Wir Verratenen - Jana Taysen - E-Book

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Jana Taysen

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Beschreibung

"Wer weiß davon? Es ist unmöglich, dass alle von nichts wissen.” In Brüssel wird jedem Überlebenden der Plage eine zweite Chance versprochen. Doch Smilla findet sich stattdessen in einem Abgrund wieder: Was hat es mit der hohen Todeszahl der Neubrüssler auf sich? Und warum terrorisiert die Untergrundorganisation Magnolia die Bevölkerung? Plötzlich gerät Smilla selbst zwischen die Fronten: Es gibt Verbindungen zwischen ihr und Magnolia. Verbindungen, die bis in ihre Zeit vor Brüssel zurückreichen. Um Magnolia zu stoppen, muss Smilla sich ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen. Und jemanden verraten, den sie liebt …. Das grandiose Finale der Wir-Verlorenen-Trilogie – erschütternd, gefühlvoll und hochaktuell.

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Kirschbuch Verlag

Zum Buch:

Der drit­te Band der Tri­lo­gie.

 

In Brüs­sel exis­tiert nach der Ka­ta­stro­phe ei­ne schein­bar hei­le Welt. Doch Smil­la fin­det sich statt­des­sen in ei­nem Ab­grund wie­der: Wes­halb nimmt sich je­der Zehn­te das Le­ben? Und war­um sorgt der Ma­gno­lia-Or­den für Ter­ror und Angst un­ter der Be­völ­ke­rung?

Plötz­lich ge­rät Smil­la selbst zwi­schen die Fron­ten: Es gibt Ver­bin­dun­gen zwi­schen ihr und Ma­gno­lia. Ver­bin­dun­gen, die bis in ih­re schmerz­haf­te Ver­gan­gen­heit zu­rück­rei­chen. Um ei­nen Krieg zu ver­hin­dern, ist Smil­la ge­zwun­gen, je­man­den zu ver­ra­ten, den sie liebt. Aber: Recht­fer­tigt das Über­le­ben vie­ler die Tö­tung ei­nes Ein­zel­nen?

Zur Au­to­rin:

Ja­na Tay­sen wur­de 1992 in Ha­gen ge­bo­ren und lebt mit Freund und Hund im aben­teu­er­li­chen Köln. Dort ar­bei­tet sie in ei­nem Markt­for­schungs­in­sti­tut. Zu­vor stu­dier­te sie Eng­lish Stu­dies und Me­di­en­wis­sen­schaf­ten im Ba­che­lor und Markt- und Me­di­en­for­schung im Mas­ter.

In­halts­war­nung:

Die­ses Buch ent­hält expli­zi­te Dar­stel­lun­gen von Ge­walt, sui­zi­da­lem Ge­dan­ken­gut, Sui­zid, Tod von An­ge­hö­ri­gen so­wie Al­ko­hol- und Dro­gen­kon­sum. Wenn die­se The­men für euch emo­ti­o­nal stark auf­ge­la­den sind, könn­te die­ses Buch für euch be­las­tend sein. Bit­te ent­schei­det selbst, wie ihr da­mit um­geht.

Jana Taysen

 

 

 

Wir Verratenen

 

 

 

Roman

 

Kirschbuch Verlag
Im­pres­s­um Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbHNeß 1, 20457 Ham­burgApril 2023Co­py­right © 2022by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burgUm­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbHSatz: Qua­li­Fic­ti­on GmbHISBN 9783948736255

 

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Was bis­her ge­schah…

Seit ei­ne Pan­de­mie die Mensch­heit bei­na­he gänz­lich aus­ge­rot­tet hat, müs­sen sich die we­ni­gen Über­le­ben­den je­den Tag aufs Neue ge­gen Hun­ger, Krank­heit und die Hart­her­zig­keit ih­rer Mit­menschen be­wei­sen.

Zwei die­ser Über­le­ben­den sind Smil­la und ih­re klei­ne Schwes­ter Je­ra. Zwi­schen plün­dern­den Ban­den, Men­schen­händ­lern und Sek­ten ha­ben sie in den Wäl­dern der Ei­fel bei der Fa­mi­lie Schmie­der Zu­flucht ge­fun­den.

Dann be­geg­net Smil­la Falk. Falk, den sie von frü­her kennt, als die Welt noch in Ord­nung war. Ob­wohl sie da­mit die Re­geln ih­rer Grup­pe bricht, fängt Smil­la an, sich heim­lich mit Falk zu tref­fen, und in Smil­la keimt die Hoff­nung auf ei­ne bes­se­re, glü­ck­li­che­re Zu­kunft.

Aber dann wird Smil­la über­fal­len und ver­schleppt – in das Quar­tier der Ver­lo­re­nen Jungs, ei­ner Ban­de von Räu­bern und Men­schen­händ­lern. Und aus­ge­rech­net Falk ist der An­füh­rer die­ser Ban­de.

Um ei­nen schwe­len­den Kon­flikt zu schlich­ten, soll Smil­la ei­ner be­rüch­tig­ten Sek­te über­ge­ben wer­den. Doch ge­nau die­ser Kon­flikt ist es, der un­ter den Ver­lo­re­nen Jungs Zwie­tracht sät. Ei­ni­ge Grup­pen­mit­glie­der wol­len mehr Macht und Wohl­stand und füh­len sich von Falk dar­an ge­hin­dert. Ein wei­te­rer Grund ist das neue Grup­pen­mit­glied Na­d­ja, die ers­te und ein­zi­ge Frau un­ter den Ver­lo­re­nen Jungs, die eben­falls als ein Zei­chen von Falks zu­neh­men­der Ver­weich­li­chung an­ge­se­hen wird.

Falk ver­si­chert Smil­la, dass ih­re Ge­fan­gen­nah­me nicht von ihm ge­plant war, und ver­spricht ihr, sich ei­nen Flucht­plan für sie aus­zu­den­ken.

Doch der Plan miss­lingt. Smil­las Flucht­ver­such fliegt auf, und es kommt zum Kampf. Ent­kom­men kann Smil­la nur, weil Falk sich sei­nen ei­ge­nen Män­nern ent­ge­gen­stellt.

Na­d­ja schließt sich Smil­la auf ih­rer Flucht an, aus Angst, selbst der Sek­te über­ge­ben zu wer­den.

Zu­rück in ihrem Quar­tier muss Smil­la fest­stel­len, dass ih­re Grup­pe sich oh­ne Smil­la auf den Weg nach Brüs­sel ge­macht hat, wo es ei­ne gro­ße, zi­vi­li­sier­te Ge­mein­schaft ge­ben soll. Ge­mein­sam bre­chen Na­d­ja und Smil­la auf, um ih­rer Grup­pe zu fol­gen.

Auf ih­rer Rei­se tref­fen sie un­er­war­tet auf Gior­gio, ein ehe­ma­li­ges Mit­glied der Ver­lo­re­nen Jungs, der auch von der Fa­mi­lie Schmie­der auf­ge­nom­men wur­de. Er be­rich­tet ih­nen, dass Smil­las klei­ne Schwes­ter Je­ra sich heim­lich von der Grup­pe ge­trennt hat, um nach Smil­la zu su­chen.

Um Je­ra zu ret­ten, müs­sen Smil­la, Na­d­ja und Gior­gio zu­rück in die Ei­fel. Dort er­fah­ren sie, dass Falk al­lem An­schein nach tot ist und Je­ra in die Fän­ge der Sek­te ge­ra­ten ist.

Sie ma­chen das Quar­tier der Sek­te aus­fin­dig und wer­den dort von der An­füh­re­rin Eva auf­ge­nom­men. Es stellt sich her­aus, dass Evas Grup­pe nur mit dem Sek­ten­my­thos spielt, um an­de­re Grup­pen ein­zu­schüch­tern. In Wirk­lich­keit be­steht Evas Grup­pe aus den Schwächs­ten al­ler Über­le­ben­den: Wai­sen­kin­der, Al­te und Kran­ke. Sie hat Je­ra auf­ge­nom­men und bie­tet nun auch Smil­la, Gior­gio und Na­d­ja an, zu blei­ben.

Doch schon nach kur­z­er Zeit wird klar, dass Eva ei­ne dunk­le Sei­te in sich trägt: Wer sich ihr nicht un­ter­ord­net und sich nicht bedin­gungs­los für die Grup­pe auf­op­fert, wird hart be­straft. Den­noch be­schlie­ßen sie zu blei­ben, da sich Je­ra be­reits in die Grup­pe in­te­griert hat. Auch Smil­la hat schon Ban­de ge­knüpft. Sie fühlt sich be­son­ders dem al­lei­ner­zie­hen­den jun­gen Va­ter Ju­li­us ver­bun­den.

Doch dann taucht der halb­ver­hun­ger­te Le­on in Evas Ge­biet auf. Er hat sich von den Ver­lo­re­nen Jungs ge­trennt und be­sitzt al­lein kaum ei­ne Über­le­bens­chan­ce. Smil­la hat Mit­leid und schmug­gelt für ihn Pro­vi­a­nt aus der Vor­rats­kam­mer. Da­bei wird sie von Eva er­wi­scht. Smil­la wird be­straft und Le­on ge­fan­gen ge­nom­men.

Un­ter Fol­ter be­rich­tet Le­on, dass die Ver­lo­re­nen Jungs mög­li­cher­wei­se ei­nen An­griff auf Evas Hof pla­nen. Eva be­schließt, ih­nen zu­vor­zu­kom­men: Ih­re Kin­der, wie sie ih­re Grup­pen­mit­glie­der nennt, sol­len ei­nen Über­ra­schungs­an­griff star­ten.

Smil­la weiß, dass es in die­sem Kampf nur Ver­lie­rer ge­ben kann. Und ih­re klei­ne Schwes­ter soll als Ers­te da­bei ge­op­fert wer­den. In der Nacht vor dem An­griff be­schlie­ßen Smil­la, Je­ra, Na­d­ja und Gior­gio, von Evas Hof zu flie­hen. Ju­li­us, des­sen Sohn Ben und Jeras Freun­din Tes­sa schlie­ßen sich ih­nen an, und wie durch ein Wun­der ge­lingt die Flucht.

Nach ei­ner be­schwer­li­chen Rei­se fin­den sie in Brüs­sel tat­säch­lich ei­ne fried­li­che und gut or­ga­ni­sier­te Ge­mein­schaft vor. So scheint es je­den­falls zu­nächst…

1  Der An­ge­klag­te

Der Tod ist lei­se, dach­te Smil­la und zog sich in ei­nen Hau­s­ein­gang zu­rück, um den Men­schen­mas­sen aus­zu­wei­chen, die an die­sem Abend auf den Gro­te Markt ström­ten. Auf je­dem frei­en Me­ter dräng­ten sich die Be­woh­ner Neu­brüs­sels, dräng­ten zum Scha­fott hin, das vor dem Denk­mal der Frie­dens­brin­ge­rin er­baut wor­den war. Es wur­de ge­flüs­tert und ge­mur­melt, Klei­dung rieb an Klei­dung, und un­ter ver­hal­te­nen Schrit­ten knirsch­te der Schmutz.

Als Smil­la von der öf­fent­li­chen Hin­rich­tung ei­nes Frie­dens­schma­rot­zers er­fah­ren hat­te, hat­te sie sich ei­nen grö­len­den Mob auf­ge­brach­ter Bür­ger vor­ge­stellt, der den An­ge­klag­ten mit fau­lem Obst, Hän­den vol­ler Stra­ßen­schmutz und Schimpf­wor­ten be­wer­fen wür­de. Doch die An­we­sen­den wa­ren lei­se. Nicht voll­kom­men still, aber kaum zu hö­ren.

Es war die Vor­ah­nung von et­was Schreck­li­chem, die sie so ver­huscht und un­ru­hig mach­te, das wuss­te Smil­la nun. Denn auch sie konn­te ihn spü­ren, die­sen Wi­der­wil­len, Zeu­ge von noch mehr Ge­walt zu wer­den. Wer knapp fünf Jah­re nach der Pla­ge noch leb­te, hat­te in der Re­gel so vie­le Gräu­el­ta­ten mit­an­ge­se­hen und aus­ge­übt, dass es für meh­re­re Leb­zei­ten reich­te. Nie­mand woll­te mehr davon.

Und doch muss­ten sie ihn mit ei­ge­nen Au­gen se­hen, die­sen Frie­dens­schma­rot­zer, der ver­sucht hat­te, den Brun­nen im Haupt­quar­tier der Gar­de zu ver­gif­ten. Sie woll­ten se­hen, dass er nicht wie sie war, dass sich Wei­te­re wie er nicht zwi­schen ih­nen be­we­gen konn­ten, oh­ne ent­deckt zu wer­den. Sie woll­ten se­hen, wie er starb, da­mit sie mit ihm auch die Angst be­gra­ben konn­ten. Die Angst davor, dass Neu­brüs­sel doch nicht der si­che­re Ha­fen war, den sie al­le zu fin­den ge­hofft hat­ten.

»Da! Da ist Amar«, flüs­ter­te Na­d­ja und schloss ih­re Hand um Smil­las Un­ter­arm.

Smil­la stell­te sich auf die Ze­hen­spit­zen, um bes­ser se­hen zu kön­nen.

Ein Rau­nen er­hob sich über den Platz, als ei­ne zier­li­che Frau­en­ge­stalt auf der Trep­pe zum Scha­fott er­schien. In ihrem son­nen­gel­ben Filz­man­tel, flan­kiert von grau uni­for­mier­ten Gar­dis­ten, leuch­te­te sie wie ei­ne Blu­me im As­phalt.

Das Scha­fott war nicht im­mer ein Scha­fott ge­we­sen. Bis vor we­ni­gen Ta­gen hat­te die höl­zer­ne Tri­bü­ne le­dig­lich für An­spra­chen und die stünd­li­chen Ver­kün­dun­gen der Nach­rich­ten­spre­cher ge­dient. Doch dann hat­te Amar die ers­te Hin­rich­tung in der Ge­schich­te des be­frei­ten Brüs­sels an­ge­ord­net. Zu­min­dest laut der of­fi­zi­el­len Mel­dun­gen. In düs­te­ren Knei­pen und en­gen Gas­sen er­zähl­te man hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand, dass im Haupt­quar­tier der Gar­de bei­na­he täg­lich je­mand sein Le­ben ließ. Aber das wa­ren Ge­rüch­te, Be­wei­se gab es da­für nicht. Und viel­leicht rühr­te die­se üb­le Nach­re­de auch bloß vom Ma­gno­lia-Or­den her, der es sich zum Ziel ge­macht hat­te, Amar durch den Schmutz zu zie­hen.

Das Rau­nen schwoll an, wäh­rend Amar, ge­folgt von ihren Gar­dis­ten, die Trep­pe er­klomm und sich im Zen­trum des Scha­fotts auf­bau­te, nur ei­nen Schritt vor dem Gal­gen. Die Schlin­ge des Stricks schweb­te über ihrem Kopf wie ein Hei­li­gen­schein des To­des.

Hin­ter ihr rag­te das Denk­mal der Frie­dens­brin­ge­rin in den Him­mel: Aus­ge­bli­che­ne Äs­te und Zwei­ge ver­wo­ben sich zu ei­ner rie­sen­haf­ten, va­ge an ei­ne Frau er­in­nern­den Ge­stalt. Ih­re Ar­me wa­ren aus­ge­brei­tet, als woll­te sie je­den, der die Tri­bü­ne zu ihren Fü­ßen be­trat, in ei­ne war­me Um­ar­mung schlie­ßen. Von ihren Schul­tern weh­ten Gir­lan­den aus ro­tem Stoff, die dar­an er­in­ner­ten, dass sie ei­nen grau­sa­men Tod ge­stor­ben war, in ihrem selbst­lo­sen Ver­such, Brüs­sel aus der har­ten Hand des Per­rot-Clans zu be­frei­en.

»Was? Ich ver­steh kein Wort«, zisch­te Na­d­ja und mach­te ei­nen Schritt aus dem Hau­s­ein­gang hin­aus.

Amars Lip­pen be­weg­ten sich, aber ih­re Stim­me drang nicht durch das Rau­nen der Mas­se. Die Schau­lus­ti­gen stie­ßen sich ge­gen­sei­tig an, und ein all­ge­mei­nes »Schhh!« ging durch die Men­ge. Dann, end­lich, wur­de es so still, dass Amars zar­te Stim­me es bis auf die an­de­re Sei­te des Plat­zes schaff­te.

»… schwar­zer Tag für Neu­brüs­sel, die­sen Ort des Neu­an­fangs, der vie­len Mög­lich­kei­ten. Doch wir le­ben in ei­ner Zeit der Un­be­stän­dig­keit. Wir kön­nen, nein, wir dür­fen kein Nach­se­hen ha­ben mit den­je­ni­gen, die den Neu­brüs­se­ler Frie­den aufs Spiel set­zen.«

Amar leg­te ei­ne Pau­se ein und nick­te ei­nem der Gar­dis­ten zu. Die­ser ver­ließ das Scha­fott und ver­schwand hin­ter der Mau­er der vie­len Schau­lus­ti­gen. Amar wand­te sich wie­der ihrem Pu­bli­kum zu.

Es war das zwei­te Mal, dass Smil­la die An­füh­re­rin Brüs­sels sah. Zu­letzt hat­te sie sich zum Fest der Win­ter­son­nen­wen­de öf­fent­lich ge­zeigt und ei­ne emo­ti­o­na­le Re­de über Hoff­nung, Licht und Le­ben ge­hal­ten. Mit ih­rer wei­chen Stim­me, der zer­brech­li­chen Sta­tur und ih­rer Vor­lie­be für bun­te Klei­dung war sie Smil­la sanft und gut­mü­tig er­schie­nen. Et­was scheu viel­leicht, für ei­ne An­füh­re­rin. Aber ge­ra­de in die­ser Zart­heit hat­te das Ver­spre­chen von Mit­ge­fühl und Be­son­nen­heit ge­le­gen. Und nun stand sie dort, un­ter dem Gal­gen­strick, und er­klär­te, dass der An­ge­klag­te mit dem Gift­an­schlag sein Recht auf das ei­ge­ne Le­ben ver­wirkt hat­te. Ein bit­te­rer Ge­schmack lag auf Smil­las Zun­ge.

Der Gar­dist, der eben auf Amars An­wei­sung hin ver­schwun­den war, tauch­te wie­der auf. Ihm folg­ten zwei wei­te­re Gar­dis­ten, die ei­ne schma­le, schmut­zi­ge Ge­stalt flan­kier­ten. Das Ge­flüs­ter und Ge­tu­schel auf dem Gro­te Markt nahm er­neut zu.

Aus Ge­wohn­heit kniff Smil­la die Au­gen zu­sam­men, um mehr von dem Ge­sche­hen auf der an­de­ren Sei­te des Plat­zes er­ken­nen zu kön­nen. In ih­rer ers­ten Wo­che in Brüs­sel hat­te man ihr ei­ne pas­sen­de Bril­le be­schafft, so­dass sie nun oh­ne An­stren­gung Din­ge in wei­ter Ent­fer­nung er­ken­nen konn­te. Aber die Er­in­ne­rung dar­an, wie es sich an­fühl­te, se­hen zu wol­len und doch nichts zu er­ken­nen, war noch zu prä­sent, als dass Smil­la von die­ser An­ge­wohn­heit hät­te Ab­stand neh­men kön­nen.

Die Gar­dis­ten führ­ten den Frie­dens­schma­rot­zer un­ter den Gal­gen. Er war jung. Ein Teen­ager. Die Schicht aus Dreck und ge­trock­ne­tem Blut auf Ge­sicht und Glied­ma­ßen ließ ihn im ers­ten Mo­ment we­ni­ger wie ei­nen Men­schen wir­ken. Aber ein Blick in sei­ne vor Angst ge­wei­te­ten Au­gen ge­nüg­te, um zu er­ken­nen, dass er ge­nau­so mensch­lich war wie al­le an­de­ren hier auf dem Platz. Er wuss­te, was ihm be­vor­stand, und er fürch­te­te sich. Viel­leicht hät­te er um sein Le­ben ge­fleht, wenn die Angst ihm nicht halb das Be­wusst­sein ge­raubt hät­te. Viel­leicht be­reu­te er, was er ge­tan hat­te, be­kam nur kein Wort her­aus.

»Ich trau­e­re um je­des Le­ben, das auf die­se Wei­se ver­wirkt wird«, fuhr Amar fort, die sich dem Frie­dens­schma­rot­zer zu­ge­wandt hat­te. »Nach der Pla­ge ist je­des Le­ben um­so kost­ba­rer ge­wor­den. Aber ge­nau aus die­sem Grund kann ich nicht ri­ski­eren, dass ein Mensch wie die­ser hier Men­schen wie euch in Ge­fahr bringt.« Sie dreh­te sich wie­der dem Pu­bli­kum zu, die Mund­win­kel leicht nach un­ten ge­rich­tet, die Au­gen­brau­en hoch­ge­zo­gen. Fast hät­te man mei­nen kön­nen, dass auch sie auf dem Scha­fott stand, um hin­ge­rich­tet zu wer­den, und nicht, um hin­zu­rich­ten.

Smil­la wur­de flau bei dem Ge­dan­ken, dass gleich ein Le­ben en­den wür­de. Sie neig­te sich zu Na­d­ja. »Lass uns ab­hau­en. Das will ich nicht se­hen.«

»Mo­ment noch«, gab Na­d­ja zu­rück, oh­ne den Blick vom Scha­fott zu wen­den. »Viel­leicht sagt sie noch was da­zu, ob…«

»Amar!«, rief ein Mann in die­sem Mo­ment. »Ge­hört die­ser Bas­tard zu Ma­gno­lia?«

Au­gen­blick­lich setz­te das Rau­nen und Tu­scheln wie­der ein. Die Men­ge be­weg­te sich hin und her wie ei­ne un­ru­hi­ge Was­ser­ober­flä­che und warf Wel­len aus Stoff und Haar.

Amar sag­te et­was, aber ih­re Ant­wort wur­de von den an­de­ren Ge­räu­schen auf dem Platz ver­schluckt.

Na­d­ja gab ei­nen frus­trier­ten Laut von sich. »Kön­nen die nicht we­nigs­tens Laut­spre­cher an­schlie­ßen? Ge­nau für so was ha­ben wir doch den Strom.«

Je­mand aus der Men­ge rief Amar zu, sie sol­le ih­re Ant­wort wie­der­ho­len. Die An­we­sen­den stie­ßen sich ge­gen­sei­tig an und er­mahn­ten sich zur Ru­he.

»… tat­säch­lich Grund zu der An­nah­me, dass der Frie­dens­schma­rot­zer aus den Rei­hen der Ma­gno­lia kam. Un­se­re Gar­de ar­bei­tet un­ter Hoch­druck dar­an, die Draht­zie­her zu iden­ti­fi­zie­ren und dem Ter­ror der Ma­gno­lia ein En­de zu set­zen.«

Ein wü­ten­der Zwi­schen­ruf er­klang. Was ge­nau die Frau schrie, ver­stand Smil­la nicht, aber sie lös­te ei­ne Rei­he wei­te­rer ver­är­ger­ter Ru­fe aus.

Amar schloss den Mund und fal­te­te die Hän­de. Erst, als die Ru­fe wie­der ver­stummt wa­ren, sprach sie wei­ter. »Ich dul­de kei­ne Selbst­jus­tiz in Brüs­sel. Lynch­mord ist ein ge­nau­so schwe­res Ver­bre­chen wie ein Gift­an­schlag und wird ge­nau­so schwer be­straft.«

Es wur­de miss­mu­tig ge­mur­melt. Amar senk­te den Blick, als hät­te man sie ge­ta­delt. Aber dann sah sie wie­der auf und sag­te: »Ge­walt und In­sta­bi­li­tät sind über­all dort, wo je­der nur auf sich selbst hört.« Sie ließ ih­re Au­gen über die Men­ge wan­dern. »Ge­fähr­det nicht un­se­re Sta­bi­li­tät, schma­rotzt nicht von Neu­brüs­sels Frie­den. Wenn ihr et­was über Ma­gno­lia zu wis­sen glaubt, mel­det es der Gar­de. Wir ge­hen die­sen Hin­wei­sen nach, oh­ne Brüs­sels Frie­den zu ge­fähr­den. Für je­den Hin­weis, der un­se­re Er­mitt­lun­gen wei­ter­bringt, ver­ge­ben wir drei­hun­dert Wert­mar­ken.«

Drei­hun­dert Wert­mar­ken – so viel ga­ben Smil­la und Ju­li im Mo­nat aus, um Je­ra, Ben und Tes­sa mit Nah­rung, Klei­dung, Spiel­zeug und Schul­ma­te­ri­a­li­en zu ver­sor­gen.

Amar mach­te ei­nen Schritt zu­rück und sah zu den Gar­dis­ten, die dem An­ge­klag­ten die Schlin­ge um den Hals fest­zo­gen.

»Ich ge­he jetzt«, sag­te Smil­la mit Nach­druck.

Das flaue Ge­fühl in ihr war zu ei­nem er­sti­cken­den Ge­schwür aus Angst her­an­ge­wach­sen. Sie trat aus dem Hau­s­ein­gang, woll­te den Gro­te Markt auf dem schnells­ten Weg ver­las­sen. Doch als ihr Blick ein letz­tes Mal über das Scha­fott streif­te, stand dort nicht län­ger ein na­men­lo­ser Teen­ager. Es war Falk. Falk, der Räu­ber und Men­schen­händ­ler, an den sie ei­nen Teil ihres Her­zens ver­lo­ren hat­te. Falk, der sich ge­gen sei­ne Grup­pe ge­stellt hat­te, um ihr Le­ben zu ret­ten. Sie hat­te ihn im Stich ge­las­sen, in je­ner Nacht.

Ob­wohl al­le Au­gen auf Amar und den An­ge­klag­ten ge­rich­tet wa­ren, fühl­te Smil­la plötz­lich Bli­cke auf sich. Ihr war, als wüss­ten al­le hier, wie oft sie in die­ser Welt nach der Pla­ge schon ver­sagt hat­te. Wie oft sie an­de­re an ih­rer Stel­le Op­fer hat­te brin­gen las­sen, wie oft sie an­de­re im Stich ge­las­sen hat­te. Viel­leicht ver­dien­te sie Neu­brüs­sels Frie­den ge­nau­so we­nig wie der Jun­ge un­ter dem Gal­gen.

Oh­ne Na­d­jas Ant­wort ab­zu­war­ten, kehr­te Smil­la dem Scha­fott und der ge­bann­ten Men­ge den Rü­cken und eil­te auf die nächst­ge­le­ge­ne Gas­se zu.

»Hey, Fräu­lein Smil­la! War­te auf mich«, hör­te sie Na­d­jas Stim­me hin­ter sich.

Smil­la wur­de lang­sa­mer, hielt aber nicht an. »Ich muss hier weg«, sag­te sie und er­schrak selbst dar­über, wie dünn ih­re Stim­me klang. »Ich kann nicht ein­fach da­bei zu­se­hen, wie sie ihn…«

Na­d­ja nick­te knapp und ent­band Smil­la da­mit der Auf­ga­be, sich zu er­klä­ren. Sie nahm Smil­las Hand und zog sie durch die men­schen­lee­ren Pflas­ter­stein­gas­sen, vor­bei an krum­men Fach­werk­häu­sern mit nied­ri­gen Ein­gän­gen und klei­nen, ver­staub­ten Fens­tern.

Im Eil­tem­po er­klom­men sie die An­hö­he zum Mont des Arts. Frü­her ein­mal hat­te man hier über adrett zu­recht­ge­stutz­te Zier­bäu­me und geo­me­tri­sche Blu­men­bee­te bis zum Turm des Rat­hau­ses schau­en kön­nen. Doch in­zwi­schen hat­ten aus­schla­gen­de Äs­te, Ro­sen­ran­ken und Acke­r­win­de die Gar­ten­an­la­ge, die den Platz vor der kö­nig­li­chen Bi­blio­thek zier­te, er­obert. Nur ge­duckt konn­te man ins In­ne­re des ver­wil­der­ten Gar­tens vor­drin­gen, und nie­mals ge­lang­te man auf die an­de­re Sei­te, oh­ne von den Dor­nen und Äs­ten zer­kratzt zu wer­den.

Im Her­zen der An­la­ge hielt Na­d­ja an, ließ Smil­las Hand los und rich­te­te den Blick auf das frisch­grü­ne Ge­äst über ih­nen. »Hörst du das?«, frag­te sie, wäh­rend ih­re dunk­len Au­gen von Ast zu Ast, von Knos­pe zu Knos­pe hüpf­ten.

Smil­la folg­te ihrem Blick und lausch­te. Das Ge­strüpp um sie her­um schien vor lau­ter Le­ben zu vi­brie­ren. Bie­nen such­ten nach Pol­len. Mei­sen, Spat­zen und Am­seln be­san­gen ihr Re­vier.

»Ja, ich hö­re es«, flüs­ter­te sie und schloss die Au­gen, um sich ganz und gar auf das Sum­men kon­zen­trie­ren zu kön­nen. »Das Le­ben ist laut«, wis­per­te sie und ver­such­te, nicht hin­zu­hö­ren, als vom Gro­te Markt ein kol­lek­ti­ves er­schro­cke­nes Seuf­zen in den Him­mel auf­stieg.

2  Der Zehn­te

Ich war letz­te Wo­che bei der Seel­sor­ge«, sag­te Na­d­ja, als sie den ver­wil­der­ten Gar­ten ver­lie­ßen und sich durch den Brüs­se­ler Park auf den Weg nach Hau­se mach­ten.

Ver­dutzt sah Smil­la zu ihr. »Du? Bei der Seel­sor­ge?« Na­d­ja war in Brüs­sel re­gel­recht auf­ge­blüht. Ih­re Ar­beit als Hei­le­rin im Kran­ken­haus schien sie ganz und gar zu er­fül­len, und seit sie ei­ne Cli­que aus Tän­zern ken­nen­ge­lernt hat­te, konn­te sie auch ih­re Lei­den­schaft fürs Bal­lett wie­der aus­le­ben.

Na­d­ja zuck­te die Schul­tern und hol­te tief Luft. »Die Kran­ken­haus­lei­tung er­war­tet, dass man als an­ge­hen­de Hei­le­rin mal dort vor­bei­schaut. Wahr­schein­lich, weil wir bei der Ar­beit viel be­las­ten­den Kram mit­be­kom­men. Und wenn man die ho­he Sui­zid­ra­te be­denkt…«

»Ja. Ei­ner von zehn Neu­an­kömm­lin­gen«, mur­mel­te Smil­la und streck­te die Hand nach den saf­ti­gen grü­nen Blät­tern ei­nes Ahorns aus, den sie in die­sem Mo­ment pas­sier­ten. Von der Sui­zid­ra­te hat­te man ih­nen bei der psy­cho­lo­gi­schen Eva­lu­a­ti­on er­zählt, die sie al­le am Tag ih­rer An­kunft durch­lau­fen hat­ten. Wie es schien, war das Le­ben nach der Pla­ge für ei­ni­ge um­so schwe­rer zu er­tra­gen, je si­che­rer und ge­bor­ge­ner sie sich fühl­ten. Hoff­nungs­lo­sig­keit und Schuld­ge­füh­le hol­ten die Über­le­ben­den ein, so­bald sie in Brüs­sel in­ne­hiel­ten.

»Dann warst du ein­fach nur bei der Seel­sor­ge, weil es dir na­he­ge­legt wur­de oder… ist ir­gend­et­was pas­siert?«, woll­te Smil­la von Na­d­ja wis­sen.

Na­d­ja wand­te sich ab­rupt zu ihr um. Ei­nen Mo­ment lang sa­hen sie ein­an­der an. Und mit je­der Se­kun­de, die ver­strich, fühl­te Smil­la sich mehr, als wä­re sie es, der man ei­ne Fra­ge ge­stellt hat­te, und nicht Na­d­ja.

»Willst du nicht dr­ü­ber re­den?«, hak­te Smil­la nach, als Na­d­ja nicht mit der Spra­che her­aus­rück­te.

Noch ein paar Se­kun­den las­te­te Na­d­jas nach­denk­li­cher Blick auf Smil­la. Aber dann wand­te sie sich wie­der ab und sah in die we­ni­gen Wol­ken, die sich im Licht der un­ter­ge­hen­den Son­ne ro­sa färb­ten. »Nein, kein Be­darf«, sag­te sie. »Ich woll­te dir nur er­zäh­len, dass die echt ganz gut sind, bei der Seel­sor­ge. Viel­leicht kön­nen sie dir bei dei­ner Schlaf­lo­sig­keit wei­ter­hel­fen.«

Smil­la biss sich nach­denk­lich auf die Zun­gen­spit­ze. Sie kam nicht um­hin, ei­nen An­flug von schlech­tem Ge­wis­sen zu ver­spü­ren. Na­d­ja war ihr schon so oft zu Hil­fe ge­kom­men. Mehr als ein­mal hat­te sie Smil­la das Le­ben ge­ret­tet. Nicht im über­tra­ge­nen Sin­ne, son­dern wort­wört­lich. Und nun hat­te es an­schei­nend ei­nen Mo­ment ge­ge­ben, in dem Na­d­ja Bei­stand ge­braucht hät­te, und es war Smil­la ent­gan­gen. »Du kannst auch zu mir kom­men, wenn du je­man­den zum Re­den brauchst«, gab sie zu­rück.

»Ja ja, schon klar«, sag­te Na­d­ja, und Smil­la mein­te, den alt­be­kann­ten Sar­kas­mus in ih­rer Stim­me wahr­zu­neh­men.

Vor dem schma­len Haus aus gel­bem Back­stein, in dem man Smil­la ein­quar­tiert hat­te, blie­ben sie ste­hen. »Kommst du noch zum Abend­es­sen mit hoch?«, frag­te Smil­la.

Na­d­ja schau­te die Fas­sa­de hin­auf, an der Wein rank­te. »Was gibt es denn?«

»Ju­lis Boh­nen-To­ma­ten-Ein­topf.«

»Na gut, über­re­det.«

Smil­la lä­chel­te. Sie fin­ger­te den Haus­tür­schlüs­sel aus der Ho­sen­ta­sche und schloss die Woh­nungs­tür auf. Im Trep­pen­haus er­war­te­te sie der Ge­ruch von al­tem Holz und Staub, der sich um die­se Jah­res­zeit mit dem Duft der Kirsch­blü­ten misch­te, die hin­ter dem Haus blüh­ten.

Smil­la und Na­d­ja er­klom­men die äch­zen­den Stu­fen in den ers­ten Stock. Dort hielt Smil­la in­ne. »Geh du schon mal vor, ich schau noch kurz bei Gior­gio vor­bei«, sag­te sie und deu­te­te mit dem Dau­men zu der weiß la­ckier­ten Tür, hin­ter der sich Gior­gi­os Apart­ment be­fand.

Er hat­te sich im­mer mehr zu­rück­ge­zo­gen, seit er er­fah­ren hat­te, dass die Schmie­ders es nie bis nach Brüs­sel ge­schafft hat­ten. Die Fa­mi­lie hat­te ihn ge­sund ge­pflegt, nach­dem die Ver­lo­re­nen Jungs ihn aus ihren Rei­hen ver­sto­ßen und bei­na­he ge­tö­tet hat­ten. Er und die äl­tes­te Toch­ter Sa­rah wa­ren ein Paar ge­wor­den, kurz be­vor sie die Ei­fel aus Angst vor den Ver­lo­re­nen Jungs ver­las­sen hat­ten. Und nun wa­ren sie wie vom Erd­bo­den ver­schluckt.

Als Na­d­ja nach oben ver­schwun­den war, trat Smil­la vor Gior­gi­os Woh­nungs­tür. Sie hob die Faust und klopf­te.

»Gior­gio, ich bin es, Smil­la«, sag­te sie. Doch nichts ge­schah. Ent­we­der woll­te er nicht mit ihr spre­chen, oder er war nicht hier. Smil­la hielt Ers­te­res für wahr­schein­li­cher. Ver­mut­lich gab er ihr die Schuld für all das, was ge­sche­hen war.

Smil­la schluck­te den Kloß, der sich in ih­rer Keh­le ge­bil­det hat­te, hin­un­ter. »Willst du zum Es­sen hoch­kom­men?«, frag­te sie, doch als Ant­wort er­hielt sie auch die­ses Mal nur Stil­le.

Der Tod ist lei­se, schoss es ihr er­neut durch den Kopf, und ein un­gu­tes Ge­fühl mach­te sich in ihr breit. Sie klopf­te noch ein­mal, dies­mal ener­gi­scher.

»Ich kann dir auch was zu es­sen vor­bei­brin­gen, wenn dir nicht nach Ge­sell­schaft ist.« Ih­re Stim­me war ei­ne Ok­ta­ve hö­her gek­let­tert.

Sie hob ge­ra­de die Hand, um ein wei­te­res Mal zu klop­fen, da wur­de die Tür ge­öff­net. Dun­kel­heit und sti­cki­ge Luft si­cker­ten ihr ent­ge­gen, und Gior­gi­os aus­ge­mer­gel­tes Ge­sicht er­schien im Tür­spalt. Er sah mü­de und kränk­lich aus, aber er leb­te.

Er­leich­tert at­me­te Smil­la aus. »Ich ha­be schon an­ge­fan­gen, mir Sor­gen zu ma­chen«, sag­te sie und schloss ihn in die Ar­me. Er er­wi­der­te die Um­ar­mung sacht.

»Kommst du mit zu uns? Ju­li­us macht Boh­nen-To­ma­ten-Ein­topf.«

»Dan­ke, aber ich bin nicht hung­rig«, sag­te Gior­gio und lös­te sich von ihr.

Smil­la fühl­te sich in Brüs­sel oft ein­sam. Selbst wenn Je­ra und Tes­sa um sie her­um­toll­ten, selbst wenn Ju­li sich abends ne­ben sie auf die Couch fal­len ließ, um mit ihr den Fei­er­abend ein­zu­läu­ten. Mit je­dem Tag, der ver­ging, war sie ein biss­chen mehr al­lein als am Tag zu­vor. Wie muss­te sich Gior­gio da erst füh­len? Sie sah in sei­ne dunk­len Au­gen, die er­schre­ckend glanz­los wirk­ten.

»Du könn­test trotz­dem mit­kom­men. Je­ra wür­de sich freu­en. Sie ver­misst dich.«

Gior­gio grins­te. »Ah, da ist es ja, das gu­te, al­te schlech­te Ge­wis­sen.«

Smil­la schloss kurz die Au­gen. »Nein, tut mir leid, so war das nicht ge­meint.«

Ei­ni­ge Se­kun­den ver­stri­chen. »Viel­leicht soll­test du mal zur Seel­sor­ge ge­hen«, sag­te Smil­la schließ­lich.

Gior­gio zuck­te mit den Schul­tern. »Die kön­nen nichts an al­le­dem än­dern, was pas­siert ist.«

»Nein, aber Na­d­ja war dort, und es hat ihr wohl ge­hol­fen.«

Gior­gio wur­de auf­merk­sam. »Na­d­ja? Bei der Seel­sor­ge?«

Smil­la konn­te sich ein La­chen nicht ver­knei­fen. »Das war auch mei­ne Re­ak­ti­on.«

»Hat sie schlech­te Neu­ig­kei­ten we­gen der Ver­miss­ten­an­zei­gen be­kom­men, die sie auf­ge­ge­ben hat?«, woll­te Gior­gio wis­sen.

»Weiß ich nicht. Sie woll­te nicht sa­gen, wes­we­gen sie ge­nau dort war.«

»Aber vie­le an­de­re Grün­de kann es ja ei­gent­lich nicht ge­ben«, grü­bel­te Gior­gio. »Die­se Ver­miss­ten­an­zei­gen sind echt Fluch und Se­gen zu­gleich. Ich ha­be im­mer noch nicht mei­ne ei­ge­ne Fa­mi­lie als ver­misst ge­mel­det. Nur die Schmie­ders, und das reicht mir schon. Je­den Mor­gen auf dem Weg zum Brief­kas­ten fra­ge ich mich, ob heu­te der Tag ist, an dem ich er­fah­re, dass sie tat­säch­lich tot sind.«

Smil­la seufz­te tief. »Mit mei­nen Ver­miss­ten­an­zei­gen geht es mir ge­nau­so. Vor al­lem mit der mei­nes Va­ters.«

»Es stimmt schon, was sie uns bei der Ein­bür­ge­rung ge­sagt ha­ben. Hier in Brüs­sel ho­len ei­nen die düs­ters­ten Ge­dan­ken und schlimms­ten Be­fürch­tun­gen ein.«

Smil­la nick­te. »Al­so, wirst du zur Seel­sor­ge ge­hen?«

»Ich denk mal dr­ü­ber nach.«

»Sagst du das jetzt nur, da­mit ich dich in Ru­he las­se?«, frag­te Smil­la und stieß ihn spie­le­risch an.

Gior­gio grins­te, und kurz blitz­te es le­ben­dig in sei­nen Au­gen. »Ich denk dr­ü­ber nach, Smil­la, ver­spro­chen. Und be­vor du mir noch mehr auf­bür­dest, kom­me ich lie­ber gleich mit dir mit.«

Er ver­schwand in die Dun­kel­heit sei­nes Apart­ments und tauch­te kurz dar­auf mit blau-wei­ßen Schlap­pen an den Fü­ßen wie­der auf. »Na los, ge­hen wir«, sag­te er mit ei­nem schwa­chen Lä­cheln.

Sie stie­gen in den zwei­ten Stock hin­auf. Die Woh­nungs­tür war nur an­ge­lehnt und quietsch­te, als Smil­la sie auf­drück­te.

»Smil­la! Gior­gio!«, rief Je­ra, die hin­ter der Tür auf sie ge­war­tet ha­ben muss­te, und sprang ihr in die Ar­me. »Hal­lo, hal­lo, hal­lo!«

Un­ter Jeras Ge­wicht ge­ri­et Smil­la ins Tau­meln. Sie schlang ei­ne Hand um den Rü­cken ih­rer klei­nen Schwes­ter. Mit der an­de­ren hielt sie sich am Tür­rah­men fest, um nicht das Gleich­ge­wicht zu ver­lie­ren und ge­gen Gior­gio zu fal­len.

»Hal­lo«, gab Smil­la mit ei­nem leicht über­for­der­ten La­chen zu­rück.

»Toll, dass du Gior­gio mit­ge­bracht hast! Aber du bist spät. Wir ha­ben dich schon ver­misst. Vor al­lem Ju­li«, sag­te Je­ra und ließ von Smil­la ab. »Smil­la bla, Smil­la blubb, Smil­la tral­la­la«, imi­tier­te sie Ju­lis tie­fe Stim­me und warf ein fre­ches Grin­sen über ih­re Schul­ter.

Smil­la folg­te ihrem Blick. Und da stand er, die dunk­len Lo­cken zer­zaust, die hel­len Au­gen auf­merk­sam auf sie ge­rich­tet. Er lehn­te im Tür­rah­men zum Wohn­zim­mer, sei­ne drah­ti­gen, dicht tä­to­wier­ten Ar­me ver­schwan­den in den wei­ten Ta­schen der Jog­ging­ho­se, die sie für ihn aus der Kleider­fa­brik hat­te mit­ge­hen las­sen.

Wie je­des Mal, wenn Smil­la ihn ei­ne Wei­le nicht ge­se­hen hat­te und ihm dann wie­der ge­gen­über­stand, mach­te ihr Herz ei­nen über­mü­ti­gen Satz.

»Sie sagt nicht die Un­wahr­heit. Hab ge­ra­de an­ge­fan­gen, mir Sor­gen zu ma­chen«, mein­te Ju­li, und sei­ne Lip­pen form­ten ein hal­b­es Lä­cheln.

Smil­la er­wi­der­te es zag­haft. »Tut mir leid, dass ihr war­ten muss­tet«, sag­te sie und ver­setz­te der Woh­nungs­tür ei­nen Tritt, so­dass sie ins Schloss fiel. »Ich war nach der Ar­beit noch mit Na­d­ja bei der… auf dem Gro­te Markt.«

Das Lä­cheln auf Ju­lis Ge­sicht ver­rutsch­te.

»Bei der Hin­rich­tung?«, horch­te Gior­gio ne­ben ihr auf.

Jeras Au­gen wei­te­ten sich bei dem Wort Hin­rich­tung.

»Na­d­ja woll­te hö­ren, was Amar da­zu zu sa­gen hat, da ha­be ich sie noch be­glei­tet«, er­klär­te Smil­la. Sie schlüpf­te aus ihren Chucks und schob sie in die Rei­he all der an­de­ren Schu­he, die an die Wand ge­drängt auf ihren Ein­satz war­te­ten.

»Und?«, frag­te Ju­li­us, stieß sich vom Tür­rah­men ab und be­weg­te sich auf die Kü­chen­tür zu.

»Sie glau­ben, der At­ten­tä­ter ge­hör­te zu Ma­gno­lia.«

Smil­la folg­te Ju­li­us in die Kü­che. Na­d­ja stand vor den Be­steck­schub­la­den und such­te Löf­fel und Ga­beln her­aus.

»Scheiß Ma­gno­lia«, fluch­te Je­ra, die ihr ge­folgt war. »Wie war die Hin­rich­tung so? War da viel Blut? Ein Jun­ge aus mei­ner Klas­se hat er­zählt, bei ei­ner Hin­rich­tung wird ei­nem der Kopf ab­ge­hackt.«

Na­d­ja un­ter­drück­te grun­zend ein La­chen. Smil­la hin­ge­gen dreh­te sich der Ma­gen um.

»Sie ha­ben ihm nicht den Kopf ab­ge­hackt«, sag­te sie und nahm ei­nen Sta­pel Tel­ler aus dem Kü­chen­schrank. Sie dräng­te sich an Ju­li vor­bei, der ge­ra­de ei­ne Hand­voll fri­sche Kräu­ter in ei­nen gro­ßen Topf gab, durch­quer­te den Flur und be­trat das Wohn­zim­mer.

»Und was hat Amar noch so ge­sagt? Ha­ben sie end­lich mehr Hin­wei­se dar­auf, wer die­se Ma­gno­lia-Idi­o­ten ge­nau sind?«, rief Ju­li ihr hin­ter­her.

Gior­gio nahm Smil­la die Hälf­te der Tel­ler ab, und sie fin­gen an, den Tisch zu de­cken.

»Nein. Aber je­der, der ei­nen nütz­li­chen Hin­weis lie­fert, be­kommt drei­hun­dert Wert­mar­ken«, ant­wor­te­te Smil­la mit er­ho­be­ner Stim­me, um ge­gen das Klap­pern des Ge­schirrs an­zu­kom­men.

»Aber wenn sie ihm nicht den Kopf ab­ge­hackt ha­ben, wie ha­ben sie es dann ge­macht?«, frag­te Je­ra auf­ge­regt.

Smil­la schloss kurz die Au­gen, um das Bild des Stricks um den Na­cken des Jun­gen zu ver­scheu­chen. Doch es wur­de nur um­so deut­li­cher. »Das ist kein gu­tes The­ma für ein Tisch­ge­spräch, Je­ra«, sag­te sie. Der letz­te Tel­ler ent­glitt ihrem Griff et­was zu früh und schlug laut klir­rend auf der glä­ser­nen Tisch­plat­te auf.

»Für wel­ches Ge­spräch ist es dann ein gu­tes The­ma?«

Smil­la ließ sich am Ess­tisch nie­der, und Na­d­ja kam mit dem Sup­pen­topf aus der Kü­che.

»Für ei­nes zwi­schen Amar und ihren Gar­dis­ten.«

»Aber du hast ge­se­hen, wie sie es ge­macht ha­ben?«, frag­te Je­ra und setz­te sich auf den Platz ne­ben Smil­la.

»Nein, ich bin vor­her ge­gan­gen.« Smil­la nahm ei­nen der Tel­ler, um ihn mit Boh­nen und To­ma­ten zu fül­len.

»War­um?«

»Weil ich es nicht rich­tig fin­de, dass er hin­ge­rich­tet wur­de.«

Jeras Au­gen wei­te­ten sich. »Aber er ist ei­ne Ge­fahr für den Frie­den ge­we­sen. Er ver­dient doch, zu ster­ben«, zi­tier­te sie ir­gend­wen, dem Smil­la in die­sem Mo­ment un­be­kann­ter­wei­se die Pla­ge an den Hals wünsch­te.

»Nie­mand ver­dient es, er­mor­det zu wer­den«, er­wi­der­te sie. Lang­sam kam ihr der Ap­pe­tit auf das Abend­es­sen ab­han­den.

»Auch nicht die Ver­lo­re­nen Jungs?«, hak­te Tes­sa skep­tisch nach, die be­reits auf ihrem Stuhl saß und mit den Bei­nen wipp­te.

Smil­la schluck­te. Wie im­mer, wenn je­mand die Grup­pe er­wähn­te, die in der Ei­fel Angst und Schre­cken ver­brei­tet hat­te, zo­gen sich Smil­las Ein­ge­wei­de schmerz­haft zu­sam­men. »Nein, auch die nicht.«

Je­ra leg­te die Stirn in Fal­ten. »Du bist ganz schön nach­sich­tig.«

Gior­gio und Na­d­ja lach­ten.

Ju­li­us be­trat mit Ben auf dem Arm den Raum. »Er hat im­mer­hin ver­sucht, das Trink­was­ser von Amar und der Gar­de zu ver­gif­ten. Wir aus der Ver­wal­tung ho­len un­ser Was­ser auch dort. Wenn er es ge­schafft hät­te, hät­te er rie­si­gen Scha­den an­rich­ten kön­nen«, sag­te er und setz­te Ben auf sei­nen Hoch­stuhl. »Bes­ser, Amar sen­det ein­mal ein star­kes Zei­chen an die Ma­gno­lia-Ter­ro­ris­ten, als jetzt zu lasch zu re­agie­ren und ein Dut­zend Nach­ah­mer zu ri­ski­eren.«

Smil­la, die ge­ra­de die Hand nach Tes­sas Tel­ler aus­streck­te, hielt in der Be­we­gung in­ne. »Du fin­dest das rich­tig?«, frag­te sie über­rascht.

»Na ja, rich­tig ist über­trie­ben, aber so ist es mir al­le­mal lie­ber, als wenn sie ihn un­ge­scho­ren hät­te davon kom­men las­sen.«

»Was hät­test du denn mit ihm ge­macht?«, woll­te Je­ra wis­sen und blick­te auf­merk­sam zu Smil­la.

Smil­la nahm Tes­sas Tel­ler und fing an, ihn mit Ein­topf zu fül­len. »Ich hät­te ihn zum Bei­spiel aus Brüs­sel ver­bannt. Oder ihn ein­sper­ren las­sen, wie man das auch vor der Pla­ge mit Straf­tä­tern ge­macht hat«, sag­te sie. Sie stell­te Tes­sa ihren Tel­ler hin und mach­te mit Jeras wei­ter.

»Aber wenn wir ihn ein­fach raus­schmei­ßen, ist er im­mer noch ei­ne Ge­fahr für Brüs­sel«, wand­te Je­ra ein.

»Und wenn wir ihn ein­sper­ren, muss er auf un­ser al­ler Kos­ten am Le­ben ge­hal­ten wer­den«, pflich­te­te Ju­li­us ihr bei.

Das Scha­fott blitz­te vor Smil­las in­ne­rem Au­ge auf, sie spür­te die To­des­angst im Blick des An­ge­klag­ten noch wie Eis auf ih­rer Haut. In ih­rer Er­in­ne­rung sah er sie di­rekt an. Sie wuss­te, dass es so nicht ge­we­sen war. Zwi­schen all den Schau­lus­ti­gen hat­te sein Blick sie – wenn über­haupt – nur flüch­tig ge­streift.

Un­gläu­big schüt­tel­te Smil­la den Kopf und ver­such­te, kei­nen Ein­topf zu ver­kle­ckern, als sie ihren ei­ge­nen Tel­ler be­füll­te. »Du klingst ganz schön ab­ge­brüht.«

»Oder prag­ma­tisch«, eil­te Na­d­ja zu Ju­lis Eh­ren­ret­tung. »Amar hat gu­te Bedin­gun­gen in Brüs­sel ge­schaf­fen. Ich wür­de so­gar so weit ge­hen, zu sa­gen, die bes­ten Bedin­gun­gen in ganz Eu­ro­pa. Wer das mut­wil­lig aufs Spiel setzt, stellt selbst ei­ne Ge­fahr für ganz Brüs­sel dar und hat sei­ne Chan­ce hier ein­fach nicht ver­dient.«

Tes­sa rich­te­te sich auf ihrem Stuhl auf. »In Neu­brüs­sel be­kommt je­der ei­ne Chan­ce«, re­zi­tier­te sie das in­of­fi­zi­el­le Mot­to der Stadt.

»Aber nie­mand ei­ne zwei­te«, pflich­te­te Na­d­ja ihr bei und deu­te­te mit der Ga­bel auf Smil­la.

Gior­gio räus­per­te sich, und so­fort rich­te­te sich al­le Auf­merk­sam­keit auf ihn. Er war nie der Ge­sprä­chigs­te ge­we­sen, aber seit sie in Brüs­sel an­ge­kom­men wa­ren, war er von Tag zu Tag noch schweig­sa­mer ge­wor­den.

»Als je­mand, der selbst mal fast da­für um­ge­bracht wor­den wä­re, dass er die ei­ge­ne Grup­pe in ver­meint­li­che Ge­fahr ge­bracht hat, muss ich Smil­la zu­stim­men«, sag­te er lei­se, aber be­stimmt. »Brüs­sel soll doch ein bes­se­rer Ort sein als die Welt da drau­ßen. Und wenn das hier ein bes­se­rer Ort sein soll, dann darf die Re­gie­rung nicht ih­re ei­ge­nen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ab­schlach­ten.«

»Ab­schlach­ten!«, stieß Na­d­ja aus und kau­te ener­gisch, um schnel­ler den Mund für ei­ne Ant­wort frei zu ha­ben. »Amar hat in der Zeit seit dem Aus­bruch der Pla­ge ge­nau ei­ne Per­son hän­gen las­sen. Von Ab­schlach­ten kann da kei­ne Re­de sein. Sie hat viel eher… ein Ex­em­pel sta­tu­iert.« Sie tunk­te den Löf­fel in den Ein­topf und aß genüss­lich wei­ter.

Smil­las Ap­pe­tit hin­ge­gen war gänz­lich ver­flo­gen. Das Ge­sicht des An­ge­klag­ten schweb­te noch im­mer in ihrem Blick, wie das Ab­bild ei­ner Flam­me, in die man zu lan­ge ge­starrt hat­te.

Die Löf­fel klirr­ten in den Tel­lern. Na­d­ja lob­te Ju­lis Koch­küns­te, und Tes­sa und Je­ra lie­ßen die grü­nen Boh­nen aus ihren Mün­dern ra­gen wie Stoß­zäh­ne. Die an­de­ren lach­ten und re­de­ten. Der Ge­häng­te ge­ri­et in Ver­ges­sen­heit.

Mit ei­ner mü­den Be­we­gung nahm Smil­la ihren Löf­fel auf, tunk­te ihn in ihren Tel­ler und ließ et­was To­ma­ten­sud dar­auf­lau­fen. Sie schmeck­te nichts. Seit ein paar Wo­chen war das schon so. Nichts schmeck­te mehr nach ir­gend­et­was.

Sie ließ den Löf­fel wie­der sin­ken und sah den an­de­ren wie durch ei­nen Schlei­er da­bei zu, wie sie sich an­ge­regt über ihren Tag un­ter­hiel­ten. Manch­mal mach­te es sie trau­rig, die an­de­ren glü­ck­lich und un­be­schwert zu se­hen. Sie ver­stand nicht ge­nau, war­um. Es kam ein­fach über sie, wie Hun­ger oder Mü­dig­keit. In sol­chen Mo­men­ten woll­te sie lie­ber al­lein sein.

Ihr Blick wan­der­te zu Gior­gio, der sei­nen Ein­topf eben­falls noch nicht an­ge­rührt hat­te und ge­nau­so we­nig mit der Stim­mung am Tisch mit­hal­ten konn­te. Er lä­chel­te ihr zag­haft zu, sie er­wi­der­te sein Lä­cheln ge­nau­so sacht.

»Was wol­len die­se Ma­gno­lia-Matsch­köp­fe ei­gent­lich? War­um ma­chen die dau­ernd Stress?«, woll­te Je­ra wis­sen, als die Tel­ler schon fast ge­leert wa­ren.

»Sie sind nicht zu­frie­den da­mit, wie Amar Brüs­sel re­giert«, ant­wor­te­te Smil­la.

»Aber war­um denn nicht? Amar hat das doch al­les gut ge­macht, oder? Wir ha­ben ei­ge­ne Woh­nun­gen, wir ha­ben Schu­len, wir ha­ben Wert­mar­ken, Feu­er­holz und ge­nug zu es­sen«, zähl­te Je­ra nur ei­ni­ge An­nehm­lich­kei­ten des Le­bens in Brüs­sel auf.

»Das stimmt, aber den Ma­gno­lia-Or­den stört es, dass sie in Brüs­sel nicht mit­be­stim­men dür­fen. Wenn Amar mal ei­nen Weg ein­schla­gen soll­te, mit dem die Brüs­se­ler nicht ein­ver­stan­den sind, gä­be es nie­man­den, der ihr Ein­halt ge­bie­tet«, er­klär­te Smil­la.

»Kann das nicht die Gar­de ma­chen? Das ist doch de­ren Job, auf­zu­pas­sen, dass hier kei­ner Quatsch macht, oder?«, frag­te Tes­sa und be­gut­ach­te­te ein Stück Boh­ne, das sie wie­der aus ihrem Mund ge­holt hat­te.

»Aber es ist ja Amar, die die Gar­de be­feh­ligt und be­stimmt, was man in Brüs­sel darf und was nicht«, wand­te Smil­la ein. »Und das macht de­nen von Ma­gno­lia Angst. Was ih­nen na­tür­lich noch lan­ge nicht das Recht gibt, das Trink­was­ser der Gar­de zu ver­gif­ten.«

Ju­li schüt­tel­te ver­är­gert den Kopf. »Nichts gä­be ih­nen das Recht da­zu. Das ist echt das Al­ler­letz­te. Sau­be­res Trink­was­ser spru­delt schließ­lich auch nicht an je­der Ecke aus dem Bo­den«, knurr­te er.

»Es gibt aber schon ein paar Punk­te, in de­nen Ma­gno­lia nicht ganz un­recht hat«, gab Na­d­ja zu be­den­ken.

»Zum Bei­spiel?«, frag­te Smil­la und lud ei­ne zer­koch­te To­ma­te auf ihren Löf­fel.

»Na, dass Amar sich so ve­he­ment da­ge­gen wehrt, das Koh­le­berg­werk bei Liè­ge wie­der in Be­trieb zu neh­men. Ja, die bö­se Braun­koh­le, schon klar. Aber wie vie­le Men­schen sind denn wohl noch üb­rig, auf der Welt? Ei­ne hal­be Mil­li­ar­de?«

»Be­stimmt viel we­ni­ger. Ein paar Mil­li­o­nen, wenn es hoch kommt«, mein­te Gior­gio.

»Eben. Wie groß kann der Scha­den schon sein, den wir mit ein biss­chen Braun­koh­le­ab­bau an­rich­ten? Die Mensch­heit be­fin­det sich in ei­nem Not­stand, da soll­ten wir auf je­den Ener­gie­trä­ger zu­rück­grei­fen, den es gibt.«

»Was mir per­sön­lich grö­ße­re Sor­ge be­rei­tet, ist, dass Amar jetzt schon davon spricht, bald den nächs­ten Stadt­teil zum Be­zug frei­zu­ge­ben«, sag­te Ju­li mit vol­lem Mund. »Wir ha­ben noch nicht mal die letz­te Wel­le von Neu­an­kömm­lin­gen voll­stän­dig ins Sys­tem in­te­griert. Neu­brüs­sel wächst viel zu schnell und zu un­kon­trol­liert. Da ist Cha­os vor­pro­gram­miert.«

»Und was wür­den die von Ma­gno­lia an­ders ma­chen?«, woll­te Je­ra wis­sen.

Smil­la zuck­te die Schul­tern. »Ich glau­be, das wis­sen die selbst nicht so ge­nau. Das sind ein paar un­zu­frie­de­ne Ex­tre­mis­ten. Die wol­len Krach ma­chen und sich be­schwe­ren. Wei­ter ha­ben die noch nicht ge­dacht.«

»Das glau­be ich nicht«, brach­te Na­d­ja sich ein. »Der An­schlag auf Amars Trink­was­ser war ei­ne an­de­re Num­mer als die Flug­blät­ter und der Van­da­lis­mus von davor. Da steckt mehr da­hin­ter als ein biss­chen Un­zu­frie­den­heit.«

»Was sind Ex­tre­mis­ten?«, frag­te Tes­sa und blick­te un­be­hag­lich zwi­schen ih­nen hin und her.

»Das sind Leu­te, die ei­ne sehr kras­se Mei­nung zu ei­nem The­ma ha­ben und zu ex­tre­men Mit­teln grei­fen, um sich Ge­hör zu ver­schaf­fen«, er­klär­te Ju­li­us.

»Ha­ben die noch mehr sol­cher An­schlä­ge ge­plant?«, woll­te Je­ra wis­sen. Ihr war die Far­be aus den Wan­gen ge­wi­chen.

»Das könn­te schon sein«, sag­te Gior­gio nach­denk­lich. »Sol­che Leu­te hö­ren nicht nach dem ers­ten Ver­such auf.«

Je­ra sah be­tre­ten auf ihren Tel­ler. Re­flex­ar­tig streck­te Smil­la die Hand nach ihr aus und leg­te sie ih­rer Schwes­ter auf den Un­ter­arm. »Mach dir des­we­gen kei­ne Sor­gen, Je­ra. Amar und die Gar­de wer­den nicht zu­las­sen, dass et­was Schlim­mes in Brüs­sel pas­siert. Okay?«

»Okay«, sag­te Je­ra mit dün­ner Stim­me.

»Wie war denn über­haupt die Schu­le, ihr bei­den? Ha­ben sie euch schon ge­sagt, wann ge­nau das Ge­ne­ra­ti­o­nen­pro­jekt star­tet?«, frag­te Smil­la schnell, be­vor je­mand noch et­was über Ma­gno­lia und die An­schlä­ge sa­gen konn­te, das Je­ra und Tes­sa wei­ter ver­ängs­ti­gen wür­de.

 

3  Die Er­in­ne­rung

End­lich, Ru­he«, sag­te Ju­li­us, drück­te be­hut­sam die Wohn­zim­mer­tür ins Schloss und kam zum So­fa her­über. Dort hat­te Smil­la es sich mit ih­rer Bett­de­cke und ei­nem Buch schon ge­müt­lich ge­macht.

»Ich muss­te Ben drei Mal die Ge­schich­te von Bo­bo Sie­ben­schlä­fer im Zoo vor­le­sen, bis er end­lich ein­ge­schla­fen ist.«

Smil­la schlug das Buch zu und leg­te es auf den Couch­tisch vor ihr. »Dann lass doch ein­fach das nächs­te Mal Je­ra die Gu­te-Nacht-Ge­schich­te vor­le­sen. Bei ihrem Le­se­tem­po schläft Ben noch auf der ers­ten Sei­te ein.«

Ju­li­us lach­te und ließ sich in die Pols­ter am an­de­ren En­de des So­fas fal­len. Wie im­mer hielt er ei­ne Arm­län­ge Ab­stand zu Smil­la. Denn seit ih­rer Ge­fan­gen­schaft bei den Ver­lo­re­nen Jungs ver­ur­sach­ten Be­rüh­run­gen und Nä­he ihr Angst, was Ju­li­us schon wahr­ge­nom­men hat­te, be­vor sie sich selbst dar­über klar ge­wor­den war.

»Wenn ich Je­ra vor­le­sen las­se, wird sie ga­ran­tiert et­was über Stich­waf­fen oder Hin­rich­tun­gen ein­bau­en«, ent­geg­ne­te Ju­li und griff nach der Me­tall­scha­tul­le, die auf der Fens­ter­bank hin­ter dem So­fa auf ihren all­abend­li­chen Ein­satz ge­war­tet hat­te.

»Ja, sie ist wohl noch et­was im Über­le­bens­mo­dus ver­haf­tet.«

»Ich kann’s ihr nicht ver­übeln. Vor al­lem jetzt, wo die von Ma­gno­lia plötz­lich ernst ma­chen.« Mit den Uten­si­li­en aus dem Me­tall­kist­chen fing er an, sich ei­nen Joint zu dre­hen.

»Du hät­test ihn se­hen sol­len, die­sen so­ge­nann­ten Frie­dens­schma­rot­zer«, mur­mel­te Smil­la und ver­such­te, sich nicht von der Er­in­ne­rung ein­neh­men zu las­sen. »Er war noch ganz jung. Kaum äl­ter als Son­ja.«

Ju­li­us kniff die dunk­len Brau­en zu­sam­men, wäh­rend er den Joint zwi­schen Zei­ge­fin­ger und Dau­men festroll­te. »Viel­leicht wä­re es bes­ser ge­we­sen, wenn du nicht hin­ge­gan­gen wärst.«

Smil­la gab ein über­for­der­tes Ge­räusch von sich, als sie an das Ge­sicht des Jun­gen dach­te. An die Angst in sei­nem Blick. Die Er­kennt­nis, dass er sei­ne letz­ten Se­kun­den auf die­ser Welt er­leb­te.

»Ich brau­che was zu trin­ken.«

Ruck­ar­tig er­hob sie sich und lief zu der Kom­mo­de, in der sie ihren Ir­gend­was auf­be­wahr­te. Sie zog die obers­te Schub­la­de auf und schob su­chend die Ker­zen und Kü­chen­tü­cher dar­in hin und her.

»Den hast du ges­tern leer ge­macht«, er­in­ner­te Ju­li sie.

Smil­la hielt in­ne und wand­te sich zu ihm um. »Im Ernst?«

Er nick­te, oh­ne sie an­zu­se­hen, wäh­rend er das obe­re En­de des Joints zu­dreh­te.

»Na toll.« Et­was zu schwung­voll drück­te Smil­la die Schub­la­de wie­der zu, und die lee­ren Va­sen auf der Kom­mo­de wa­ckel­ten ge­fähr­lich hin und her. Sie ging zu­rück zum So­fa, ließ sich in die Kis­sen sin­ken und rieb sich übers Ge­sicht.

»Du kannst mit mir rau­chen, wenn du willst«, mein­te Ju­li und ent­zün­de­te den Joint an ei­ner Ker­ze, die auf der Fens­ter­bank hin­ter ih­nen brann­te.

»Ich bin mir nicht si­cher, ob das so ei­ne gu­te Idee ist«, mur­mel­te Smil­la.

»Wahr­schein­lich nicht. Aber im Grun­de ist es auch kei­ne all­zu gu­te Idee, je­den Abend zwei bis sechs Schnäp­se zu kip­pen.« Er führ­te den qual­men­den Joint an die Lip­pen und nahm den ers­ten, tie­fen Zug, wo­bei er ei­nes sei­ner hell­grau­en Au­gen zu­kniff.

»Das hilft mir aber, über­haupt ein biss­chen zu schla­fen. Was ist wohl un­ge­sün­der? Je­de Nacht kaum ein Au­ge zu­zu­tun oder mit ein biss­chen Al­ko­hol nach­zu­hel­fen?«

»Je­den­falls nicht die­ses Teu­fels­ge­bräu von Schnaps. Du soll­test es mal ei­ne Wei­le oh­ne pro­bie­ren. Viel­leicht wür­de es dir in­zwi­schen leich­ter fal­len, ein­zu­schla­fen, jetzt, wo du dich in Brüs­sel ein­ge­lebt hast.« Ju­li­us be­trach­te­te den Joint zwi­schen sei­nen Fin­gern, als hät­te er die Idee dar­aus in­ha­liert.

»Sagst aus­ge­rech­net du«, murr­te Smil­la.

»Ich könn­te das Rau­chen von heu­te auf mor­gen sein las­sen.«

Smil­la konn­te sich ein un­gläu­bi­ges La­chen nicht ver­knei­fen. »Du könn­test je­der­zeit mit dem Kif­fen auf­hö­ren?«

»Klar«, sag­te Ju­li­us und nahm gleich noch ei­nen tie­fen Zug.

»Das will ich se­hen.«

»Kannst du. Aber nur, wenn du auf­hörst, je­den Abend zu trin­ken. Das tut dir nicht gut, Jür­gens.«

»Ich muss sa­gen, Loh­was­ser, ich füh­le mich er­presst.«

Ju­li lä­chel­te sie an, und Grüb­chen bil­de­ten sich in sei­nen Wan­gen. Er war sehr hübsch, wenn er lä­chel­te. Er war über­haupt sehr hübsch, aber wenn er lä­chel­te, be­son­ders.

In Smil­las Bauch wur­de es warm. So­gar ganz oh­ne abend­li­chen Ir­gend­was.

»Du bräuch­test na­tür­lich ei­ne Al­ter­na­ti­ve«, fuhr er erns­ter fort. »Ir­gend­et­was, das du tun kannst, wenn du ei­gent­lich trin­ken willst.« Er sah den Rauch­krin­geln sei­ner Zi­ga­ret­te da­bei zu, wie sie zur De­cke auf­stie­gen. »Be­stimm­te For­men der kör­per­li­chen Be­tä­ti­gung, zum Bei­spiel.«

Smil­la muss­te la­chen. »Be­stimm­te For­men der kör­per­li­chen Be­tä­ti­gung«, wie­der­hol­te sie. »Da­mit meinst du jetzt aber nicht Sex, oder?«

Ju­li­us glucks­te. »Klang ein biss­chen so, oder?«

»Ja, schon.«

Sie lach­ten.

»Nein, ich mein­te tat­säch­lich Jog­gen oder Yo­ga«, sag­te Ju­li­us schließ­lich. »Wo­bei Sex ver­mut­lich auch nicht ver­kehrt wä­re.« Er nahm noch ei­nen Zug von sei­nem Joint.

Smil­la beo­b­ach­te­te ihn da­bei, wie er den Rauch lang­sam aus sei­nem leicht ge­öff­ne­ten Mund si­ckern ließ. Kurz er­in­ner­te sie sich mit al­len Sin­nen an das Ge­fühl sei­ner Lip­pen auf ihren. Sie wuss­te noch, dass es ihr ge­fal­len hat­te. Die Wär­me in ihrem Bauch ver­wan­del­te sich in Hit­ze und dräng­te die tau­be Käl­te, die sie seit der Hin­rich­tung in sich trug, ein Stück weit zu­rück.

»Ich hat­te noch nie Sex«, sag­te Smil­la, be­vor ih­re Ge­dan­ken wie­der in düs­te­re Ge­fil­de ab­drif­ten konn­ten.

Ju­lis Brau­en senk­ten sich. »Echt, noch nie?«

Smil­la zuck­te die Schul­tern.

»Wie kommt’s? Ist das so ei­ne Ein­stel­lungs­sa­che, kein Sex vor der Ehe?«

Smil­la ver­kniff sich ein La­chen. »Nein. Es hat sich bloß nie er­ge­ben. Und als die Pla­ge aus­brach, kam es erst mal so­wie­so nicht mehr in Fra­ge.«

»Du warst sieb­zehn, als die Pla­ge aus­ge­bro­chen ist, oder?«, frag­te er.

»Ge­nau.«

Mit ei­ner be­hut­sa­men Be­we­gung asch­te Ju­li auf die ver­schmutz­te Un­ter­tas­se vor ihm. »Und jetzt? Wür­dest du über­haupt noch wol­len? Ich mei­ne, we­gen dei­ner Angst vor Be­rüh­run­gen.«

So­fort schlug das düs­te­re Ge­fühl, dem Smil­la mit die­sem Ge­spräch hat­te aus­wei­chen wol­len, zu. Es war, als lau­er­ten die schlech­ten Er­in­ne­run­gen über­all.

»War­um in­ter­es­siert dich das? Fragst du für ei­nen Freund?«, neck­te Smil­la und stieß Ju­li­us mit dem El­len­bo­gen an. Aber das düs­te­re Ge­fühl in ihr blieb.

Ju­li­us rieb sich in ei­ner ver­le­ge­nen Ges­te über den Hin­ter­kopf. »Sor­ry, du hast recht, das war wohl ein biss­chen zu per­sön­lich. Es hat mich ein­fach in­ter­es­siert, was so in dir vor­geht.«

»Nein, schon gut«, sag­te Smil­la schnell. »Ich kann mir schon vor­stel­len, dass es ir­gend­wann mal da­zu kommt. Aber es müss­te mit je­man­dem sein, mit dem ich mich ab­so­lut si­cher füh­le. Je­mand, dem ich zu hun­dert Pro­zent ver­traue.«

Ju­li­us nick­te lang­sam und nahm ei­nen wei­te­ren Zug von sei­nem Joint. »Ja, Ver­trau­en ist wich­tig. Be­son­ders in die­sen Zei­ten«, mur­mel­te er.

Es wur­de still zwi­schen ih­nen. Be­drü­ckend still. Wenn sie doch nur ein Glas Ir­gend­was in der Hand ge­habt hät­te… »Ist es denn…«, setz­te Ju­li un­si­cher an. »Wie ist es denn für dich, mit mir zu­sam­men­zu­woh­nen? Be­kommst du manch­mal noch Angst, wenn ich dir aus Ver­se­hen zu na­he kom­me?«

Smil­la spür­te ein Lä­cheln auf ihren Lip­pen. Sie schüt­tel­te den Kopf. »Ich hab kei­ne Angst vor dir. Schon lan­ge nicht mehr.«

»Aber was hat sich ver­än­dert?«, frag­te er und sah ihr in die Au­gen. »Am An­fang hat­test du doch auch Angst vor mir.«

»Ich hat­te nicht so sehr Angst vor dir«, stell­te Smil­la rich­tig. »Was mir Angst macht, ist das Ge­fühl, kei­ne Kon­trol­le zu ha­ben. Und da ich dich nicht kann­te und au­ßer­dem ge­glaubt ha­be, dass du zu ei­ner durch­ge­knall­ten Sek­te ge­hörst, hat­te ich Angst vor dei­ner Nä­he.«

»Hm«, mach­te Ju­li nur.

Kurz­ent­schlos­sen rück­te Smil­la zu ihm auf, nahm sei­ne freie Hand und plat­zier­te sie über ihrem Her­zen. »Siehst du?«, sag­te sie. »Ich ha­be kei­ne Angst vor dir. Es ist al­les gut.«

Ju­li schau­te auf sei­ne Hand, die auf ihrem Kör­per ruh­te, dann in Smil­las Ge­sicht. Sei­ne Pu­pil­len eil­ten zwi­schen ihren hin und her, als such­ten sie nach ei­ner Er­klä­rung.

Smil­la spür­te die Wär­me sei­ner Be­rüh­rung durch den Stoff ihres Schlaf­an­zu­go­ber­teils. Es war ein gu­tes Ge­fühl.

»Dein Herz rast«, mur­mel­te Ju­li­us. »Si­cher, dass du kei­ne Angst hast?«

Smil­la nick­te. »Ganz si­cher.«

Et­was in Ju­lis Mie­ne wan­del­te sich, wur­de wei­cher. Noch im­mer sah er ihr in die Au­gen. Noch im­mer lag sei­ne Hand auf ih­rer Brust.

Ju­lis Dau­men be­weg­te sich leicht, strich über das Mut­ter­mal an ihrem Schlüs­sel­bein.

Mit ei­nem Mal war es, als trom­mel­ten über­all in Smil­las Kör­per un­zäh­li­ge Her­zen, und sie woll­te, dass er noch nä­her kam.

Doch da zog Ju­li die Hand zu­rück und rück­te von ihr ab.

Smil­las Herz­schlag ver­lang­sam­te sich ent­täuscht.

»Smil­la, ich…«, setz­te Ju­li­us an.

»Was denn?«

Ju­li­us seufz­te schwer, schaff­te es kaum, sie an­zu­se­hen. Fast so, als schäm­te er sich.

Und da be­griff Smil­la. »Es ist we­gen La­ris­sa, oder?«

Ju­li­us hat­te Bens Mut­ter gleich nach sei­ner An­kunft beim Amt für Wie­der­ver­ei­ni­gung als ver­misst ge­mel­det. Ob­wohl sie ihn kurz nach Bens Ge­burt ver­las­sen hat­te, war er so vol­ler Hoff­nung ge­we­sen, sie hier wie­der­zu­tref­fen. Oder zu­min­dest zu er­fah­ren, dass sie noch leb­te und es ihr gut ging. Aber die er­sehn­te Rü­ck­mel­dung vom Amt war aus­ge­blie­ben. Mehr als ein­mal hat­te er Smil­la sein Herz des­we­gen aus­ge­schüt­tet. Wie hat­te sie so ein­fäl­tig sein kön­nen, zu glau­ben –

»Nein, mit La­ris­sa hat das nichts zu tun«, un­ter­brach Ju­li­us ih­re ra­pi­de ab­wärts krei­sen­den Ge­dan­ken.

Smil­la wä­re er­leich­tert ge­we­sen, hät­te er nicht so ge­quält ge­klun­gen.

»Aber ich…« In ei­ner ent­kräf­te­ten Be­we­gung sah er zu Bo­den. »Ich muss dir was sa­gen.«

 

4  Die Ver­miss­te

In Se­kun­den­schnel­le spiel­te Smil­la durch, wel­che Hi­obs­bot­schaft sich da ge­ra­de über ihr zu­sam­men­brau­en moch­te:

Ju­li­us hat­te je­man­den in Brüs­sel ken­nen­ge­lernt und wür­de ge­mein­sam mit Ben aus­zie­hen.

Nein, die bei­den wür­den Brüs­sel ganz ver­las­sen.

Oder er war im­mer noch ei­ner von Evas Spi­o­nen und hat­te sie die gan­ze Zeit über nur aus­hor­chen sol­len.

Ju­li hol­te tief Luft und strich sich die dunk­len Lo­cken aus der Stirn, die so­fort wie­der dort­hin zu­rück­spran­gen. »Ich hät­te schon viel frü­her was sa­gen sol­len, aber…«

Er sah über­all hin – auf sei­ne Hän­de, auf den Rest des Joints, aus dem Fens­ter –, nur nicht zu Smil­la.

»Fuck«, brach­te er nach ei­ni­gen quä­len­den Se­kun­den bloß her­vor.

Angst leg­te sich über Smil­las Herz und drück­te auf ih­re Lun­gen. Ir­gend­et­was war aus dem Ru­der ge­lau­fen und stimm­te nicht mehr. Sie ver­stand nur noch nicht, was.

»Was ist denn los? Du machst mir lang­sam doch Angst.«

Aber an­statt ihr zu ant­wor­ten, sprang Ju­li auf und ver­schwand in den dunk­len Flur.

Smil­la be­nö­tig­te ei­nen Mo­ment, um zu schal­ten. Dann eil­te sie ihm hin­ter­her. Sie sah ihn in das klei­ne Schlaf­zim­mer am En­de des Flu­res ver­schwin­den, in dem sie ab­wech­selnd über­nach­te­ten.

»Ju­li, sag mir end­lich, was los ist«, wis­per­te sie, als sie das Schlaf­zim­mer er­reich­te.

Er stand auf der an­de­ren Sei­te des Bet­tes und kram­te in ei­ner Kis­te mit Do­ku­men­ten.

»Hier«, sag­te er und hielt ihr über das Bett hin­weg ei­nen ge­öff­ne­ten Brief­um­schlag hin.

»Was ist das?«, frag­te Smil­la und schnapp­te den Brief aus sei­ner Hand. Sie dreh­te ihn so, dass sie den in fet­ten, schwar­zen Buch­sta­ben ge­druck­ten Ab­sen­der le­sen konn­te.

Amt für Wie­der­ver­ei­ni­gung.

Ver­wirrt hob sie den Blick und sah Ju­li an, der re­gungs­los auf der an­de­ren Sei­te des en­gen Rau­mes stand und sie mit mah­len­den Kie­fern beo­b­ach­te­te. »Der kam vor zwei Wo­chen an. Es stand kein Emp­fän­ger drauf, nur un­se­re Woh­nungs­num­mer, da ha­be ich ihn auf­ge­macht.«

Ein Feu­er aus Schock lo­der­te durch Smil­las Kör­per, als sie be­griff. Je­mand hat­te sich auf ei­ne ih­rer Ver­miss­ten­an­zei­gen ge­mel­det.

Mit fah­ri­gen Be­we­gun­gen zog sie den Brief aus dem Um­schlag. »Wer ist es?«, frag­te sie atem­los. »Ist es Pa­pa? Ist Pa­pa hier in Brüs­sel?«

War­um hat­te Ju­li ihr die­sen Brief nicht so­fort ge­ge­ben? Kaum hat­te sie die­se Fra­ge zu En­de ge­dacht, fiel ihr auch schon die gna­den­lo­se Ant­wort ein. Weil es kei­ne gu­ten Neu­ig­kei­ten wa­ren.

Mit fah­ri­gen Be­we­gun­gen fal­te­te sie das wi­der­spens­ti­ge Blatt Pa­pier auf. »Ich kann das nicht le­sen«, hauch­te Smil­la, als ihr Blick end­lich auf die klein­ge­druck­ten Zei­len auf der Vor­der­sei­te des Brie­fes fiel. Sie wir­bel­te her­um und eil­te zu­rück ins Wohn­zim­mer. Im Licht der Ker­zen hob sie den Zet­tel vor ih­re Au­gen.

Lie­be Frau Jür­gens, stand da auf Eng­lisch.

Un­ge­dul­dig has­te­ten ih­re Pu­pil­len über die Wör­ter, wäh­rend sie nach ei­nem Na­men such­te, den sie kann­te, nach ei­nem Wort, das ihr ver­si­cher­te, dass al­les gut war.

Sie wur­den beim Amt für Wie­der­ver­ei­ni­gung als ver­misst ge­mel­det.

»Was?«, stieß sie un­gläu­big aus. »Ich wur­de… Von wem?«

Am Ran­de nahm sie wahr, dass Ju­li­us im Tür­rah­men auf­tauch­te. »Es tut mir leid, Smil­la. Ich weiß, ich hät­te es dir so­fort sa­gen sol­len«, hör­te sie ihn flüs­tern.

 

Ver­miss­ten­mel­dung,

auf­ge­ge­ben am: 02. Mai, 4 n. P.

Durch: Posch, Falk Lenn­art

 

Ein lo­dern­der Schock peitsch­te Smil­las Herz, und es setz­te für ei­nen Schlag aus.

Nein. Das konn­te nicht sein. Falk war tot.

Noch ein­mal las sie den Na­men. Aber die Buch­sta­ben blie­ben die­sel­ben. Posch, Falk Lenn­art.

Aber Na­d­ja hat­te sei­nen Tod doch be­stä­tigt. Und Smil­la wuss­te selbst nur zu gut, wie gna­den­los die Ver­lo­re­nen Jungs mit Ver­rä­tern um­gin­gen. Ge­nau das war am En­de aus Falk ge­wor­den: Ein Ver­rä­ter der übels­ten Sor­te.

Den­noch stand es da, schwarz auf weiß. Falk leb­te.

Als der ers­te Schock ab­klang, ließ Smil­la den nächs­ten, schwer be­greif­li­chen Ge­dan­ken zu: Er war hier. In Brüs­sel. Und er such­te nach ihr.

Der Raum um sie her­um be­gann sich zu dre­hen und floh in wei­te Fer­ne. Bis nur noch Smil­la üb­rig war, den Brief in den Hän­den, kei­nen Bo­den mehr un­ter den Fü­ßen.

Soll­ten Sie kei­ne Wie­der­ver­ei­ni­gung wün­schen, müs­sen Sie nichts wei­ter tun.

Ihr Herz don­ner­te in ihren Oh­ren, als woll­te es den ver­ges­se­nen Schlag wie­der wett­ma­chen. Mit je­dem Atem­zug wur­de es schwe­rer, Luft zu be­kom­men.

Falls Sie sich durch die An­we­sen­heit die­ser Per­son in Brüs­sel be­droht füh­len, mel­den Sie sich schrift­lich bei…

Smil­las Au­gen eil­ten wei­ter zur nächs­ten Zei­le.

Wün­schen Sie ei­ne Wie­der­ver­ei­ni­gung, kom­men Sie bit­te zu ei­ner per­sön­li­chen Vor­spra­che ins Amt für Wie­der­ver­ei­ni­gung,…

Zit­ternd ließ Smil­la den Brief sin­ken und sah zu Ju­li­us. Er blick­te drein, als hät­te ihn je­mand ge­ohr­feigt. Und – oh, wie ger­ne sie ge­nau das in die­sem Mo­ment ge­tan hät­te.

»War­um zeigst du mir das erst jetzt?«, frag­te sie lang­sam. So lang­sam, dass es wie ei­ne Dro­hung klang.

Ju­li­us trat ins Zim­mer und zog die Tür hin­ter sich zu. »Der kam an dem Tag an, als der Un­fall in der Kleider­fa­brik pas­siert ist. Du warst so auf­ge­wühlt, ich woll­te nicht –«

»Du ent­schei­dest nicht, wann ich zu auf­ge­wühlt bin, um das hier zu le­sen«, un­ter­brach sie ihn auf­ge­bracht. »Und au­ßer­dem ist das zwei Wo­chen her. Zwei Wo­chen!«

Ju­li­us sah zu Bo­den und nick­te.

»Ich ver­steh das nicht«, sag­te Smil­la. Hin­ter ih­rer Stirn spran­gen die Ge­dan­ken hin und her und buhl­ten dar­um, als Ers­tes ge­dacht zu wer­den.

Falk leb­te. Er war hier und such­te nach ihr.

Na­d­ja. Wuss­te sie davon?

Und was fiel Ju­li ein, die­sen Brief vor ihr zu ver­ste­cken? Ge­ra­de hat­te sie ihm ver­si­chert, ihm voll und ganz zu ver­trau­en. Jetzt schien er ihr mit ei­nem Mal fremd.

»Ich ver­steh’s ein­fach nicht«, mur­mel­te sie, schwä­cher dies­mal. Mit un­si­che­ren Schrit­ten be­gab sie sich zum So­fa und ließ sich dar­auf sin­ken. Noch ein­mal und noch ein­mal las sie den Na­men.

Posch, Falk Lenn­art.

»Es könn­te sein, dass es nicht wirk­lich Falk ist«, drang Ju­li­us’ Stim­me aus ei­ner weit ent­fern­ten Welt zu ihr. »Es könn­te ei­ner der an­de­ren Ver­lo­re­nen Jungs sein, der es auf dich ab­ge­se­hen hat. Oder viel­leicht so­gar ei­nes von Evas Kin­dern. Wenn Eva noch lebt, sinnt sie mit Si­cher­heit auf Ra­che, weil wir uns ein­fach davon­ge­macht ha­ben.«

Nur mit Mü­he konn­te Smil­la ih­re Au­gen von den Buch­sta­ben lö­sen. Doch als ihr Blick Ju­li­us fand, lo­der­te so­fort Wut in ihr auf und noch et­was an­de­res, das sie nicht be­nen­nen konn­te. Aber im Ge­gen­satz zu der Wut, die ihr Kraft gab, schmer­z­te die­se un­be­nann­te Emp­fin­dung und mach­te sie schwä­cher.

»Aber war­um in al­ler Welt hast du mir die­sen Brief dann nicht so­fort ge­ge­ben?« Smil­las Wan­gen brann­ten, doch gleich­zei­tig fror sie. In ihr war al­les in Un­ord­nung.

»Weil Falk zu die­sen Men­schen­händ­lern ge­hört«, gab Ju­li­us mit tie­fer, lei­ser Stim­me zu. »Ich woll­te nicht, dass so ein Typ in mein und Bens Le­ben tritt.«

»Al­so, ers­tens ist es nicht nur dein und Bens Le­ben, um das es hier geht, son­dern auch mei­nes. Und zwei­tens gibt dir das noch lan­ge nicht das Recht, mich auf die­se Wei­se zu be­vor­mun­den, und drit­tens«, sie hielt den Brief wie ei­ne Waf­fe hoch, »hat Falk sich ge­gen sei­ne Grup­pe ge­stellt, um mir den Hals zu ret­ten. Wenn er wirk­lich noch lebt, ge­hört er ganz si­cher nicht mehr zu de­nen.«

Ju­li­us sag­te nichts, son­dern sah sie nur von der an­de­ren Sei­te des Rau­mes her an.

»Ich ha­be ge­glaubt, er sei tot, Ju­li­us. Ich dach­te, sei­ne Leu­te hät­ten ihn er­mor­det, als Stra­fe da­für, dass er mir zur Flucht ver­hol­fen hat. Das wuss­test du. Du wuss­test, dass mich das Ge­fühl, dar­an schuld zu sein, je­den Tag und je­de Nacht ver­folgt. Und du be­schließt trotz­dem, mir das hier vor­zu­ent­hal­ten?«

Ju­li­us’ Kie­fer mahl­ten. »Es tut mir leid, Smil­la«, sag­te er dumpf.

»Das glau­be ich dir jetzt ir­gend­wie nicht.«

Smil­la ließ den Brief aufs So­fa glei­ten und be­deck­te ihr Ge­sicht mit den Hän­den. Ihr war nach Wei­nen zu­mu­te. Doch selbst da­für war sie zu durch­ein­an­der.

»Aus wel­chem Grund sonst hät­te ich dir den Brief denn jetzt noch ge­ben sol­len?«, frag­te Ju­li­us.

»Um dei­nen Arsch zu ret­ten, be­vor ich es auf an­de­re Wei­se er­fah­re.«

Sie ließ die Hän­de wie­der sin­ken und sah sich Hil­fe su­chend im Raum um. Doch da war nur Ju­li­us.

Mit ei­nem Mal sehn­te sie sich nach nichts mehr als nach Ir­gend­was. Nach ein, zwei Schnäp­sen wür­de ihr Herz si­cher auf­hö­ren, vor Auf­re­gung zu stol­pern, und ih­re Ge­dan­ken wür­den sich nicht mehr über­schla­gen.

»Ich weiß, dass ich Schei­ße ge­baut ha­be, Smil­la«, sag­te Ju­li­us lei­se. »Es tut mir wirk­lich – was machst du da?«

Smil­la war auf­ge­stan­den und stürm­te an ihm vor­bei in den Flur.

»Ich muss an die fri­sche Luft«, ant­wor­te­te sie und griff nach ihren aus­ge­lau­fe­nen Chucks.

»Du willst jetzt ein­fach ge­hen?«

Wahl­los nahm sie ei­ne der Ja­cken von der Gar­de­ro­be und warf sie sich über. »Ich will nicht, aber bei dir sein, will ich noch viel we­ni­ger«, zisch­te sie und häng­te sich die schil­lern­de Hand­ta­sche um, in der sie ih­re Aus­weis­do­ku­men­te und Wert­mar­ken trans­por­tier­te.

Ju­li­us rang um Wor­te.

»War­te nicht auf mich«, kam Smil­la ihm zu­vor. Dann zog sie die Tür auf, husch­te in den Haus­flur und eil­te die Trep­pe hin­un­ter, be­vor Ju­li­us et­was sa­gen konn­te, das noch mehr ka­putt­ma­chen wür­de.

5  Die Be­frei­te

Die Luft drau­ßen war kühl und klar, und Smil­la be­kam in ihrem dün­nen Schlaf­an­zug so­fort ei­ne Gän­se­haut. Sie zog die Ja­cke en­ger um ihren Ober­kör­per. Erst jetzt er­kann­te sie, dass es Ju­lis be­scheu­er­te College­ja­cke war, die sie von der Gar­de­ro­be ge­schnappt hat­te. Aber die muss­te jetzt ge­nü­gen. Sie woll­te oh­ne­hin nur schnell zur Kel­ler­spe­lun­ke lau­fen und sich ei­ne neue Fla­sche Ir­gend­was be­sor­gen.

Sie eil­te los. Ir­gend­wann ein­mal, vor der Pla­ge, wa­ren die Stra­ßen vol­ler Au­tos ge­we­sen. Bun­te, schwe­re Au­tos mit dröh­nen­den Mo­to­ren und blin­ken­den Lich­tern. Es war schwer, sich das vor­zu­stel­len, denn Amar hat­te al­le be­wohn­ten Vier­tel von den Au­to­lei­chen be­frei­en las­sen. Ir­gend­wer hat­te Smil­la ein­mal er­klärt, dass sie aus der Blech­ver­klei­dung der Au­tos die Wind­tur­bi­nen her­stell­ten, die sich schep­pernd auf den Häu­ser­dä­chern dreh­ten und Strom er­zeug­ten. Aber sie wuss­te nicht mehr, von wem sie das hat­te.

Smil­la lief schnel­ler, vom ei­nen La­ter­nen­licht ins nächs­te. Der Strom, für den Amar in Brüs­sel ge­sorgt hat­te, reich­te zwar nicht, um da­mit die gan­ze Stadt zu ver­sor­gen. Aber die In­dus­trie­ge­bie­te, die Stadt­ver­wal­tung und das Kran­ken­haus hat­ten im­mer Strom, und seit Neu­es­tem wur­den auch ei­ni­ge Stra­ßen­la­ter­nen end­lich mit der spär­lich vor­han­de­nen Ener­gie von Wind, Son­ne und Was­ser ver­sorgt. Seit­dem war die Kri­mi­na­li­täts­ra­te um fast die Hälf­te ge­sun­ken. Bald soll­te ein neu­es So­lar­feld au­ße­r­halb der Stadt­gren­zen in Be­trieb ge­nom­men wer­den, und dann, so hat­te Amar zur Win­ter­son­nen­wen­de an­ge­kün­digt, wür­den sie auch die ers­ten Haus­hal­te für ei­ni­ge Stun­den am Tag mit Strom be­die­nen kön­nen.

Be­bend sog Smil­la die küh­le Nacht­luft ein. Sie muss­te sich schnell wie­der be­ru­hi­gen. Sie durf­te nicht auf­ge­bracht sein. Wenn Je­ra sie so sah, wür­de sie sich sor­gen. Und Smil­la hat­te sich ge­schwo­ren, Je­ra kei­nen Grund zur Sor­ge mehr zu ge­ben.

So hat­te es über­haupt erst an­ge­fan­gen, mit dem teuf­li­schen Schnaps. Nach ei­ner Pa­nik­at­ta­cke, die sie in ihren ers­ten Wo­chen hier in Brüs­sel er­eilt hat­te, hat­te Smil­la nach et­was ge­sucht, das ihr hel­fen wür­de, wie­der her­un­ter­zu­kom­men, be­vor Je­ra aus der Schu­le kom­men und sie völ­lig auf­ge­löst se­hen wür­de. Und der Ir­gend­was hat­te sei­ne Auf­ga­be er­füllt.

Smil­la bog in die nächs­te Sei­ten­stra­ße ab, in der sich ei­ne der vie­len Knei­pen Brüs­sels be­fand. An Al­ko­hol, dem Be­täu­bungs­mit­tel Hap­pi­ness, Ma­ri­hu­a­na und sons­ti­gen Dro­gen man­gel­te es in der Stadt nie. Kaum je­mand hielt es in die­ser Oa­se des Frie­dens und der Frei­heit aus, oh­ne sich hin und wie­der zu be­täu­ben. Manch­mal glaub­te Smil­la, dass die Men­schen in der Welt nach der Pla­ge nicht mehr wahr­haf­tig glü­ck­lich sein konn­ten. Viel­leicht hat­te das Vi­rus statt ih­rer Atem­we­ge die Fä­hig­keit, glü­ck­lich zu sein, zer­fres­sen.

Zwei Gar­dis­ten stan­den vor der Knei­pe. Der ei­ne lehn­te an der Haus­wand und rauch­te. Der an­de­re führ­te ihm mit ei­ner lee­ren, ver­ros­te­ten Kon­ser­ven­do­se Fuß­ball­tricks vor.

Falk, schoss es ihr durch den Kopf.

Smil­la kniff die Au­gen zu­sam­men und schau­te dem Gar­dis­ten ins Ge­sicht. Schräg ste­hen­de, dunk­le Au­gen und ei­ne brei­te, fla­che Na­se. Kein dich­ter Bart, kei­ne un­zäh­li­gen Nar­ben. Ein­deu­tig nicht Falk.

Sie rich­te­te den Blick auf den Bo­den und ging an den zwei­en vor­bei auf die Trep­pe zu, die hin­ab in die Knei­pe führ­te.

Der Ge­ruch von un­ge­wa­sche­nen Men­schen, hoch­pro­zen­ti­gem Al­ko­hol und ver­brann­ten Kräu­tern nahm sie in Emp­fang. An ei­nem frei­en Platz trat sie an die The­ke und lehn­te sich über den Tre­sen.

»Smil­la!«, sag­te Hen­ni, der Wirt, als er sie er­kann­te, und warf sich das schmud­de­li­ge Hand­tuch, mit dem er ge­ra­de Whis­key­glä­ser ab­ge­trock­net hat­te, über die Schul­ter. »Na, hält dich der Durst wach?«

»So in et­wa. Hast du ei­ne Fla­sche Ir­gend­was für mich? Muss auch kei­ne vol­le sein«, rief sie ihm über die Stim­men der Gäs­te hin­weg zu.

»Klar doch.«

Er griff un­ter die The­ke und hol­te ei­ne an­ge­bro­che­ne Fla­sche mit kla­rer Flüs­sig­keit dar­in her­vor. »Acht Wert­mar­ken.«

Smil­la, die die Hand schon nach der Fla­sche aus­ge­streckt hat­te, sah er­staunt auf. »Acht? Die letz­te hast du mir für fünf ge­ge­ben.«

»Und heu­te siehst du aus, als wür­dest du da­für auch acht hin­blät­tern«, ent­geg­ne­te Hen­ni und zog die bu­schi­gen Au­gen­brau­en hoch.

»Bin ich Krö­sus?«, be­schwer­te Smil­la sich und kram­te in ih­rer Hand­ta­sche nach den Wert­mar­ken.

»Zu­min­dest ha­be ich dich und Krö­sus noch nicht im sel­ben Raum ge­se­hen«, gab Hen­ni mit ei­nem Schul­ter­zu­cken zu­rück.

Er streck­te die Hand aus, und Smil­la ließ die gräu­li­chen Pa­pier­schnip­sel mit dem Druck­stem­pel der Neu­brüs­se­ler Bank hin­ein­rie­seln. Dann nahm sie die Fla­sche vom Tre­sen und wand­te sich ab.

»Gern ge­sche­hen«, rief Hen­ni ihr hin­ter­her.

»Op­por­tu­nist«, mur­mel­te Smil­la, oh­ne sich noch ein­mal um­zu­dre­hen.

Auf der Trep­pe nach drau­ßen schraub­te sie den Ver­schluss auf und nahm ei­nen tie­fen Schluck des Ge­bräus, das von so ge­rin­ger Qua­li­tät war, dass man sich nicht ein­mal ei­nen ver­nünf­ti­gen Na­men da­für aus­ge­dacht hat­te.

»Hey, Mäd­chen«, rief ei­ner der Gar­dis­ten, als sie oben auf dem Bür­ger­steig an­kam.

Smil­la hielt in­ne.

»War­um bist du im Schlaf­an­zug? Al­les gut bei dir?«, frag­te der, der eben noch ge­raucht hat­te, und stieß sich von der Wand ab. In­stink­tiv mach­te Smil­la ei­nen Schritt rück­wärts, weg von den bei­den.

»Ja, al­les gut«, ant­wor­te­te sie.

Die bei­den mus­ter­ten sie prü­fend, und Smil­la merk­te, wie die Angst von in­nen an ihr zu krat­zen be­gann.

»Gibst du uns was davon ab?«, frag­te der mit der Kon­ser­ven­do­se un­ter dem schwe­ren Stie­fel. »Wir ha­ben noch drei Stun­den Dienst vor uns. Könn­ten ei­nen Stim­mungs­he­ber ver­tra­gen.«

Smil­la ließ ihren Blick zwi­schen den bei­den hin und her glei­ten. Mit der Gar­de, Amars ver­län­ger­tem Arm, ver­scherz­te man es sich bes­ser nicht, das wuss­te je­der in Brüs­sel. Vor al­lem die Gar­dis­ten selbst.