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"Wer weiß davon? Es ist unmöglich, dass alle von nichts wissen.” In Brüssel wird jedem Überlebenden der Plage eine zweite Chance versprochen. Doch Smilla findet sich stattdessen in einem Abgrund wieder: Was hat es mit der hohen Todeszahl der Neubrüssler auf sich? Und warum terrorisiert die Untergrundorganisation Magnolia die Bevölkerung? Plötzlich gerät Smilla selbst zwischen die Fronten: Es gibt Verbindungen zwischen ihr und Magnolia. Verbindungen, die bis in ihre Zeit vor Brüssel zurückreichen. Um Magnolia zu stoppen, muss Smilla sich ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen. Und jemanden verraten, den sie liebt …. Das grandiose Finale der Wir-Verlorenen-Trilogie – erschütternd, gefühlvoll und hochaktuell.
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Zum Buch:
Der dritte Band der Trilogie.
In Brüssel existiert nach der Katastrophe eine scheinbar heile Welt. Doch Smilla findet sich stattdessen in einem Abgrund wieder: Weshalb nimmt sich jeder Zehnte das Leben? Und warum sorgt der Magnolia-Orden für Terror und Angst unter der Bevölkerung?
Plötzlich gerät Smilla selbst zwischen die Fronten: Es gibt Verbindungen zwischen ihr und Magnolia. Verbindungen, die bis in ihre schmerzhafte Vergangenheit zurückreichen. Um einen Krieg zu verhindern, ist Smilla gezwungen, jemanden zu verraten, den sie liebt. Aber: Rechtfertigt das Überleben vieler die Tötung eines Einzelnen?
Zur Autorin:
Jana Taysen wurde 1992 in Hagen geboren und lebt mit Freund und Hund im abenteuerlichen Köln. Dort arbeitet sie in einem Marktforschungsinstitut. Zuvor studierte sie English Studies und Medienwissenschaften im Bachelor und Markt- und Medienforschung im Master.
Inhaltswarnung:
Dieses Buch enthält explizite Darstellungen von Gewalt, suizidalem Gedankengut, Suizid, Tod von Angehörigen sowie Alkohol- und Drogenkonsum. Wenn diese Themen für euch emotional stark aufgeladen sind, könnte dieses Buch für euch belastend sein. Bitte entscheidet selbst, wie ihr damit umgeht.
Seit eine Pandemie die Menschheit beinahe gänzlich ausgerottet hat, müssen sich die wenigen Überlebenden jeden Tag aufs Neue gegen Hunger, Krankheit und die Hartherzigkeit ihrer Mitmenschen beweisen.
Zwei dieser Überlebenden sind Smilla und ihre kleine Schwester Jera. Zwischen plündernden Banden, Menschenhändlern und Sekten haben sie in den Wäldern der Eifel bei der Familie Schmieder Zuflucht gefunden.
Dann begegnet Smilla Falk. Falk, den sie von früher kennt, als die Welt noch in Ordnung war. Obwohl sie damit die Regeln ihrer Gruppe bricht, fängt Smilla an, sich heimlich mit Falk zu treffen, und in Smilla keimt die Hoffnung auf eine bessere, glücklichere Zukunft.
Aber dann wird Smilla überfallen und verschleppt – in das Quartier der Verlorenen Jungs, einer Bande von Räubern und Menschenhändlern. Und ausgerechnet Falk ist der Anführer dieser Bande.
Um einen schwelenden Konflikt zu schlichten, soll Smilla einer berüchtigten Sekte übergeben werden. Doch genau dieser Konflikt ist es, der unter den Verlorenen Jungs Zwietracht sät. Einige Gruppenmitglieder wollen mehr Macht und Wohlstand und fühlen sich von Falk daran gehindert. Ein weiterer Grund ist das neue Gruppenmitglied Nadja, die erste und einzige Frau unter den Verlorenen Jungs, die ebenfalls als ein Zeichen von Falks zunehmender Verweichlichung angesehen wird.
Falk versichert Smilla, dass ihre Gefangennahme nicht von ihm geplant war, und verspricht ihr, sich einen Fluchtplan für sie auszudenken.
Doch der Plan misslingt. Smillas Fluchtversuch fliegt auf, und es kommt zum Kampf. Entkommen kann Smilla nur, weil Falk sich seinen eigenen Männern entgegenstellt.
Nadja schließt sich Smilla auf ihrer Flucht an, aus Angst, selbst der Sekte übergeben zu werden.
Zurück in ihrem Quartier muss Smilla feststellen, dass ihre Gruppe sich ohne Smilla auf den Weg nach Brüssel gemacht hat, wo es eine große, zivilisierte Gemeinschaft geben soll. Gemeinsam brechen Nadja und Smilla auf, um ihrer Gruppe zu folgen.
Auf ihrer Reise treffen sie unerwartet auf Giorgio, ein ehemaliges Mitglied der Verlorenen Jungs, der auch von der Familie Schmieder aufgenommen wurde. Er berichtet ihnen, dass Smillas kleine Schwester Jera sich heimlich von der Gruppe getrennt hat, um nach Smilla zu suchen.
Um Jera zu retten, müssen Smilla, Nadja und Giorgio zurück in die Eifel. Dort erfahren sie, dass Falk allem Anschein nach tot ist und Jera in die Fänge der Sekte geraten ist.
Sie machen das Quartier der Sekte ausfindig und werden dort von der Anführerin Eva aufgenommen. Es stellt sich heraus, dass Evas Gruppe nur mit dem Sektenmythos spielt, um andere Gruppen einzuschüchtern. In Wirklichkeit besteht Evas Gruppe aus den Schwächsten aller Überlebenden: Waisenkinder, Alte und Kranke. Sie hat Jera aufgenommen und bietet nun auch Smilla, Giorgio und Nadja an, zu bleiben.
Doch schon nach kurzer Zeit wird klar, dass Eva eine dunkle Seite in sich trägt: Wer sich ihr nicht unterordnet und sich nicht bedingungslos für die Gruppe aufopfert, wird hart bestraft. Dennoch beschließen sie zu bleiben, da sich Jera bereits in die Gruppe integriert hat. Auch Smilla hat schon Bande geknüpft. Sie fühlt sich besonders dem alleinerziehenden jungen Vater Julius verbunden.
Doch dann taucht der halbverhungerte Leon in Evas Gebiet auf. Er hat sich von den Verlorenen Jungs getrennt und besitzt allein kaum eine Überlebenschance. Smilla hat Mitleid und schmuggelt für ihn Proviant aus der Vorratskammer. Dabei wird sie von Eva erwischt. Smilla wird bestraft und Leon gefangen genommen.
Unter Folter berichtet Leon, dass die Verlorenen Jungs möglicherweise einen Angriff auf Evas Hof planen. Eva beschließt, ihnen zuvorzukommen: Ihre Kinder, wie sie ihre Gruppenmitglieder nennt, sollen einen Überraschungsangriff starten.
Smilla weiß, dass es in diesem Kampf nur Verlierer geben kann. Und ihre kleine Schwester soll als Erste dabei geopfert werden. In der Nacht vor dem Angriff beschließen Smilla, Jera, Nadja und Giorgio, von Evas Hof zu fliehen. Julius, dessen Sohn Ben und Jeras Freundin Tessa schließen sich ihnen an, und wie durch ein Wunder gelingt die Flucht.
Nach einer beschwerlichen Reise finden sie in Brüssel tatsächlich eine friedliche und gut organisierte Gemeinschaft vor. So scheint es jedenfalls zunächst…
Der Tod ist leise, dachte Smilla und zog sich in einen Hauseingang zurück, um den Menschenmassen auszuweichen, die an diesem Abend auf den Grote Markt strömten. Auf jedem freien Meter drängten sich die Bewohner Neubrüssels, drängten zum Schafott hin, das vor dem Denkmal der Friedensbringerin erbaut worden war. Es wurde geflüstert und gemurmelt, Kleidung rieb an Kleidung, und unter verhaltenen Schritten knirschte der Schmutz.
Als Smilla von der öffentlichen Hinrichtung eines Friedensschmarotzers erfahren hatte, hatte sie sich einen grölenden Mob aufgebrachter Bürger vorgestellt, der den Angeklagten mit faulem Obst, Händen voller Straßenschmutz und Schimpfworten bewerfen würde. Doch die Anwesenden waren leise. Nicht vollkommen still, aber kaum zu hören.
Es war die Vorahnung von etwas Schrecklichem, die sie so verhuscht und unruhig machte, das wusste Smilla nun. Denn auch sie konnte ihn spüren, diesen Widerwillen, Zeuge von noch mehr Gewalt zu werden. Wer knapp fünf Jahre nach der Plage noch lebte, hatte in der Regel so viele Gräueltaten mitangesehen und ausgeübt, dass es für mehrere Lebzeiten reichte. Niemand wollte mehr davon.
Und doch mussten sie ihn mit eigenen Augen sehen, diesen Friedensschmarotzer, der versucht hatte, den Brunnen im Hauptquartier der Garde zu vergiften. Sie wollten sehen, dass er nicht wie sie war, dass sich Weitere wie er nicht zwischen ihnen bewegen konnten, ohne entdeckt zu werden. Sie wollten sehen, wie er starb, damit sie mit ihm auch die Angst begraben konnten. Die Angst davor, dass Neubrüssel doch nicht der sichere Hafen war, den sie alle zu finden gehofft hatten.
»Da! Da ist Amar«, flüsterte Nadja und schloss ihre Hand um Smillas Unterarm.
Smilla stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können.
Ein Raunen erhob sich über den Platz, als eine zierliche Frauengestalt auf der Treppe zum Schafott erschien. In ihrem sonnengelben Filzmantel, flankiert von grau uniformierten Gardisten, leuchtete sie wie eine Blume im Asphalt.
Das Schafott war nicht immer ein Schafott gewesen. Bis vor wenigen Tagen hatte die hölzerne Tribüne lediglich für Ansprachen und die stündlichen Verkündungen der Nachrichtensprecher gedient. Doch dann hatte Amar die erste Hinrichtung in der Geschichte des befreiten Brüssels angeordnet. Zumindest laut der offiziellen Meldungen. In düsteren Kneipen und engen Gassen erzählte man hinter vorgehaltener Hand, dass im Hauptquartier der Garde beinahe täglich jemand sein Leben ließ. Aber das waren Gerüchte, Beweise gab es dafür nicht. Und vielleicht rührte diese üble Nachrede auch bloß vom Magnolia-Orden her, der es sich zum Ziel gemacht hatte, Amar durch den Schmutz zu ziehen.
Das Raunen schwoll an, während Amar, gefolgt von ihren Gardisten, die Treppe erklomm und sich im Zentrum des Schafotts aufbaute, nur einen Schritt vor dem Galgen. Die Schlinge des Stricks schwebte über ihrem Kopf wie ein Heiligenschein des Todes.
Hinter ihr ragte das Denkmal der Friedensbringerin in den Himmel: Ausgeblichene Äste und Zweige verwoben sich zu einer riesenhaften, vage an eine Frau erinnernden Gestalt. Ihre Arme waren ausgebreitet, als wollte sie jeden, der die Tribüne zu ihren Füßen betrat, in eine warme Umarmung schließen. Von ihren Schultern wehten Girlanden aus rotem Stoff, die daran erinnerten, dass sie einen grausamen Tod gestorben war, in ihrem selbstlosen Versuch, Brüssel aus der harten Hand des Perrot-Clans zu befreien.
»Was? Ich versteh kein Wort«, zischte Nadja und machte einen Schritt aus dem Hauseingang hinaus.
Amars Lippen bewegten sich, aber ihre Stimme drang nicht durch das Raunen der Masse. Die Schaulustigen stießen sich gegenseitig an, und ein allgemeines »Schhh!« ging durch die Menge. Dann, endlich, wurde es so still, dass Amars zarte Stimme es bis auf die andere Seite des Platzes schaffte.
»… schwarzer Tag für Neubrüssel, diesen Ort des Neuanfangs, der vielen Möglichkeiten. Doch wir leben in einer Zeit der Unbeständigkeit. Wir können, nein, wir dürfen kein Nachsehen haben mit denjenigen, die den Neubrüsseler Frieden aufs Spiel setzen.«
Amar legte eine Pause ein und nickte einem der Gardisten zu. Dieser verließ das Schafott und verschwand hinter der Mauer der vielen Schaulustigen. Amar wandte sich wieder ihrem Publikum zu.
Es war das zweite Mal, dass Smilla die Anführerin Brüssels sah. Zuletzt hatte sie sich zum Fest der Wintersonnenwende öffentlich gezeigt und eine emotionale Rede über Hoffnung, Licht und Leben gehalten. Mit ihrer weichen Stimme, der zerbrechlichen Statur und ihrer Vorliebe für bunte Kleidung war sie Smilla sanft und gutmütig erschienen. Etwas scheu vielleicht, für eine Anführerin. Aber gerade in dieser Zartheit hatte das Versprechen von Mitgefühl und Besonnenheit gelegen. Und nun stand sie dort, unter dem Galgenstrick, und erklärte, dass der Angeklagte mit dem Giftanschlag sein Recht auf das eigene Leben verwirkt hatte. Ein bitterer Geschmack lag auf Smillas Zunge.
Der Gardist, der eben auf Amars Anweisung hin verschwunden war, tauchte wieder auf. Ihm folgten zwei weitere Gardisten, die eine schmale, schmutzige Gestalt flankierten. Das Geflüster und Getuschel auf dem Grote Markt nahm erneut zu.
Aus Gewohnheit kniff Smilla die Augen zusammen, um mehr von dem Geschehen auf der anderen Seite des Platzes erkennen zu können. In ihrer ersten Woche in Brüssel hatte man ihr eine passende Brille beschafft, sodass sie nun ohne Anstrengung Dinge in weiter Entfernung erkennen konnte. Aber die Erinnerung daran, wie es sich anfühlte, sehen zu wollen und doch nichts zu erkennen, war noch zu präsent, als dass Smilla von dieser Angewohnheit hätte Abstand nehmen können.
Die Gardisten führten den Friedensschmarotzer unter den Galgen. Er war jung. Ein Teenager. Die Schicht aus Dreck und getrocknetem Blut auf Gesicht und Gliedmaßen ließ ihn im ersten Moment weniger wie einen Menschen wirken. Aber ein Blick in seine vor Angst geweiteten Augen genügte, um zu erkennen, dass er genauso menschlich war wie alle anderen hier auf dem Platz. Er wusste, was ihm bevorstand, und er fürchtete sich. Vielleicht hätte er um sein Leben gefleht, wenn die Angst ihm nicht halb das Bewusstsein geraubt hätte. Vielleicht bereute er, was er getan hatte, bekam nur kein Wort heraus.
»Ich trauere um jedes Leben, das auf diese Weise verwirkt wird«, fuhr Amar fort, die sich dem Friedensschmarotzer zugewandt hatte. »Nach der Plage ist jedes Leben umso kostbarer geworden. Aber genau aus diesem Grund kann ich nicht riskieren, dass ein Mensch wie dieser hier Menschen wie euch in Gefahr bringt.« Sie drehte sich wieder dem Publikum zu, die Mundwinkel leicht nach unten gerichtet, die Augenbrauen hochgezogen. Fast hätte man meinen können, dass auch sie auf dem Schafott stand, um hingerichtet zu werden, und nicht, um hinzurichten.
Smilla wurde flau bei dem Gedanken, dass gleich ein Leben enden würde. Sie neigte sich zu Nadja. »Lass uns abhauen. Das will ich nicht sehen.«
»Moment noch«, gab Nadja zurück, ohne den Blick vom Schafott zu wenden. »Vielleicht sagt sie noch was dazu, ob…«
»Amar!«, rief ein Mann in diesem Moment. »Gehört dieser Bastard zu Magnolia?«
Augenblicklich setzte das Raunen und Tuscheln wieder ein. Die Menge bewegte sich hin und her wie eine unruhige Wasseroberfläche und warf Wellen aus Stoff und Haar.
Amar sagte etwas, aber ihre Antwort wurde von den anderen Geräuschen auf dem Platz verschluckt.
Nadja gab einen frustrierten Laut von sich. »Können die nicht wenigstens Lautsprecher anschließen? Genau für so was haben wir doch den Strom.«
Jemand aus der Menge rief Amar zu, sie solle ihre Antwort wiederholen. Die Anwesenden stießen sich gegenseitig an und ermahnten sich zur Ruhe.
»… tatsächlich Grund zu der Annahme, dass der Friedensschmarotzer aus den Reihen der Magnolia kam. Unsere Garde arbeitet unter Hochdruck daran, die Drahtzieher zu identifizieren und dem Terror der Magnolia ein Ende zu setzen.«
Ein wütender Zwischenruf erklang. Was genau die Frau schrie, verstand Smilla nicht, aber sie löste eine Reihe weiterer verärgerter Rufe aus.
Amar schloss den Mund und faltete die Hände. Erst, als die Rufe wieder verstummt waren, sprach sie weiter. »Ich dulde keine Selbstjustiz in Brüssel. Lynchmord ist ein genauso schweres Verbrechen wie ein Giftanschlag und wird genauso schwer bestraft.«
Es wurde missmutig gemurmelt. Amar senkte den Blick, als hätte man sie getadelt. Aber dann sah sie wieder auf und sagte: »Gewalt und Instabilität sind überall dort, wo jeder nur auf sich selbst hört.« Sie ließ ihre Augen über die Menge wandern. »Gefährdet nicht unsere Stabilität, schmarotzt nicht von Neubrüssels Frieden. Wenn ihr etwas über Magnolia zu wissen glaubt, meldet es der Garde. Wir gehen diesen Hinweisen nach, ohne Brüssels Frieden zu gefährden. Für jeden Hinweis, der unsere Ermittlungen weiterbringt, vergeben wir dreihundert Wertmarken.«
Dreihundert Wertmarken – so viel gaben Smilla und Juli im Monat aus, um Jera, Ben und Tessa mit Nahrung, Kleidung, Spielzeug und Schulmaterialien zu versorgen.
Amar machte einen Schritt zurück und sah zu den Gardisten, die dem Angeklagten die Schlinge um den Hals festzogen.
»Ich gehe jetzt«, sagte Smilla mit Nachdruck.
Das flaue Gefühl in ihr war zu einem erstickenden Geschwür aus Angst herangewachsen. Sie trat aus dem Hauseingang, wollte den Grote Markt auf dem schnellsten Weg verlassen. Doch als ihr Blick ein letztes Mal über das Schafott streifte, stand dort nicht länger ein namenloser Teenager. Es war Falk. Falk, der Räuber und Menschenhändler, an den sie einen Teil ihres Herzens verloren hatte. Falk, der sich gegen seine Gruppe gestellt hatte, um ihr Leben zu retten. Sie hatte ihn im Stich gelassen, in jener Nacht.
Obwohl alle Augen auf Amar und den Angeklagten gerichtet waren, fühlte Smilla plötzlich Blicke auf sich. Ihr war, als wüssten alle hier, wie oft sie in dieser Welt nach der Plage schon versagt hatte. Wie oft sie andere an ihrer Stelle Opfer hatte bringen lassen, wie oft sie andere im Stich gelassen hatte. Vielleicht verdiente sie Neubrüssels Frieden genauso wenig wie der Junge unter dem Galgen.
Ohne Nadjas Antwort abzuwarten, kehrte Smilla dem Schafott und der gebannten Menge den Rücken und eilte auf die nächstgelegene Gasse zu.
»Hey, Fräulein Smilla! Warte auf mich«, hörte sie Nadjas Stimme hinter sich.
Smilla wurde langsamer, hielt aber nicht an. »Ich muss hier weg«, sagte sie und erschrak selbst darüber, wie dünn ihre Stimme klang. »Ich kann nicht einfach dabei zusehen, wie sie ihn…«
Nadja nickte knapp und entband Smilla damit der Aufgabe, sich zu erklären. Sie nahm Smillas Hand und zog sie durch die menschenleeren Pflastersteingassen, vorbei an krummen Fachwerkhäusern mit niedrigen Eingängen und kleinen, verstaubten Fenstern.
Im Eiltempo erklommen sie die Anhöhe zum Mont des Arts. Früher einmal hatte man hier über adrett zurechtgestutzte Zierbäume und geometrische Blumenbeete bis zum Turm des Rathauses schauen können. Doch inzwischen hatten ausschlagende Äste, Rosenranken und Ackerwinde die Gartenanlage, die den Platz vor der königlichen Bibliothek zierte, erobert. Nur geduckt konnte man ins Innere des verwilderten Gartens vordringen, und niemals gelangte man auf die andere Seite, ohne von den Dornen und Ästen zerkratzt zu werden.
Im Herzen der Anlage hielt Nadja an, ließ Smillas Hand los und richtete den Blick auf das frischgrüne Geäst über ihnen. »Hörst du das?«, fragte sie, während ihre dunklen Augen von Ast zu Ast, von Knospe zu Knospe hüpften.
Smilla folgte ihrem Blick und lauschte. Das Gestrüpp um sie herum schien vor lauter Leben zu vibrieren. Bienen suchten nach Pollen. Meisen, Spatzen und Amseln besangen ihr Revier.
»Ja, ich höre es«, flüsterte sie und schloss die Augen, um sich ganz und gar auf das Summen konzentrieren zu können. »Das Leben ist laut«, wisperte sie und versuchte, nicht hinzuhören, als vom Grote Markt ein kollektives erschrockenes Seufzen in den Himmel aufstieg.
Ich war letzte Woche bei der Seelsorge«, sagte Nadja, als sie den verwilderten Garten verließen und sich durch den Brüsseler Park auf den Weg nach Hause machten.
Verdutzt sah Smilla zu ihr. »Du? Bei der Seelsorge?« Nadja war in Brüssel regelrecht aufgeblüht. Ihre Arbeit als Heilerin im Krankenhaus schien sie ganz und gar zu erfüllen, und seit sie eine Clique aus Tänzern kennengelernt hatte, konnte sie auch ihre Leidenschaft fürs Ballett wieder ausleben.
Nadja zuckte die Schultern und holte tief Luft. »Die Krankenhausleitung erwartet, dass man als angehende Heilerin mal dort vorbeischaut. Wahrscheinlich, weil wir bei der Arbeit viel belastenden Kram mitbekommen. Und wenn man die hohe Suizidrate bedenkt…«
»Ja. Einer von zehn Neuankömmlingen«, murmelte Smilla und streckte die Hand nach den saftigen grünen Blättern eines Ahorns aus, den sie in diesem Moment passierten. Von der Suizidrate hatte man ihnen bei der psychologischen Evaluation erzählt, die sie alle am Tag ihrer Ankunft durchlaufen hatten. Wie es schien, war das Leben nach der Plage für einige umso schwerer zu ertragen, je sicherer und geborgener sie sich fühlten. Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühle holten die Überlebenden ein, sobald sie in Brüssel innehielten.
»Dann warst du einfach nur bei der Seelsorge, weil es dir nahegelegt wurde oder… ist irgendetwas passiert?«, wollte Smilla von Nadja wissen.
Nadja wandte sich abrupt zu ihr um. Einen Moment lang sahen sie einander an. Und mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte Smilla sich mehr, als wäre sie es, der man eine Frage gestellt hatte, und nicht Nadja.
»Willst du nicht drüber reden?«, hakte Smilla nach, als Nadja nicht mit der Sprache herausrückte.
Noch ein paar Sekunden lastete Nadjas nachdenklicher Blick auf Smilla. Aber dann wandte sie sich wieder ab und sah in die wenigen Wolken, die sich im Licht der untergehenden Sonne rosa färbten. »Nein, kein Bedarf«, sagte sie. »Ich wollte dir nur erzählen, dass die echt ganz gut sind, bei der Seelsorge. Vielleicht können sie dir bei deiner Schlaflosigkeit weiterhelfen.«
Smilla biss sich nachdenklich auf die Zungenspitze. Sie kam nicht umhin, einen Anflug von schlechtem Gewissen zu verspüren. Nadja war ihr schon so oft zu Hilfe gekommen. Mehr als einmal hatte sie Smilla das Leben gerettet. Nicht im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich. Und nun hatte es anscheinend einen Moment gegeben, in dem Nadja Beistand gebraucht hätte, und es war Smilla entgangen. »Du kannst auch zu mir kommen, wenn du jemanden zum Reden brauchst«, gab sie zurück.
»Ja ja, schon klar«, sagte Nadja, und Smilla meinte, den altbekannten Sarkasmus in ihrer Stimme wahrzunehmen.
Vor dem schmalen Haus aus gelbem Backstein, in dem man Smilla einquartiert hatte, blieben sie stehen. »Kommst du noch zum Abendessen mit hoch?«, fragte Smilla.
Nadja schaute die Fassade hinauf, an der Wein rankte. »Was gibt es denn?«
»Julis Bohnen-Tomaten-Eintopf.«
»Na gut, überredet.«
Smilla lächelte. Sie fingerte den Haustürschlüssel aus der Hosentasche und schloss die Wohnungstür auf. Im Treppenhaus erwartete sie der Geruch von altem Holz und Staub, der sich um diese Jahreszeit mit dem Duft der Kirschblüten mischte, die hinter dem Haus blühten.
Smilla und Nadja erklommen die ächzenden Stufen in den ersten Stock. Dort hielt Smilla inne. »Geh du schon mal vor, ich schau noch kurz bei Giorgio vorbei«, sagte sie und deutete mit dem Daumen zu der weiß lackierten Tür, hinter der sich Giorgios Apartment befand.
Er hatte sich immer mehr zurückgezogen, seit er erfahren hatte, dass die Schmieders es nie bis nach Brüssel geschafft hatten. Die Familie hatte ihn gesund gepflegt, nachdem die Verlorenen Jungs ihn aus ihren Reihen verstoßen und beinahe getötet hatten. Er und die älteste Tochter Sarah waren ein Paar geworden, kurz bevor sie die Eifel aus Angst vor den Verlorenen Jungs verlassen hatten. Und nun waren sie wie vom Erdboden verschluckt.
Als Nadja nach oben verschwunden war, trat Smilla vor Giorgios Wohnungstür. Sie hob die Faust und klopfte.
»Giorgio, ich bin es, Smilla«, sagte sie. Doch nichts geschah. Entweder wollte er nicht mit ihr sprechen, oder er war nicht hier. Smilla hielt Ersteres für wahrscheinlicher. Vermutlich gab er ihr die Schuld für all das, was geschehen war.
Smilla schluckte den Kloß, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte, hinunter. »Willst du zum Essen hochkommen?«, fragte sie, doch als Antwort erhielt sie auch dieses Mal nur Stille.
Der Tod ist leise, schoss es ihr erneut durch den Kopf, und ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Sie klopfte noch einmal, diesmal energischer.
»Ich kann dir auch was zu essen vorbeibringen, wenn dir nicht nach Gesellschaft ist.« Ihre Stimme war eine Oktave höher geklettert.
Sie hob gerade die Hand, um ein weiteres Mal zu klopfen, da wurde die Tür geöffnet. Dunkelheit und stickige Luft sickerten ihr entgegen, und Giorgios ausgemergeltes Gesicht erschien im Türspalt. Er sah müde und kränklich aus, aber er lebte.
Erleichtert atmete Smilla aus. »Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen«, sagte sie und schloss ihn in die Arme. Er erwiderte die Umarmung sacht.
»Kommst du mit zu uns? Julius macht Bohnen-Tomaten-Eintopf.«
»Danke, aber ich bin nicht hungrig«, sagte Giorgio und löste sich von ihr.
Smilla fühlte sich in Brüssel oft einsam. Selbst wenn Jera und Tessa um sie herumtollten, selbst wenn Juli sich abends neben sie auf die Couch fallen ließ, um mit ihr den Feierabend einzuläuten. Mit jedem Tag, der verging, war sie ein bisschen mehr allein als am Tag zuvor. Wie musste sich Giorgio da erst fühlen? Sie sah in seine dunklen Augen, die erschreckend glanzlos wirkten.
»Du könntest trotzdem mitkommen. Jera würde sich freuen. Sie vermisst dich.«
Giorgio grinste. »Ah, da ist es ja, das gute, alte schlechte Gewissen.«
Smilla schloss kurz die Augen. »Nein, tut mir leid, so war das nicht gemeint.«
Einige Sekunden verstrichen. »Vielleicht solltest du mal zur Seelsorge gehen«, sagte Smilla schließlich.
Giorgio zuckte mit den Schultern. »Die können nichts an alledem ändern, was passiert ist.«
»Nein, aber Nadja war dort, und es hat ihr wohl geholfen.«
Giorgio wurde aufmerksam. »Nadja? Bei der Seelsorge?«
Smilla konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Das war auch meine Reaktion.«
»Hat sie schlechte Neuigkeiten wegen der Vermisstenanzeigen bekommen, die sie aufgegeben hat?«, wollte Giorgio wissen.
»Weiß ich nicht. Sie wollte nicht sagen, weswegen sie genau dort war.«
»Aber viele andere Gründe kann es ja eigentlich nicht geben«, grübelte Giorgio. »Diese Vermisstenanzeigen sind echt Fluch und Segen zugleich. Ich habe immer noch nicht meine eigene Familie als vermisst gemeldet. Nur die Schmieders, und das reicht mir schon. Jeden Morgen auf dem Weg zum Briefkasten frage ich mich, ob heute der Tag ist, an dem ich erfahre, dass sie tatsächlich tot sind.«
Smilla seufzte tief. »Mit meinen Vermisstenanzeigen geht es mir genauso. Vor allem mit der meines Vaters.«
»Es stimmt schon, was sie uns bei der Einbürgerung gesagt haben. Hier in Brüssel holen einen die düstersten Gedanken und schlimmsten Befürchtungen ein.«
Smilla nickte. »Also, wirst du zur Seelsorge gehen?«
»Ich denk mal drüber nach.«
»Sagst du das jetzt nur, damit ich dich in Ruhe lasse?«, fragte Smilla und stieß ihn spielerisch an.
Giorgio grinste, und kurz blitzte es lebendig in seinen Augen. »Ich denk drüber nach, Smilla, versprochen. Und bevor du mir noch mehr aufbürdest, komme ich lieber gleich mit dir mit.«
Er verschwand in die Dunkelheit seines Apartments und tauchte kurz darauf mit blau-weißen Schlappen an den Füßen wieder auf. »Na los, gehen wir«, sagte er mit einem schwachen Lächeln.
Sie stiegen in den zweiten Stock hinauf. Die Wohnungstür war nur angelehnt und quietschte, als Smilla sie aufdrückte.
»Smilla! Giorgio!«, rief Jera, die hinter der Tür auf sie gewartet haben musste, und sprang ihr in die Arme. »Hallo, hallo, hallo!«
Unter Jeras Gewicht geriet Smilla ins Taumeln. Sie schlang eine Hand um den Rücken ihrer kleinen Schwester. Mit der anderen hielt sie sich am Türrahmen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und gegen Giorgio zu fallen.
»Hallo«, gab Smilla mit einem leicht überforderten Lachen zurück.
»Toll, dass du Giorgio mitgebracht hast! Aber du bist spät. Wir haben dich schon vermisst. Vor allem Juli«, sagte Jera und ließ von Smilla ab. »Smilla bla, Smilla blubb, Smilla trallala«, imitierte sie Julis tiefe Stimme und warf ein freches Grinsen über ihre Schulter.
Smilla folgte ihrem Blick. Und da stand er, die dunklen Locken zerzaust, die hellen Augen aufmerksam auf sie gerichtet. Er lehnte im Türrahmen zum Wohnzimmer, seine drahtigen, dicht tätowierten Arme verschwanden in den weiten Taschen der Jogginghose, die sie für ihn aus der Kleiderfabrik hatte mitgehen lassen.
Wie jedes Mal, wenn Smilla ihn eine Weile nicht gesehen hatte und ihm dann wieder gegenüberstand, machte ihr Herz einen übermütigen Satz.
»Sie sagt nicht die Unwahrheit. Hab gerade angefangen, mir Sorgen zu machen«, meinte Juli, und seine Lippen formten ein halbes Lächeln.
Smilla erwiderte es zaghaft. »Tut mir leid, dass ihr warten musstet«, sagte sie und versetzte der Wohnungstür einen Tritt, sodass sie ins Schloss fiel. »Ich war nach der Arbeit noch mit Nadja bei der… auf dem Grote Markt.«
Das Lächeln auf Julis Gesicht verrutschte.
»Bei der Hinrichtung?«, horchte Giorgio neben ihr auf.
Jeras Augen weiteten sich bei dem Wort Hinrichtung.
»Nadja wollte hören, was Amar dazu zu sagen hat, da habe ich sie noch begleitet«, erklärte Smilla. Sie schlüpfte aus ihren Chucks und schob sie in die Reihe all der anderen Schuhe, die an die Wand gedrängt auf ihren Einsatz warteten.
»Und?«, fragte Julius, stieß sich vom Türrahmen ab und bewegte sich auf die Küchentür zu.
»Sie glauben, der Attentäter gehörte zu Magnolia.«
Smilla folgte Julius in die Küche. Nadja stand vor den Besteckschubladen und suchte Löffel und Gabeln heraus.
»Scheiß Magnolia«, fluchte Jera, die ihr gefolgt war. »Wie war die Hinrichtung so? War da viel Blut? Ein Junge aus meiner Klasse hat erzählt, bei einer Hinrichtung wird einem der Kopf abgehackt.«
Nadja unterdrückte grunzend ein Lachen. Smilla hingegen drehte sich der Magen um.
»Sie haben ihm nicht den Kopf abgehackt«, sagte sie und nahm einen Stapel Teller aus dem Küchenschrank. Sie drängte sich an Juli vorbei, der gerade eine Handvoll frische Kräuter in einen großen Topf gab, durchquerte den Flur und betrat das Wohnzimmer.
»Und was hat Amar noch so gesagt? Haben sie endlich mehr Hinweise darauf, wer diese Magnolia-Idioten genau sind?«, rief Juli ihr hinterher.
Giorgio nahm Smilla die Hälfte der Teller ab, und sie fingen an, den Tisch zu decken.
»Nein. Aber jeder, der einen nützlichen Hinweis liefert, bekommt dreihundert Wertmarken«, antwortete Smilla mit erhobener Stimme, um gegen das Klappern des Geschirrs anzukommen.
»Aber wenn sie ihm nicht den Kopf abgehackt haben, wie haben sie es dann gemacht?«, fragte Jera aufgeregt.
Smilla schloss kurz die Augen, um das Bild des Stricks um den Nacken des Jungen zu verscheuchen. Doch es wurde nur umso deutlicher. »Das ist kein gutes Thema für ein Tischgespräch, Jera«, sagte sie. Der letzte Teller entglitt ihrem Griff etwas zu früh und schlug laut klirrend auf der gläsernen Tischplatte auf.
»Für welches Gespräch ist es dann ein gutes Thema?«
Smilla ließ sich am Esstisch nieder, und Nadja kam mit dem Suppentopf aus der Küche.
»Für eines zwischen Amar und ihren Gardisten.«
»Aber du hast gesehen, wie sie es gemacht haben?«, fragte Jera und setzte sich auf den Platz neben Smilla.
»Nein, ich bin vorher gegangen.« Smilla nahm einen der Teller, um ihn mit Bohnen und Tomaten zu füllen.
»Warum?«
»Weil ich es nicht richtig finde, dass er hingerichtet wurde.«
Jeras Augen weiteten sich. »Aber er ist eine Gefahr für den Frieden gewesen. Er verdient doch, zu sterben«, zitierte sie irgendwen, dem Smilla in diesem Moment unbekannterweise die Plage an den Hals wünschte.
»Niemand verdient es, ermordet zu werden«, erwiderte sie. Langsam kam ihr der Appetit auf das Abendessen abhanden.
»Auch nicht die Verlorenen Jungs?«, hakte Tessa skeptisch nach, die bereits auf ihrem Stuhl saß und mit den Beinen wippte.
Smilla schluckte. Wie immer, wenn jemand die Gruppe erwähnte, die in der Eifel Angst und Schrecken verbreitet hatte, zogen sich Smillas Eingeweide schmerzhaft zusammen. »Nein, auch die nicht.«
Jera legte die Stirn in Falten. »Du bist ganz schön nachsichtig.«
Giorgio und Nadja lachten.
Julius betrat mit Ben auf dem Arm den Raum. »Er hat immerhin versucht, das Trinkwasser von Amar und der Garde zu vergiften. Wir aus der Verwaltung holen unser Wasser auch dort. Wenn er es geschafft hätte, hätte er riesigen Schaden anrichten können«, sagte er und setzte Ben auf seinen Hochstuhl. »Besser, Amar sendet einmal ein starkes Zeichen an die Magnolia-Terroristen, als jetzt zu lasch zu reagieren und ein Dutzend Nachahmer zu riskieren.«
Smilla, die gerade die Hand nach Tessas Teller ausstreckte, hielt in der Bewegung inne. »Du findest das richtig?«, fragte sie überrascht.
»Na ja, richtig ist übertrieben, aber so ist es mir allemal lieber, als wenn sie ihn ungeschoren hätte davon kommen lassen.«
»Was hättest du denn mit ihm gemacht?«, wollte Jera wissen und blickte aufmerksam zu Smilla.
Smilla nahm Tessas Teller und fing an, ihn mit Eintopf zu füllen. »Ich hätte ihn zum Beispiel aus Brüssel verbannt. Oder ihn einsperren lassen, wie man das auch vor der Plage mit Straftätern gemacht hat«, sagte sie. Sie stellte Tessa ihren Teller hin und machte mit Jeras weiter.
»Aber wenn wir ihn einfach rausschmeißen, ist er immer noch eine Gefahr für Brüssel«, wandte Jera ein.
»Und wenn wir ihn einsperren, muss er auf unser aller Kosten am Leben gehalten werden«, pflichtete Julius ihr bei.
Das Schafott blitzte vor Smillas innerem Auge auf, sie spürte die Todesangst im Blick des Angeklagten noch wie Eis auf ihrer Haut. In ihrer Erinnerung sah er sie direkt an. Sie wusste, dass es so nicht gewesen war. Zwischen all den Schaulustigen hatte sein Blick sie – wenn überhaupt – nur flüchtig gestreift.
Ungläubig schüttelte Smilla den Kopf und versuchte, keinen Eintopf zu verkleckern, als sie ihren eigenen Teller befüllte. »Du klingst ganz schön abgebrüht.«
»Oder pragmatisch«, eilte Nadja zu Julis Ehrenrettung. »Amar hat gute Bedingungen in Brüssel geschaffen. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, die besten Bedingungen in ganz Europa. Wer das mutwillig aufs Spiel setzt, stellt selbst eine Gefahr für ganz Brüssel dar und hat seine Chance hier einfach nicht verdient.«
Tessa richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »In Neubrüssel bekommt jeder eine Chance«, rezitierte sie das inoffizielle Motto der Stadt.
»Aber niemand eine zweite«, pflichtete Nadja ihr bei und deutete mit der Gabel auf Smilla.
Giorgio räusperte sich, und sofort richtete sich alle Aufmerksamkeit auf ihn. Er war nie der Gesprächigste gewesen, aber seit sie in Brüssel angekommen waren, war er von Tag zu Tag noch schweigsamer geworden.
»Als jemand, der selbst mal fast dafür umgebracht worden wäre, dass er die eigene Gruppe in vermeintliche Gefahr gebracht hat, muss ich Smilla zustimmen«, sagte er leise, aber bestimmt. »Brüssel soll doch ein besserer Ort sein als die Welt da draußen. Und wenn das hier ein besserer Ort sein soll, dann darf die Regierung nicht ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger abschlachten.«
»Abschlachten!«, stieß Nadja aus und kaute energisch, um schneller den Mund für eine Antwort frei zu haben. »Amar hat in der Zeit seit dem Ausbruch der Plage genau eine Person hängen lassen. Von Abschlachten kann da keine Rede sein. Sie hat viel eher… ein Exempel statuiert.« Sie tunkte den Löffel in den Eintopf und aß genüsslich weiter.
Smillas Appetit hingegen war gänzlich verflogen. Das Gesicht des Angeklagten schwebte noch immer in ihrem Blick, wie das Abbild einer Flamme, in die man zu lange gestarrt hatte.
Die Löffel klirrten in den Tellern. Nadja lobte Julis Kochkünste, und Tessa und Jera ließen die grünen Bohnen aus ihren Mündern ragen wie Stoßzähne. Die anderen lachten und redeten. Der Gehängte geriet in Vergessenheit.
Mit einer müden Bewegung nahm Smilla ihren Löffel auf, tunkte ihn in ihren Teller und ließ etwas Tomatensud darauflaufen. Sie schmeckte nichts. Seit ein paar Wochen war das schon so. Nichts schmeckte mehr nach irgendetwas.
Sie ließ den Löffel wieder sinken und sah den anderen wie durch einen Schleier dabei zu, wie sie sich angeregt über ihren Tag unterhielten. Manchmal machte es sie traurig, die anderen glücklich und unbeschwert zu sehen. Sie verstand nicht genau, warum. Es kam einfach über sie, wie Hunger oder Müdigkeit. In solchen Momenten wollte sie lieber allein sein.
Ihr Blick wanderte zu Giorgio, der seinen Eintopf ebenfalls noch nicht angerührt hatte und genauso wenig mit der Stimmung am Tisch mithalten konnte. Er lächelte ihr zaghaft zu, sie erwiderte sein Lächeln genauso sacht.
»Was wollen diese Magnolia-Matschköpfe eigentlich? Warum machen die dauernd Stress?«, wollte Jera wissen, als die Teller schon fast geleert waren.
»Sie sind nicht zufrieden damit, wie Amar Brüssel regiert«, antwortete Smilla.
»Aber warum denn nicht? Amar hat das doch alles gut gemacht, oder? Wir haben eigene Wohnungen, wir haben Schulen, wir haben Wertmarken, Feuerholz und genug zu essen«, zählte Jera nur einige Annehmlichkeiten des Lebens in Brüssel auf.
»Das stimmt, aber den Magnolia-Orden stört es, dass sie in Brüssel nicht mitbestimmen dürfen. Wenn Amar mal einen Weg einschlagen sollte, mit dem die Brüsseler nicht einverstanden sind, gäbe es niemanden, der ihr Einhalt gebietet«, erklärte Smilla.
»Kann das nicht die Garde machen? Das ist doch deren Job, aufzupassen, dass hier keiner Quatsch macht, oder?«, fragte Tessa und begutachtete ein Stück Bohne, das sie wieder aus ihrem Mund geholt hatte.
»Aber es ist ja Amar, die die Garde befehligt und bestimmt, was man in Brüssel darf und was nicht«, wandte Smilla ein. »Und das macht denen von Magnolia Angst. Was ihnen natürlich noch lange nicht das Recht gibt, das Trinkwasser der Garde zu vergiften.«
Juli schüttelte verärgert den Kopf. »Nichts gäbe ihnen das Recht dazu. Das ist echt das Allerletzte. Sauberes Trinkwasser sprudelt schließlich auch nicht an jeder Ecke aus dem Boden«, knurrte er.
»Es gibt aber schon ein paar Punkte, in denen Magnolia nicht ganz unrecht hat«, gab Nadja zu bedenken.
»Zum Beispiel?«, fragte Smilla und lud eine zerkochte Tomate auf ihren Löffel.
»Na, dass Amar sich so vehement dagegen wehrt, das Kohlebergwerk bei Liège wieder in Betrieb zu nehmen. Ja, die böse Braunkohle, schon klar. Aber wie viele Menschen sind denn wohl noch übrig, auf der Welt? Eine halbe Milliarde?«
»Bestimmt viel weniger. Ein paar Millionen, wenn es hoch kommt«, meinte Giorgio.
»Eben. Wie groß kann der Schaden schon sein, den wir mit ein bisschen Braunkohleabbau anrichten? Die Menschheit befindet sich in einem Notstand, da sollten wir auf jeden Energieträger zurückgreifen, den es gibt.«
»Was mir persönlich größere Sorge bereitet, ist, dass Amar jetzt schon davon spricht, bald den nächsten Stadtteil zum Bezug freizugeben«, sagte Juli mit vollem Mund. »Wir haben noch nicht mal die letzte Welle von Neuankömmlingen vollständig ins System integriert. Neubrüssel wächst viel zu schnell und zu unkontrolliert. Da ist Chaos vorprogrammiert.«
»Und was würden die von Magnolia anders machen?«, wollte Jera wissen.
Smilla zuckte die Schultern. »Ich glaube, das wissen die selbst nicht so genau. Das sind ein paar unzufriedene Extremisten. Die wollen Krach machen und sich beschweren. Weiter haben die noch nicht gedacht.«
»Das glaube ich nicht«, brachte Nadja sich ein. »Der Anschlag auf Amars Trinkwasser war eine andere Nummer als die Flugblätter und der Vandalismus von davor. Da steckt mehr dahinter als ein bisschen Unzufriedenheit.«
»Was sind Extremisten?«, fragte Tessa und blickte unbehaglich zwischen ihnen hin und her.
»Das sind Leute, die eine sehr krasse Meinung zu einem Thema haben und zu extremen Mitteln greifen, um sich Gehör zu verschaffen«, erklärte Julius.
»Haben die noch mehr solcher Anschläge geplant?«, wollte Jera wissen. Ihr war die Farbe aus den Wangen gewichen.
»Das könnte schon sein«, sagte Giorgio nachdenklich. »Solche Leute hören nicht nach dem ersten Versuch auf.«
Jera sah betreten auf ihren Teller. Reflexartig streckte Smilla die Hand nach ihr aus und legte sie ihrer Schwester auf den Unterarm. »Mach dir deswegen keine Sorgen, Jera. Amar und die Garde werden nicht zulassen, dass etwas Schlimmes in Brüssel passiert. Okay?«
»Okay«, sagte Jera mit dünner Stimme.
»Wie war denn überhaupt die Schule, ihr beiden? Haben sie euch schon gesagt, wann genau das Generationenprojekt startet?«, fragte Smilla schnell, bevor jemand noch etwas über Magnolia und die Anschläge sagen konnte, das Jera und Tessa weiter verängstigen würde.
Endlich, Ruhe«, sagte Julius, drückte behutsam die Wohnzimmertür ins Schloss und kam zum Sofa herüber. Dort hatte Smilla es sich mit ihrer Bettdecke und einem Buch schon gemütlich gemacht.
»Ich musste Ben drei Mal die Geschichte von Bobo Siebenschläfer im Zoo vorlesen, bis er endlich eingeschlafen ist.«
Smilla schlug das Buch zu und legte es auf den Couchtisch vor ihr. »Dann lass doch einfach das nächste Mal Jera die Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Bei ihrem Lesetempo schläft Ben noch auf der ersten Seite ein.«
Julius lachte und ließ sich in die Polster am anderen Ende des Sofas fallen. Wie immer hielt er eine Armlänge Abstand zu Smilla. Denn seit ihrer Gefangenschaft bei den Verlorenen Jungs verursachten Berührungen und Nähe ihr Angst, was Julius schon wahrgenommen hatte, bevor sie sich selbst darüber klar geworden war.
»Wenn ich Jera vorlesen lasse, wird sie garantiert etwas über Stichwaffen oder Hinrichtungen einbauen«, entgegnete Juli und griff nach der Metallschatulle, die auf der Fensterbank hinter dem Sofa auf ihren allabendlichen Einsatz gewartet hatte.
»Ja, sie ist wohl noch etwas im Überlebensmodus verhaftet.«
»Ich kann’s ihr nicht verübeln. Vor allem jetzt, wo die von Magnolia plötzlich ernst machen.« Mit den Utensilien aus dem Metallkistchen fing er an, sich einen Joint zu drehen.
»Du hättest ihn sehen sollen, diesen sogenannten Friedensschmarotzer«, murmelte Smilla und versuchte, sich nicht von der Erinnerung einnehmen zu lassen. »Er war noch ganz jung. Kaum älter als Sonja.«
Julius kniff die dunklen Brauen zusammen, während er den Joint zwischen Zeigefinger und Daumen festrollte. »Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du nicht hingegangen wärst.«
Smilla gab ein überfordertes Geräusch von sich, als sie an das Gesicht des Jungen dachte. An die Angst in seinem Blick. Die Erkenntnis, dass er seine letzten Sekunden auf dieser Welt erlebte.
»Ich brauche was zu trinken.«
Ruckartig erhob sie sich und lief zu der Kommode, in der sie ihren Irgendwas aufbewahrte. Sie zog die oberste Schublade auf und schob suchend die Kerzen und Küchentücher darin hin und her.
»Den hast du gestern leer gemacht«, erinnerte Juli sie.
Smilla hielt inne und wandte sich zu ihm um. »Im Ernst?«
Er nickte, ohne sie anzusehen, während er das obere Ende des Joints zudrehte.
»Na toll.« Etwas zu schwungvoll drückte Smilla die Schublade wieder zu, und die leeren Vasen auf der Kommode wackelten gefährlich hin und her. Sie ging zurück zum Sofa, ließ sich in die Kissen sinken und rieb sich übers Gesicht.
»Du kannst mit mir rauchen, wenn du willst«, meinte Juli und entzündete den Joint an einer Kerze, die auf der Fensterbank hinter ihnen brannte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist«, murmelte Smilla.
»Wahrscheinlich nicht. Aber im Grunde ist es auch keine allzu gute Idee, jeden Abend zwei bis sechs Schnäpse zu kippen.« Er führte den qualmenden Joint an die Lippen und nahm den ersten, tiefen Zug, wobei er eines seiner hellgrauen Augen zukniff.
»Das hilft mir aber, überhaupt ein bisschen zu schlafen. Was ist wohl ungesünder? Jede Nacht kaum ein Auge zuzutun oder mit ein bisschen Alkohol nachzuhelfen?«
»Jedenfalls nicht dieses Teufelsgebräu von Schnaps. Du solltest es mal eine Weile ohne probieren. Vielleicht würde es dir inzwischen leichter fallen, einzuschlafen, jetzt, wo du dich in Brüssel eingelebt hast.« Julius betrachtete den Joint zwischen seinen Fingern, als hätte er die Idee daraus inhaliert.
»Sagst ausgerechnet du«, murrte Smilla.
»Ich könnte das Rauchen von heute auf morgen sein lassen.«
Smilla konnte sich ein ungläubiges Lachen nicht verkneifen. »Du könntest jederzeit mit dem Kiffen aufhören?«
»Klar«, sagte Julius und nahm gleich noch einen tiefen Zug.
»Das will ich sehen.«
»Kannst du. Aber nur, wenn du aufhörst, jeden Abend zu trinken. Das tut dir nicht gut, Jürgens.«
»Ich muss sagen, Lohwasser, ich fühle mich erpresst.«
Juli lächelte sie an, und Grübchen bildeten sich in seinen Wangen. Er war sehr hübsch, wenn er lächelte. Er war überhaupt sehr hübsch, aber wenn er lächelte, besonders.
In Smillas Bauch wurde es warm. Sogar ganz ohne abendlichen Irgendwas.
»Du bräuchtest natürlich eine Alternative«, fuhr er ernster fort. »Irgendetwas, das du tun kannst, wenn du eigentlich trinken willst.« Er sah den Rauchkringeln seiner Zigarette dabei zu, wie sie zur Decke aufstiegen. »Bestimmte Formen der körperlichen Betätigung, zum Beispiel.«
Smilla musste lachen. »Bestimmte Formen der körperlichen Betätigung«, wiederholte sie. »Damit meinst du jetzt aber nicht Sex, oder?«
Julius gluckste. »Klang ein bisschen so, oder?«
»Ja, schon.«
Sie lachten.
»Nein, ich meinte tatsächlich Joggen oder Yoga«, sagte Julius schließlich. »Wobei Sex vermutlich auch nicht verkehrt wäre.« Er nahm noch einen Zug von seinem Joint.
Smilla beobachtete ihn dabei, wie er den Rauch langsam aus seinem leicht geöffneten Mund sickern ließ. Kurz erinnerte sie sich mit allen Sinnen an das Gefühl seiner Lippen auf ihren. Sie wusste noch, dass es ihr gefallen hatte. Die Wärme in ihrem Bauch verwandelte sich in Hitze und drängte die taube Kälte, die sie seit der Hinrichtung in sich trug, ein Stück weit zurück.
»Ich hatte noch nie Sex«, sagte Smilla, bevor ihre Gedanken wieder in düstere Gefilde abdriften konnten.
Julis Brauen senkten sich. »Echt, noch nie?«
Smilla zuckte die Schultern.
»Wie kommt’s? Ist das so eine Einstellungssache, kein Sex vor der Ehe?«
Smilla verkniff sich ein Lachen. »Nein. Es hat sich bloß nie ergeben. Und als die Plage ausbrach, kam es erst mal sowieso nicht mehr in Frage.«
»Du warst siebzehn, als die Plage ausgebrochen ist, oder?«, fragte er.
»Genau.«
Mit einer behutsamen Bewegung aschte Juli auf die verschmutzte Untertasse vor ihm. »Und jetzt? Würdest du überhaupt noch wollen? Ich meine, wegen deiner Angst vor Berührungen.«
Sofort schlug das düstere Gefühl, dem Smilla mit diesem Gespräch hatte ausweichen wollen, zu. Es war, als lauerten die schlechten Erinnerungen überall.
»Warum interessiert dich das? Fragst du für einen Freund?«, neckte Smilla und stieß Julius mit dem Ellenbogen an. Aber das düstere Gefühl in ihr blieb.
Julius rieb sich in einer verlegenen Geste über den Hinterkopf. »Sorry, du hast recht, das war wohl ein bisschen zu persönlich. Es hat mich einfach interessiert, was so in dir vorgeht.«
»Nein, schon gut«, sagte Smilla schnell. »Ich kann mir schon vorstellen, dass es irgendwann mal dazu kommt. Aber es müsste mit jemandem sein, mit dem ich mich absolut sicher fühle. Jemand, dem ich zu hundert Prozent vertraue.«
Julius nickte langsam und nahm einen weiteren Zug von seinem Joint. »Ja, Vertrauen ist wichtig. Besonders in diesen Zeiten«, murmelte er.
Es wurde still zwischen ihnen. Bedrückend still. Wenn sie doch nur ein Glas Irgendwas in der Hand gehabt hätte… »Ist es denn…«, setzte Juli unsicher an. »Wie ist es denn für dich, mit mir zusammenzuwohnen? Bekommst du manchmal noch Angst, wenn ich dir aus Versehen zu nahe komme?«
Smilla spürte ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Angst vor dir. Schon lange nicht mehr.«
»Aber was hat sich verändert?«, fragte er und sah ihr in die Augen. »Am Anfang hattest du doch auch Angst vor mir.«
»Ich hatte nicht so sehr Angst vor dir«, stellte Smilla richtig. »Was mir Angst macht, ist das Gefühl, keine Kontrolle zu haben. Und da ich dich nicht kannte und außerdem geglaubt habe, dass du zu einer durchgeknallten Sekte gehörst, hatte ich Angst vor deiner Nähe.«
»Hm«, machte Juli nur.
Kurzentschlossen rückte Smilla zu ihm auf, nahm seine freie Hand und platzierte sie über ihrem Herzen. »Siehst du?«, sagte sie. »Ich habe keine Angst vor dir. Es ist alles gut.«
Juli schaute auf seine Hand, die auf ihrem Körper ruhte, dann in Smillas Gesicht. Seine Pupillen eilten zwischen ihren hin und her, als suchten sie nach einer Erklärung.
Smilla spürte die Wärme seiner Berührung durch den Stoff ihres Schlafanzugoberteils. Es war ein gutes Gefühl.
»Dein Herz rast«, murmelte Julius. »Sicher, dass du keine Angst hast?«
Smilla nickte. »Ganz sicher.«
Etwas in Julis Miene wandelte sich, wurde weicher. Noch immer sah er ihr in die Augen. Noch immer lag seine Hand auf ihrer Brust.
Julis Daumen bewegte sich leicht, strich über das Muttermal an ihrem Schlüsselbein.
Mit einem Mal war es, als trommelten überall in Smillas Körper unzählige Herzen, und sie wollte, dass er noch näher kam.
Doch da zog Juli die Hand zurück und rückte von ihr ab.
Smillas Herzschlag verlangsamte sich enttäuscht.
»Smilla, ich…«, setzte Julius an.
»Was denn?«
Julius seufzte schwer, schaffte es kaum, sie anzusehen. Fast so, als schämte er sich.
Und da begriff Smilla. »Es ist wegen Larissa, oder?«
Julius hatte Bens Mutter gleich nach seiner Ankunft beim Amt für Wiedervereinigung als vermisst gemeldet. Obwohl sie ihn kurz nach Bens Geburt verlassen hatte, war er so voller Hoffnung gewesen, sie hier wiederzutreffen. Oder zumindest zu erfahren, dass sie noch lebte und es ihr gut ging. Aber die ersehnte Rückmeldung vom Amt war ausgeblieben. Mehr als einmal hatte er Smilla sein Herz deswegen ausgeschüttet. Wie hatte sie so einfältig sein können, zu glauben –
»Nein, mit Larissa hat das nichts zu tun«, unterbrach Julius ihre rapide abwärts kreisenden Gedanken.
Smilla wäre erleichtert gewesen, hätte er nicht so gequält geklungen.
»Aber ich…« In einer entkräfteten Bewegung sah er zu Boden. »Ich muss dir was sagen.«
In Sekundenschnelle spielte Smilla durch, welche Hiobsbotschaft sich da gerade über ihr zusammenbrauen mochte:
Julius hatte jemanden in Brüssel kennengelernt und würde gemeinsam mit Ben ausziehen.
Nein, die beiden würden Brüssel ganz verlassen.
Oder er war immer noch einer von Evas Spionen und hatte sie die ganze Zeit über nur aushorchen sollen.
Juli holte tief Luft und strich sich die dunklen Locken aus der Stirn, die sofort wieder dorthin zurücksprangen. »Ich hätte schon viel früher was sagen sollen, aber…«
Er sah überall hin – auf seine Hände, auf den Rest des Joints, aus dem Fenster –, nur nicht zu Smilla.
»Fuck«, brachte er nach einigen quälenden Sekunden bloß hervor.
Angst legte sich über Smillas Herz und drückte auf ihre Lungen. Irgendetwas war aus dem Ruder gelaufen und stimmte nicht mehr. Sie verstand nur noch nicht, was.
»Was ist denn los? Du machst mir langsam doch Angst.«
Aber anstatt ihr zu antworten, sprang Juli auf und verschwand in den dunklen Flur.
Smilla benötigte einen Moment, um zu schalten. Dann eilte sie ihm hinterher. Sie sah ihn in das kleine Schlafzimmer am Ende des Flures verschwinden, in dem sie abwechselnd übernachteten.
»Juli, sag mir endlich, was los ist«, wisperte sie, als sie das Schlafzimmer erreichte.
Er stand auf der anderen Seite des Bettes und kramte in einer Kiste mit Dokumenten.
»Hier«, sagte er und hielt ihr über das Bett hinweg einen geöffneten Briefumschlag hin.
»Was ist das?«, fragte Smilla und schnappte den Brief aus seiner Hand. Sie drehte ihn so, dass sie den in fetten, schwarzen Buchstaben gedruckten Absender lesen konnte.
Amt für Wiedervereinigung.
Verwirrt hob sie den Blick und sah Juli an, der regungslos auf der anderen Seite des engen Raumes stand und sie mit mahlenden Kiefern beobachtete. »Der kam vor zwei Wochen an. Es stand kein Empfänger drauf, nur unsere Wohnungsnummer, da habe ich ihn aufgemacht.«
Ein Feuer aus Schock loderte durch Smillas Körper, als sie begriff. Jemand hatte sich auf eine ihrer Vermisstenanzeigen gemeldet.
Mit fahrigen Bewegungen zog sie den Brief aus dem Umschlag. »Wer ist es?«, fragte sie atemlos. »Ist es Papa? Ist Papa hier in Brüssel?«
Warum hatte Juli ihr diesen Brief nicht sofort gegeben? Kaum hatte sie diese Frage zu Ende gedacht, fiel ihr auch schon die gnadenlose Antwort ein. Weil es keine guten Neuigkeiten waren.
Mit fahrigen Bewegungen faltete sie das widerspenstige Blatt Papier auf. »Ich kann das nicht lesen«, hauchte Smilla, als ihr Blick endlich auf die kleingedruckten Zeilen auf der Vorderseite des Briefes fiel. Sie wirbelte herum und eilte zurück ins Wohnzimmer. Im Licht der Kerzen hob sie den Zettel vor ihre Augen.
Liebe Frau Jürgens, stand da auf Englisch.
Ungeduldig hasteten ihre Pupillen über die Wörter, während sie nach einem Namen suchte, den sie kannte, nach einem Wort, das ihr versicherte, dass alles gut war.
Sie wurden beim Amt für Wiedervereinigung als vermisst gemeldet.
»Was?«, stieß sie ungläubig aus. »Ich wurde… Von wem?«
Am Rande nahm sie wahr, dass Julius im Türrahmen auftauchte. »Es tut mir leid, Smilla. Ich weiß, ich hätte es dir sofort sagen sollen«, hörte sie ihn flüstern.
Vermisstenmeldung,
aufgegeben am: 02. Mai, 4 n. P.
Durch: Posch, Falk Lennart
Ein lodernder Schock peitschte Smillas Herz, und es setzte für einen Schlag aus.
Nein. Das konnte nicht sein. Falk war tot.
Noch einmal las sie den Namen. Aber die Buchstaben blieben dieselben. Posch, Falk Lennart.
Aber Nadja hatte seinen Tod doch bestätigt. Und Smilla wusste selbst nur zu gut, wie gnadenlos die Verlorenen Jungs mit Verrätern umgingen. Genau das war am Ende aus Falk geworden: Ein Verräter der übelsten Sorte.
Dennoch stand es da, schwarz auf weiß. Falk lebte.
Als der erste Schock abklang, ließ Smilla den nächsten, schwer begreiflichen Gedanken zu: Er war hier. In Brüssel. Und er suchte nach ihr.
Der Raum um sie herum begann sich zu drehen und floh in weite Ferne. Bis nur noch Smilla übrig war, den Brief in den Händen, keinen Boden mehr unter den Füßen.
Sollten Sie keine Wiedervereinigung wünschen, müssen Sie nichts weiter tun.
Ihr Herz donnerte in ihren Ohren, als wollte es den vergessenen Schlag wieder wettmachen. Mit jedem Atemzug wurde es schwerer, Luft zu bekommen.
Falls Sie sich durch die Anwesenheit dieser Person in Brüssel bedroht fühlen, melden Sie sich schriftlich bei…
Smillas Augen eilten weiter zur nächsten Zeile.
Wünschen Sie eine Wiedervereinigung, kommen Sie bitte zu einer persönlichen Vorsprache ins Amt für Wiedervereinigung,…
Zitternd ließ Smilla den Brief sinken und sah zu Julius. Er blickte drein, als hätte ihn jemand geohrfeigt. Und – oh, wie gerne sie genau das in diesem Moment getan hätte.
»Warum zeigst du mir das erst jetzt?«, fragte sie langsam. So langsam, dass es wie eine Drohung klang.
Julius trat ins Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. »Der kam an dem Tag an, als der Unfall in der Kleiderfabrik passiert ist. Du warst so aufgewühlt, ich wollte nicht –«
»Du entscheidest nicht, wann ich zu aufgewühlt bin, um das hier zu lesen«, unterbrach sie ihn aufgebracht. »Und außerdem ist das zwei Wochen her. Zwei Wochen!«
Julius sah zu Boden und nickte.
»Ich versteh das nicht«, sagte Smilla. Hinter ihrer Stirn sprangen die Gedanken hin und her und buhlten darum, als Erstes gedacht zu werden.
Falk lebte. Er war hier und suchte nach ihr.
Nadja. Wusste sie davon?
Und was fiel Juli ein, diesen Brief vor ihr zu verstecken? Gerade hatte sie ihm versichert, ihm voll und ganz zu vertrauen. Jetzt schien er ihr mit einem Mal fremd.
»Ich versteh’s einfach nicht«, murmelte sie, schwächer diesmal. Mit unsicheren Schritten begab sie sich zum Sofa und ließ sich darauf sinken. Noch einmal und noch einmal las sie den Namen.
Posch, Falk Lennart.
»Es könnte sein, dass es nicht wirklich Falk ist«, drang Julius’ Stimme aus einer weit entfernten Welt zu ihr. »Es könnte einer der anderen Verlorenen Jungs sein, der es auf dich abgesehen hat. Oder vielleicht sogar eines von Evas Kindern. Wenn Eva noch lebt, sinnt sie mit Sicherheit auf Rache, weil wir uns einfach davongemacht haben.«
Nur mit Mühe konnte Smilla ihre Augen von den Buchstaben lösen. Doch als ihr Blick Julius fand, loderte sofort Wut in ihr auf und noch etwas anderes, das sie nicht benennen konnte. Aber im Gegensatz zu der Wut, die ihr Kraft gab, schmerzte diese unbenannte Empfindung und machte sie schwächer.
»Aber warum in aller Welt hast du mir diesen Brief dann nicht sofort gegeben?« Smillas Wangen brannten, doch gleichzeitig fror sie. In ihr war alles in Unordnung.
»Weil Falk zu diesen Menschenhändlern gehört«, gab Julius mit tiefer, leiser Stimme zu. »Ich wollte nicht, dass so ein Typ in mein und Bens Leben tritt.«
»Also, erstens ist es nicht nur dein und Bens Leben, um das es hier geht, sondern auch meines. Und zweitens gibt dir das noch lange nicht das Recht, mich auf diese Weise zu bevormunden, und drittens«, sie hielt den Brief wie eine Waffe hoch, »hat Falk sich gegen seine Gruppe gestellt, um mir den Hals zu retten. Wenn er wirklich noch lebt, gehört er ganz sicher nicht mehr zu denen.«
Julius sagte nichts, sondern sah sie nur von der anderen Seite des Raumes her an.
»Ich habe geglaubt, er sei tot, Julius. Ich dachte, seine Leute hätten ihn ermordet, als Strafe dafür, dass er mir zur Flucht verholfen hat. Das wusstest du. Du wusstest, dass mich das Gefühl, daran schuld zu sein, jeden Tag und jede Nacht verfolgt. Und du beschließt trotzdem, mir das hier vorzuenthalten?«
Julius’ Kiefer mahlten. »Es tut mir leid, Smilla«, sagte er dumpf.
»Das glaube ich dir jetzt irgendwie nicht.«
Smilla ließ den Brief aufs Sofa gleiten und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ihr war nach Weinen zumute. Doch selbst dafür war sie zu durcheinander.
»Aus welchem Grund sonst hätte ich dir den Brief denn jetzt noch geben sollen?«, fragte Julius.
»Um deinen Arsch zu retten, bevor ich es auf andere Weise erfahre.«
Sie ließ die Hände wieder sinken und sah sich Hilfe suchend im Raum um. Doch da war nur Julius.
Mit einem Mal sehnte sie sich nach nichts mehr als nach Irgendwas. Nach ein, zwei Schnäpsen würde ihr Herz sicher aufhören, vor Aufregung zu stolpern, und ihre Gedanken würden sich nicht mehr überschlagen.
»Ich weiß, dass ich Scheiße gebaut habe, Smilla«, sagte Julius leise. »Es tut mir wirklich – was machst du da?«
Smilla war aufgestanden und stürmte an ihm vorbei in den Flur.
»Ich muss an die frische Luft«, antwortete sie und griff nach ihren ausgelaufenen Chucks.
»Du willst jetzt einfach gehen?«
Wahllos nahm sie eine der Jacken von der Garderobe und warf sie sich über. »Ich will nicht, aber bei dir sein, will ich noch viel weniger«, zischte sie und hängte sich die schillernde Handtasche um, in der sie ihre Ausweisdokumente und Wertmarken transportierte.
Julius rang um Worte.
»Warte nicht auf mich«, kam Smilla ihm zuvor. Dann zog sie die Tür auf, huschte in den Hausflur und eilte die Treppe hinunter, bevor Julius etwas sagen konnte, das noch mehr kaputtmachen würde.
Die Luft draußen war kühl und klar, und Smilla bekam in ihrem dünnen Schlafanzug sofort eine Gänsehaut. Sie zog die Jacke enger um ihren Oberkörper. Erst jetzt erkannte sie, dass es Julis bescheuerte Collegejacke war, die sie von der Garderobe geschnappt hatte. Aber die musste jetzt genügen. Sie wollte ohnehin nur schnell zur Kellerspelunke laufen und sich eine neue Flasche Irgendwas besorgen.
Sie eilte los. Irgendwann einmal, vor der Plage, waren die Straßen voller Autos gewesen. Bunte, schwere Autos mit dröhnenden Motoren und blinkenden Lichtern. Es war schwer, sich das vorzustellen, denn Amar hatte alle bewohnten Viertel von den Autoleichen befreien lassen. Irgendwer hatte Smilla einmal erklärt, dass sie aus der Blechverkleidung der Autos die Windturbinen herstellten, die sich scheppernd auf den Häuserdächern drehten und Strom erzeugten. Aber sie wusste nicht mehr, von wem sie das hatte.
Smilla lief schneller, vom einen Laternenlicht ins nächste. Der Strom, für den Amar in Brüssel gesorgt hatte, reichte zwar nicht, um damit die ganze Stadt zu versorgen. Aber die Industriegebiete, die Stadtverwaltung und das Krankenhaus hatten immer Strom, und seit Neuestem wurden auch einige Straßenlaternen endlich mit der spärlich vorhandenen Energie von Wind, Sonne und Wasser versorgt. Seitdem war die Kriminalitätsrate um fast die Hälfte gesunken. Bald sollte ein neues Solarfeld außerhalb der Stadtgrenzen in Betrieb genommen werden, und dann, so hatte Amar zur Wintersonnenwende angekündigt, würden sie auch die ersten Haushalte für einige Stunden am Tag mit Strom bedienen können.
Bebend sog Smilla die kühle Nachtluft ein. Sie musste sich schnell wieder beruhigen. Sie durfte nicht aufgebracht sein. Wenn Jera sie so sah, würde sie sich sorgen. Und Smilla hatte sich geschworen, Jera keinen Grund zur Sorge mehr zu geben.
So hatte es überhaupt erst angefangen, mit dem teuflischen Schnaps. Nach einer Panikattacke, die sie in ihren ersten Wochen hier in Brüssel ereilt hatte, hatte Smilla nach etwas gesucht, das ihr helfen würde, wieder herunterzukommen, bevor Jera aus der Schule kommen und sie völlig aufgelöst sehen würde. Und der Irgendwas hatte seine Aufgabe erfüllt.
Smilla bog in die nächste Seitenstraße ab, in der sich eine der vielen Kneipen Brüssels befand. An Alkohol, dem Betäubungsmittel Happiness, Marihuana und sonstigen Drogen mangelte es in der Stadt nie. Kaum jemand hielt es in dieser Oase des Friedens und der Freiheit aus, ohne sich hin und wieder zu betäuben. Manchmal glaubte Smilla, dass die Menschen in der Welt nach der Plage nicht mehr wahrhaftig glücklich sein konnten. Vielleicht hatte das Virus statt ihrer Atemwege die Fähigkeit, glücklich zu sein, zerfressen.
Zwei Gardisten standen vor der Kneipe. Der eine lehnte an der Hauswand und rauchte. Der andere führte ihm mit einer leeren, verrosteten Konservendose Fußballtricks vor.
Falk, schoss es ihr durch den Kopf.
Smilla kniff die Augen zusammen und schaute dem Gardisten ins Gesicht. Schräg stehende, dunkle Augen und eine breite, flache Nase. Kein dichter Bart, keine unzähligen Narben. Eindeutig nicht Falk.
Sie richtete den Blick auf den Boden und ging an den zweien vorbei auf die Treppe zu, die hinab in die Kneipe führte.
Der Geruch von ungewaschenen Menschen, hochprozentigem Alkohol und verbrannten Kräutern nahm sie in Empfang. An einem freien Platz trat sie an die Theke und lehnte sich über den Tresen.
»Smilla!«, sagte Henni, der Wirt, als er sie erkannte, und warf sich das schmuddelige Handtuch, mit dem er gerade Whiskeygläser abgetrocknet hatte, über die Schulter. »Na, hält dich der Durst wach?«
»So in etwa. Hast du eine Flasche Irgendwas für mich? Muss auch keine volle sein«, rief sie ihm über die Stimmen der Gäste hinweg zu.
»Klar doch.«
Er griff unter die Theke und holte eine angebrochene Flasche mit klarer Flüssigkeit darin hervor. »Acht Wertmarken.«
Smilla, die die Hand schon nach der Flasche ausgestreckt hatte, sah erstaunt auf. »Acht? Die letzte hast du mir für fünf gegeben.«
»Und heute siehst du aus, als würdest du dafür auch acht hinblättern«, entgegnete Henni und zog die buschigen Augenbrauen hoch.
»Bin ich Krösus?«, beschwerte Smilla sich und kramte in ihrer Handtasche nach den Wertmarken.
»Zumindest habe ich dich und Krösus noch nicht im selben Raum gesehen«, gab Henni mit einem Schulterzucken zurück.
Er streckte die Hand aus, und Smilla ließ die gräulichen Papierschnipsel mit dem Druckstempel der Neubrüsseler Bank hineinrieseln. Dann nahm sie die Flasche vom Tresen und wandte sich ab.
»Gern geschehen«, rief Henni ihr hinterher.
»Opportunist«, murmelte Smilla, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Auf der Treppe nach draußen schraubte sie den Verschluss auf und nahm einen tiefen Schluck des Gebräus, das von so geringer Qualität war, dass man sich nicht einmal einen vernünftigen Namen dafür ausgedacht hatte.
»Hey, Mädchen«, rief einer der Gardisten, als sie oben auf dem Bürgersteig ankam.
Smilla hielt inne.
»Warum bist du im Schlafanzug? Alles gut bei dir?«, fragte der, der eben noch geraucht hatte, und stieß sich von der Wand ab. Instinktiv machte Smilla einen Schritt rückwärts, weg von den beiden.
»Ja, alles gut«, antwortete sie.
Die beiden musterten sie prüfend, und Smilla merkte, wie die Angst von innen an ihr zu kratzen begann.
»Gibst du uns was davon ab?«, fragte der mit der Konservendose unter dem schweren Stiefel. »Wir haben noch drei Stunden Dienst vor uns. Könnten einen Stimmungsheber vertragen.«
Smilla ließ ihren Blick zwischen den beiden hin und her gleiten. Mit der Garde, Amars verlängertem Arm, verscherzte man es sich besser nicht, das wusste jeder in Brüssel. Vor allem die Gardisten selbst.