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“Du vertraust mir nicht? Ich kann dir versprechen: Das beruht auf Gegenseitigkeit.” Die junge Smilla ist auf der Flucht, als ihre kleine Schwester Jera verschwindet. Und es kommt noch schlimmer: Die Sekte, die seit dem Zusammenbruch der Zivilisation für Angst und Schrecken sorgt, soll in Jeras Verschwinden verwickelt sein … Auf ihrem verzweifelten Weg durch die Eifel erhält Smilla Unterstützung ausgerechnet von denjenigen, denen sie am wenigsten vertraut - und sie ahnt, dass dies ein Spiel mit dem Feuer ist. Ein Feuer, das alles zu verschlingen droht, was Smilla am meisten liebt … “Dieser Roman ist wie eine ganze Welt aus Mut, Angst und Menschlichkeit. Und unbedingter Liebe. Eine grandiose Fortführung der ‘Wir Verlorenen’-Trilogie.” (Band II)
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Zum Buch:
»Du vertraust mir nicht? Ich kann dir versprechen: Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
Die junge Smilla ist auf der Flucht, als ihre kleine Schwester Jera verschwindet. Und es kommt noch schlimmer: Die Sekte, die seit dem Zusammenbruch der Zivilisation für Angst und Schrecken sorgt, soll in Jeras Verschwinden verwickelt sein …
Auf ihrem verzweifelten Weg durch die Eifel erhält Smilla Unterstützung ausgerechnet von denjenigen, denen sie am wenigsten vertraut – und sie ahnt, dass dies ein Spiel mit dem Feuer ist. Ein Feuer, das alles zu verschlingen droht, was Smilla am meisten liebt …
»Dieser Roman ist wie eine ganze Welt aus Mut, Angst und Menschlichkeit. Und unbedingter Liebe. Eine grandiose Fortführung von ›Wir Verlorenen‹.«
Zur Autorin:
Jana Taysen wurde 1992 in Hagen geboren und lebt mit Freund und Hund im abenteuerlichen Köln. Dort arbeitet sie in einem Marktforschungsinstitut. Zuvor studierte sie English Studies und Medienwissenschaften im Bachelor und Markt- und Medienforschung im Master. Das Schreiben war schon von klein auf ein wichtiger Teil von Janas Leben und eine ihrer liebsten Freizeitbeschäftigungen. Sie liebt es, neue Welten und Charaktere zu erschaffen und selbst ganz und gar in die Geschichten abzutauchen.
Jeras Magen gab ein klägliches Knurren von sich. Sie duckte sich tiefer in ihr Versteck, ballte eine Hand zur Faust und presste sie in ihren Bauch, um ein weiteres verräterisches Knurren zu verhindern. Etwa fünfzehn Minuten kauerte sie schon dort im Dornengestrüpp und beobachtete das scheinbar verlassene Haus und den windschiefen Holzschuppen daneben. Sie musste sichergehen, dass sich dort niemand aufhielt. Erst dann wollte sie sich in den Schuppen schleichen, um darin zu übernachten.
Als sie noch mit ihrer Gruppe gereist war, hatten sie abends Feuer gemacht und sich zum Schlafen aneinandergedrängt. Aber jetzt, ganz allein, fror Jera nachts so sehr, dass sie kaum ein Auge zutat. Wenigstens diese Nacht wollte sie vor Wind und Regen geschützt verbringen.
Nach einer guten halben Stunde hatte sich auf dem Hof immer noch nichts geregt, und die Dämmerung erschwerte es zunehmend, Genaueres zu erkennen. Da richtete Jera sich auf und machte ein, zwei vorsichtige Schritte aus ihrem Versteck heraus. Die Augen für jede noch so kleine Bewegung geschärft, trat sie auf den Pfad, der zum Hof führte. Dann sprintete sie los, auf den Schuppen zu. Mit einer hektischen Bewegung drückte sie die Klinke hinunter, riss die Tür auf und huschte ins dunkle Innere. Mit etwas mehr Umsicht drückte sie die Tür wieder ins Schloss und spähte durch einen Spalt zwischen den Holzlatten nach draußen.
Jeras Atem ging hastig, und ihr Magen knurrte schon wieder, sodass sie nicht hören konnte, ob sich vor dem Haus etwas tat. Aber sehen konnte sie nichts und niemanden.
Als sich ihr Atem beruhigt hatte, trat Jera einen Schritt von der Tür zurück. Ein erleichtertes Seufzen bahnte sich den Weg durch ihre Kehle. Sie nahm den Rucksack von den Schultern und drehte sich um.
»Na, wen haben wir denn da?«
Vor Schreck fiel Jera der Rucksack aus der Hand. Dort hinten, auf einem Strohballen vor der gegenüberliegenden Wand des Schuppens, saß eine hochgewachsene Gestalt. Die Kapuze eines dunklen Regenmantels hüllte ihr Gesicht in Schatten, sodass nur ein Mund mit einem halben Lächeln zu erkennen war.
»Da draußen ist niemand. Und hier drinnen… bin nur ich. Also, kein Grund zur Sorge.« Die Stimme der Gestalt war kratzig, rau und tief. Sie erinnerte Jera an das Schnurren einer Katze, die sie bei einem Besuch auf dem Monschauer Markt gestreichelt hatte. Bis Smilla es ihr verboten hatte, weil Katzen voller Flöhe und Flöhe voller Krankheiten waren.
Ohne die Augen von der Gestalt zu nehmen, bückte Jera sich nach ihrem Rucksack und hob ihn wieder auf. Sollte sie die Tür aufreißen und hinausrennen? Würde sie schneller sein und besser Verstecke suchen können als die Gestalt? Oder war es klüger, hierzubleiben und sich mit ihr gutzustellen?
»Bist du allein?«, fragte die Gestalt und nahm einen geräuschvollen Schluck aus der Tasse, die sie in ihren Händen hielt.
»Geht dich nichts an«, sagte Jera und erschrak, als sie vernahm, wie dünn und piepsig ihre Stimme klang.
Über so etwas redete man nicht. Auch das hatte Smilla ihr eingebläut. Und obwohl ihre große Schwester immer Angst hatte, selbst wenn es gar keinen Grund zum Angsthaben gab, verstand Jera, warum es in diesem Fall wichtig war, ihren Rat zu beherzigen. Denn seit der großen Plage gab es von allem zu wenig. Zu wenig Vorräte, zu wenig Kleidung, zu wenig Medikamente, zu wenig Tauschwaren. Es gab niemanden, der dafür sorgte, dass alles gerecht verteilt wurde, und es gab auch niemanden, der aufpasste, dass die letzten Überlebenden gut zueinander waren. Deshalb musste man achtgeben, wenn man Fremden begegnete. Man durfte es ihnen nicht zeigen, wenn man krank oder verletzt war, man durfte nicht verraten, ob man wertvolle Gegenstände besaß, und erst recht durfte man es nicht zugeben, wenn man ganz allein war.
Das halbe Lächeln kehrte auf die Lippen der Gestalt zurück. »Da hast du recht, sehr unhöflich von mir. Ich hätte auch nicht gefragt, wenn ich nicht selbst allein wäre. Ich muss auf mich aufpassen. Das verstehst du doch, oder?«
Die Worte rollten gemächlich und ruhig durch den düsteren Schuppen bis zu Jera. Auf ähnliche Weise hatte Smilla ihr abends vor dem Einschlafen manchmal vorgelesen. Smilla fehlte ihr so.
»Du bist auch allein?«, fragte Jera. Im nächsten Moment biss sie sich erschrocken auf die Zunge. Sie hatte soeben eine ihrer Schwächen verraten. Und dabei hatte sie doch gewusst, dass sie vorsichtig sein musste!
»Ja, ich bin auch allein«, antwortete die Gestalt im selben, ruhig rollenden Ton. »Aber nur jetzt gerade. Zu Hause wartet meine Familie auf mich.«
Jera schloss die Hände enger um den Träger ihres Rucksacks. »Du hast eine Familie?« Fast niemand hatte mehr eine richtige Familie, weil so viele Menschen an der Plage gestorben, verhungert oder von anderen Überlebenden getötet worden waren. Über vier Jahre lag der Ausbruch der Plage nun schon zurück. Jera erinnerte sich kaum noch daran, wie es vorher gewesen war.
»Ja, eine sehr große sogar. Und viele Kinder. Ein paar müssten etwa in deinem Alter sein. Wie alt bist du?«
»Neun.«
»Wo ist denn deine Familie?«
»Weiß ich nicht so genau.« Dass sie allein war, hatte Jera ja eh schon verraten. Wozu also noch lügen?
Die Gestalt lehnte sich etwas vor. Die Bewegung brachte Jera dazu, einen gehetzten Blick zur Türklinke zu werfen.
»Wenn du wieder gehen willst, geh jetzt, bevor es anfängt zu regnen. Dann findest du vielleicht noch rechtzeitig einen anderen Unterschlupf.«
»Es wird heute Nacht regnen?« Wenn man nass wurde, fror man, und sie fror jetzt schon so bitterlich. Wie sehr sie erst frieren würde, wenn sie pitschnass wäre!
Die Gestalt nickte langsam. »Mit großer Wahrscheinlichkeit. Du solltest also besser hier drinnen bleiben.«
Jera saugte an ihrer Unterlippe. Wenn die Gestalt etwas von ihr klauen oder ihr wehtun wollte, dann hätte sie es doch sicherlich schon versucht. Und außerdem hatte sie Kinder. Jera hatte noch keine Leute mit Kindern kennengelernt, die Böses taten.
»Du traust mir nicht, hm?«
Jera antwortete nicht.
»Das ist gut. Ich würde meinen Kindern die Löffel lang ziehen, wenn sie einfach so einer Wildfremden vertrauen würden.«
Die Gestalt lehnte sich noch weiter vor, und Jera wich einen Schritt zurück. »Soll ich dir meine Machete geben? Dann bist du bewaffnet, ich nicht.«
Jera wusste zwar nicht, was eine Machete war. Aber eine Waffe klang gut. Der Speer, den sie mit Sarahs Taschenmesser angespitzt hatte, als sie noch mit ihrer Gruppe gereist war, war vor zwei Tagen bei dem Versuch, einen Fisch aus einem Bach zu fangen, zerbrochen.
Jera nickte.
Die Gestalt stellte ihre Tasse ab, griff hinter sich und zog etwas Breites und Langes hervor. »Hier«, sagte sie und legte die Machete auf den Boden vor sich. Dann stand sie auf, machte einen Schritt in Jeras Richtung und kickte die Waffe mit der Stiefelspitze zu ihr hinüber.
Als die Gestalt wieder saß, sprang Jera vor und hob die Waffe auf. »Boah«, entfuhr es ihr, als sie sah, womit sie es zu tun hatte. Ein Messer mit einer Klinge, länger als ihr Unterarm und mindestens so breit wie ihre Wade.
»Bist du schon lange allein unterwegs?«, wollte die Gestalt wissen.
Jera wog die Machete einen Moment fasziniert in der Hand, bevor sie antwortete. »Erst ein paar Tage. Wir waren eigentlich alle auf dem Weg nach Brüssel, aber dann bin ich umgedreht, weil ich meine Schwester suchen muss.«
»Wer ist alle?«
»Die Schmieders, Giorgio und ich.«
»Die Schmieders?«
»Das ist die Familie, die Giorgio, mich und meine Schwester nach der Plage aufgenommen hat.«
»Ah. Und wo ist deine Schwester? Warum war sie nicht bei euch?«
Testweise holte Jera aus und ließ die Machete von links nach rechts gleiten. Mit einem gefährlichen Wusch! schnitt sie die Luft entzwei. Ein aufgeregtes Kribbeln lief durch Jeras Arm bis in ihren Bauch.
»Meine Schwester ist abgebrannt«, sagte Jera dann und holte zu einem zweiten Schlag gegen die Luft aus. Wenn sie es erst einmal bis zum Monschauer Markt geschafft hatte, würde sie sich auch eine Machete zulegen. Damit konnte man einem Bösewicht bestimmt mit einem Schlag die Hand abhacken.
»Abgebrannt?«, fragte die Gestalt nach.
»Ja, mit einem Jungen. Falk«, ließ sie den verhassten Namen über ihre Zunge wandern.
»Durchgebrannt, meinst du?«
Jera nahm die Machete in die andere Hand und testete auch auf dieser Seite ihre Kampfkünste. »Ja, genau, durchgebrannt.«
»Das heißt, deine Schwester hat dich einfach zurückgelassen?«
»Ja, aber das liegt nur daran, dass sie in einem naiven Alter ist.«
Die Gestalt gab ein belustigtes Schnauben von sich. »Wie alt ist sie denn?«
Jera ging in die Knie und suchte auf dem Boden nach etwas, das sie mit der Machete zerschneiden konnte. »Einundzwanzig. Karen, unsere Anführerin, hat gesagt, in dem Alter kreist man noch um sich selbst.«
»Hm. Warum suchst du dann nach ihr? Manche Menschen kreisen ihr Leben lang um sich selbst. Von solchen Menschen sollte man sich lieber früher als später lösen.«
»Smilla – also, meine Schwester – ist aber nicht wirklich so. Das ist nur wegen diesem Falk. Und Karen sagt, das geht schneller vorbei, als man gucken kann.«
»Und warum habt ihr euch dann ohne sie auf den Weg nach Brüssel gemacht, anstatt auf sie zu warten?«
Jera fand einen dünnen Zweig auf dem Boden, legte ihn vor sich und drückte dann die Machete darauf. Mühelos glitt die Klinge durch das Holz. »Zack!«, kommentierte Jera zufrieden. Dann warf sie der Gestalt einen kurzen Blick zu. Sie hatte sich auf dem Strohballen zusammengerollt wie eine große, düstere Katze.
»Ich wollte ja warten. Aber Falk gehört zu den Verlorenen Jungs. Und die sind gefährlich. Karen hatte Angst, dass Smilla ihnen vielleicht verrät, wo unser Versteck ist, und dass sie dann kommen und uns alles wegnehmen und uns verkaufen.«
»Euch verkaufen?«
»Ja, die handeln mit Menschen.«
»Mit Menschen?«, fragte die Gestalt, und ihre Stimme wurde noch tiefer und rauer.
Jera legte die beiden Hälften des Stöckchens nebeneinander und ließ die Machete darauf niederfahren. Aus zwei Stöckchen wurden vier.
»Kennst du den Monschauer Markt? Da tauscht man ja mit Sachen, wenn man etwas von den Händlern haben will. Aber die Verlorenen Jungs tauschen nicht mit Sachen, sondern mit Menschen. Und manchmal ermorden sie sogar Leute. Anna haben sie ermordet und beinahe auch Giorgio, obwohl er mal einer von ihnen war.«
»Ah, ich verstehe.«
»Ja. Und Karen wollte nicht, dass sie uns ermorden oder zum Tauschen benutzen. Deshalb mussten wir so schnell wie möglich weg aus Wollseifen und konnten nicht darauf warten, dass Smilla die Nase voll hat von Falk.«
»Ihr seid aus Wollseifen?«, hakte die Gestalt nach. »Das ist nur ein paar Stunden von meinem Zuhause entfernt. Diese Verlorenen Jungs… Weißt du, wo die sich genau aufhalten?«
»In der Ordensburg Vogelsang. Die haben daraus eine uneinnehmbare Festung gemacht.«
Einen Moment lang stellte die Gestalt keine weiteren Fragen, und Jera machte sich daran, ein spannenderes Versuchsobjekt für die Machete zu finden als ein trockenes Stöckchen.
»Hier«, sagte die Gestalt auf einmal, und Jera fuhr zusammen, als sie schemenhaft eine Hand vor sich wahrnahm. »Den kannst du zerteilen, wenn du mir die Hälfte davon abgibst.«
Jera kniff die Augen zusammen und erkannte etwas Rundes in der ausgestreckten Hand. Einen Apfel. Sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und ihr Bauch ließ ein sehnsüchtiges Grummeln vernehmen.
Zaghaft streckte Jera die Hand nach dem Apfel aus, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen. Die andere Hand klammerte sie fest um den Griff der Machete, bereit, zuzuschlagen. Aber als sie gerade die Finger um den Apfel gelegt hatte, zog die Gestalt sich auch schon in die Dunkelheit am anderen Ende des Schuppens zurück.
»Danke«, murmelte Jera und fuhr mit den Fingern über die straffe, glatte Schale des Apfels. Es war ein ganz frischer, makellos und ohne Runzeln, und es hatte noch kein anderes Lebewesen vor ihr daran genagt.
»Ich bin auch auf dem Weg in die Eifel. Was hältst du davon, wenn du mit mir kommst?«
Behutsam setzte Jera den Apfel auf den Boden vor sich und legte die Klinge genau über die Stelle, an der der Stiel aus der Frucht ragte.
»Ich muss aber zu den Verlorenen Jungs«, warnte Jera.
Die Klinge glitt mit einem satten Ratsch durch den Apfel, und Jera konnte ein begeistertes Quietschen nicht unterdrücken. Warum hatten nicht alle Menschen Macheten? Macheten waren mit Abstand die besten Messer der Welt.
»Das klingt nach einem sehr gefährlichen Vorhaben. Willst du nicht lieber bei mir bleiben? Du könntest eines meiner Kinder werden.«
»Das geht nicht. Ich kann Smilla nicht im Stich lassen.«
»Hm«, schnurrte die Gestalt. »Dann wirst du aber eine gute Waffe brauchen, oder? Wenn du mit mir zu meiner Familie kommst, kannst du dir eine von unseren aussuchen.«
Jera ließ von dem Apfel ab und sah zu der Gestalt auf. »Du würdest mir so etwas Wertvolles schenken? Einfach so? Und ich muss nichts dafür machen?«
»Nein, gar nichts«, erwiderte die Gestalt, und Jera war sich sicher, dass sie wieder lächelte, obwohl sie es in der Dunkelheit nicht erkennen konnte.
Sie schloss die Finger um ihre Apfelhälfte und biss hinein. Himmlisch süßer Saft benetzte ihre Zunge.
Smilla hatte einmal gesagt, dass es kaum noch jemanden auf der Welt gebe, der einfach so etwas Gutes für andere tat, erinnerte Jera sich. Heute musste wirklich ihr Glückstag sein.
Spitzkegeliger Kahlkopf.«
»Was?«
»Spitzkegeliger Kahlkopf. Hier auf der Wiese.«
Smilla stand auf. Jeder einzelne ihrer Muskeln schmerzte, als sie zu Nadja hinüberlief, die im Gras nach Pilzen und Wildkräutern fürs Abendessen suchte. Mit einem unterdrückten Stöhnen kniete sie sich neben Nadja. Sie teilte das nasse Gras mit ihren Händen, und ein kleines Grüppchen blassbrauner Pilze kam zum Vorschein.
»Kann man die essen?«, fragte Smilla und streckte schon die Finger nach den unscheinbaren Gewächsen aus.
Gestern hatten sie den letzten Rest ihrer Vorräte aufgebraucht. Heute waren sie mit leeren Mägen losgewandert, und Smilla spürte die Anstrengungen der Reise in jeder Faser. Der Marsch nach Brüssel erschien ihr schon längst nicht mehr wie der Beginn eines neuen Kapitels, sondern vielmehr wie die Fortsetzung eines nie enden wollenden Tiefpunkts in ihrem Leben.
Nadja schlug nach ihren Fingern. »Kann man, ja. Aber in deiner Verfassung solltest du das lassen.«
»Wieso?«, fragte Smilla und rieb sich den schmerzhaft leeren Bauch.
»Schon mal was von Magic Mushrooms gehört?«
»Du meinst die Pilze, von denen man Halluzinationen bekommt?«
Nadja nickte, den Blick unentwegt ins Gras vor ihnen gerichtet. »Das sind sie. Oder zumindest eine Sorte davon«, sagte sie. Dann zückte sie ihr Jagdmesser und fing an, die elegant geschwungenen Stängel der Pilze zu durchtrennen. »Du kannst sie entweder frisch essen oder trocknen und aufbewahren. Aber wie gesagt – empfehlen würde ich es dir nicht«, erklärte sie. »Mit einem Magic-Mushroom-Horrortrip ist nicht zu spaßen. Man hat mehr davon, sie einfach zu verkaufen.« Sie wog die Pilze kurz in der Hand und ließ sie schließlich in ihrer Jackentasche verschwinden. Dann stand sie auf und stapfte, den Blick suchend auf den Boden gerichtet, weiter auf die Wiese hinaus.
Smilla löste den Blick von der Stelle, an der eben noch das niedliche Grüppchen Pilze gestanden hatte, und richtete sich auf. »Bleib vielleicht lieber am Waldrand. Dort auf der Wiese kann dich jeder sofort entdecken«, gab sie zu bedenken.
Aber Nadja bewegte sich weiter, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »Du glaubst also immer noch, dass der Club uns verfolgt?«
»Es ist nicht ausgeschlossen, oder?«
Einen Moment lang erwiderte Nadja nichts. Dann sagte sie betont geduldig: »Smilla. Wenn der Club uns finden will, findet er uns auch. Ob wir nun hier im Gebüsch kauern oder auf der Wiese herumspazieren.«
Nadjas fatalistische Haltung drückte unangenehm auf Smillas Eingeweide. Aber für größere Diskussionen hatte sie keine Energie mehr.
»Was hast du da?«, wechselte sie das Thema und deutete auf das dunkelgrüne Kraut, das Nadja in diesem Moment aus dem feuchten Boden rupfte.
»Sauerampfer. Hier ist jede Menge. Pflückst du uns welchen? Dann sammle ich noch ein paar Shrooms.«
Smilla ließ sich von Nadja zeigen, wie sie Sauerampfer von den restlichen Wiesengewächsen unterscheiden konnte. Mit ihr als Lehrerin fiel es Smilla um einiges leichter, sich die essbaren Pflanzen und ihre Merkmale einzuprägen, als mit dem Pflanzenbestimmungsbuch, das sie in der Buchhandlung am Monschauer Markt erstanden hatte.
Falk, wie er zwischen den Bücherregalen stand und sie aufmerksam ansah. Unwillkürlich schüttelte Smilla den Kopf. Erinnerungen wie diese besudelten jeden ihrer Gedanken wie ein Fleck auf der Kameralinse eine Fotoreihe.
Sie sah zu Nadja hinüber, die sich vornübergebeugt durch die Wiese bewegte. Ob sie auch so oft an ihn dachte? Falk und Nadja waren ein Paar gewesen, und doch hatte sie, seit sie zusammen geflohen waren, freiwillig kein Wort mehr über ihn verloren. Als hätte es ihn nie gegeben. Als wäre das alles nicht passiert.
Bisher hatte Smilla dem Bedürfnis, Nadja über Falk auszufragen, nur wenige Male nachgegeben. Denn ein Teil von ihr wünschte, Falk einfach vergessen zu können. Als Anführer der Verlorenen Jungs war er der Inbegriff all dessen, was Smilla an der Plage und dem, was sie aus der Menschheit gemacht hatte, verabscheute.
»Wir sollten bald Feuer machen«, rief Nadja ihr nach einer Weile zu, den Blick in den Himmel gerichtet. Das Tageslicht verblasste bereits, und die Regenwolken über ihnen färbten sich zusehends dunkler.
Smilla klemmte das Bündel Sauerampfer, das sie gepflückt hatte, unter ihren Arm und begab sich zurück zum Waldrand. In den sechs Tagen mit Nadja hatte sie mehr über das Überleben in freier Wildbahn gelernt als in den gesamten vier Jahren seit dem Ausbruch der Plage. Sie wusste nun, wie man ohne Streichhölzer und Feuerzeug Feuer machte, wie man aus Birkenrinde so etwas Ähnliches wie Spaghetti herstellte und wie man mit nicht mehr als ein paar Stöcken und einer Schnur eine Kleintierfalle baute. Viel war es trotzdem nicht, was sie am Ende des Tages zur Stärkung verzehren konnten. Aber Smilla wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie es ohne Nadjas Hilfe um sie gestanden hätte.
Sie legte das Bündel Sauerampfer neben Nadjas Hündin Piggy ab, die artig am Waldrand gewartet hatte. Die Reise zehrte auch an Piggys Kräften. Sie hatte innerhalb der kurzen Zeit sichtbar Gewicht verloren. War sie anfangs noch wählerisch gewesen mit den Dingen, die Nadja ihr zum Fressen angeboten hatte, so biss sie nun hoffnungsvoll in alles, was in die Nähe ihrer Raubtierschnauze geriet.
Mit müden, kraftlosen Bewegungen machte Smilla sich daran, Steine zu suchen, mit denen sie eine Feuerstelle eingrenzen konnten. Danach sammelte sie im Dickicht halbwegs trockene Äste und schichtete sie im Innern des Steinkreises zu einem kleinen Scheiterhaufen auf. Mit Nadjas Feuerbogen und dem getrockneten Baumpilz, den sie als Zunder benutzte, entfachten sie ein Lagerfeuer. Immerhin würden sie beim Einschlafen nicht frieren müssen. Die Kälte war fast noch schwerer zu ertragen als der Hunger.
Sie kauten auf den Fasern des Sauerampfers herum, während die spitzkegeligen Kahlköpfe am Feuer trockneten, und schwiegen sich an. Was hätten sie einander auch sagen sollen? Jede Frage, jedes Wort barg die Gefahr, sie daran zu erinnern, dass sie beide alles verloren hatten.
»Steh mal auf, dann zeig ich dir, wie man jemandem den Arm auskugelt.«
Smilla sah von den Pilzen auf, die sie gedankenverloren angestarrt hatte. Das Feuer warf flackernde Schatten in Nadjas Gesicht. Mit ihren dunklen Haaren, den braunen Rehaugen und ihrer olivfarbenen Haut war sie äußerst hübsch.
Nadja, wie sie die Arme um Falk schloss, kurz bevor sie aufbrach, um nach einer Frau für die Sekte zu suchen. Mit fest aufeinandergepressten Lippen richtete Smilla ihren Blick ins Feuer. »Kein Bedarf.«
»Ich habe aber Bedarf.«
»Mir den Arm auszukugeln?«
Nadja lachte trocken. »Nein, dir ein paar Kampftechniken beizubringen. Wenn wir angegriffen werden, solltest du dich verteidigen können. Sonst nützt du mir herzlich wenig. Du nützt mir sowieso schon nicht so viel, wie ich gehofft habe.«
Smilla verdrehte die Augen, rappelte sich jedoch auf und umrundete das Feuer. Nadja schob sich ein letztes Blatt Sauerampfer in den Mund und stellte sich vor sie.
Dann griff sie ohne Vorwarnung nach Smillas Handgelenk, zog sie zu sich, verwickelte sie in einen kurzen Ringkampf und war mit einem Mal hinter ihr. Mit der einen Hand fixierte sie Smillas Schulter, mit der anderen bog sie ihren Arm nach hinten.
Smilla jaulte auf, als ihre Gelenke überdehnt wurden. Da ließ Nadja sie los.
»Aua«, beschwerte Smilla sich und rieb sich die rechte Schulter. »Wenn du mich verletzt, verletz ich dich auch!«, schimpfte sie und wurde sich im selben Moment bewusst, wie trotzig sie klang.
Nadja lachte erneut auf. »Du und mich verletzen?«, fragte sie, machte einen Satz auf sie zu und brachte sie erneut in einen Hebelgriff, nur diesmal an Smillas linker Seite. Nadjas Finger gruben sich in die Bisswunde in ihrer Schulter, und diesmal schrie Smilla vor Schmerz. Augenblicklich ließ Nadja sie los.
»Sorry«, murmelte sie und rieb sich die Hände an der Hose, als hätte sie etwas an den Fingern, das anderen gefährlich werden konnte. »Hab nicht dran gedacht.«
Smilla zog ihr Hemd etwas nach unten und begutachtete ihre Wunde, die Falks Hund ihr vor wenigen Wochen zugefügt hatte. Sie war schwer entzündet gewesen. Aber dank des Penicillins, das Nadja ihr geschenkt hatte, war die Entzündung inzwischen abgeklungen.
»Ist die Wunde wieder aufgegangen?«, fragte Nadja und klang beinahe schuldbewusst.
Smilla schüttelte den Kopf. »Halb so wild.« Sie rückte das zu große Hemd zurecht. »Aber für heute reicht es mir erst mal mit der Gewalt«, sagte sie dann und ging zurück zu ihrem Platz auf der anderen Seite der Feuerstelle.
»Du solltest aber wirklich lernen, dich selbst zu verteidigen«, meinte Nadja.
Die Schere in Smillas Hand, die sich in das Fleisch ihres Angreifers bohrte.»Ich kann mich schon selbst verteidigen.«
»Früher oder später wirst du auf jemanden treffen, dem du körperlich nicht gewachsen bist. Dann musst du wissen, wie man jemanden gezielt und schnell verletzt.«
Fremdes Blut, das sich auf ihrer Haut verteilte.»Ich will nicht lernen, wie ich jemanden verletze, okay?«, entgegnete Smilla energisch.
»Okay«, lenkte Nadja ein und hob die Hände, als würde Smilla eine Waffe auf sie richten. »Sag Bescheid, wenn du es dir anders überlegst. Wenn wir nicht beide draufgehen wollen, ist das idealerweise bald.«
Smilla antwortete nicht, und so versanken sie wieder in Schweigen.
Der Anblick der Flammen ließ Smillas Müdigkeit dichter werden. Feuer bedeutete Wärme. Wärme bedeutete Schlaf. Und von beidem hatte sie in den letzten Tagen viel zu wenig bekommen. Als die Müdigkeit so schwer wurde, dass Smilla kaum noch die Lider heben konnte, holte sie ihre Wolldecke aus ihrem Rucksack. Mit Blick aufs Feuer legte sie sich auf die Seite und zog die Decke bis unters Kinn. Einmal atmete sie noch tief ein und aus, um sich gegen die Albträume zu wappnen, die in der bevorstehenden Nacht auf sie lauerten. Dann schloss sie die Augen.
Und dann fiel ihr Blick auf Jera. Sie rannte neben ihr, nur eine Armlänge entfernt. Sie schrie Smillas Namen. Um sie herum begann der Nebel regelrecht zu kochen. Im nächsten Moment stießen dunkle Hände nach oben, packten ihre kleine Schwester und rissen sie fort.
Nach Atem ringend fuhr Smilla hoch. Ihr Blick sprang suchend umher. Über ihr ragten die schwarzen Silhouetten von Nadelbäumen in den Nachthimmel. Das Feuer prasselte friedlich vor sich hin und tauchte alles im Umkreis von wenigen Metern in Kupferlicht.
Kein Nebel.
Keine Jera.
Kein jagendes Ungeheuer.
Nur Nadja, die sie ernst musterte.
Smilla wischte sich den Angstschweiß von der Stirn und setzte sich aufrecht hin. »Wie spät ist es?«
»Zwei, drei Uhr nachts.«
Manchmal fragte Smilla sich, ob Nadja überhaupt irgendwann einmal schlief. Sie war immer auf, wenn Smilla erwachte. Egal, ob es mitten in der Nacht oder früh am Morgen war. Wovon sie wohl träumte, wenn sie doch einmal die Augen schloss?
»Wer ist Jera?«
»Habe ich im Schlaf gesprochen?«, antwortete Smilla mit einer Gegenfrage.
Nadja nickte.
Smilla wurde unwohl bei der Vorstellung, dass sie, ohne es zu wollen, Dinge von sich preisgab. Was hatte sie außer Jeras Namen noch gesagt? Etwas über Falk?
»Jera ist deine kleine Schwester, oder? Das Mädchen, mit dem du unterwegs warst, als Falk und ich euch zum ersten Mal begegnet sind«, hakte Nadja nach.
Einen Moment lang starrten sie sich über das Feuer hinweg an. Begegnet traf es nicht ganz. Angegriffen wäre der passendere Ausdruck gewesen. »Ja«, sagte Smilla dann bloß.
»Warum hat sie eigentlich nicht in eurem Bunker auf dich gewartet, als du aus unserer Festung geflohen bist? Weißt du, wo sie jetzt ist?«
Smilla presste die Zähne aufeinander. Nadja war eine der letzten Personen, mit der sie über ihre Schwester oder ihre Gruppe oder sonst irgendetwas reden wollte. Und doch musste sie die vielen Gedanken und Sorgen, die sich in ihrem Kopf stauten, irgendwie hinauslassen.
Smilla griff nach einem Zweig, der zwischen ihren Füßen lag, und fing an, damit in der Glut zu stochern. »Ich weiß nicht, wo sie ist. Während ich bei euch gefangen gehalten wurde, hat meine Gruppe beschlossen, den Bunker zu verlassen, weil sie sich dort nicht mehr sicher gefühlt haben. Jera ist mit ihnen gegangen.«
»Deine Familie hat dich zurückgelassen?«, fragte Nadja. Sie klang weniger schockiert als vielmehr neugierig.
»Sie waren nicht meine Familie. Sie haben Jera und mir nur Unterschlupf gewährt. Und ich bin froh, dass sie Jera mitgenommen haben. Sie konnten ja nicht wissen, ob ich überhaupt jemals zurückkommen würde.«
»Willst du deshalb nach Brüssel? Glaubst du, dass sie dort hingehen werden?«
Es war das erste Mal, dass sie fragte, warum Smilla ausgerechnet nach Brüssel wollte. Ein Gespräch nur um des Gesprächs Willen hatten sie beide bisher vermieden. Und es war auch besser, wenn das so blieb. Sie waren nur an der Oberfläche Gefährtinnen. Tief in ihrem Inneren waren sie Gegensätze, die sich voneinander abstoßen würden, wenn sie zu nah aneinander herankamen.
»Ja«, sagte Smilla knapp und legte sich wieder hin. Nadja schien die Botschaft zu verstehen und hörte auf, Fragen zu stellen.
Im Morgengrauen brachen sie auf. Smillas Füße schmerzten bei jedem Schritt, und der Träger ihres Rucksacks drückte unangenehm auf ihre verheilende Schulter. Immer wieder glitt ihr Blick durch die Umgebung, auf der Suche nach einer Spur von Jera, Giorgio und den Schmieders. Sie wusste nicht, wann genau ihre Gruppe nach Brüssel aufgebrochen war, und ebenso wenig wusste sie, auf welcher Route sie reisten. Es war unwahrscheinlich, dass sie genau hier entlanggekommen waren, doch das hielt Smilla nicht davon ab, unentwegt nach ihnen Ausschau zu halten. Jera war das Einzige, das ihr die Plage nicht genommen hatte, und Smilla war für sie verantwortlich. Sie musste sie wiederfinden. Sie musste einfach.
»Was ist überhaupt in Brüssel? Warum glaubst du, dass deine Gruppe dort hingeht?«, riss Nadja Smilla aus ihren Gedanken.
»Dort bauen sie eine zivilisierte Gesellschaft auf«, sagte sie und versuchte, die Sorge um Jera mit einer Vision von Brüssel zu mildern.
»Zivilisiert? Heißt das, sie haben Elektrizität?«, wollte Nadja wissen und warf Smilla einen Seitenblick zu.
»Das weiß ich nicht«, gab Smilla zu. »Aber man kann ja auch ohne Elektrizität zivilisiert sein, oder?«
Nadja zuckte die Schultern. »Schon, aber die Vorteile von Elektrizität würden es einem auf jeden Fall einfacher machen.«
Smilla war erleichtert, dass es nicht Nadjas erster Impuls war, die Geschichte über Brüssel skeptisch zu hinterfragen, so wie es die meisten anderen Überlebenden getan hatten, mit denen sie über Brüssel gesprochen hatte.
»Was wäre das erste elektrische Gerät, das du nutzen würdest, wenn du wieder Strom hättest?«, fragte Nadja.
Nachdenklich neigte Smilla den Kopf. »Schwierige Frage. Ein Herd?«
Nadja lachte. Es war nicht ihr überhebliches Lachen. Es war ein gluckerndes, fröhliches, das Smilla zuvor noch nicht von ihr gehört hatte. »Och, du bist ja eine richtig bescheidene Hausfrau.«
»Das hat doch nichts mit Hausfrausein zu tun«, erwiderte Smilla, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen. »Ich hätte nur mal gern wieder eine richtige Mahlzeit mit mindestens drei unterschiedlichen Komponenten und nicht irgendeinen Eintopf oder auf schmuddeligen Steinen gebratene Ratten und Pilze.«
»Ach, komm schon. So schlecht sind meine Ratten-Kochkünste nun auch wieder nicht.«
Smilla warf Nadja ein schiefes Lächeln zu. »Und du? Was würdest du als erstes tun, wenn wir wieder Strom hätten?«
»Ich würde mir ›Der Nussknacker‹ anhören und dazu tanzen«, antwortete Nadja prompt. »Ich habe Ballett getanzt, vor der Plage. Als ich noch klein war, war es mein großer Traum, irgendwann einmal die Rolle der Clara zu bekommen.«
Diesmal war es Smilla, die Nadja einen prüfenden Seitenblick zuwarf. Sie war sich nicht sicher, ob diese neue Information Nadja für sie zugänglicher oder noch unnahbarer machte.
»Wo kommst du denn eigentlich genau her?«, fragte Smilla. Sie fragte es leise, halb in der Hoffnung, Nadja würde es überhören. Ein Teil von ihr wollte nichts über diese Frau wissen. Schließlich hatte sie zu der Gruppe der Verlorenen Jungs gehört und mit ihnen geraubt und gemordet. Aber dann hatte Nadja Smilla nach ihrer Flucht aus dem Quartier der Verlorenen Jungs aufgespürt. Nicht, um sie wieder einzufangen, wie Smilla zunächst befürchtet hatte. Sondern um aus ihrer eigenen Gruppe zu entkommen und sich ihr anzuschließen. Spätestens da hatte Smilla realisiert, dass Nadja eine Person war, die mehr ausmachte als das, was man von außen erkannte: eine Person mit Ängsten und Hoffnungen, mit einer Vergangenheit und einer Zukunft. Genau wie Smilla selbst.
»Aus Stadtkyll«, antwortete Nadja bereitwillig. »Und du?«
»Köln.«
»Köln, natürlich. Daher kennst du ja Falk. Ich war nicht oft dort, aber ich habe immer gedacht: Wenn ich mal in eine Großstadt ziehe, dann wird es Köln sein.«
Die Beiläufigkeit, mit der Nadja Falk erwähnte, bohrte sich direkt in Smillas Herz. »Ja, Köln hatte schon was«, murmelte sie.
»Wie eng wart ihr eigentlich? Falk und du, meine ich. Er hat mir mal erzählt, dass du ihm Nachhilfe gegeben hast und er damals für dich geschwärmt hat, aber mehr auch nicht. Nur, Falk und die Ehrlichkeit…« Nadja lächelte schief und zuckte die Schultern.
Smillas Magen krampfte sich zusammen. Ob Nadja ahnte, dass zwischen Falk und ihr mehr gewesen war? Wie würde sie darauf reagieren, die Wahrheit zu erfahren?
»Wir haben uns ein paar Mal getroffen, in den letzten Wochen«, entschied Smilla sich für die Wahrheit, schaffte es aber nicht, Nadja dabei anzusehen.
»Ja, das dachte ich mir schon.« Nadja seufzte. »Plötzlich wollte er mich nicht mehr dabeihaben bei seinen Ausflügen, obwohl wir vorher unzertrennlich gewesen waren.«
Smilla schluckte, und ihr wurde unangenehm heiß unter ihren vielen Kleidungsschichten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Nadja die Arme hob und wieder sinken ließ. »Na ja, was soll’s. So spielt das Leben. Er dachte immer, er sei allen anderen einen Schritt voraus. Am Ende hat’s ihm das Genick gebrochen«, murmelte sie vor sich hin.
Abrupt blieb Smilla stehen. Das Gefühl der Scham, das sie bis eben empfunden hatte, verwandelte sich unvermittelt in Ärger. »So spielt das Leben?«, wiederholte sie. »Wie kann dich das so kalt lassen?«
Nadja sah sie an, als hätte Smilla ihr eine Ohrfeige verpasst. »Nein, also, ich meine –«
Aber Smilla unterbrach sie. »Falk ist möglicherweise tot. Umgebracht von seinen eigenen Leuten. Und nur, weil er nicht ehrlich war, ist dein Fazit dazu: So spielt das Leben?« Das Blut pulsierte in ihren Ohren. Ein stechender Schmerz in ihrer Brust machte ihr das Atmen schwer.
Nadjas Wangen färbten sich rot, ihre großen, runden Augen wurden glasig. »Das habe ich überhaupt nicht so gemeint«, presste sie hervor.
Einen Moment lang starrten sie einander bloß an, erschrocken darüber, wie schnell das erste halbwegs gewöhnliche Gespräch zwischen ihnen entgleist war.
»Ich muss mal«, murmelte Smilla dann. Mit fahrigen Bewegungen legte sie den Rucksack ab. Ohne Nadja noch einmal anzusehen, hastete sie zwischen die toten, braun verfärbten Farne, die den Trampelpfad säumten. Ihr Herz wummerte so kraftvoll, dass Smilla glaubte, es müsse ihren Brustkorb sprengen. Ihr Atem ging so schnell, dass sie Sterne sah.
Sie kämpfte sich vierzig, fünfzig Meter durch das Gestrüpp, bis Nadja sie nicht mehr sehen konnte. Dann sank sie zu Boden und schlang die Arme eng um den Körper. Was war das? Eine Panikattacke? Eine posttraumatische Belastungsstörung? Oder doch bloß ein gebrochenes Herz?
Es dauerte einige Minuten, aber schließlich fühlte Smilla sich bereit, wieder zurück zu Nadja zu gehen. Sie stand auf, wischte sich das nasse Laub von der Kleidung und lief in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Als sie Nadja erreichte und ihren Rucksack schulterte, war das Gesicht ihrer Gefährtin wieder hart und verschlossen wie das einer Marmorstatue. Für den Rest des Marsches sprachen sie kein Wort mehr.
In der Abenddämmerung schlugen sie in einem verlassenen belgischen Örtchen ihr Nachtlager auf. Zum Abendessen gab es Girsch, Sauerklee und eine unglückselige Krähe, die in Nadjas Falle getappt war.
Kurz nachdem sie den letzten Bissen verspeist hatten, begannen eisige Regentropfen zu fallen. Sie zogen sich unter die Plane zurück, die Nadja in solchen Nächten über ihr Lager spannte, und rollten sich eng beieinander zusammen. Es lag nichts Vertrautes darin. Die Nähe war notwendig, um nicht allzu schlimm zu frieren. Ob Jera fror? Hoffentlich durfte sie sich nachts zwischen die Schmieder-Schwestern oder an Giorgio kuscheln.
Smilla verfing sich bereits in einem unruhigen Halbschlaf, als Nadja doch noch einmal die Stimme hob. »Es lässt mich nicht kalt, was passiert ist.«
Sie lag mit dem Rücken zu Smilla, und so konnte sie ihr nicht ins Gesicht sehen, doch sie klang entkräftet.
»Aber wer seine Gefühle nicht im Griff hat, schwächt sich selbst und macht sich für andere angreifbar«, fuhr Nadja fort.
Smilla schürzte die Lippen. Sie verstand Nadjas Gedankengang. Doch wenn die letzten Tage und Wochen sie eines gelehrt hatten, dann, dass man mit seinen Gefühlen verbunden bleiben musste, um seine Menschlichkeit nicht zu verlieren. »Das sehe ich anders«, erwiderte sie also.
»Ich weiß. Und was hat es dir gebracht?«, hielt Nadja dagegen und hob den Kopf an, sodass Smilla die Linien ihrer Wange und ihre Nasenspitze ausmachen konnte. »Denn so, wie ich das sehe, befinden wir uns beide in exakt der gleichen Situation. Nur, dass mein Kopf klar genug ist, um nach vorn blicken zu können. Du hingegen brütest die ganze Zeit vor dich hin und würdest einen Angreifer wahrscheinlich erst dann bemerken, wenn er dir eine Klinge in den Bauch rammt.«
Sie verfielen in Schweigen, und Nadja ließ den Kopf wieder sinken.
»Es tut mir leid, dass ich so aus der Haut gefahren bin«, sagte Smilla nach einer Weile. »Es ist nur… ich fühle mich schuldig für das, was passiert ist. Und ich frage mich die ganze Zeit, ob alles gut hätte ausgehen können, wenn ich mich anders verhalten hätte.«
»Mhm«, machte Nadja und drehte sich auf den Rücken, sodass sie Smilla ins Gesicht sehen konnte. »Und genau aus diesem Grund solltest du lernen, deine Gefühle in den Griff zu bekommen. Deine Was-wäre-wenn-Gedanken vergeuden nur wertvolle Kalorien.«
Sie sahen sich einen Augenblick lang an. Als Smilla nichts erwiderte, drehte Nadja sich wieder um und zog die Wolldecke enger um ihren Körper. Smilla schloss die Augen.
Smilla schlug die Augen auf. Finsternis hüllte sie ein. Der Regen hatte das Feuer ausgelöscht und prasselte auf die Plane über ihnen. Wie jede Nacht hatten die Albträume Smilla den Schweiß auf die Stirn und ihren Herzschlag auf eine ungesunde Frequenz getrieben. Noch benommen von den Gefühlen, die der Traum heraufbeschworen hatte, brauchte sie einen Moment, um zu realisieren, dass Nadjas Hand auf ihrer Schulter lag.
»Smilla, wach auf«, flüsterte sie und rüttelte an ihr.
Neben ihnen in der Dunkelheit knurrte Piggy.
Smilla hob den Kopf. »Was ist?«
»Da ist jemand im Wald.«
Kaum war Nadjas Wispern verklungen, drang die Stimme aus Smillas Traum durch den Regen zu ihr. Eine Männerstimme, die nach Jera rief. Eine Stimme, die sie unter tausenden wiedererkannt hätte.
»Giorgio.«
Mit einem Satz war Smilla auf den Beinen. Sie rannte los, in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und hinein in die dichte Finsternis des Waldes. Genau wie in ihrem Traum hatte sie keinen Schimmer, wo sie ihre Füße hinsetzte. Nur schemenhaft konnte sie die Umrisse der Baumstämme ausmachen.
»Giorgio!«
Was tat er hier? Warum war er noch nicht in Brüssel? Und viel wichtiger: Warum brüllte er mitten in der Nacht Jeras Namen durch den Wald? Angst keimte zwischen ihren Gedanken auf.
»Gior–« Ihre Füße stießen gegen eine harte Erhebung, und Smilla schlug der Länge nach auf den Waldboden. Kurz raubte es ihr den Atem, doch sie rappelte sich wieder auf und rannte weiter.
»Giorgio!«
»Smilla?«
Seine Stimme klang schon so nah, dass Smilla ihn hätte sehen müssen. Sie hielt inne und drehte sich einmal um sich selbst.
»Smilla!« Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie fuhr herum. Sie erkannte durch den Regen und die Nacht weder Giorgios Züge noch den Ausdruck darauf, aber sie wusste, dass er es war.
Mit einem erstickten Aufschrei warf sie sich ihm entgegen und schlang ihre Arme um seinen Nacken. Er erwiderte die Umarmung ebenso ungestüm, sodass Smilla die Luft wegblieb. Wenige Sekunden verharrten sie so. In diesem Moment war die Erleichterung darüber, Giorgio – ihre Gruppe – gefunden zu haben, das mächtigste all der Gefühle in ihr.
»Du lebst«, wisperte Giorgio in ihr Haar. Er drückte sie sanft von sich, nahm ihr Gesicht in beide Hände und legte seine Stirn gegen ihre. »Geht es dir gut? Was ist passiert?«
»Wo ist Jera?«, fragte Smilla, anstatt seine Fragen zu beantworten. Wie es ihr ging, war nebensächlich.
Giorgio ließ Smilla los und bewegte sich etwas von ihr weg. »Sie ist weggelaufen«, sagte er dann dumpf.
Verständnislos schüttelte Smilla den Kopf. »Was?«
»Letzte Nacht, als wir anderen geschlafen haben, hat sie ihre Sachen gepackt und ist abgehauen.« Seine Stimme klang bitter. »Nur ihren Schal, den sie mir gegeben hat, weil ich gefroren habe, hat sie zurückgelassen.«
»Was soll das heißen?« Doch Smilla wusste genau, was das hieß. Sie war nur noch nicht bereit, es zu akzeptieren.
»Es tut mir so leid, Smilla. Ich wusste nicht, was sie vorhat, sonst hätte ich sie keine Sekunde aus den Augen gelassen.«
Ihre neunjährige Schwester allein im Wald – in der gnadenlosen und gleichermaßen gesetzlosen Welt, die die Plage heraufbeschworen hatte. Alles Blut wich aus Smillas Kopf, und ihr wurde schummrig.
»Was hat sie sich bloß dabei gedacht?«, hauchte sie und schloss ihre Finger fest um Giorgios Jacke, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Ich sag’s dir nur ungern, aber ich denke, sie hat sich auf die Suche nach dir gemacht.«
»Dann will sie zurück in die Eifel?«
»Davon gehe ich aus.«
Erst da wurde Smilla bewusst, dass Giorgio allein zu sein schien. »Wo sind die anderen?«, fragte sie und suchte die Dunkelheit hinter ihm nach Anzeichen ihrer übrigen Gruppenmitglieder ab.
Giorgio nahm ihre Hände und löste sie von seiner Jacke. »Sei ihnen nicht böse, okay?«, sagte er.
Der Regen prasselte auf sie ein und wusch auch das letzte bisschen Freude über dieses unverhoffte Wiedersehen fort.
»Sie sind ohne Jera und dich weitergezogen?« Smillas Stimme klang vor Ungläubigkeit schrill.
Giorgio gab einen tonlosen Seufzer von sich. »Nicht sofort. Am ersten Tag nach Jeras Verschwinden sind wir in unserem Lager geblieben. Wir haben die Umgebung abgesucht und gehofft, dass sie wiederkommt. Aber das hat sie nicht getan. Also sind die anderen am Morgen darauf weitergezogen.«
»Sie haben Jera einfach sich selbst überlassen?« Smilla verspürte das dringende Bedürfnis, gegen irgendetwas oder jemanden zu treten. Um zu vermeiden, dass Giorgio diesem Bedürfnis zum Opfer fiel, wandte sie sich von ihm ab und vergrub die Finger in ihren Haaren. »Karen, diese blöde F–«
»Es war die einzig vernünftige Entscheidung«, verhinderte Giorgio eine Tirade von Schimpfwörtern. »Jera ist aus freien Stücken abgehauen. Und zwar in die genau entgegengesetzte Richtung von Brüssel.«
Smilla ließ von ihren Haaren ab und fuhr zu Giorgio herum. »Sie ist erst neun, Giorgio!«
Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm erneut ihre Hände, als wäre sie verwirrt und vom Weg abgekommen. »Ich weiß. Deshalb bin ich ja auch auf der Suche nach ihr.«
Angestrengt atmete Smilla aus. Ohne zu wissen, wonach sie suchte, ließ sie ihren Blick abermals durch den nächtlichen Wald gleiten. Fast hoffte sie, Jeras schmale Silhouette zwischen den Bäumen zu entdecken. Bei dem Gedanken daran, wie ihre kleine Schwester sich auf den Weg machte, um sie zu suchen, zog sich ihr Herz zusammen. Ob sie nachts allein im Wald Angst hatte? Trug sie genug Proviant bei sich, um es bis zur nächsten Siedlung zu schaffen? Wie stellte sie sich das denn überhaupt vor? Wie sollte ein kleines Kind Smilla aus irgendeiner Notlage befreien können?
»Smilla, es wird alles gut«, sagte Giorgio, der ihre wachsende Verzweiflung wahrzunehmen schien, und drückte ihre Hände. »Jera ist nicht blöd. Wenn es hart auf hart kommt, überlebt sie ein paar Wochen auf sich allein gestellt. Aber so weit wird es gar nicht erst kommen, denn vorher finden wir sie. Versprochen.«
Bebend holte Smilla Luft. Dann machte sie sich von Giorgio los. »Das ist alles meine Schuld«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich hätte nie…« Ihre Stimme versiegte, und mit einem Mal wollten ihre Beine ihr Gewicht nicht mehr tragen. Mit dem Rücken zu einer Tanne ließ sie sich auf den Waldboden sinken und legte die Stirn auf ihre Knie. Sie war doch diejenige, die für ihre kleine Schwester sorgen musste. Nicht umgekehrt.
»Tränenreiches Wiedersehen?«, erklang Nadjas Stimme.
Giorgio fuhr herum, und Smilla hob den Kopf. Eine schemenhafte Bewegung verriet ihr, dass Nadja sich Giorgio von hinten genähert hatte.
»Sitz«, zischte sie Piggy zu, die witternd auf Giorgio zuschritt. Sie gab ein Winseln von sich, gehorchte aber.
»Keine Sorge«, murmelte Smilla an Giorgio gerichtet. »Das ist bloß Nadja. Wir reisen zusammen nach Brüssel.«
»Bloß Nadja«, wiederholte ihre Weggefährtin und schnalzte mit der Zunge. »Ein bisschen mehr Wertschätzung, bitte. Ohne mich wärst du vermutlich an deiner infizierten Wunde gestorben oder bei der Sekte gelandet. Oder beides.«
Giorgio sog scharf die Luft ein. »Bei der Sekte? Das meint sie doch nicht ernst, oder, Smilla?«
Smilla vergrub den Kopf entkräftet in den Händen. Lange Zeit hatte auch sie die Sekte, um die sich so viele Schauergeschichten und Gerüchte rankten, nur für einen postapokalyptischen Mythos gehalten.
»Doch, wie es scheint, gibt es die Sekte tatsächlich«, sagte sie bitter. »Die Verlorenen Jungs sind in einen Konflikt mit ihnen geraten und sollten ihnen als Wiedergutmachung eine Frau beschaffen. Und als ich dann einem von ihnen – Leon – im Wald begegnet bin, hat er die Chance ergriffen und mich entführt, um mich der Sekte zu übergeben.«
»Entführt?!«, unterbrach Giorgio sie verständnislos. »Ich dachte, du hättest dich Falk und dem Club freiwillig angeschlossen.« Trotz allem, was geschehen war, nannte er seine ehemalige Gruppe immer noch den Club. Als wären sie immer noch bloß der Fußballverein aus Köln, der zum Trainingslager in der Eifel gewesen war, als die Plage ausgebrochen war.
»Du hast wirklich geglaubt, dass ich einfach so zu denen überlaufe und Jera und dich wortlos sitzen lasse?«, fragte Smilla ungläubig.
Einen Moment lang schwieg Giorgio. »Ehrlich gesagt, ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte, nachdem du dich trotz meiner Warnung weiter mit Falk getroffen hast.«
Smilla presste verärgert die Lippen aufeinander, erwiderte aber nichts. Sie hatten keine Zeit für Diskussionen.
»Wie auch immer, ich habe es auf jeden Fall geschafft, zu entkommen, bevor die Sekte aufgekreuzt ist. Und weil die Verlorenen Jungs dann an meiner Stelle Nadja ausliefern wollten, ist sie auch abgehauen, und wir haben uns zusammengetan«, erklärte Smilla hastig. Sie verstand, dass Giorgio vermutlich genauso viele Fragen an sie hatte wie sie an ihn. Aber alles, woran sie denken konnte, war Jera. Allein. Irgendwo im Wald.
»Warte – die Nadja? Die aus dem Club?«, fragte Giorgio, und Smilla hörte, wie er ein paar Schritte von Nadja wegmachte, als könnte sie jede Sekunde explodieren.
Seine Bewegung löste etwas in Piggy aus. Die bullige Hündin erhob sich und trottete auf Giorgio zu.
»Piggy?«, fragte dieser irritiert, nachdem er den Hund kurz in Augenschein genommen hatte. Piggy fing an, mit dem Schwanz zu wedeln, und drückte ihren breiten Schädel gegen Giorgios Beine.
»Moment mal«, sagte Nadja, bevor Smilla auf Giorgios Frage antworten konnte. »Du kennst Piggy? Wer bist du?« Die gewohnte Süffisanz, mit der sie scheinbar selbstbewusst durch angespannte Situationen wie diese navigierte, war mit einem Mal aus ihrer Stimme verschwunden.
»Das ist Giorgio. Er war auch mal bei den Verlorenen Jungs – also, im Club, meine ich«, erklärte Smilla.
»Der Giorgio? Aus Falks ehemaliger Fußballmannschaft? Der Verräter?«
»Ja«, antwortete Smilla für Giorgio, bevor dieser anfangen konnte, über Begrifflichkeiten zu diskutieren. »Er war mit meiner Gruppe auf dem Weg nach Brüssel, bis meine kleine Schwester beschlossen hat, abzuhauen, um mich zu suchen.«
»Oh«, machte Nadja.
Ein paar Sekunden lang wurde es still zwischen ihnen, als hätte ein gelangweilter Gott auf Pause gedrückt, um sich mit etwas anderem zu befassen. Aber Lebensgeschichten austauschen konnten sie ein anderes Mal. Und zwar, wenn sie Jera gefunden hatte. Smilla rappelte sich auf und atmete tief durch.
»Ich werde mich von hier aus auf die Suche nach Jera machen. Ihr beiden könnt zusammen weiter nach Brüssel reisen. Ich komme dann mit Jera nach.«
Auf seltsame Weise stimmten ihre eigenen Worte sie zuversichtlich. In so kurze, klare Sätze gefasst, klang es, als wäre das alles ein Kinderspiel.
»Nein, ich komme mit dir«, sagte Giorgio.
»Ich auch.«
Verwundert blickte Smilla in Nadjas Richtung.
»Ich habe in den letzten Tagen mehrmals darüber nachgedacht, umzukehren. Ich muss wissen, was mit Falk passiert ist, nachdem herausgekommen ist, dass er dir zur Flucht verholfen hat. Wenn der Club ihn am Leben gelassen hat, dann wird er mich jetzt brauchen. Und wenn er tot ist, dann weiß ich, dass es nichts mehr gibt, was mich noch an die Eifel bindet«, sagte sie mit einer Klarheit, als hätte sie den Satz schon einige Male im Geiste geübt. Vielleicht hatte sie das auch.
»Falk ist tot?«, fragte Giorgio.
»Möglicherweise«, antwortete Nadja beherrscht.
Smilla schluckte schwer. »Wir sollten uns direkt auf den Weg machen«, sagte sie, bevor Giorgio noch etwas fragen konnte.
»Du willst im Dunkeln und im Regen nach deiner Schwester suchen?« Nadjas Tonfall gab Smilla zu verstehen, dass sie das für keine kluge Idee hielt.
Der Gedanke, nun auch noch wertvolle Zeit in einer Diskussion mit Nadja zu verlieren, versetzte Smilla in Abwehrhaltung. »Was glaubst du denn? Soll ich mich hinsetzen und Däumchen drehen?«, gab sie energisch zurück.
»Jein«, antwortete Nadja. »Wir sollten wenigstens den Regen abwarten, damit wir nicht bis auf die Knochen durchnässt werden. Erkältet und mit Fieber sind wir deiner Schwester auch keine große Hilfe.«
Smilla setzte sich in Bewegung und schlug den Weg zurück zum Lager ein. »Giorgio, hast du Jeras Schal bei dir?«, fragte sie über die Schulter, Nadjas Einwand ignorierend.
»Ja, habe ich. Warum?«, wollte Giorgio, der ihr in geringem Abstand folgte, wissen.
»Piggy kann Jeras Fährte aufnehmen.«
»Theoretisch, ja«, schaltete Nadja sich ein, die ihrer Stimme nach zu urteilen etwas weiter abgeschlagen war als Giorgio. Smilla drosselte ihr Tempo, auch wenn es ihren Geist Überwindung kostete.
»Theoretisch? Was soll das heißen?«
»Na ja, das funktioniert nur mit frischen Fährten. Die Spur darf nicht mehr als einen halben, maximal einen Tag alt sein. Und da es jetzt auch noch regnet und wir die Spur ja noch nicht einmal ausfindig gemacht haben…«
Nadja brauchte nicht weiterzusprechen, Smilla hatte verstanden. Piggys Spürhundfähigkeiten konnten ihnen nicht weiterhelfen.
Sie blieb stehen. Sie spürte ihr Herz mit aller Kraft schlagen. Es schlug für Jera. Doch ihre Knie fühlten sich weich und nachgiebig an. Warum hatte Jera das getan? Warum hatte sie den Schutz der Gruppe verlassen und Brüssels Versprechen von Sicherheit den Rücken gekehrt? Glaubte sie wirklich, dass sie es allein zurück in die Eifel schaffen konnte?
»Und was jetzt?«, fragte Smilla in den strömenden Regen.
Nadja ging mit entschlossenen Schritten weiter Richtung Lager. »Jetzt versuchen wir, im Schutz der Plane ein Feuer zu machen, trocknen uns und brechen dann im Morgengrauen Richtung Eifel auf.«
So sehr Smilla sich auch danach verzehrte, jetzt sofort tätig zu werden – wenn sie sich nicht allein auf die Suche nach Jera machen wollte, musste sie allem Anschein nach auf Nadja hören.
Als das erste Tageslicht über den Horizont kroch, fingen sie eilig an, das Lager abzubauen. Smilla hatte in dieser Nacht kein Auge zugetan und war sich sicher, dass auch Giorgio und Nadja nicht geschlafen hatten. Immerhin hatte Nadja es fertiggebracht, im Schutz der Plastikplane ein Lagerfeuer zu entfachen, dank dem ihre Kleidung nun wieder halbwegs trocken war.
Während sie ihr weniges Hab und Gut in ihren Taschen verstauten, besprachen sie, wie sie vorgehen sollten, um Jera zu finden. Sie waren sich einig, dass Jera vermutlich auf dem gleichen Weg zurückging, auf dem sie auch Richtung Brüssel gereist war. Nur gab Giorgio zwischen zusammengebissenen Zähnen zu, dass er in der Dunkelheit von diesem Weg abgekommen sei und nun nicht genau wisse, wie weit sie sich von der ursprünglichen Reiseroute entfernt befänden.
Nadja meinte, das Sinnvollste sei, auf diesen Weg zurückzukehren, denn sonst bestehe die Gefahr, dass sie parallel zu Jera liefen, oder sie sogar überholten, ohne es je zu merken. Im schlimmsten Fall würde Jera etwas zustoßen, oder sie würde krank werden und es nie zurück in die Eifel schaffen, während Smilla, Giorgio und Nadja schon den Bunker und die Gassen Monschaus nach ihr absuchten.
Smilla versuchte, das Bild, das sich angesichts Nadjas abgeklärter Worte vor ihren Augen formte, zu vertreiben. Eine bleiche Kinderhand im Schlamm. Ein Tausendfüßler, der sich über Jeras geschlossenes Augenlid schob.
Sie würden noch mehr Zeit verlieren, wenn sie erst nach der richtigen Reiseroute suchten, anstatt auf direktem Wege Richtung Eifel loszugehen. Aber vermutlich hatte Nadja auch diesmal recht. Sie dachte klarer als Giorgio und Smilla, denn für sie bestand kein Grund, in Panik zu verfallen. Also schulterten sie ihre Taschen und folgten Giorgio in die Richtung, in der er die ursprüngliche Reiseroute vermutete.
»Ich glaube, hier war ich schon mal«, sagte Giorgio. Aus verengten Augen musterte er ein Stoppschild, das mit dem Stamm einer Buche verschmolzen war.
Hätte er diesen Satz in den letzten zwei Tagen nicht schon vier Mal von sich gegeben und wäre es nicht jedes Mal ein falscher Alarm gewesen, der sie wertvolle Stunden kostete, hätte Smilla vielleicht so etwas wie Enthusiasmus verspürt.
»Bist du dir sicher?«, fragte Nadja in einem einzigen gedehnten Seufzer. Da es nicht das Leben ihrer Schwester war, das auf dem Spiel stand, war sie weniger wütend auf Giorgio, sondern vielmehr genervt.
Unruhig verlagerte Giorgio sein Gewicht vom einen auf den anderen Fuß, während er das Stoppschild inspizierte. »Na ja, so viele mit einem Baum verwachsene Stoppschilder wird es in dieser Gegend wohl nicht geben, oder?«
Nadja und Smilla warfen sich einen kurzen Blick zu. War es zu früh, um sich der Hoffnung hinzugeben, dass Giorgio vielleicht diesmal richtig lag?
»Doch, ich bin mir sicher«, sagte er dann. »Glaube ich…«
Mit einem entnervten Stöhnen wandte Nadja sich ab und ließ sich auf einem umgestürzten Baum in einigen Metern Entfernung nieder. »Kannst du vielleicht ein bisschen schneller in dich gehen?«, rief sie ihm von dort aus zu. »Ich habe Hunger, ich bin durstig, mein Rücken tut weh, und wir laufen seit zwei Tagen im Kreis, weil du den Orientierungssinn einer Schnecke hast!«
»Das hat überhaupt nichts mit meinem Orientierungssinn zu tun«, entgegnete Giorgio mit einem finsteren Schulterblick.
Nadja stieß ein verächtliches und gleichermaßen freudloses Lachen aus und murmelte etwas, das die Worte »Kurzzeitgedächtnis« und »Stubenfliege« beinhaltete.
Zu Smillas Erleichterung ging Giorgio nicht weiter darauf ein. Die Stimmung zwischen den beiden war ohnehin schon düster genug.
»Also da entlang?«, fragte Smilla und deutete auf die breite Schneise zwischen zwei zugewucherten Feldern, die einst eine Straße gewesen sein musste.
Giorgio sah ihr in die Augen und bat stumm darum, dass sie ihr Vertrauen in ihn noch nicht verlieren möge. Dann nickte er.
Diesmal machte Giorgio nicht nach ein paar Minuten oder Stunden irritiert halt, um sich um die eigene Achse zu drehen und festzustellen, dass er dieses Stück Land noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Er lief immer weiter voran, durch verwilderte Felder und lichte Waldstücke. Ab und zu streckte er den Arm nach einem Ast oder einem Busch am Wegesrand aus und ließ seine Finger darüber gleiten, als flüsterte ihm der Wald Zuversicht zu. Smilla hoffte, dass dies ein Zeichen dafür wäre, dass Giorgio es geschafft hatte. Dass er sie zurück auf die Reiseroute geführt hatte, auf der vermutlich auch Jera Richtung Eifel wanderte. Und falls er im Stillen abermals realisierte, dass er sich geirrt hatte, dann ließ er es sich nicht anmerken. Sie waren endlich auf dem Rückweg, und noch einmal würden sie nicht anhalten und umkehren.
Die Reise zehrte zusehends an Smillas Kräften. Die ständige Sorge um Jera laugte sie aus, und Giorgio bedrängte sie, ihm haarklein zu erzählen, wie sie in die Fänge der Verlorenen Jungs geraten war. Was die Reise jedoch noch schwerer erträglich machte, war, dass Giorgio und Nadja sich ungefähr so gut vertrugen wie Mentos und Cola. Nadjas bloße Anwesenheit versetzte Giorgio in einen Zustand permanenter Anspannung. Smilla war sich nicht sicher, was genau der Grund dafür war. Hatte er Angst, dass Nadja ihn, den Verräter, im Andenken an die Verlorenen Jungs töten würde, wenn er ihr länger als drei Sekunden den Rücken zuwandte? Oder beschwor Nadjas Anwesenheit Erinnerungen daran herauf, was Giorgio anderen Überlebenden angetan hatte, als er selbst noch bei den Verlorenen Jungs gelebt hatte?
Giorgio gab sich zwar Mühe, seine Abneigung Nadja gegenüber zu verbergen. Doch Nadja strengte sich ihrerseits kaum an, mit Giorgio zurechtzukommen. Die Anspannung, die sich zwischen den beiden aufbaute, setzte auch Smilla unter Strom, sodass sie schon zusammenfuhr und sich auf Konfrontation gefasst machte, wenn Nadja oder Giorgio nur Luft holten.
Aber am schlimmsten von allem war der Hunger. Mit jedem Schritt nahm er zu. Er krallte sich tiefer in ihre Eingeweide und machte jede Bewegung zu einer Herausforderung. An etwas anderes als an Essen zu denken, wurde unmöglich. Die Albträume, die Smilla seit ihrer Flucht aus der Eifel plagten, wichen Visionen von schmackhaften Speisen und überquellenden Buffets. So qualvoll lebensecht schillerten diese Bilder, dass Smilla sich ihre Albträume zurückwünschte.
Der Hunger verlangsamte ihr Vorankommen Stunde um Stunde. Immer öfter mussten sie Halt machen, um sich auszuruhen oder essbare Pflanzen zu pflücken, die sie am Wegesrand fanden. Am Nachmittag des vierten Tages ihrer Suche verbrachten sie eine gute Stunde auf einer Fläche, auf der Sauerklee wuchs.
»Wir sollten einfach Giorgio essen«, wisperte Nadja Smilla zu. Sie knieten nebeneinander und stopften sich Hände voller zarter grüner Blätter in den Mund. Nur wenige Minuten zuvor hatten Giorgio und Nadja sich noch wütende Worte an den Kopf geworfen, weil Nadja den letzten Schluck sauberen Wassers getrunken hatte, ohne Smilla und Giorgio zu fragen, ob sie auch durstig seien.
Smilla spürte, wie sie bei Nadjas Worten eine Gänsehaut überkam. Sie schluckte einen Mund voll Sauerklee hinunter und warf Nadja einen Seitenblick zu. »Das ist nicht witzig. Es gibt Leute, die genau das tun würden«, sagte sie, und Nadja erwiderte nichts.
Bald würde der Winter Einzug halten, und es würde noch schwieriger werden, Essbares zu finden. Die Pflanzen, Würmer und Baumrinden, von denen sie sich in den letzten Tagen ernährt hatten, konnten den Hunger immer nur kurz besänftigen, aber nie stillen. Irgendwann einmal – unter welchen Umständen auch immer – Menschenfleisch zu verspeisen, schien auch Smilla plötzlich nicht mehr undenkbar.
»Kannibalismus ist eigentlich gar nicht so verkehrt, wenn man mal drüber nachdenkt«, sagte Nadja, als sie wenige Minuten später dem Waldweg weiter Richtung Nordeifel folgten. »Es gibt Naturvölker, die ihre Toten verspeisen. Ich würde lieber meiner Familie eine Mahlzeit bescheren, als unter der Erde von Würmern gefressen zu werden.«
Weder Giorgio noch Smilla erwiderten etwas. Hungrig und auf einer immer aussichtsloser scheinenden Mission gab es angenehmeren Gesprächsstoff als Tod, Verwesung und Kannibalismus.
»In den Siebzigern oder so ist mal ein Flugzeug mit einer Rugbymannschaft in den Anden abgestürzt. Die saßen wochenlang im Schnee fest und haben irgendwann angefangen, ihre Toten zu essen. So haben sie lange genug überleben können, bis der Teamkapitän Hilfe geholt hatte. Total verrückte Geschichte, die wurden –«
»Wenn du schon unbedingt quatschen musst, kannst du dann nicht wenigstens etwas Ermutigendes erzählen?«, unterbrach Giorgio Nadja.
Augenblicklich verkrampfte Smilla sich. Sie lief zwischen den beiden, und wenn sie nun anfingen, sich zu zanken, würde sie ihre Worte abbekommen wie Streifschüsse.
»Was Ermutigendes, ja?«, fragte Nadja, und Smilla konnte nicht sagen, ob sie spöttelte oder tatsächlich in ihren Hirnwindungen nach einer angenehmeren Anekdote kramte.
»Wie wäre es denn mit der Geschichte eines tapferen Mannes, der seine Freunde verrät, um bei einem Mädel zu landen?«, erwiderte Nadja gehässig. Also keine angenehme Anekdote.
Smilla richtete den Blick geradeaus und verschloss sich gegen das, was Nadja gesagt hatte. Sie wollte ihre spärlichen Kräfte nicht mit Streit verschwenden.
»Mit Freunde meinst du wohl den Club, und mit dem tapferen Mann mich, was?«, fragte Giorgio tonlos.
Nadja zuckte die Schultern. »Die Botschaft wird beim Empfänger gemacht.«
»Du bist doch selbst von dort abgehauen. Bevor du mich Verräter nennst, frag dich mal, was die wohl von dir halten.«
Nadja schnaubte. »Ich bin abgehauen, um mein Leben zu retten. Du bist abgehauen, weil du eine der Gefangenen flachlegen wolltest. Und wenn du das nicht getan hättest, dann wäre das alles nicht passiert. Falk wäre als Anführer nicht in die Kritik geraten. Es hätten sich nicht zwei Lager im Club gebildet, und wir hätten die Sekte platt gemacht, anstatt auf ihren beschissenen Deal einzugehen.«
Giorgio atmete hörbar ein.
»Es ist nicht Giorgios Schuld, dass der Club einen Konflikt mit der Sekte hatte«, sagte Smilla, bevor Giorgio etwas Gepfeffertes erwidern konnte. »Und jetzt hört auf mit dem Mist. Als hätten wir gerade keine größeren Sorgen.«
Keiner von beiden erwiderte etwas.