihrem ver­zwei­fel­ten Weg durch die Ei­fel er­hält Smil­la Un­ter­stüt­zung aus­ge­rech­net von den­je­ni­gen, de­nen sie am we­nigs­ten ver­traut – und sie ahnt, dass dies ein Spiel mit dem Feu­er ist. Ein Feu­er, das al­les zu ver­schlin­gen droht, was Smil­la am meis­ten liebt …

»Die­ser Ro­man ist wie ei­ne gan­ze Welt aus Mut, Angst und Mensch­lich­keit. Und un­be­ding­ter Lie­be. Ei­ne gran­di­o­se Fort­füh­rung von ›Wir Ver­lo­re­nen‹.«

Zur Au­to­rin:

Ja­na Tay­sen wur­de 1992 in Ha­gen ge­bo­ren und lebt mit Freund und Hund im aben­teu­er­li­chen Köln. Dort ar­bei­tet sie in ei­nem Markt­for­schungs­in­sti­tut. Zu­vor stu­dier­te sie Eng­lish Stu­dies und Me­di­en­wis­sen­schaf­ten im Ba­che­lor und Markt- und Me­di­en­for­schung im Mas­ter. Das Schrei­ben war schon von klein auf ein wich­ti­ger Teil von Ja­nas Le­ben und ei­ne ih­rer liebs­ten Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen. Sie liebt es, neue Wel­ten und Cha­rak­tere zu er­schaf­fen und selbst ganz und gar in die Ge­schich­ten ab­zu­tau­chen.

Jana Taysen

 

 

 

Wir Verstoßenen

 

 

 

Roman

 

Kirschbuch Verlag
Im­pres­s­um Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbHNeß 1, 20457 Ham­burgJa­nu­ar 2022Co­py­right © 2022by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burgUm­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbHSatz: Qua­li­Fic­ti­on GmbHISBN 9783948736194

 

Sämt­li­che In­hal­te die­ses E-Books sind ur­he­ber­recht­lich ge­schützt. Als Käu­fer*in er­wer­ben Sie ei­ne Li­zenz für den per­sön­li­chen Ge­brauch auf ei­ge­nen End­ge­rä­ten. Jeg­li­che Wei­ter­ver­brei­tung, Ver­viel­fäl­ti­gung oder öf­fent­li­che Wie­der­ga­be ist un­ter­sagt und kann zi­vil- so­wie straf­recht­li­che Fol­gen nach sich zie­hen.

Pro­log

Jeras Ma­gen gab ein kläg­li­ches Knur­ren von sich. Sie duck­te sich tie­fer in ihr Ver­steck, ball­te ei­ne Hand zur Faust und press­te sie in ihren Bauch, um ein wei­te­res ver­rä­te­risches Knur­ren zu ver­hin­dern. Et­wa fünf­zehn Mi­nu­ten kau­er­te sie schon dort im Dor­nen­ge­strüpp und beo­b­ach­te­te das schein­bar ver­las­se­ne Haus und den wind­schie­fen Holz­schup­pen da­ne­ben. Sie muss­te si­cher­ge­hen, dass sich dort nie­mand auf­hielt. Erst dann woll­te sie sich in den Schup­pen schlei­chen, um dar­in zu über­nach­ten.

Als sie noch mit ih­rer Grup­pe ge­reist war, hat­ten sie abends Feu­er ge­macht und sich zum Schla­fen an­ein­an­der­ge­drängt. Aber jetzt, ganz al­lein, fror Je­ra nachts so sehr, dass sie kaum ein Au­ge zu­tat. We­nigs­tens die­se Nacht woll­te sie vor Wind und Re­gen ge­schützt ver­brin­gen.

Nach ei­ner gu­ten hal­b­en Stun­de hat­te sich auf dem Hof im­mer noch nichts ge­regt, und die Däm­me­rung er­schwer­te es zu­neh­mend, Ge­nau­e­res zu er­ken­nen. Da rich­te­te Je­ra sich auf und mach­te ein, zwei vor­sich­ti­ge Schrit­te aus ihrem Ver­steck her­aus. Die Au­gen für je­de noch so klei­ne Be­we­gung ge­schärft, trat sie auf den Pfad, der zum Hof führ­te. Dann sprin­te­te sie los, auf den Schup­pen zu. Mit ei­ner hek­ti­schen Be­we­gung drück­te sie die Klin­ke hin­un­ter, riss die Tür auf und husch­te ins dunk­le In­ne­re. Mit et­was mehr Um­sicht drück­te sie die Tür wie­der ins Schloss und späh­te durch ei­nen Spalt zwi­schen den Holz­lat­ten nach drau­ßen.

Jeras Atem ging has­tig, und ihr Ma­gen knurr­te schon wie­der, so­dass sie nicht hö­ren konn­te, ob sich vor dem Haus et­was tat. Aber se­hen konn­te sie nichts und nie­man­den.

Als sich ihr Atem be­ru­higt hat­te, trat Je­ra ei­nen Schritt von der Tür zu­rück. Ein er­leich­ter­tes Seuf­zen bahn­te sich den Weg durch ih­re Keh­le. Sie nahm den Ruck­sack von den Schul­tern und dreh­te sich um.

»Na, wen ha­ben wir denn da?«

Vor Schreck fiel Je­ra der Ruck­sack aus der Hand. Dort hin­ten, auf ei­nem Stroh­bal­len vor der ge­gen­über­lie­gen­den Wand des Schup­pens, saß ei­ne hoch­ge­wach­se­ne Ge­stalt. Die Ka­pu­ze ei­nes dunk­len Re­gen­man­tels hüll­te ihr Ge­sicht in Schat­ten, so­dass nur ein Mund mit ei­nem hal­b­en Lä­cheln zu er­ken­nen war.

»Da drau­ßen ist nie­mand. Und hier drin­nen… bin nur ich. Al­so, kein Grund zur Sor­ge.« Die Stim­me der Ge­stalt war krat­zig, rau und tief. Sie er­in­ner­te Je­ra an das Schnur­ren ei­ner Kat­ze, die sie bei ei­nem Be­such auf dem Mon­schau­er Markt ge­strei­chelt hat­te. Bis Smil­la es ihr ver­bo­ten hat­te, weil Kat­zen vol­ler Flö­he und Flö­he vol­ler Krank­hei­ten wa­ren.

Oh­ne die Au­gen von der Ge­stalt zu neh­men, bück­te Je­ra sich nach ihrem Ruck­sack und hob ihn wie­der auf. Soll­te sie die Tür auf­rei­ßen und hin­aus­ren­nen? Wür­de sie schnel­ler sein und bes­ser Ver­ste­cke su­chen kön­nen als die Ge­stalt? Oder war es klü­ger, hier­zu­blei­ben und sich mit ihr gut­zu­stel­len?

»Bist du al­lein?«, frag­te die Ge­stalt und nahm ei­nen ge­räusch­vol­len Schluck aus der Tas­se, die sie in ihren Hän­den hielt.

»Geht dich nichts an«, sag­te Je­ra und er­schrak, als sie ver­nahm, wie dünn und piep­sig ih­re Stim­me klang.

Über so et­was re­de­te man nicht. Auch das hat­te Smil­la ihr ein­ge­bläut. Und ob­wohl ih­re gro­ße Schwes­ter im­mer Angst hat­te, selbst wenn es gar kei­nen Grund zum Angst­ha­ben gab, ver­stand Je­ra, war­um es in die­sem Fall wich­tig war, ihren Rat zu be­her­zi­gen. Denn seit der gro­ßen Pla­ge gab es von al­lem zu we­nig. Zu we­nig Vor­rä­te, zu we­nig Klei­dung, zu we­nig Me­di­ka­men­te, zu we­nig Tausch­wa­ren. Es gab nie­man­den, der da­für sorg­te, dass al­les ge­recht ver­teilt wur­de, und es gab auch nie­man­den, der auf­pass­te, dass die letz­ten Über­le­ben­den gut zu­ein­an­der wa­ren. Des­halb muss­te man acht­ge­ben, wenn man Frem­den be­geg­ne­te. Man durf­te es ih­nen nicht zei­gen, wenn man krank oder ver­letzt war, man durf­te nicht ver­ra­ten, ob man wert­vol­le Ge­gen­stän­de be­saß, und erst recht durf­te man es nicht zu­ge­ben, wenn man ganz al­lein war.

Das hal­be Lä­cheln kehr­te auf die Lip­pen der Ge­stalt zu­rück. »Da hast du recht, sehr un­höf­lich von mir. Ich hät­te auch nicht ge­fragt, wenn ich nicht selbst al­lein wä­re. Ich muss auf mich auf­pas­sen. Das ver­stehst du doch, oder?«

Die Wor­te roll­ten ge­mäch­lich und ru­hig durch den düs­te­ren Schup­pen bis zu Je­ra. Auf ähn­li­che Wei­se hat­te Smil­la ihr abends vor dem Ein­schla­fen manch­mal vor­ge­le­sen. Smil­la fehl­te ihr so.

»Du bist auch al­lein?«, frag­te Je­ra. Im nächs­ten Mo­ment biss sie sich er­schro­cken auf die Zun­ge. Sie hat­te so­eben ei­ne ih­rer Schwä­chen ver­ra­ten. Und da­bei hat­te sie doch ge­wusst, dass sie vor­sich­tig sein muss­te!

»Ja, ich bin auch al­lein«, ant­wor­te­te die Ge­stalt im sel­ben, ru­hig rol­len­den Ton. »Aber nur jetzt ge­ra­de. Zu Hau­se war­tet mei­ne Fa­mi­lie auf mich.«

Je­ra schloss die Hän­de en­ger um den Trä­ger ihres Ruck­sacks. »Du hast ei­ne Fa­mi­lie?« Fast nie­mand hat­te mehr ei­ne rich­ti­ge Fa­mi­lie, weil so vie­le Men­schen an der Pla­ge ge­stor­ben, ver­hun­gert oder von an­de­ren Über­le­ben­den ge­tö­tet wor­den wa­ren. Über vier Jah­re lag der Aus­bruch der Pla­ge nun schon zu­rück. Je­ra er­in­ner­te sich kaum noch dar­an, wie es vor­her ge­we­sen war.

»Ja, ei­ne sehr gro­ße so­gar. Und vie­le Kin­der. Ein paar müss­ten et­wa in dei­nem Al­ter sein. Wie alt bist du?«

»Neun.«

»Wo ist denn dei­ne Fa­mi­lie?«

»Weiß ich nicht so ge­nau.« Dass sie al­lein war, hat­te Je­ra ja eh schon ver­ra­ten. Wo­zu al­so noch lü­gen?

Die Ge­stalt lehn­te sich et­was vor. Die Be­we­gung brach­te Je­ra da­zu, ei­nen ge­hetz­ten Blick zur Tür­klin­ke zu wer­fen.

»Wenn du wie­der ge­hen willst, geh jetzt, be­vor es an­fängt zu reg­nen. Dann fin­dest du viel­leicht noch recht­zei­tig ei­nen an­de­ren Un­ter­schlupf.«

»Es wird heu­te Nacht reg­nen?« Wenn man nass wur­de, fror man, und sie fror jetzt schon so bit­ter­lich. Wie sehr sie erst frie­ren wür­de, wenn sie pitsch­nass wä­re!

Die Ge­stalt nick­te lang­sam. »Mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit. Du soll­test al­so bes­ser hier drin­nen blei­ben.«

Je­ra saug­te an ih­rer Un­ter­lip­pe. Wenn die Ge­stalt et­was von ihr klau­en oder ihr weh­tun woll­te, dann hät­te sie es doch si­cher­lich schon ver­sucht. Und au­ßer­dem hat­te sie Kin­der. Je­ra hat­te noch kei­ne Leu­te mit Kin­dern ken­nen­ge­lernt, die Bö­ses ta­ten.

»Du traust mir nicht, hm?«

Je­ra ant­wor­te­te nicht.

»Das ist gut. Ich wür­de mei­nen Kin­dern die Löf­fel lang zie­hen, wenn sie ein­fach so ei­ner Wild­frem­den ver­trau­en wür­den.«

Die Ge­stalt lehn­te sich noch wei­ter vor, und Je­ra wich ei­nen Schritt zu­rück. »Soll ich dir mei­ne Ma­che­te ge­ben? Dann bist du be­waff­net, ich nicht.«

Je­ra wuss­te zwar nicht, was ei­ne Ma­che­te war. Aber ei­ne Waf­fe klang gut. Der Speer, den sie mit Sa­rahs Ta­schen­mes­ser an­ge­spitzt hat­te, als sie noch mit ih­rer Grup­pe ge­reist war, war vor zwei Ta­gen bei dem Ver­such, ei­nen Fisch aus ei­nem Bach zu fan­gen, zer­bro­chen.

Je­ra nick­te.

Die Ge­stalt stell­te ih­re Tas­se ab, griff hin­ter sich und zog et­was Brei­tes und Lan­ges her­vor. »Hier«, sag­te sie und leg­te die Ma­che­te auf den Bo­den vor sich. Dann stand sie auf, mach­te ei­nen Schritt in Jeras Rich­tung und kick­te die Waf­fe mit der Stie­fel­spit­ze zu ihr hin­über.

Als die Ge­stalt wie­der saß, sprang Je­ra vor und hob die Waf­fe auf. »Boah«, ent­fuhr es ihr, als sie sah, wo­mit sie es zu tun hat­te. Ein Mes­ser mit ei­ner Klin­ge, län­ger als ihr Un­ter­arm und min­des­tens so breit wie ih­re Wa­de.

»Bist du schon lan­ge al­lein un­ter­wegs?«, woll­te die Ge­stalt wis­sen.

Je­ra wog die Ma­che­te ei­nen Mo­ment fas­zi­niert in der Hand, be­vor sie ant­wor­te­te. »Erst ein paar Ta­ge. Wir wa­ren ei­gent­lich al­le auf dem Weg nach Brüs­sel, aber dann bin ich um­ge­dreht, weil ich mei­ne Schwes­ter su­chen muss.«

»Wer ist al­le?«

»Die Schmie­ders, Gior­gio und ich.«

»Die Schmie­ders?«

»Das ist die Fa­mi­lie, die Gior­gio, mich und mei­ne Schwes­ter nach der Pla­ge auf­ge­nom­men hat.«

»Ah. Und wo ist dei­ne Schwes­ter? War­um war sie nicht bei euch?«

Test­wei­se hol­te Je­ra aus und ließ die Ma­che­te von links nach rechts glei­ten. Mit ei­nem ge­fähr­li­chen Wusch! schnitt sie die Luft ent­zwei. Ein auf­ge­reg­tes Krib­beln lief durch Jeras Arm bis in ihren Bauch.

»Mei­ne Schwes­ter ist ab­ge­brannt«, sag­te Je­ra dann und hol­te zu ei­nem zwei­ten Schlag ge­gen die Luft aus. Wenn sie es erst ein­mal bis zum Mon­schau­er Markt ge­schafft hat­te, wür­de sie sich auch ei­ne Ma­che­te zu­le­gen. Da­mit konn­te man ei­nem Bö­se­wicht be­stimmt mit ei­nem Schlag die Hand ab­ha­cken.

»Ab­ge­brannt?«, frag­te die Ge­stalt nach.

»Ja, mit ei­nem Jun­gen. Falk«, ließ sie den ver­hass­ten Na­men über ih­re Zun­ge wan­dern.

»Durchge­brannt, meinst du?«

Je­ra nahm die Ma­che­te in die an­de­re Hand und tes­te­te auch auf die­ser Sei­te ih­re Kampf­küns­te. »Ja, ge­nau, durch­ge­brannt.«

»Das heißt, dei­ne Schwes­ter hat dich ein­fach zu­rück­ge­las­sen?«

»Ja, aber das liegt nur dar­an, dass sie in ei­nem na­i­ven Al­ter ist.«

Die Ge­stalt gab ein be­lus­tig­tes Schnau­ben von sich. »Wie alt ist sie denn?«

Je­ra ging in die Knie und such­te auf dem Bo­den nach et­was, das sie mit der Ma­che­te zer­schnei­den konn­te. »Ein­und­zwan­zig. Ka­ren, un­se­re An­füh­re­rin, hat ge­sagt, in dem Al­ter kreist man noch um sich selbst.«

»Hm. War­um suchst du dann nach ihr? Man­che Men­schen krei­sen ihr Le­ben lang um sich selbst. Von sol­chen Men­schen soll­te man sich lie­ber frü­her als spä­ter lö­sen.«

»Smil­la – al­so, mei­ne Schwes­ter – ist aber nicht wirk­lich so. Das ist nur we­gen die­sem Falk. Und Ka­ren sagt, das geht schnel­ler vor­bei, als man gu­cken kann.«

»Und war­um habt ihr euch dann oh­ne sie auf den Weg nach Brüs­sel ge­macht, an­statt auf sie zu war­ten?«

Je­ra fand ei­nen dün­nen Zweig auf dem Bo­den, leg­te ihn vor sich und drück­te dann die Ma­che­te dar­auf. Mü­he­los glitt die Klin­ge durch das Holz. »Zack!«, kom­men­tier­te Je­ra zu­frie­den. Dann warf sie der Ge­stalt ei­nen kur­z­en Blick zu. Sie hat­te sich auf dem Stroh­bal­len zu­sam­men­ge­rollt wie ei­ne gro­ße, düs­te­re Kat­ze.

»Ich woll­te ja war­ten. Aber Falk ge­hört zu den Ver­lo­re­nen Jungs. Und die sind ge­fähr­lich. Ka­ren hat­te Angst, dass Smil­la ih­nen viel­leicht ver­rät, wo un­ser Ver­steck ist, und dass sie dann kom­men und uns al­les weg­neh­men und uns ver­kau­fen.«

»Euch ver­kau­fen?«

»Ja, die han­deln mit Men­schen.«

»Mit Men­schen?«, frag­te die Ge­stalt, und ih­re Stim­me wur­de noch tie­fer und rau­er.

Je­ra leg­te die bei­den Hälf­ten des Stö­ck­chens ne­ben­ein­an­der und ließ die Ma­che­te dar­auf nie­der­fah­ren. Aus zwei Stö­ck­chen wur­den vier.

»Kennst du den Mon­schau­er Markt? Da tauscht man ja mit Sa­chen, wenn man et­was von den Händ­lern ha­ben will. Aber die Ver­lo­re­nen Jungs tau­schen nicht mit Sa­chen, son­dern mit Men­schen. Und manch­mal er­mor­den sie so­gar Leu­te. An­na ha­ben sie er­mor­det und bei­na­he auch Gior­gio, ob­wohl er mal ei­ner von ih­nen war.«

»Ah, ich ver­ste­he.«

»Ja. Und Ka­ren woll­te nicht, dass sie uns er­mor­den oder zum Tau­schen be­nut­zen. Des­halb muss­ten wir so schnell wie mög­lich weg aus Woll­sei­fen und konn­ten nicht dar­auf war­ten, dass Smil­la die Na­se voll hat von Falk.«

»Ihr seid aus Woll­sei­fen?«, hak­te die Ge­stalt nach. »Das ist nur ein paar Stun­den von mei­nem Zu­hau­se ent­fernt. Die­se Ver­lo­re­nen Jungs… Weißt du, wo die sich ge­nau auf­hal­ten?«

»In der Or­dens­burg Vo­gel­sang. Die ha­ben dar­aus ei­ne un­ein­nehm­ba­re Fes­tung ge­macht.«

Ei­nen Mo­ment lang stell­te die Ge­stalt kei­ne wei­te­ren Fra­gen, und Je­ra mach­te sich dar­an, ein span­nen­de­res Ver­suchs­ob­jekt für die Ma­che­te zu fin­den als ein tro­cke­nes Stö­ck­chen.

»Hier«, sag­te die Ge­stalt auf ein­mal, und Je­ra fuhr zu­sam­men, als sie sche­men­haft ei­ne Hand vor sich wahr­nahm. »Den kannst du zer­tei­len, wenn du mir die Hälf­te davon ab­gibst.«

Je­ra kniff die Au­gen zu­sam­men und er­kann­te et­was Run­des in der aus­ge­streck­ten Hand. Ei­nen Ap­fel. So­fort lief ihr das Was­ser im Mund zu­sam­men, und ihr Bauch ließ ein sehn­süch­ti­ges Grum­meln ver­neh­men.

Zag­haft streck­te Je­ra die Hand nach dem Ap­fel aus, oh­ne die Ge­stalt aus den Au­gen zu las­sen. Die an­de­re Hand klam­mer­te sie fest um den Griff der Ma­che­te, be­reit, zu­zu­schla­gen. Aber als sie ge­ra­de die Fin­ger um den Ap­fel ge­legt hat­te, zog die Ge­stalt sich auch schon in die Dun­kel­heit am an­de­ren En­de des Schup­pens zu­rück.

»Dan­ke«, mur­mel­te Je­ra und fuhr mit den Fin­gern über die straf­fe, glat­te Scha­le des Ap­fels. Es war ein ganz fri­scher, makel­los und oh­ne Run­zeln, und es hat­te noch kein an­de­res Le­be­we­sen vor ihr dar­an ge­nagt.

»Ich bin auch auf dem Weg in die Ei­fel. Was hältst du davon, wenn du mit mir kommst?«

Be­hut­sam setz­te Je­ra den Ap­fel auf den Bo­den vor sich und leg­te die Klin­ge ge­nau über die Stel­le, an der der Stiel aus der Frucht rag­te.

»Ich muss aber zu den Ver­lo­re­nen Jungs«, warn­te Je­ra.

Die Klin­ge glitt mit ei­nem sat­ten Ratsch durch den Ap­fel, und Je­ra konn­te ein be­geis­ter­tes Quiet­schen nicht un­ter­drü­cken. War­um hat­ten nicht al­le Men­schen Ma­che­ten? Ma­che­ten wa­ren mit Ab­stand die bes­ten Mes­ser der Welt.

»Das klingt nach ei­nem sehr ge­fähr­li­chen Vor­ha­ben. Willst du nicht lie­ber bei mir blei­ben? Du könn­test ei­nes mei­ner Kin­der wer­den.«

»Das geht nicht. Ich kann Smil­la nicht im Stich las­sen.«

»Hm«, schnurr­te die Ge­stalt. »Dann wirst du aber ei­ne gu­te Waf­fe brau­chen, oder? Wenn du mit mir zu mei­ner Fa­mi­lie kommst, kannst du dir ei­ne von un­se­ren aus­su­chen.«

Je­ra ließ von dem Ap­fel ab und sah zu der Ge­stalt auf. »Du wür­dest mir so et­was Wert­vol­les schen­ken? Ein­fach so? Und ich muss nichts da­für ma­chen?«

»Nein, gar nichts«, er­wi­der­te die Ge­stalt, und Je­ra war sich si­cher, dass sie wie­der lä­chel­te, ob­wohl sie es in der Dun­kel­heit nicht er­ken­nen konn­te.

Sie schloss die Fin­ger um ih­re Ap­fel­hälf­te und biss hin­ein. Himm­lisch sü­ßer Saft be­netz­te ih­re Zun­ge.

Smil­la hat­te ein­mal ge­sagt, dass es kaum noch je­man­den auf der Welt ge­be, der ein­fach so et­was Gu­tes für an­de­re tat, er­in­ner­te Je­ra sich. Heu­te muss­te wirk­lich ihr Glücks­tag sein.

 

1  Die Schlaf­lo­se

Spitz­ke­ge­li­ger Kahl­kopf.«

»Was?«

»Spitz­ke­ge­li­ger Kahl­kopf. Hier auf der Wie­se.«

Smil­la stand auf. Je­der ein­zel­ne ih­rer Mus­keln schmer­z­te, als sie zu Na­d­ja hin­über­lief, die im Gras nach Pil­zen und Wild­kräu­tern fürs Abend­es­sen such­te. Mit ei­nem un­ter­drück­ten Stöh­nen knie­te sie sich ne­ben Na­d­ja. Sie teil­te das nas­se Gras mit ihren Hän­den, und ein klei­nes Grüpp­chen blass­brau­ner Pil­ze kam zum Vor­schein.

»Kann man die es­sen?«, frag­te Smil­la und streck­te schon die Fin­ger nach den un­schein­ba­ren Ge­wäch­sen aus.

Ges­tern hat­ten sie den letz­ten Rest ih­rer Vor­rä­te auf­ge­braucht. Heu­te wa­ren sie mit lee­ren Mä­gen los­ge­wan­dert, und Smil­la spür­te die An­stren­gun­gen der Rei­se in je­der Fa­ser. Der Marsch nach Brüs­sel er­schien ihr schon längst nicht mehr wie der Be­ginn ei­nes neu­en Ka­pi­tels, son­dern viel­mehr wie die Fort­set­zung ei­nes nie en­den wol­len­den Tief­punkts in ihrem Le­ben.

Na­d­ja schlug nach ihren Fin­gern. »Kann man, ja. Aber in dei­ner Ver­fas­sung soll­test du das las­sen.«

»Wie­so?«, frag­te Smil­la und rieb sich den schmerz­haft lee­ren Bauch.

»Schon mal was von Magic Mushrooms ge­hört?«

»Du meinst die Pil­ze, von de­nen man Hal­lu­zi­na­ti­o­nen be­kommt?«

Na­d­ja nick­te, den Blick un­ent­wegt ins Gras vor ih­nen ge­rich­tet. »Das sind sie. Oder zu­min­dest ei­ne Sor­te davon«, sag­te sie. Dann zück­te sie ihr Jagd­mes­ser und fing an, die ele­gant ge­schwun­ge­nen Stän­gel der Pil­ze zu durch­tren­nen. »Du kannst sie ent­we­der frisch es­sen oder trock­nen und auf­be­wah­ren. Aber wie ge­sagt – emp­feh­len wür­de ich es dir nicht«, er­klär­te sie. »Mit ei­nem Magic-Mushroom-Hor­ror­trip ist nicht zu spa­ßen. Man hat mehr davon, sie ein­fach zu ver­kau­fen.« Sie wog die Pil­ze kurz in der Hand und ließ sie schließ­lich in ih­rer Ja­cken­ta­sche ver­schwin­den. Dann stand sie auf und stapf­te, den Blick su­chend auf den Bo­den ge­rich­tet, wei­ter auf die Wie­se hin­aus.

Smil­la lös­te den Blick von der Stel­le, an der eben noch das nied­li­che Grüpp­chen Pil­ze ge­stan­den hat­te, und rich­te­te sich auf. »Bleib viel­leicht lie­ber am Wald­rand. Dort auf der Wie­se kann dich je­der so­fort ent­de­cken«, gab sie zu be­den­ken.

Aber Na­d­ja be­weg­te sich wei­ter, oh­ne sie ei­nes Bli­ckes zu wür­di­gen. »Du glaubst al­so im­mer noch, dass der Club uns ver­folgt?«

»Es ist nicht aus­ge­schlos­sen, oder?«

Ei­nen Mo­ment lang er­wi­der­te Na­d­ja nichts. Dann sag­te sie be­tont ge­dul­dig: »Smil­la. Wenn der Club uns fin­den will, fin­det er uns auch. Ob wir nun hier im Ge­büsch kau­ern oder auf der Wie­se her­um­spa­zie­ren.«

Na­d­jas fa­ta­lis­ti­sche Hal­tung drück­te un­an­ge­nehm auf Smil­las Ein­ge­wei­de. Aber für grö­ße­re Dis­kus­si­o­nen hat­te sie kei­ne Ener­gie mehr.

»Was hast du da?«, wech­sel­te sie das The­ma und deu­te­te auf das dun­kel­grü­ne Kraut, das Na­d­ja in die­sem Mo­ment aus dem feuch­ten Bo­den rupf­te.

»Sau­er­amp­fer. Hier ist je­de Men­ge. Pflückst du uns wel­chen? Dann samm­le ich noch ein paar Shrooms.«

Smil­la ließ sich von Na­d­ja zei­gen, wie sie Sau­er­amp­fer von den rest­li­chen Wie­sen­ge­wäch­sen un­ter­schei­den konn­te. Mit ihr als Leh­re­rin fiel es Smil­la um ei­ni­ges leich­ter, sich die ess­ba­ren Pflan­zen und ih­re Merk­ma­le ein­zu­prä­gen, als mit dem Pflan­zen­be­stim­mungs­buch, das sie in der Buch­hand­lung am Mon­schau­er Markt er­stan­den hat­te.

Falk, wie er zwi­schen den Bü­cher­re­ga­len stand und sie auf­merk­sam an­sah. Un­will­kür­lich schüt­tel­te Smil­la den Kopf. Er­in­ne­run­gen wie die­se be­su­del­ten je­den ih­rer Ge­dan­ken wie ein Fleck auf der Ka­me­ra­lin­se ei­ne Fo­to­rei­he.

Sie sah zu Na­d­ja hin­über, die sich vorn­über­ge­beugt durch die Wie­se be­weg­te. Ob sie auch so oft an ihn dach­te? Falk und Na­d­ja wa­ren ein Paar ge­we­sen, und doch hat­te sie, seit sie zu­sam­men ge­flo­hen wa­ren, frei­wil­lig kein Wort mehr über ihn ver­lo­ren. Als hät­te es ihn nie ge­ge­ben. Als wä­re das al­les nicht pas­siert.

Bis­her hat­te Smil­la dem Be­dürf­nis, Na­d­ja über Falk aus­zu­fra­gen, nur we­ni­ge Ma­le nach­ge­ge­ben. Denn ein Teil von ihr wünsch­te, Falk ein­fach ver­ges­sen zu kön­nen. Als An­füh­rer der Ver­lo­re­nen Jungs war er der In­be­griff all des­sen, was Smil­la an der Pla­ge und dem, was sie aus der Mensch­heit ge­macht hat­te, ver­ab­scheu­te.

»Wir soll­ten bald Feu­er ma­chen«, rief Na­d­ja ihr nach ei­ner Wei­le zu, den Blick in den Him­mel ge­rich­tet. Das Ta­ges­licht ver­blass­te be­reits, und die Re­gen­wol­ken über ih­nen färb­ten sich zu­se­hends dunk­ler.

Smil­la klemm­te das Bün­del Sau­er­amp­fer, das sie ge­pflückt hat­te, un­ter ihren Arm und be­gab sich zu­rück zum Wald­rand. In den sechs Ta­gen mit Na­d­ja hat­te sie mehr über das Über­le­ben in frei­er Wild­bahn ge­lernt als in den ge­sam­ten vier Jah­ren seit dem Aus­bruch der Pla­ge. Sie wuss­te nun, wie man oh­ne Streich­höl­zer und Feu­er­zeug Feu­er mach­te, wie man aus Bir­ken­rin­de so et­was Ähn­li­ches wie Spa­ghet­ti her­stell­te und wie man mit nicht mehr als ein paar Stö­cken und ei­ner Schnur ei­ne Klein­tier­fal­le bau­te. Viel war es trotz­dem nicht, was sie am En­de des Ta­ges zur Stär­kung ver­zeh­ren konn­ten. Aber Smil­la woll­te sich gar nicht erst vor­stel­len, wie es oh­ne Na­d­jas Hil­fe um sie ge­stan­den hät­te.

Sie leg­te das Bün­del Sau­er­amp­fer ne­ben Na­d­jas Hün­din Pig­gy ab, die ar­tig am Wald­rand ge­war­tet hat­te. Die Rei­se zehr­te auch an Pig­gys Kräf­ten. Sie hat­te in­ner­halb der kur­z­en Zeit sicht­bar Ge­wicht ver­lo­ren. War sie an­fangs noch wäh­le­risch ge­we­sen mit den Din­gen, die Na­d­ja ihr zum Fres­sen an­ge­bo­ten hat­te, so biss sie nun hoff­nungs­voll in al­les, was in die Nä­he ih­rer Raub­tier­schnau­ze ge­ri­et.

Mit mü­den, kraftlo­sen Be­we­gun­gen mach­te Smil­la sich dar­an, Stei­ne zu su­chen, mit de­nen sie ei­ne Feu­er­stel­le ein­gren­zen konn­ten. Da­nach sam­mel­te sie im Di­ckicht halb­wegs tro­cke­ne Äs­te und schich­te­te sie im In­nern des Stein­krei­ses zu ei­nem klei­nen Schei­ter­hau­fen auf. Mit Na­d­jas Feu­er­bo­gen und dem ge­trock­ne­ten Baum­pilz, den sie als Zun­der be­nutz­te, ent­fach­ten sie ein La­ger­feu­er. Im­mer­hin wür­den sie beim Ein­schla­fen nicht frie­ren müs­sen. Die Käl­te war fast noch schwe­rer zu er­tra­gen als der Hun­ger.

 

Sie kau­ten auf den Fa­sern des Sau­er­amp­fers her­um, wäh­rend die spitz­ke­ge­li­gen Kahl­köp­fe am Feu­er trock­ne­ten, und schwie­gen sich an. Was hät­ten sie ein­an­der auch sa­gen sol­len? Je­de Fra­ge, je­des Wort barg die Ge­fahr, sie dar­an zu er­in­nern, dass sie bei­de al­les ver­lo­ren hat­ten.

»Steh mal auf, dann zeig ich dir, wie man je­man­dem den Arm aus­ku­gelt.«

Smil­la sah von den Pil­zen auf, die sie ge­dan­ken­ver­lo­ren an­ge­starrt hat­te. Das Feu­er warf fla­ckern­de Schat­ten in Na­d­jas Ge­sicht. Mit ihren dunk­len Haa­ren, den brau­nen Reh­au­gen und ih­rer oliv­far­be­nen Haut war sie äu­ßerst hübsch.

Na­d­ja, wie sie die Ar­me um Falk schloss, kurz be­vor sie auf­brach, um nach ei­ner Frau für die Sek­te zu su­chen. Mit fest auf­ein­an­der­ge­press­ten Lip­pen rich­te­te Smil­la ihren Blick ins Feu­er. »Kein Be­darf.«

»Ich ha­be aber Be­darf.«

»Mir den Arm aus­zu­ku­geln?«

Na­d­ja lach­te tro­cken. »Nein, dir ein paar Kampf­tech­ni­ken bei­zu­brin­gen. Wenn wir an­ge­grif­fen wer­den, soll­test du dich ver­tei­di­gen kön­nen. Sonst nützt du mir herz­lich we­nig. Du nützt mir so­wie­so schon nicht so viel, wie ich ge­hofft ha­be.«

Smil­la ver­dreh­te die Au­gen, rap­pel­te sich je­doch auf und um­run­dete das Feu­er. Na­d­ja schob sich ein letz­tes Blatt Sau­er­amp­fer in den Mund und stell­te sich vor sie.

Dann griff sie oh­ne Vor­war­nung nach Smil­las Hand­ge­lenk, zog sie zu sich, ver­wi­ckel­te sie in ei­nen kur­z­en Ring­kampf und war mit ei­nem Mal hin­ter ihr. Mit der ei­nen Hand fi­xier­te sie Smil­las Schul­ter, mit der an­de­ren bog sie ihren Arm nach hin­ten.

Smil­la jaul­te auf, als ih­re Ge­len­ke über­dehnt wur­den. Da ließ Na­d­ja sie los.

»Aua«, be­schwer­te Smil­la sich und rieb sich die rech­te Schul­ter. »Wenn du mich ver­letzt, ver­letz ich dich auch!«, schimpf­te sie und wur­de sich im sel­ben Mo­ment be­wusst, wie trot­zig sie klang.

Na­d­ja lach­te er­neut auf. »Du und mich ver­let­zen?«, frag­te sie, mach­te ei­nen Satz auf sie zu und brach­te sie er­neut in ei­nen He­bel­griff, nur dies­mal an Smil­las lin­ker Sei­te. Na­d­jas Fin­ger gru­ben sich in die Biss­wun­de in ih­rer Schul­ter, und dies­mal schrie Smil­la vor Schmerz. Au­gen­blick­lich ließ Na­d­ja sie los.

»Sor­ry«, mur­mel­te sie und rieb sich die Hän­de an der Ho­se, als hät­te sie et­was an den Fin­gern, das an­de­ren ge­fähr­lich wer­den konn­te. »Hab nicht dran ge­dacht.«

Smil­la zog ihr Hemd et­was nach un­ten und be­gut­ach­te­te ih­re Wun­de, die Falks Hund ihr vor we­ni­gen Wo­chen zu­ge­fügt hat­te. Sie war schwer ent­zün­det ge­we­sen. Aber dank des Pe­ni­cil­lins, das Na­d­ja ihr ge­schenkt hat­te, war die Ent­zün­dung in­zwi­schen ab­ge­klun­gen.

»Ist die Wun­de wie­der auf­ge­gan­gen?«, frag­te Na­d­ja und klang bei­na­he schuld­be­wusst.

Smil­la schüt­tel­te den Kopf. »Halb so wild.« Sie rück­te das zu gro­ße Hemd zu­recht. »Aber für heu­te reicht es mir erst mal mit der Ge­walt«, sag­te sie dann und ging zu­rück zu ihrem Platz auf der an­de­ren Sei­te der Feu­er­stel­le.

»Du soll­test aber wirk­lich ler­nen, dich selbst zu ver­tei­di­gen«, mein­te Na­d­ja.

Die Sche­re in Smil­las Hand, die sich in das Fleisch ihres An­grei­fers bohr­te.»Ich kann mich schon selbst ver­tei­di­gen.«

»Frü­her oder spä­ter wirst du auf je­man­den tref­fen, dem du kör­per­lich nicht ge­wach­sen bist. Dann musst du wis­sen, wie man je­man­den ge­zielt und schnell ver­letzt.«

Frem­des Blut, das sich auf ih­rer Haut ver­teil­te.»Ich will nicht ler­nen, wie ich je­man­den ver­let­ze, okay?«, ent­geg­ne­te Smil­la ener­gisch.

»Okay«, lenk­te Na­d­ja ein und hob die Hän­de, als wür­de Smil­la ei­ne Waf­fe auf sie rich­ten. »Sag Be­scheid, wenn du es dir an­ders über­legst. Wenn wir nicht bei­de drauf­ge­hen wol­len, ist das ide­a­ler­wei­se bald.«

Smil­la ant­wor­te­te nicht, und so ver­san­ken sie wie­der in Schwei­gen.

Der An­blick der Flam­men ließ Smil­las Mü­dig­keit dich­ter wer­den. Feu­er be­deu­te­te Wär­me. Wär­me be­deu­te­te Schlaf. Und von bei­dem hat­te sie in den letz­ten Ta­gen viel zu we­nig be­kom­men. Als die Mü­dig­keit so schwer wur­de, dass Smil­la kaum noch die Li­der he­ben konn­te, hol­te sie ih­re Woll­de­cke aus ihrem Ruck­sack. Mit Blick aufs Feu­er leg­te sie sich auf die Sei­te und zog die De­cke bis un­ters Kinn. Ein­mal at­me­te sie noch tief ein und aus, um sich ge­gen die Alb­träu­me zu wapp­nen, die in der be­vor­ste­hen­den Nacht auf sie lau­er­ten. Dann schloss sie die Au­gen.

 

Sie rann­te durch dich­ten Ne­bel. Im­mer wie­der warf Smil­la pa­ni­sche Bli­cke zu­rück. An der Art, wie der Ne­bel sich hin­ter ihr kräu­sel­te, er­kann­te sie, dass sich et­was in sei­nem Schutz auf sie zu­be­weg­te. Et­was mit Zäh­nen und Kral­len, mit vie­len Ar­men und Hän­den. Sie wand­te ihren Blick nach vorn, such­te nach ei­ner Mög­lich­keit, dem Ne­bel zu ent­kom­men. Aber da war nichts. Vor ihr lag ei­ne nie en­den wol­len­de Ebe­ne aus wei­ßem Dunst.

Und dann fiel ihr Blick auf Je­ra. Sie rann­te ne­ben ihr, nur ei­ne Arm­län­ge ent­fernt. Sie schrie Smil­las Na­men. Um sie her­um be­gann der Ne­bel re­gel­recht zu ko­chen. Im nächs­ten Mo­ment stie­ßen dunk­le Hän­de nach oben, pack­ten ih­re klei­ne Schwes­ter und ris­sen sie fort.

 

 

Nach Atem rin­gend fuhr Smil­la hoch. Ihr Blick sprang su­chend um­her. Über ihr rag­ten die schwar­zen Sil­hou­et­ten von Na­del­bäu­men in den Nacht­him­mel. Das Feu­er pras­sel­te fried­lich vor sich hin und tauch­te al­les im Um­kreis von we­ni­gen Me­tern in Kup­fer­licht.

Kein Ne­bel.

Kei­ne Je­ra.

Kein ja­gen­des Un­ge­heu­er.

Nur Na­d­ja, die sie ernst mus­ter­te.

Smil­la wisch­te sich den Angst­schweiß von der Stirn und setz­te sich auf­recht hin. »Wie spät ist es?«

»Zwei, drei Uhr nachts.«

Manch­mal frag­te Smil­la sich, ob Na­d­ja über­haupt ir­gend­wann ein­mal schlief. Sie war im­mer auf, wenn Smil­la er­wach­te. Egal, ob es mit­ten in der Nacht oder früh am Mor­gen war. Wo­von sie wohl träum­te, wenn sie doch ein­mal die Au­gen schloss?

»Wer ist Je­ra?«

»Ha­be ich im Schlaf ge­spro­chen?«, ant­wor­te­te Smil­la mit ei­ner Ge­gen­fra­ge.

Na­d­ja nick­te.

Smil­la wur­de un­wohl bei der Vor­stel­lung, dass sie, oh­ne es zu wol­len, Din­ge von sich preis­gab. Was hat­te sie au­ßer Jeras Na­men noch ge­sagt? Et­was über Falk?

»Je­ra ist dei­ne klei­ne Schwes­ter, oder? Das Mäd­chen, mit dem du un­ter­wegs warst, als Falk und ich euch zum ers­ten Mal be­geg­net sind«, hak­te Na­d­ja nach.

Ei­nen Mo­ment lang starr­ten sie sich über das Feu­er hin­weg an. Be­geg­net traf es nicht ganz. An­ge­grif­fen wä­re der pas­sen­de­re Aus­druck ge­we­sen. »Ja«, sag­te Smil­la dann bloß.

»War­um hat sie ei­gent­lich nicht in eu­rem Bun­ker auf dich ge­war­tet, als du aus un­se­rer Fes­tung ge­flo­hen bist? Weißt du, wo sie jetzt ist?«

Smil­la press­te die Zäh­ne auf­ein­an­der. Na­d­ja war ei­ne der letz­ten Per­so­nen, mit der sie über ih­re Schwes­ter oder ih­re Grup­pe oder sonst ir­gend­et­was re­den woll­te. Und doch muss­te sie die vie­len Ge­dan­ken und Sor­gen, die sich in ihrem Kopf stau­ten, ir­gend­wie hin­aus­las­sen.

Smil­la griff nach ei­nem Zweig, der zwi­schen ihren Fü­ßen lag, und fing an, da­mit in der Glut zu sto­chern. »Ich weiß nicht, wo sie ist. Wäh­rend ich bei euch ge­fan­gen ge­hal­ten wur­de, hat mei­ne Grup­pe be­schlos­sen, den Bun­ker zu ver­las­sen, weil sie sich dort nicht mehr si­cher ge­fühlt ha­ben. Je­ra ist mit ih­nen ge­gan­gen.«

»Dei­ne Fa­mi­lie hat dich zu­rück­ge­las­sen?«, frag­te Na­d­ja. Sie klang we­ni­ger scho­ckiert als viel­mehr neu­gie­rig.

»Sie wa­ren nicht mei­ne Fa­mi­lie. Sie ha­ben Je­ra und mir nur Un­ter­schlupf ge­währt. Und ich bin froh, dass sie Je­ra mit­ge­nom­men ha­ben. Sie konn­ten ja nicht wis­sen, ob ich über­haupt je­mals zu­rück­kom­men wür­de.«

»Willst du des­halb nach Brüs­sel? Glaubst du, dass sie dort hin­ge­hen wer­den?«

Es war das ers­te Mal, dass sie frag­te, war­um Smil­la aus­ge­rech­net nach Brüs­sel woll­te. Ein Ge­spräch nur um des Ge­sprächs Wil­len hat­ten sie bei­de bis­her ver­mie­den. Und es war auch bes­ser, wenn das so blieb. Sie wa­ren nur an der Ober­flä­che Ge­fähr­tin­nen. Tief in ihrem In­ne­ren wa­ren sie Ge­gen­sät­ze, die sich von­ein­an­der ab­sto­ßen wür­den, wenn sie zu nah an­ein­an­der her­an­ka­men.

»Ja«, sag­te Smil­la knapp und leg­te sich wie­der hin. Na­d­ja schien die Bot­schaft zu ver­ste­hen und hör­te auf, Fra­gen zu stel­len.

 

2  Die Su­chen­den

Im Mor­gen­grau­en bra­chen sie auf. Smil­las Fü­ße schmer­z­ten bei je­dem Schritt, und der Trä­ger ihres Ruck­sacks drück­te un­an­ge­nehm auf ih­re ver­hei­len­de Schul­ter. Im­mer wie­der glitt ihr Blick durch die Um­ge­bung, auf der Su­che nach ei­ner Spur von Je­ra, Gior­gio und den Schmie­ders. Sie wuss­te nicht, wann ge­nau ih­re Grup­pe nach Brüs­sel auf­ge­bro­chen war, und eben­so we­nig wuss­te sie, auf wel­cher Rou­te sie reis­ten. Es war un­wahr­schein­lich, dass sie ge­nau hier ent­lang­ge­kom­men wa­ren, doch das hielt Smil­la nicht davon ab, un­ent­wegt nach ih­nen Aus­schau zu hal­ten. Je­ra war das Ein­zi­ge, das ihr die Pla­ge nicht ge­nom­men hat­te, und Smil­la war für sie ver­ant­wort­lich. Sie muss­te sie wie­der­fin­den. Sie muss­te ein­fach.

»Was ist über­haupt in Brüs­sel? War­um glaubst du, dass dei­ne Grup­pe dort hin­geht?«, riss Na­d­ja Smil­la aus ihren Ge­dan­ken.

»Dort bau­en sie ei­ne zi­vi­li­sier­te Ge­sell­schaft auf«, sag­te sie und ver­such­te, die Sor­ge um Je­ra mit ei­ner Vi­si­on von Brüs­sel zu mil­dern.

»Zi­vi­li­siert? Heißt das, sie ha­ben Elek­tri­zi­tät?«, woll­te Na­d­ja wis­sen und warf Smil­la ei­nen Sei­ten­blick zu.

»Das weiß ich nicht«, gab Smil­la zu. »Aber man kann ja auch oh­ne Elek­tri­zi­tät zi­vi­li­siert sein, oder?«

Na­d­ja zuck­te die Schul­tern. »Schon, aber die Vor­tei­le von Elek­tri­zi­tät wür­den es ei­nem auf je­den Fall ein­fa­cher ma­chen.«

Smil­la war er­leich­tert, dass es nicht Na­d­jas ers­ter Im­puls war, die Ge­schich­te über Brüs­sel skep­tisch zu hin­ter­fra­gen, so wie es die meis­ten an­de­ren Über­le­ben­den ge­tan hat­ten, mit de­nen sie über Brüs­sel ge­spro­chen hat­te.

»Was wä­re das ers­te elek­tri­sche Ge­rät, das du nut­zen wür­dest, wenn du wie­der Strom hät­test?«, frag­te Na­d­ja.

Nach­denk­lich neig­te Smil­la den Kopf. »Schwie­ri­ge Fra­ge. Ein Herd?«

Na­d­ja lach­te. Es war nicht ihr über­heb­li­ches La­chen. Es war ein glu­ckern­des, fröh­li­ches, das Smil­la zu­vor noch nicht von ihr ge­hört hat­te. »Och, du bist ja ei­ne rich­tig be­schei­dene Haus­frau.«

»Das hat doch nichts mit Haus­frau­s­ein zu tun«, er­wi­der­te Smil­la, konn­te sich ein Grin­sen aber nicht ver­knei­fen. »Ich hät­te nur mal gern wie­der ei­ne rich­ti­ge Mahl­zeit mit min­des­tens drei un­ter­schied­li­chen Kom­po­nen­ten und nicht ir­gend­ei­nen Ein­topf oder auf schmud­de­li­gen Stei­nen ge­bra­te­ne Rat­ten und Pil­ze.«

»Ach, komm schon. So schlecht sind mei­ne Rat­ten-Koch­küns­te nun auch wie­der nicht.«

Smil­la warf Na­d­ja ein schie­fes Lä­cheln zu. »Und du? Was wür­dest du als ers­tes tun, wenn wir wie­der Strom hät­ten?«

»Ich wür­de mir ›Der Nuss­kna­cker‹ an­hö­ren und da­zu tan­zen«, ant­wor­te­te Na­d­ja prompt. »Ich ha­be Bal­lett ge­tanzt, vor der Pla­ge. Als ich noch klein war, war es mein gro­ßer Traum, ir­gend­wann ein­mal die Rol­le der Cla­ra zu be­kom­men.«

Dies­mal war es Smil­la, die Na­d­ja ei­nen prü­fen­den Sei­ten­blick zu­warf. Sie war sich nicht si­cher, ob die­se neue In­for­ma­ti­on Na­d­ja für sie zu­gäng­li­cher oder noch un­nah­ba­rer mach­te.

»Wo kommst du denn ei­gent­lich ge­nau her?«, frag­te Smil­la. Sie frag­te es lei­se, halb in der Hoff­nung, Na­d­ja wür­de es über­hö­ren. Ein Teil von ihr woll­te nichts über die­se Frau wis­sen. Schließ­lich hat­te sie zu der Grup­pe der Ver­lo­re­nen Jungs ge­hört und mit ih­nen ge­raubt und ge­mor­det. Aber dann hat­te Na­d­ja Smil­la nach ih­rer Flucht aus dem Quar­tier der Ver­lo­re­nen Jungs auf­ge­spürt. Nicht, um sie wie­der ein­zu­fan­gen, wie Smil­la zu­nächst be­fürch­tet hat­te. Son­dern um aus ih­rer ei­ge­nen Grup­pe zu ent­kom­men und sich ihr an­zu­schlie­ßen. Spä­tes­tens da hat­te Smil­la re­a­li­siert, dass Na­d­ja ei­ne Per­son war, die mehr aus­mach­te als das, was man von au­ßen er­kann­te: ei­ne Per­son mit Ängs­ten und Hoff­nun­gen, mit ei­ner Ver­gan­gen­heit und ei­ner Zu­kunft. Ge­nau wie Smil­la selbst.

»Aus Stadt­kyll«, ant­wor­te­te Na­d­ja be­reit­wil­lig. »Und du?«

»Köln.«

»Köln, na­tür­lich. Da­her kennst du ja Falk. Ich war nicht oft dort, aber ich ha­be im­mer ge­dacht: Wenn ich mal in ei­ne Groß­stadt zie­he, dann wird es Köln sein.«

Die Bei­läu­fig­keit, mit der Na­d­ja Falk er­wähn­te, bohr­te sich di­rekt in Smil­las Herz. »Ja, Köln hat­te schon was«, mur­mel­te sie.

»Wie eng wart ihr ei­gent­lich? Falk und du, mei­ne ich. Er hat mir mal er­zählt, dass du ihm Nach­hil­fe ge­ge­ben hast und er da­mals für dich ge­schwärmt hat, aber mehr auch nicht. Nur, Falk und die Ehr­lich­keit…« Na­d­ja lä­chel­te schief und zuck­te die Schul­tern.

Smil­las Ma­gen krampf­te sich zu­sam­men. Ob Na­d­ja ahn­te, dass zwi­schen Falk und ihr mehr ge­we­sen war? Wie wür­de sie dar­auf re­agie­ren, die Wahr­heit zu er­fah­ren?

»Wir ha­ben uns ein paar Mal ge­trof­fen, in den letz­ten Wo­chen«, ent­schied Smil­la sich für die Wahr­heit, schaff­te es aber nicht, Na­d­ja da­bei an­zu­se­hen.

»Ja, das dach­te ich mir schon.« Na­d­ja seufz­te. »Plötz­lich woll­te er mich nicht mehr da­bei­ha­ben bei sei­nen Aus­flü­gen, ob­wohl wir vor­her un­zer­trenn­lich ge­we­sen wa­ren.«

Smil­la schluck­te, und ihr wur­de un­an­ge­nehm heiß un­ter ihren vie­len Klei­dungs­schich­ten. Aus den Au­gen­win­keln sah sie, wie Na­d­ja die Ar­me hob und wie­der sin­ken ließ. »Na ja, was soll’s. So spielt das Le­ben. Er dach­te im­mer, er sei al­len an­de­ren ei­nen Schritt vor­aus. Am En­de hat’s ihm das Ge­nick ge­bro­chen«, mur­mel­te sie vor sich hin.

Ab­rupt blieb Smil­la ste­hen. Das Ge­fühl der Scham, das sie bis eben emp­fun­den hat­te, ver­wan­del­te sich un­ver­mit­telt in Är­ger. »So spielt das Le­ben?«, wie­der­hol­te sie. »Wie kann dich das so kalt las­sen?«

Na­d­ja sah sie an, als hät­te Smil­la ihr ei­ne Ohr­fei­ge ver­passt. »Nein, al­so, ich mei­ne –«

Aber Smil­la un­ter­brach sie. »Falk ist mög­li­cher­wei­se tot. Um­ge­bracht von sei­nen ei­ge­nen Leu­ten. Und nur, weil er nicht ehr­lich war, ist dein Fa­zit da­zu: So spielt das Le­ben?« Das Blut pul­sier­te in ihren Oh­ren. Ein ste­chen­der Schmerz in ih­rer Brust mach­te ihr das At­men schwer.

Na­d­jas Wan­gen färb­ten sich rot, ih­re gro­ßen, run­den Au­gen wur­den gla­sig. »Das ha­be ich über­haupt nicht so ge­meint«, press­te sie her­vor.

Ei­nen Mo­ment lang starr­ten sie ein­an­der bloß an, er­schro­cken dar­über, wie schnell das ers­te halb­wegs ge­wöhn­li­che Ge­spräch zwi­schen ih­nen ent­gleist war.

»Ich muss mal«, mur­mel­te Smil­la dann. Mit fah­ri­gen Be­we­gun­gen leg­te sie den Ruck­sack ab. Oh­ne Na­d­ja noch ein­mal an­zu­se­hen, has­te­te sie zwi­schen die to­ten, braun ver­färb­ten Far­ne, die den Tram­pel­pfad säum­ten. Ihr Herz wum­mer­te so kraft­voll, dass Smil­la glaub­te, es müs­se ihren Brust­korb spren­gen. Ihr Atem ging so schnell, dass sie Ster­ne sah.

Sie kämpf­te sich vier­zig, fünf­zig Me­ter durch das Ge­strüpp, bis Na­d­ja sie nicht mehr se­hen konn­te. Dann sank sie zu Bo­den und schlang die Ar­me eng um den Kör­per. Was war das? Ei­ne Pa­nik­at­ta­cke? Ei­ne post­trau­ma­ti­sche Be­las­tungs­stö­rung? Oder doch bloß ein ge­bro­che­nes Herz?

Es dau­er­te ei­ni­ge Mi­nu­ten, aber schließ­lich fühl­te Smil­la sich be­reit, wie­der zu­rück zu Na­d­ja zu ge­hen. Sie stand auf, wisch­te sich das nas­se Laub von der Klei­dung und lief in die Rich­tung, aus der sie ge­kom­men war.

Als sie Na­d­ja er­reich­te und ihren Ruck­sack schul­ter­te, war das Ge­sicht ih­rer Ge­fähr­tin wie­der hart und ver­schlos­sen wie das ei­ner Mar­mor­sta­tue. Für den Rest des Mar­sches spra­chen sie kein Wort mehr.

 

In der Abend­däm­merung schlu­gen sie in ei­nem ver­las­se­nen bel­gi­schen Ört­chen ihr Nacht­la­ger auf. Zum Abend­es­sen gab es Girsch, Sau­er­klee und ei­ne un­glücks­eli­ge Krä­he, die in Na­d­jas Fal­le ge­tappt war.

Kurz nach­dem sie den letz­ten Bis­sen ver­speist hat­ten, be­gan­nen ei­si­ge Re­gen­trop­fen zu fal­len. Sie zo­gen sich un­ter die Pla­ne zu­rück, die Na­d­ja in sol­chen Näch­ten über ihr La­ger spann­te, und roll­ten sich eng bei­ein­an­der zu­sam­men. Es lag nichts Ver­trau­tes dar­in. Die Nä­he war not­wen­dig, um nicht all­zu schlimm zu frie­ren. Ob Je­ra fror? Hof­fent­lich durf­te sie sich nachts zwi­schen die Schmie­der-Schwes­tern oder an Gior­gio ku­scheln.

Smil­la ver­fing sich be­reits in ei­nem un­ru­hi­gen Halb­schlaf, als Na­d­ja doch noch ein­mal die Stim­me hob. »Es lässt mich nicht kalt, was pas­siert ist.«

Sie lag mit dem Rü­cken zu Smil­la, und so konn­te sie ihr nicht ins Ge­sicht se­hen, doch sie klang ent­kräf­tet.

»Aber wer sei­ne Ge­füh­le nicht im Griff hat, schwächt sich selbst und macht sich für an­de­re an­greif­bar«, fuhr Na­d­ja fort.

Smil­la schürz­te die Lip­pen. Sie ver­stand Na­d­jas Ge­dan­ken­gang. Doch wenn die letz­ten Ta­ge und Wo­chen sie ei­nes ge­lehrt hat­ten, dann, dass man mit sei­nen Ge­füh­len ver­bun­den blei­ben muss­te, um sei­ne Mensch­lich­keit nicht zu ver­lie­ren. »Das se­he ich an­ders«, er­wi­der­te sie al­so.

»Ich weiß. Und was hat es dir ge­bracht?«, hielt Na­d­ja da­ge­gen und hob den Kopf an, so­dass Smil­la die Li­ni­en ih­rer Wan­ge und ih­re Na­sen­spit­ze aus­ma­chen konn­te. »Denn so, wie ich das se­he, be­fin­den wir uns bei­de in ex­akt der glei­chen Si­tu­a­ti­on. Nur, dass mein Kopf klar ge­nug ist, um nach vorn bli­cken zu kön­nen. Du hin­ge­gen brü­test die gan­ze Zeit vor dich hin und wür­dest ei­nen An­grei­fer wahr­schein­lich erst dann be­mer­ken, wenn er dir ei­ne Klin­ge in den Bauch rammt.«

Sie ver­fie­len in Schwei­gen, und Na­d­ja ließ den Kopf wie­der sin­ken.

»Es tut mir leid, dass ich so aus der Haut ge­fah­ren bin«, sag­te Smil­la nach ei­ner Wei­le. »Es ist nur… ich füh­le mich schul­dig für das, was pas­siert ist. Und ich fra­ge mich die gan­ze Zeit, ob al­les gut hät­te aus­ge­hen kön­nen, wenn ich mich an­ders ver­hal­ten hät­te.«

»Mhm«, mach­te Na­d­ja und dreh­te sich auf den Rü­cken, so­dass sie Smil­la ins Ge­sicht se­hen konn­te. »Und ge­nau aus die­sem Grund soll­test du ler­nen, dei­ne Ge­füh­le in den Griff zu be­kom­men. Dei­ne Was-wä­re-wenn-Ge­dan­ken ver­geu­den nur wert­vol­le Ka­lo­ri­en.«

Sie sa­hen sich ei­nen Au­gen­blick lang an. Als Smil­la nichts er­wi­der­te, dreh­te Na­d­ja sich wie­der um und zog die Woll­de­cke en­ger um ihren Kör­per. Smil­la schloss die Au­gen.

 

Der Ne­bel reich­te ihr bis zum Bauch­na­bel. Sie sah nicht, wo sie hin­trat. Sie sah nicht, was vor und was hin­ter ihr lag. Ir­gend­wo un­ter dem Ne­bel war Je­ra. Smil­la schrie ihren Na­men, schrie ihn noch ein­mal und noch ein­mal. Mit je­dem Schrei ver­än­der­te sich ih­re Stim­me. Sie wur­de tie­fer, rück­te wei­ter weg, bis es klang, als wür­de ir­gend­wo in der Fer­ne ein Mann nach ih­rer Schwes­ter ru­fen.

 

Smil­la schlug die Au­gen auf. Fins­ter­nis hüll­te sie ein. Der Re­gen hat­te das Feu­er aus­ge­löscht und pras­sel­te auf die Pla­ne über ih­nen. Wie je­de Nacht hat­ten die Alb­träu­me Smil­la den Schweiß auf die Stirn und ihren Herz­schlag auf ei­ne un­ge­sun­de Fre­quenz ge­trie­ben. Noch be­nom­men von den Ge­füh­len, die der Traum her­auf­be­schwo­ren hat­te, brauch­te sie ei­nen Mo­ment, um zu re­a­li­sie­ren, dass Na­d­jas Hand auf ih­rer Schul­ter lag.

»Smil­la, wach auf«, flüs­ter­te sie und rüt­tel­te an ihr.

Ne­ben ih­nen in der Dun­kel­heit knurr­te Pig­gy.

Smil­la hob den Kopf. »Was ist?«

»Da ist je­mand im Wald.«

Kaum war Na­d­jas Wis­pern ver­klun­gen, drang die Stim­me aus Smil­las Traum durch den Re­gen zu ihr. Ei­ne Män­ner­stim­me, die nach Je­ra rief. Ei­ne Stim­me, die sie un­ter tau­sen­den wie­der­er­kannt hät­te.

»Gior­gio.«

Mit ei­nem Satz war Smil­la auf den Bei­nen. Sie rann­te los, in die Rich­tung, aus der die Stim­me ge­kom­men war, und hin­ein in die dich­te Fins­ter­nis des Wal­des. Ge­nau wie in ihrem Traum hat­te sie kei­nen Schim­mer, wo sie ih­re Fü­ße hin­setz­te. Nur sche­men­haft konn­te sie die Um­ris­se der Baum­stäm­me aus­ma­chen.

»Gior­gio!«

Was tat er hier? War­um war er noch nicht in Brüs­sel? Und viel wich­ti­ger: War­um brüll­te er mit­ten in der Nacht Jeras Na­men durch den Wald? Angst keim­te zwi­schen ihren Ge­dan­ken auf.

»Gi­or–« Ih­re Fü­ße stie­ßen ge­gen ei­ne har­te Er­he­bung, und Smil­la schlug der Län­ge nach auf den Wald­bo­den. Kurz raub­te es ihr den Atem, doch sie rap­pel­te sich wie­der auf und rann­te wei­ter.

»Gior­gio!«

»Smil­la?«

Sei­ne Stim­me klang schon so nah, dass Smil­la ihn hät­te se­hen müs­sen. Sie hielt in­ne und dreh­te sich ein­mal um sich selbst.

»Smil­la!« Ei­ne Hand leg­te sich auf ih­re Schul­ter, und sie fuhr her­um. Sie er­kann­te durch den Re­gen und die Nacht we­der Gior­gi­os Zü­ge noch den Aus­druck dar­auf, aber sie wuss­te, dass er es war.

Mit ei­nem er­stick­ten Auf­schrei warf sie sich ihm ent­ge­gen und schlang ih­re Ar­me um sei­nen Na­cken. Er er­wi­der­te die Um­ar­mung eben­so un­ge­stüm, so­dass Smil­la die Luft weg­b­lieb. We­ni­ge Se­kun­den ver­harr­ten sie so. In die­sem Mo­ment war die Er­leich­te­rung dar­über, Gior­gio – ih­re Grup­pe – ge­fun­den zu ha­ben, das mäch­tigs­te all der Ge­füh­le in ihr.

»Du lebst«, wis­per­te Gior­gio in ihr Haar. Er drück­te sie sanft von sich, nahm ihr Ge­sicht in bei­de Hän­de und leg­te sei­ne Stirn ge­gen ih­re. »Geht es dir gut? Was ist pas­siert?«

»Wo ist Je­ra?«, frag­te Smil­la, an­statt sei­ne Fra­gen zu beant­wor­ten. Wie es ihr ging, war ne­ben­säch­lich.

Gior­gio ließ Smil­la los und be­weg­te sich et­was von ihr weg. »Sie ist weg­ge­lau­fen«, sag­te er dann dumpf.

Ver­ständ­nis­los schüt­tel­te Smil­la den Kopf. »Was?«

»Letz­te Nacht, als wir an­de­ren ge­schla­fen ha­ben, hat sie ih­re Sa­chen ge­packt und ist ab­ge­hau­en.« Sei­ne Stim­me klang bit­ter. »Nur ihren Schal, den sie mir ge­ge­ben hat, weil ich ge­fro­ren ha­be, hat sie zu­rück­ge­las­sen.«

»Was soll das hei­ßen?« Doch Smil­la wuss­te ge­nau, was das hieß. Sie war nur noch nicht be­reit, es zu ak­zep­tie­ren.

»Es tut mir so leid, Smil­la. Ich wuss­te nicht, was sie vor­hat, sonst hät­te ich sie kei­ne Se­kun­de aus den Au­gen ge­las­sen.«

Ih­re neun­jäh­ri­ge Schwes­ter al­lein im Wald – in der gna­den­lo­sen und glei­cher­ma­ßen ge­setz­lo­sen Welt, die die Pla­ge her­auf­be­schwo­ren hat­te. Al­les Blut wich aus Smil­las Kopf, und ihr wur­de schumm­rig.

»Was hat sie sich bloß da­bei ge­dacht?«, hauch­te sie und schloss ih­re Fin­ger fest um Gior­gi­os Ja­cke, um nicht das Gleich­ge­wicht zu ver­lie­ren.

»Ich sag’s dir nur un­gern, aber ich den­ke, sie hat sich auf die Su­che nach dir ge­macht.«

»Dann will sie zu­rück in die Ei­fel?«

»Davon ge­he ich aus.«

Erst da wur­de Smil­la be­wusst, dass Gior­gio al­lein zu sein schien. »Wo sind die an­de­ren?«, frag­te sie und such­te die Dun­kel­heit hin­ter ihm nach An­zei­chen ih­rer üb­ri­gen Grup­pen­mit­glie­der ab.

Gior­gio nahm ih­re Hän­de und lös­te sie von sei­ner Ja­cke. »Sei ih­nen nicht bö­se, okay?«, sag­te er.

Der Re­gen pras­sel­te auf sie ein und wusch auch das letz­te biss­chen Freu­de über die­ses un­ver­hoff­te Wie­der­se­hen fort.

»Sie sind oh­ne Je­ra und dich wei­ter­ge­zo­gen?« Smil­las Stim­me klang vor Un­gläu­big­keit schrill.

Gior­gio gab ei­nen ton­lo­sen Seuf­zer von sich. »Nicht so­fort. Am ers­ten Tag nach Jeras Ver­schwin­den sind wir in un­se­rem La­ger ge­blie­ben. Wir ha­ben die Um­ge­bung ab­ge­sucht und ge­hofft, dass sie wie­der­kommt. Aber das hat sie nicht ge­tan. Al­so sind die an­de­ren am Mor­gen dar­auf wei­ter­ge­zo­gen.«

»Sie ha­ben Je­ra ein­fach sich selbst über­las­sen?« Smil­la ver­spür­te das drin­gen­de Be­dürf­nis, ge­gen ir­gend­et­was oder je­man­den zu tre­ten. Um zu ver­mei­den, dass Gior­gio die­sem Be­dürf­nis zum Op­fer fiel, wand­te sie sich von ihm ab und ver­grub die Fin­ger in ihren Haa­ren. »Ka­ren, die­se blö­de F–«

»Es war die ein­zig ver­nünf­ti­ge Ent­schei­dung«, ver­hin­der­te Gior­gio ei­ne Ti­ra­de von Schimpf­wör­tern. »Je­ra ist aus frei­en Stü­cken ab­ge­hau­en. Und zwar in die ge­nau ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung von Brüs­sel.«

Smil­la ließ von ihren Haa­ren ab und fuhr zu Gior­gio her­um. »Sie ist erst neun, Gior­gio!«

Er mach­te ei­nen Schritt auf sie zu und nahm er­neut ih­re Hän­de, als wä­re sie ver­wirrt und vom Weg ab­ge­kom­men. »Ich weiß. Des­halb bin ich ja auch auf der Su­che nach ihr.«

An­ge­strengt at­me­te Smil­la aus. Oh­ne zu wis­sen, wo­nach sie such­te, ließ sie ihren Blick aber­mals durch den nächt­li­chen Wald glei­ten. Fast hoff­te sie, Jeras schma­le Sil­hou­et­te zwi­schen den Bäu­men zu ent­de­cken. Bei dem Ge­dan­ken dar­an, wie ih­re klei­ne Schwes­ter sich auf den Weg mach­te, um sie zu su­chen, zog sich ihr Herz zu­sam­men. Ob sie nachts al­lein im Wald Angst hat­te? Trug sie ge­nug Pro­vi­a­nt bei sich, um es bis zur nächs­ten Sied­lung zu schaf­fen? Wie stell­te sie sich das denn über­haupt vor? Wie soll­te ein klei­nes Kind Smil­la aus ir­gend­ei­ner Not­la­ge be­frei­en kön­nen?

»Smil­la, es wird al­les gut«, sag­te Gior­gio, der ih­re wach­sen­de Ver­zweif­lung wahr­zu­neh­men schien, und drück­te ih­re Hän­de. »Je­ra ist nicht blöd. Wenn es hart auf hart kommt, über­lebt sie ein paar Wo­chen auf sich al­lein ge­stellt. Aber so weit wird es gar nicht erst kom­men, denn vor­her fin­den wir sie. Ver­spro­chen.«

Be­bend hol­te Smil­la Luft. Dann mach­te sie sich von Gior­gio los. »Das ist al­les mei­ne Schuld«, sag­te sie mit er­stick­ter Stim­me. »Ich hät­te nie…« Ih­re Stim­me ver­sieg­te, und mit ei­nem Mal woll­ten ih­re Bei­ne ihr Ge­wicht nicht mehr tra­gen. Mit dem Rü­cken zu ei­ner Tan­ne ließ sie sich auf den Wald­bo­den sin­ken und leg­te die Stirn auf ih­re Knie. Sie war doch die­je­ni­ge, die für ih­re klei­ne Schwes­ter sor­gen muss­te. Nicht um­ge­kehrt.

»Trä­nen­rei­ches Wie­der­se­hen?«, er­klang Na­d­jas Stim­me.

Gior­gio fuhr her­um, und Smil­la hob den Kopf. Ei­ne sche­men­haf­te Be­we­gung ver­ri­et ihr, dass Na­d­ja sich Gior­gio von hin­ten ge­nä­hert hat­te.

»Sitz«, zisch­te sie Pig­gy zu, die wit­ternd auf Gior­gio zu­schritt. Sie gab ein Win­seln von sich, ge­horch­te aber.

»Kei­ne Sor­ge«, mur­mel­te Smil­la an Gior­gio ge­rich­tet. »Das ist bloß Na­d­ja. Wir rei­sen zu­sam­men nach Brüs­sel.«

»Bloß Na­d­ja«, wie­der­hol­te ih­re Weg­ge­fähr­tin und schnalz­te mit der Zun­ge. »Ein biss­chen mehr Wert­schät­zung, bit­te. Oh­ne mich wärst du ver­mut­lich an dei­ner in­fi­zier­ten Wun­de ge­stor­ben oder bei der Sek­te ge­lan­det. Oder bei­des.«

Gior­gio sog scharf die Luft ein. »Bei der Sek­te? Das meint sie doch nicht ernst, oder, Smil­la?«

Smil­la ver­grub den Kopf ent­kräf­tet in den Hän­den. Lan­ge Zeit hat­te auch sie die Sek­te, um die sich so vie­le Schau­er­ge­schich­ten und Ge­rüch­te rank­ten, nur für ei­nen po­sta­po­ka­lyp­ti­schen My­thos ge­hal­ten.

»Doch, wie es scheint, gibt es die Sek­te tat­säch­lich«, sag­te sie bit­ter. »Die Ver­lo­re­nen Jungs sind in ei­nen Kon­flikt mit ih­nen ge­ra­ten und soll­ten ih­nen als Wie­der­gut­ma­chung ei­ne Frau be­schaf­fen. Und als ich dann ei­nem von ih­nen – Le­on – im Wald be­geg­net bin, hat er die Chan­ce er­grif­fen und mich ent­führt, um mich der Sek­te zu über­ge­ben.«

»Ent­führt?!«, un­ter­brach Gior­gio sie ver­ständ­nis­los. »Ich dach­te, du hät­test dich Falk und dem Club frei­wil­lig an­ge­schlos­sen.« Trotz al­lem, was ge­sche­hen war, nann­te er sei­ne ehe­ma­li­ge Grup­pe im­mer noch den Club. Als wä­ren sie im­mer noch bloß der Fuß­ball­ver­ein aus Köln, der zum Trai­nings­la­ger in der Ei­fel ge­we­sen war, als die Pla­ge aus­ge­bro­chen war.

»Du hast wirk­lich ge­glaubt, dass ich ein­fach so zu de­nen über­lau­fe und Je­ra und dich wort­los sit­zen las­se?«, frag­te Smil­la un­gläu­big.

Ei­nen Mo­ment lang schwieg Gior­gio. »Ehr­lich ge­sagt, ich wuss­te nicht mehr, was ich den­ken soll­te, nach­dem du dich trotz mei­ner War­nung wei­ter mit Falk ge­trof­fen hast.«

Smil­la press­te ver­är­gert die Lip­pen auf­ein­an­der, er­wi­der­te aber nichts. Sie hat­ten kei­ne Zeit für Dis­kus­si­o­nen.

»Wie auch im­mer, ich ha­be es auf je­den Fall ge­schafft, zu ent­kom­men, be­vor die Sek­te auf­ge­kreuzt ist. Und weil die Ver­lo­re­nen Jungs dann an mei­ner Stel­le Na­d­ja aus­lie­fern woll­ten, ist sie auch ab­ge­hau­en, und wir ha­ben uns zu­sam­men­ge­tan«, er­klär­te Smil­la has­tig. Sie ver­stand, dass Gior­gio ver­mut­lich ge­nau­so vie­le Fra­gen an sie hat­te wie sie an ihn. Aber al­les, wor­an sie den­ken konn­te, war Je­ra. Al­lein. Ir­gend­wo im Wald.

»War­te – die Na­d­ja? Die aus dem Club?«, frag­te Gior­gio, und Smil­la hör­te, wie er ein paar Schrit­te von Na­d­ja weg­mach­te, als könn­te sie je­de Se­kun­de ex­plo­die­ren.

Sei­ne Be­we­gung lös­te et­was in Pig­gy aus. Die bul­li­ge Hün­din er­hob sich und trot­te­te auf Gior­gio zu.

»Pig­gy?«, frag­te die­ser ir­ri­tiert, nach­dem er den Hund kurz in Au­gen­schein ge­nom­men hat­te. Pig­gy fing an, mit dem Schwanz zu we­deln, und drück­te ihren brei­ten Schä­del ge­gen Gior­gi­os Bei­ne.

»Mo­ment mal«, sag­te Na­d­ja, be­vor Smil­la auf Gior­gi­os Fra­ge ant­wor­ten konn­te. »Du kennst Pig­gy? Wer bist du?« Die ge­wohn­te Süf­fi­sanz, mit der sie schein­bar selbst­be­wusst durch an­ge­spann­te Si­tu­a­ti­o­nen wie die­se na­vi­gier­te, war mit ei­nem Mal aus ih­rer Stim­me ver­schwun­den.

»Das ist Gior­gio. Er war auch mal bei den Ver­lo­re­nen Jungs – al­so, im Club, mei­ne ich«, er­klär­te Smil­la.

»Der Gior­gio? Aus Falks ehe­ma­li­ger Fuß­ball­mann­schaft? Der Ver­rä­ter?«

»Ja«, ant­wor­te­te Smil­la für Gior­gio, be­vor die­ser an­fan­gen konn­te, über Be­griff­lich­kei­ten zu dis­ku­tie­ren. »Er war mit mei­ner Grup­pe auf dem Weg nach Brüs­sel, bis mei­ne klei­ne Schwes­ter be­schlos­sen hat, ab­zu­hau­en, um mich zu su­chen.«

»Oh«, mach­te Na­d­ja.

Ein paar Se­kun­den lang wur­de es still zwi­schen ih­nen, als hät­te ein ge­lang­weil­ter Gott auf Pau­se ge­drückt, um sich mit et­was an­de­rem zu be­fas­sen. Aber Le­bens­ge­schich­ten aus­tau­schen konn­ten sie ein an­de­res Mal. Und zwar, wenn sie Je­ra ge­fun­den hat­te. Smil­la rap­pel­te sich auf und at­me­te tief durch.

»Ich wer­de mich von hier aus auf die Su­che nach Je­ra ma­chen. Ihr bei­den könnt zu­sam­men wei­ter nach Brüs­sel rei­sen. Ich kom­me dann mit Je­ra nach.«

Auf selt­sa­me Wei­se stimm­ten ih­re ei­ge­nen Wor­te sie zu­ver­sicht­lich. In so kur­ze, kla­re Sät­ze ge­fasst, klang es, als wä­re das al­les ein Kin­der­spiel.

»Nein, ich kom­me mit dir«, sag­te Gior­gio.

»Ich auch.«

Ver­wun­dert blick­te Smil­la in Na­d­jas Rich­tung.

»Ich ha­be in den letz­ten Ta­gen mehr­mals dar­über nach­ge­dacht, um­zu­keh­ren. Ich muss wis­sen, was mit Falk pas­siert ist, nach­dem her­aus­ge­kom­men ist, dass er dir zur Flucht ver­hol­fen hat. Wenn der Club ihn am Le­ben ge­las­sen hat, dann wird er mich jetzt brau­chen. Und wenn er tot ist, dann weiß ich, dass es nichts mehr gibt, was mich noch an die Ei­fel bin­det«, sag­te sie mit ei­ner Klar­heit, als hät­te sie den Satz schon ei­ni­ge Ma­le im Geis­te ge­übt. Viel­leicht hat­te sie das auch.

»Falk ist tot?«, frag­te Gior­gio.

»Mög­li­cher­wei­se«, ant­wor­te­te Na­d­ja be­herrscht.

Smil­la schluck­te schwer. »Wir soll­ten uns di­rekt auf den Weg ma­chen«, sag­te sie, be­vor Gior­gio noch et­was fra­gen konn­te.

»Du willst im Dun­keln und im Re­gen nach dei­ner Schwes­ter su­chen?« Na­d­jas Ton­fall gab Smil­la zu ver­ste­hen, dass sie das für kei­ne klu­ge Idee hielt.

Der Ge­dan­ke, nun auch noch wert­vol­le Zeit in ei­ner Dis­kus­si­on mit Na­d­ja zu ver­lie­ren, ver­setz­te Smil­la in Ab­wehr­hal­tung. »Was glaubst du denn? Soll ich mich hin­set­zen und Däum­chen dre­hen?«, gab sie ener­gisch zu­rück.

»Jein«, ant­wor­te­te Na­d­ja. »Wir soll­ten we­nigs­tens den Re­gen ab­war­ten, da­mit wir nicht bis auf die Kno­chen durch­nässt wer­den. Er­käl­tet und mit Fie­ber sind wir dei­ner Schwes­ter auch kei­ne gro­ße Hil­fe.«

Smil­la setz­te sich in Be­we­gung und schlug den Weg zu­rück zum La­ger ein. »Gior­gio, hast du Jeras Schal bei dir?«, frag­te sie über die Schul­ter, Na­d­jas Ein­wand igno­rie­rend.

»Ja, ha­be ich. War­um?«, woll­te Gior­gio, der ihr in ge­rin­gem Ab­stand folg­te, wis­sen.

»Pig­gy kann Jeras Fähr­te auf­neh­men.«

»The­o­re­tisch, ja«, schal­te­te Na­d­ja sich ein, die ih­rer Stim­me nach zu ur­tei­len et­was wei­ter ab­ge­schla­gen war als Gior­gio. Smil­la dros­sel­te ihr Tem­po, auch wenn es ihren Geist Über­win­dung kos­te­te.

»The­o­re­tisch? Was soll das hei­ßen?«

»Na ja, das funk­ti­o­niert nur mit fri­schen Fähr­ten. Die Spur darf nicht mehr als ei­nen hal­b­en, ma­xi­mal ei­nen Tag alt sein. Und da es jetzt auch noch reg­net und wir die Spur ja noch nicht ein­mal aus­fin­dig ge­macht ha­ben…«

Na­d­ja brauch­te nicht wei­ter­zu­spre­chen, Smil­la hat­te ver­stan­den. Pig­gys Spür­hund­fä­hig­kei­ten konn­ten ih­nen nicht wei­ter­hel­fen.

Sie blieb ste­hen. Sie spür­te ihr Herz mit al­ler Kraft schla­gen. Es schlug für Je­ra. Doch ih­re Knie fühl­ten sich weich und nach­gie­big an. War­um hat­te Je­ra das ge­tan? War­um hat­te sie den Schutz der Grup­pe ver­las­sen und Brüs­sels Ver­spre­chen von Si­cher­heit den Rü­cken ge­kehrt? Glaub­te sie wirk­lich, dass sie es al­lein zu­rück in die Ei­fel schaf­fen konn­te?

»Und was jetzt?«, frag­te Smil­la in den strö­men­den Re­gen.

Na­d­ja ging mit ent­schlos­se­nen Schrit­ten wei­ter Rich­tung La­ger. »Jetzt ver­su­chen wir, im Schutz der Pla­ne ein Feu­er zu ma­chen, trock­nen uns und bre­chen dann im Mor­gen­grau­en Rich­tung Ei­fel auf.«

So sehr Smil­la sich auch da­nach ver­zehr­te, jetzt so­fort tä­tig zu wer­den – wenn sie sich nicht al­lein auf die Su­che nach Je­ra ma­chen woll­te, muss­te sie al­lem An­schein nach auf Na­d­ja hö­ren.

 

3  Die Spur

Als das ers­te Ta­ges­licht über den Ho­ri­zont kroch, fin­gen sie ei­lig an, das La­ger ab­zu­bau­en. Smil­la hat­te in die­ser Nacht kein Au­ge zu­ge­tan und war sich si­cher, dass auch Gior­gio und Na­d­ja nicht ge­schla­fen hat­ten. Im­mer­hin hat­te Na­d­ja es fer­tig­ge­bracht, im Schutz der Plas­tik­pla­ne ein La­ger­feu­er zu ent­fa­chen, dank dem ih­re Klei­dung nun wie­der halb­wegs tro­cken war.

Wäh­rend sie ihr we­ni­ges Hab und Gut in ihren Ta­schen ver­stau­ten, be­spra­chen sie, wie sie vor­ge­hen soll­ten, um Je­ra zu fin­den. Sie wa­ren sich ei­nig, dass Je­ra ver­mut­lich auf dem glei­chen Weg zu­rück­ging, auf dem sie auch Rich­tung Brüs­sel ge­reist war. Nur gab Gior­gio zwi­schen zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen zu, dass er in der Dun­kel­heit von die­sem Weg ab­ge­kom­men sei und nun nicht ge­nau wis­se, wie weit sie sich von der ur­sprüng­li­chen Rei­se­rou­te ent­fernt be­fän­den.

Na­d­ja mein­te, das Sinn­volls­te sei, auf die­sen Weg zu­rück­zu­keh­ren, denn sonst be­ste­he die Ge­fahr, dass sie par­al­lel zu Je­ra lie­fen, oder sie so­gar über­hol­ten, oh­ne es je zu mer­ken. Im schlimms­ten Fall wür­de Je­ra et­was zu­sto­ßen, oder sie wür­de krank wer­den und es nie zu­rück in die Ei­fel schaf­fen, wäh­rend Smil­la, Gior­gio und Na­d­ja schon den Bun­ker und die Gas­sen Mon­schaus nach ihr ab­such­ten.

Smil­la ver­such­te, das Bild, das sich an­ge­sichts Na­d­jas ab­ge­klär­ter Wor­te vor ihren Au­gen form­te, zu ver­trei­ben. Ei­ne blei­che Kin­der­hand im Schlamm. Ein Tau­send­füß­ler, der sich über Jeras ge­schlos­se­nes Au­gen­lid schob.

Sie wür­den noch mehr Zeit ver­lie­ren, wenn sie erst nach der rich­ti­gen Rei­se­rou­te such­ten, an­statt auf di­rek­tem We­ge Rich­tung Ei­fel los­zu­ge­hen. Aber ver­mut­lich hat­te Na­d­ja auch dies­mal recht. Sie dach­te kla­rer als Gior­gio und Smil­la, denn für sie be­stand kein Grund, in Pa­nik zu ver­fal­len. Al­so schul­ter­ten sie ih­re Ta­schen und folg­ten Gior­gio in die Rich­tung, in der er die ur­sprüng­li­che Rei­se­rou­te ver­mu­te­te.

 

»Ich glau­be, hier war ich schon mal«, sag­te Gior­gio. Aus ver­eng­ten Au­gen mus­ter­te er ein Stopp­schild, das mit dem Stamm ei­ner Bu­che ver­schmol­zen war.

Hät­te er die­sen Satz in den letz­ten zwei Ta­gen nicht schon vier Mal von sich ge­ge­ben und wä­re es nicht je­des Mal ein fal­scher Alarm ge­we­sen, der sie wert­vol­le Stun­den kos­te­te, hät­te Smil­la viel­leicht so et­was wie En­thu­si­as­mus ver­spürt.

»Bist du dir si­cher?«, frag­te Na­d­ja in ei­nem ein­zi­gen ge­dehn­ten Seuf­zer. Da es nicht das Le­ben ih­rer Schwes­ter war, das auf dem Spiel stand, war sie we­ni­ger wü­tend auf Gior­gio, son­dern viel­mehr ge­nervt.

Un­ru­hig ver­la­ger­te Gior­gio sein Ge­wicht vom ei­nen auf den an­de­ren Fuß, wäh­rend er das Stopp­schild in­spi­zier­te. »Na ja, so vie­le mit ei­nem Baum ver­wach­se­ne Stopp­schil­der wird es in die­ser Ge­gend wohl nicht ge­ben, oder?«

Na­d­ja und Smil­la war­fen sich ei­nen kur­z­en Blick zu. War es zu früh, um sich der Hoff­nung hin­zu­ge­ben, dass Gior­gio viel­leicht dies­mal rich­tig lag?

»Doch, ich bin mir si­cher«, sag­te er dann. »Glau­be ich…«

Mit ei­nem ent­nerv­ten Stöh­nen wand­te Na­d­ja sich ab und ließ sich auf ei­nem um­ge­stürz­ten Baum in ei­ni­gen Me­tern Ent­fer­nung nie­der. »Kannst du viel­leicht ein biss­chen schnel­ler in dich ge­hen?«, rief sie ihm von dort aus zu. »Ich ha­be Hun­ger, ich bin durs­tig, mein Rü­cken tut weh, und wir lau­fen seit zwei Ta­gen im Kreis, weil du den Ori­en­tie­rungs­sinn ei­ner Schne­cke hast!«

»Das hat über­haupt nichts mit mei­nem Ori­en­tie­rungs­sinn zu tun«, ent­geg­ne­te Gior­gio mit ei­nem fins­te­ren Schul­ter­blick.

Na­d­ja stieß ein ver­ächt­li­ches und glei­cher­ma­ßen freud­lo­ses La­chen aus und mur­mel­te et­was, das die Wor­te »Kurz­zeit­ge­dächt­nis« und »Stu­ben­flie­ge« be­in­hal­te­te.

Zu Smil­las Er­leich­te­rung ging Gior­gio nicht wei­ter dar­auf ein. Die Stim­mung zwi­schen den bei­den war oh­ne­hin schon düs­ter ge­nug.

»Al­so da ent­lang?«, frag­te Smil­la und deu­te­te auf die brei­te Schnei­se zwi­schen zwei zu­ge­wu­cher­ten Fel­dern, die einst ei­ne Stra­ße ge­we­sen sein muss­te.

Gior­gio sah ihr in die Au­gen und bat stumm dar­um, dass sie ihr Ver­trau­en in ihn noch nicht ver­lie­ren mö­ge. Dann nick­te er.

Dies­mal mach­te Gior­gio nicht nach ein paar Mi­nu­ten oder Stun­den ir­ri­tiert halt, um sich um die ei­ge­ne Ach­se zu dre­hen und fest­zu­stel­len, dass er die­ses Stück Land noch nie zu Ge­sicht be­kom­men hat­te. Er lief im­mer wei­ter vor­an, durch ver­wil­der­te Fel­der und lich­te Wald­stü­cke. Ab und zu streck­te er den Arm nach ei­nem Ast oder ei­nem Busch am We­ges­rand aus und ließ sei­ne Fin­ger dar­über glei­ten, als flüs­ter­te ihm der Wald Zu­ver­sicht zu. Smil­la hoff­te, dass dies ein Zei­chen da­für wä­re, dass Gior­gio es ge­schafft hat­te. Dass er sie zu­rück auf die Rei­se­rou­te ge­führt hat­te, auf der ver­mut­lich auch Je­ra Rich­tung Ei­fel wan­der­te. Und falls er im Stil­len aber­mals re­a­li­sier­te, dass er sich ge­irrt hat­te, dann ließ er es sich nicht an­mer­ken. Sie wa­ren end­lich auf dem Rü­ck­weg, und noch ein­mal wür­den sie nicht an­hal­ten und um­keh­ren.

 

Die Rei­se zehr­te zu­se­hends an Smil­las Kräf­ten. Die stän­di­ge Sor­ge um Je­ra laug­te sie aus, und Gior­gio bedräng­te sie, ihm haar­klein zu er­zäh­len, wie sie in die Fän­ge der Ver­lo­re­nen Jungs ge­ra­ten war. Was die Rei­se je­doch noch schwe­rer er­träg­lich mach­te, war, dass Gior­gio und Na­d­ja sich un­ge­fähr so gut ver­tru­gen wie Men­tos und Co­la. Na­d­jas blo­ße An­we­sen­heit ver­setz­te Gior­gio in ei­nen Zu­stand per­ma­nen­ter An­span­nung. Smil­la war sich nicht si­cher, was ge­nau der Grund da­für war. Hat­te er Angst, dass Na­d­ja ihn, den Ver­rä­ter, im An­den­ken an die Ver­lo­re­nen Jungs tö­ten wür­de, wenn er ihr län­ger als drei Se­kun­den den Rü­cken zu­wand­te? Oder be­schwor Na­d­jas An­we­sen­heit Er­in­ne­run­gen dar­an her­auf, was Gior­gio an­de­ren Über­le­ben­den an­ge­tan hat­te, als er selbst noch bei den Ver­lo­re­nen Jungs ge­lebt hat­te?

Gior­gio gab sich zwar Mü­he, sei­ne Ab­nei­gung Na­d­ja ge­gen­über zu ver­ber­gen. Doch Na­d­ja streng­te sich ih­rer­seits kaum an, mit Gior­gio zu­recht­zu­kom­men. Die An­span­nung, die sich zwi­schen den bei­den auf­bau­te, setz­te auch Smil­la un­ter Strom, so­dass sie schon zu­sam­men­fuhr und sich auf Kon­fron­ta­ti­on ge­fasst mach­te, wenn Na­d­ja oder Gior­gio nur Luft hol­ten.

Aber am schlimms­ten von al­lem war der Hun­ger. Mit je­dem Schritt nahm er zu. Er krall­te sich tie­fer in ih­re Ein­ge­wei­de und mach­te je­de Be­we­gung zu ei­ner Her­aus­for­de­rung. An et­was an­de­res als an Es­sen zu den­ken, wur­de un­mög­lich. Die Alb­träu­me, die Smil­la seit ih­rer Flucht aus der Ei­fel plag­ten, wi­chen Vi­si­o­nen von schmack­haf­ten Spei­sen und über­quel­len­den Buf­fets. So qual­voll le­bens­echt schil­ler­ten die­se Bil­der, dass Smil­la sich ih­re Alb­träu­me zu­rück­wünsch­te.

Der Hun­ger ver­lang­sam­te ihr Vor­an­kom­men Stun­de um Stun­de. Im­mer öf­ter muss­ten sie Halt ma­chen, um sich aus­zu­ru­hen oder ess­ba­re Pflan­zen zu pflü­cken, die sie am We­ges­rand fan­den. Am Nach­mit­tag des vier­ten Ta­ges ih­rer Su­che ver­brach­ten sie ei­ne gu­te Stun­de auf ei­ner Flä­che, auf der Sau­er­klee wuchs.

»Wir soll­ten ein­fach Gior­gio es­sen«, wis­per­te Na­d­ja Smil­la zu. Sie knie­ten ne­ben­ein­an­der und stopf­ten sich Hän­de vol­ler zar­ter grü­ner Blät­ter in den Mund. Nur we­ni­ge Mi­nu­ten zu­vor hat­ten Gior­gio und Na­d­ja sich noch wü­ten­de Wor­te an den Kopf ge­wor­fen, weil Na­d­ja den letz­ten Schluck sau­be­ren Was­sers ge­trun­ken hat­te, oh­ne Smil­la und Gior­gio zu fra­gen, ob sie auch durs­tig sei­en.

Smil­la spür­te, wie sie bei Na­d­jas Wor­ten ei­ne Gän­se­haut über­kam. Sie schluck­te ei­nen Mund voll Sau­er­klee hin­un­ter und warf Na­d­ja ei­nen Sei­ten­blick zu. »Das ist nicht wit­zig. Es gibt Leu­te, die ge­nau das tun wür­den«, sag­te sie, und Na­d­ja er­wi­der­te nichts.

Bald wür­de der Win­ter Ein­zug hal­ten, und es wür­de noch schwie­ri­ger wer­den, Ess­ba­res zu fin­den. Die Pflan­zen, Wür­mer und Baum­rin­den, von de­nen sie sich in den letz­ten Ta­gen er­nährt hat­ten, konn­ten den Hun­ger im­mer nur kurz be­sänf­ti­gen, aber nie stil­len. Ir­gend­wann ein­mal – un­ter wel­chen Um­stän­den auch im­mer – Men­schen­fleisch zu ver­spei­sen, schien auch Smil­la plötz­lich nicht mehr un­denk­bar.

»Kan­ni­ba­lis­mus ist ei­gent­lich gar nicht so ver­kehrt, wenn man mal dr­ü­ber nach­denkt«, sag­te Na­d­ja, als sie we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter dem Wald­weg wei­ter Rich­tung Nordei­fel folg­ten. »Es gibt Na­tur­völ­ker, die ih­re To­ten ver­spei­sen. Ich wür­de lie­ber mei­ner Fa­mi­lie ei­ne Mahl­zeit be­sche­ren, als un­ter der Er­de von Wür­mern ge­fres­sen zu wer­den.«

We­der Gior­gio noch Smil­la er­wi­der­ten et­was. Hung­rig und auf ei­ner im­mer aus­sichts­lo­ser schei­nen­den Mis­si­on gab es an­ge­neh­me­ren Ge­sprächs­stoff als Tod, Ver­we­sung und Kan­ni­ba­lis­mus.

»In den Sieb­zi­gern oder so ist mal ein Flug­zeug mit ei­ner Rug­by­mann­schaft in den An­den ab­ge­stürzt. Die sa­ßen wo­chen­lang im Schnee fest und ha­ben ir­gend­wann an­ge­fan­gen, ih­re To­ten zu es­sen. So ha­ben sie lan­ge ge­nug über­le­ben kön­nen, bis der Team­ka­pi­tän Hil­fe ge­holt hat­te. To­tal ver­rück­te Ge­schich­te, die wur­den –«

»Wenn du schon un­be­dingt quat­schen musst, kannst du dann nicht we­nigs­tens et­was Er­mu­ti­gen­des er­zäh­len?«, un­ter­brach Gior­gio Na­d­ja.

Au­gen­blick­lich ver­krampf­te Smil­la sich. Sie lief zwi­schen den bei­den, und wenn sie nun an­fin­gen, sich zu zan­ken, wür­de sie ih­re Wor­te ab­be­kom­men wie Streif­schüs­se.

»Was Er­mu­ti­gen­des, ja?«, frag­te Na­d­ja, und Smil­la konn­te nicht sa­gen, ob sie spöt­tel­te oder tat­säch­lich in ihren Hirn­win­dun­gen nach ei­ner an­ge­neh­me­ren An­ek­do­te kram­te.

»Wie wä­re es denn mit der Ge­schich­te ei­nes tap­fe­ren Man­nes, der sei­ne Freun­de ver­rät, um bei ei­nem Mä­del zu lan­den?«, er­wi­der­te Na­d­ja ge­häs­sig. Al­so kei­ne an­ge­neh­me An­ek­do­te.

Smil­la rich­te­te den Blick ge­ra­deaus und ver­schloss sich ge­gen das, was Na­d­ja ge­sagt hat­te. Sie woll­te ih­re spär­li­chen Kräf­te nicht mit Streit ver­schwen­den.

»Mit Freun­de meinst du wohl den Club, und mit dem tap­fe­ren Mann mich, was?«, frag­te Gior­gio ton­los.

Na­d­ja zuck­te die Schul­tern. »Die Bot­schaft wird beim Emp­fän­ger ge­macht.«

»Du bist doch selbst von dort ab­ge­hau­en. Be­vor du mich Ver­rä­ter nennst, frag dich mal, was die wohl von dir hal­ten.«

Na­d­ja schnaub­te. »Ich bin ab­ge­hau­en, um mein Le­ben zu ret­ten. Du bist ab­ge­hau­en, weil du ei­ne der Ge­fan­ge­nen flach­le­gen woll­test. Und wenn du das nicht ge­tan hät­test, dann wä­re das al­les nicht pas­siert. Falk wä­re als An­füh­rer nicht in die Kri­tik ge­ra­ten. Es hät­ten sich nicht zwei La­ger im Club ge­bil­det, und wir hät­ten die Sek­te platt ge­macht, an­statt auf ihren be­schis­se­nen Deal ein­zu­ge­hen.«

Gior­gio at­me­te hör­bar ein.

»Es ist nicht Gior­gi­os Schuld, dass der Club ei­nen Kon­flikt mit der Sek­te hat­te«, sag­te Smil­la, be­vor Gior­gio et­was Ge­pfef­fer­tes er­wi­dern konn­te. »Und jetzt hört auf mit dem Mist. Als hät­ten wir ge­ra­de kei­ne grö­ße­ren Sor­gen.«

Kei­ner von bei­den er­wi­der­te et­was.