Wir waren nur Mädchen - Buzzy Jackson - E-Book

Wir waren nur Mädchen E-Book

Buzzy Jackson

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Beschreibung

Ein großer Roman nach der wahren Geschichte einer einmalig mutigen Frau.

Amsterdam, 1940: Hannie Schaft studiert Jura, und ihre Träume für die Zukunft sind ehrgeizig und voll Hoffnung. Doch es herrscht Krieg, und es sind die Träume, die zuerst sterben. Hannie sieht keine andere Möglichkeit mehr, als sich dem Widerstand anzuschließen. Und sie entdeckt ihre gefährlichste Waffe: ihr Frausein. Getarnt von Schönheit und Jugend kommt sie jenen Männern nahe, die so viel Unheil stiften – und tötet sie. Bald ist »das Mädchen mit den roten Haaren« die meistgesuchte Frau Hollands. Die Welt um sie herum verliert alles Menschliche, Hannie indes ist fest entschlossen, menschlich zu bleiben. Aber dann sie beginnt, Gefühle für den Widerstandskämpfer Jan zu entwickeln, mit verheerenden Konsequenzen ...

Die Widerstandskämpferin Hannie Schaft – eine Frau, die ihr Leben für die Freiheit aller riskierte.

»Ein brillanter Roman und ein Maßstab, um sich zu fragen, wie weit man selbst gehen würde, um jene zu schützen, die man liebt.« Jamie Ford, New-York-Times-Bestsellerautor.

 

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Seitenzahl: 650

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Über das Buch

Die schüchterne Jurastudentin Hannie ist es gewohnt zu tun, was von ihr erwartet wird. Doch je länger die deutsche Besatzung ihrer Heimat andauert, desto klarer wird ihr, dass sie handeln muss, wenn sie den Glauben an die Zukunft nicht verlieren will. Sie schließt sich dem Widerstand an und wird von dem draufgängerischen Jan ausgebildet. Schon bald begreift sie, dass sie als junge, schöne Frau den Nazis viel mehr entgegenzusetzen hat, als sie immer dachte – ihr Frausein wird ihre tödlichste Waffe. In einer unmenschlichen Zeit trifft sie schließlich eine zutiefst menschliche Entscheidung: Sie setzt ihr eigenes Leben für das aller aufs Spiel und findet ungeahnte Freiheit in ihrem Kampf für das Gute.

»›Wir waren nur Mädchen‹ zeigt den Mut und die Kraft einer Frau, die in einer furchtbar verkehrten Welt das Richtige tun will.« Booklist

Über Buzzy Jackson

Buzzy Jackson ist preisgekrönte Autorin dreier Sachbücher und hat an der University of California, Berkeley, in Geschichte promoviert. Sie war Stipendiatin des Edith Wharton Writers-in-Residence und ist Mitglied des National Book Critics Circle. Sie lebt in Colorado. Dies ist ihr Debütroman.

Mehr unter buzzyjackson.com

Christine Strüh übertrug u. a. Kristin Hannah, Neil Gaiman, Cecelia Ahern und Stephanie Marie Thornton ins Deutsche. Sie lebt in Berlin.

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Buzzy Jackson

Wir waren nur Mädchen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Widmung

Epigraph

Historische Anmerkung

Prolog — 1945 – Gefängnis am Amstelveenseweg, Amsterdam

Teil 1 — OZO

Kapitel 1 — Herbst 1940

Kapitel 2 — Winter 1941

Kapitel 3

Kapitel 4 — Frühjahr 1942

Kapitel 5 — Frühling / Sommer 1942

Kapitel 6

Kapitel 7 — Anfang 1943

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil 2 — Der RVV

Kapitel 11 — Frühling 1943

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16 — Spätsommer 1943

Kapitel 17 — Herbst 1943

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23 — Sommer 1944

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Teil 3 — Der Hungerwinter

Kapitel 30 — Sommer 1944

Kapitel 31

Kapitel 32 — Ende 1944

Kapitel 33 — Winter 1944

Kapitel 34 — 21. März 1945

Kapitel 35

Teil 4 — Die Dünen

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41 — April 1945

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45 — 15. April 1945

Kapitel 46 — 17. April 1945

Nachwort

Anmerkung der Autorin

Dank

Anmerkungen

Epigraph

Kapitel 24

Nachwort

Impressum

Für Rhoda und Leon Litwack, die ihr Leben der Liebe und der Gerechtigkeit widmeten

Epigraph

In der Schule saß ich fünf Jahre neben ihr. Sie war sehr still, hat sich nie am Unterricht beteiligt und kam nie zu Schulfesten. Sie hat nie gelacht, kaum je gelächelt. Doch eines Tages, als sie jemand neckte, hat sie sehr heftig reagiert. Da wurde mir klar: Wenn man sich mit diesem Kätzchen anlegt, sollte man lieber Handschuhe tragen.

Cornelius Mol über Hannie Schaft, seine Mitschülerin im Gymnasium

Ich habe großen Respekt vor Pazifisten. Damit meine ich nicht die Menschen, die einfach nur behaupten, den Frieden zu lieben. Ich meine Menschen, die für ihre Überzeugung geradestehen, weil die Welt zurzeit kriegstrunken ist.

Hannie Schaft, Auszug aus ihrem Aufsatz »Menschen, die ich bewundere«, den sie im Jahr 1935 im Gymnasium schrieb

Wir bauten eine Art Geheimarmee auf … und wir waren die einzigen Mädchen.

Freddie Oversteegen, als sie sich mit vierzehn Jahren zusammen mit ihrer Schwester Truus dem niederländischen Widerstand anschloss

Historische Anmerkung

Am 10. Mai 1940 marschierte Nazideutschland in den Niederlanden ein, zerstörte in einer Blitzattacke einen großen Teil der historischen Stadt Rotterdam und übernahm fünf Tage später die Macht. Der fanatische österreichische Antisemit Arthur Seyß-Inquart, der beim Anschluss Österreichs und in der Pogromnacht 1938 mit Adolf Hitler konspirierte, wurde zum Reichskommissar der Niederlande ernannt und setzte den zukünftigen Terror in Gang.

Das berühmteste Opfer des niederländischen Holocausts ist Anne Frank. Ihre Geschichte – Widerstand, Untertauchen, Verrat, Mord – sollte nichts Ungewöhnliches bleiben. In den Niederlanden wurden mehr Juden ermordet als in jedem anderen von den Nazis besetzten europäischen Land – geschätzte fünfundsiebzig Prozent (etwa 102 000 Menschen) überlebten den Krieg nicht. Zur Erklärung dieser Zahlen argumentierten Überlebende und Historiker, dass die flache, dicht bevölkerte Geographie der Niederlande es schwierig machte, sich zu verstecken; es gab keine großen Wälder oder Gebirgszüge, in denen man hätte verschwinden können. Ein weiterer Faktor könnte gewesen sein, dass die Nazis ihre antijüdischen Maßnahmen in den Niederlanden relativ langsam einführten, was wiederum die Entwicklung der Widerstandsbewegung verzögerte.

Und doch waren die Niederlande Schauplatz jenes bemerkenswerten Streiks im Jahr 1941, der der erste und einzige Massenprotest von Nichtjuden gegen antisemitische Maßnahmen der Nazis in Europa bleiben sollte. Organisiert von der niederländischen Kommunistischen Partei, protestierten ungefähr 300 000 niederländische Staatsbürger landesweit drei Tage lang, bis der Aufstand von den Nazibesatzern gewaltsam beendet wurde und Dutzende Anführer der Bewegung getötet wurden.

Der Krieg dauerte an, und viele Niederländer engagierten sich in den verschiedensten Formen passiven Widerstands, hörten etwa die von Radio Oranje – dem Sender der nach London geflüchteten Exilregierung der Niederlande – ausgestrahlten Programme, stellten die Nationalfarbe Orange zur Schau und lasen eingeschmuggelte Publikationen des Widerstands. Man geht davon aus, dass etwa fünf Prozent der niederländischen Bevölkerung offen mit den Nazis kollaborierten. Schätzungen zufolge nahmen ebenfalls fünf Prozent aktiv am Widerstand teil, indem sie Juden versteckten, die Deutschen im Dienst der Alliierten ausspionierten oder in direkter Konfrontation mit den Nazibesatzern zur Waffe griffen. Unter diesen bewaffneten Widerständlern waren nur sehr wenige Frauen.

Prolog

1945 – Gefängnis am Amstelveenseweg, Amsterdam

Du kannst dein ganzes Leben lang an deinem eigenen Schicksal vorbeigehen, ohne es je zu sehen. Aber Gefängnisse sind mit Absicht unauffällig. Das Gefängnis im Amstelveenseweg nimmt einen ganzen Häuserblock ein, ein schartig-grauer Steinklotz, der für einen Pharao erbaut worden sein könnte. Auf meinem Weg zur Universität habe ich es bestimmt tausendmal gesehen. Und doch kommt mir hier nichts bekannt vor.

Als ich in den Innenhof geführt werde, werden die Geräusche schärfer. Selbst leises Flüstern schallt von den hoch aufragenden Stahlsäulen wider. Falls es auch männliche Insassen gibt, sehe ich sie nicht. Stattdessen sind in den Zellen Frauen jeden Alters, von schlaksigen jungen Mädchen bis zu buckligen Alten, Zweier- und Dreiergruppen, die reden, beten oder versuchen zu schlafen.

Als ich vorüberkomme, heben sich die Köpfe, und ich spüre ihre Blicke im Rücken. Ein Murmeln erhebt sich. Die Wachen verstärken von beiden Seiten ihren Griff um meine Oberarme, gierige Krallenfinger.

»Mach«, sagt einer. »Voran, geh weiter.«

Wir bleiben in Bewegung, aber das Flüstern umwabert uns wie aufsteigender Nebel, eilt uns voraus in Hunderte winzige kalte, vier Stockwerke hoch übereinandergetürmte Zellen. Mit jedem Schritt wird das Geräusch stärker, mächtiger, lauter.

Das Schlurfen der Frauen, die sich zu den Gitterstäben ihrer Zellen bewegen, um uns zu beobachten. Irgendwo hoch über mir höre ich ein Klatschen …

»Ruhe!«, brüllt eine Wache über uns.

Einen Augenblick lang ist es ganz still. Dann sind auf der anderen Seite des Innenhofs, auf einem anderen Stockwerk, zwei Stimmen zu hören, ein Aufschrei, leise, aber unverkennbar. Der Nebel verbreitet sich überall, wirbelt um uns her im sanftesten Aufbegehren, das man sich vorstellen kann, ein schwebender, anwachsender Lufthauch der Gerechtigkeit. Der Klang der Hoffnung. Selbst hier, an diesem Ort.

Als ich das Ende des Gangs erreiche, begrüßen die Frauen mich mit Namen.

Hannie, Hannie. Het meisje met het rode haar. Hannie Schaft.

Das Mädchen mit den roten Haaren. Hannie.

Ich bekenne mich nicht zu diesem Namen.

Als ich zur letzten Zelle komme, halte ich inne und schaue hinein. Eine ältere Frau mit tief liegenden Augen und langen, ungepflegten Haaren liegt auf einer Pritsche, eine knotige Schulter an der kalten Zellenwand. Ihre Haut ist aschfahl, und wie sie da liegt, mit geschlossenen Augen, sieht sie aus wie tot. Dann jedoch öffnen sie sich.

Sie sieht mich. Ich sehe sie. Mit großer Anstrengung hebt sie zittrig eine Hand. Ich bin ihr nie begegnet, und doch kenne ich sie.

Zu schwach zum Aufstehen, reckt sie eine knochige Faust in die Höhe.

»Verzet!«, flüstert sie.

Leiste Widerstand.

Das habe ich vor.

Teil 1

OZO

1940–1943 – Amsterdam

Kapitel 1

Herbst 1940

Ich war nicht immer ein Einzelkind.

Auf dem angeschlagenen Waschbecken vor mir sitzt ein silberner Vogel, im Flug erstarrt, eine Silhouette wie ein Bomber, beide Flügel ausgestreckt, den Schwanz zu einer koketten Spirale gezwirbelt. Ein Spatz. Als ich das letzte Mal bei einem Konzert war, habe ich ihn getragen. Das ist Monate her.

Natürlich war es Annies Brosche. Papa hat sie ihr geschenkt, als der echte Spatz weggeflogen ist. Ich war noch sehr klein damals, etwa vier Jahre, also muss Annie neun gewesen sein. Es war nach Mitternacht, und ich schlief, als Annie mich anstupste.

»Schau mal, Johanna.« Eine Kerze in der einen Hand, deutete sie mit der anderen zum Boden neben unser gemeinsames Bett. Dort hockte ein kleiner braungrauer Vogel, der mit seinem schief gelegten Kopf aussah, als lausche er Annies Worten. Er piepste. Ich schnappte laut nach Luft, und Annie knuffte mich. »Psst!«

»Lass ihn aus dem Fenster fliegen«, sagte ich.

»Hab ich versucht«, erwiderte sie. »Aber er ist gleich wieder reingeflogen.«

Ich glaubte ihr kein Wort. Über ihre Schulter spähend, sah ich den Flaumball hüpfen und stolzieren, wobei seine winzigen Krallen leise über die Dielen kratzten. Schließlich flatterte er zum offenen Fenster und stürzte sich nach draußen. »Siehst du?«, sagte ich. »Jetzt ist er weg.«

Aber eine halbe Sekunde später tauchte der Vogel wieder vor unserem Fenster auf, flatterte panisch im Zickzack gegen die Glasscheibe, schlüpfte dann von Neuem herein, landete ungeschickt, hüpfte zu der von ihm auserwählten Stelle auf dem Boden neben unserem Bett und begann uns wieder anzupiepsen.

»Was sollen wir bloß mit ihm machen?«, fragte ich.

»Wir behalten ihn«, sagte Annie. Sie hatte auf alles eine Antwort parat.

Und wir behielten ihn tatsächlich, jedenfalls eine Weile. Als er irgendwann endgültig davonflog, schenkte Papa meiner Schwester den silbernen Vogelanstecker, ein Erbstück unserer Großmutter. Ich war eifersüchtig, aber es ergab natürlich Sinn: Mit ihrer unerschöpflichen Energie, ihrem Schwung, ihrer Neugier war Annie einem kleinen Vogel nicht unähnlich. Angeblich war unsere Oma genauso gewesen. Ein paar Monate später schenkte Papa mir dann ebenfalls einen Anstecker: einen kleinen silbernen Fuchs. Er war nagelneu.

»Mijn kleine vos«, sagte er. »Für dich.« Mein kleiner Fuchs.

»Aber ich habe doch gar keinen Fuchs gefunden«, sagte ich verwirrt. »Es ist nicht wie bei Annie und dem Vogel.« Papa lachte. »Aber du hast rote Haare, Dummchen.« Dann nahm er mich auf den Arm und vergrub das Gesicht in meinen Locken.

Zum ersten Mal verstand ich, dass zwischen der Person, als die ich mich in meinem Innern kannte, und derjenigen, die andere in mir sahen, ein Unterschied bestand.

Jetzt steck das verdammte Ding doch einfach an. Ich schnappte mir den Spatz vom Beckenrand, stieß die Nadel in das zweilagige Revers meines Wollmantels und stach mich prompt auf der anderen Seite in den Daumen. »Verdammt.«

»Genau deshalb werden unschuldige junge Mädchen vor der großen bösen Stadt gewarnt«, lachte Nellie, die gerade mit unserer Freundin Eva in die Dachgeschosswohnung hereinstolperte, die wir zu dritt teilten. »Sie flucht schon wie ein Pirat.«

»Verdammt, verdammt.« Als ich die Brosche wieder entfernt hatte, blieb ein Fleck auf dem kamelhaarfarbenen Wollstoff zurück, und ich hielt den blutenden Daumen rasch unter den Wasserhahn.

»Lass mich mal«, erbot sich Eva, die Mütterliche in unserer Gruppe. Wir waren alle drei zusammen in Haarlem auf die Schule gegangen, hatten aber keinen engen Kontakt zueinander gehabt. Nellie und Eva hatten mich ausgesucht, weil sie mich kannten – das scheue Mädchen, das jede Extraarbeit erledigte, die der Lehrer ihr auftrug, und an einem milden Frühlingstag zwei Pullover tragen musste, weil seine Mutter sicher war, dass es an einer normalen Erkältung sterben könne. Ich war nicht der Typ, der Ärger machte.

»Wo hast du den her?« Nellie hielt den Anstecker, der im schwachen Licht glänzte, in die Höhe. »Ist richtig hübsch.«

»Von meiner Schwester«, antwortete ich und nahm ihn ihr weg. »Danke, aber ich muss los, bin spät dran.«

»Entschuldige«, sagte Nellie.

»Schon gut, ich bin nur spät dran«, sagte ich, schon draußen auf dem Treppenabsatz, und machte mich auf den Weg die Treppe hinunter. Meine Wangen brannten, meine Wimpern waren nass. Annie war seit dreizehn Jahren tot. Der dumme Spatz.

Ich war Expertin darin, ein Niemand zu sein, seit Jahren hatte ich es eingeübt. So nahm ich auch an diesem Abend im großen Ballsaal der Universität den Platz ein, an dem ich mich am sichersten fühlte: ganz hinten. Um meine Hände beschäftigen zu können, nahm ich das Glas Mineralwasser, das mir angeboten wurde, und nippte daran, während der Raum sich mit Studenten füllte und ihre Gespräche um mich herum immer lauter summten. Die Mädchen im Veranstaltungskomitee des AVSV, des Amsterdamer Studentinnenverbands, strömten in ihren hübschen Kleidern durch den Eingang, ihre Stimmen eine Melodie der Begrüßung. Alle Ankommenden wurden einzeln willkommen geheißen, vor allem die Jungs, die sie beim Reden ganz zwanglos berührten, mal umarmten oder sogar auf die Wange küssten. Wie es sich wohl anfühlte, mit Jungs so entspannt umzugehen? Oder sollte ich sie Männer nennen? Sie wirkten sehr jungenhaft.

»’tschuldigung«, sagte einer gerade zu mir, ein Student, der mich auf der Suche nach seinen Freunden versehentlich angerempelt hatte.

»Kein Problem«, erwiderte ich. Wie Riesen in Kleinformat trampelten sie durch die Welt, bedenkenlos und egoistisch, ohne sie wirklich wahrzunehmen.

»Hast du Feuer?«

Irritiert zuckte ich zusammen. Aber es war eine junge Frau etwa in meinem Alter. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte sie.

Sie war um einiges größer als ich, ungefähr eins siebzig, ihre Erscheinung ließ sie jedoch noch größer erscheinen. Glänzende braunschwarze Haare fielen ihr in perfekten Wellen über die nackten Schultern, das Mitternachtsdunkel ihrer Haare ein einziger Kontrast zum Blassblau ihres Krinolinenkleids. Ihre Augen waren dunkelbraun, fast schwarz, mit langen, geschwungenen Wimpern und einem überraschend unschuldigen Blick, ihre Lippen in einem tropischen Korallenrot geschminkt. Sie sah aus wie ein Filmstar. Ein Wunder, dass sie mich in meinem beigefarbenen Rock und meiner einfachen weißen Bluse überhaupt wahrgenommen hatte. Aber sie lächelte noch immer. Und blinzelte mich fragend an.

»Tut mir leid«, antwortete ich. »Nein.« Es tat mir wirklich leid, weil ich nicht wollte, dass sie so schnell wieder ging. Ich hatte schon versucht zu rauchen, allerdings nur gehustet. Aber jetzt nahm ich mir vor, es noch einmal zu probieren. Womöglich machte es Augenblicke wie diesen einfacher.

»Was, kein Feuer?«, fragte mein Gegenüber. »Oder keine Zigarette?«

»Beides«, sagte ich, korrigierte mich aber schnell. »Keins von beidem.«

Sie lachte, ein heller Glockenklang, freundlich, nicht im Geringsten gemein. »Philine! Hier drüben!« Sie winkte einem anderen dunkelhaarigen Mädchen, das sich einen Weg durch die Menge bahnte. Das neue Mädchen, Philine, war etwas größer als ich und etwas weniger spektakulär als ihre Freundin. Auch sie war hübsch, doch auf eine zugänglichere Art. Braune Haare, braune Augen, ein entspanntes Lächeln. Ihr Kleid sah aus, als wäre es am Saum mehrmals umgenäht und – je nach gängiger Mode – wieder ausgelassen worden. Bei meinem Rock war das Gleiche der Fall. Allerdings trat Philine genau wie ihre Freundin voller Selbstbewusstsein auf, und ich konnte sie mir beide sehr gut auf einer Kinoleinwand vorstellen. Ich hingegen würde eher für die unscheinbare, aber intelligente Freundin der Heldin vorsprechen. Die Vernünftige.

»Warum versteckst du dich hier, Sonja?«, fragte Philine ihre Freundin. »Versuchst du, deinen Verehrern aus dem Weg zu gehen?«

»So ungefähr«, antwortete Sonja. »Ich dachte, Mitglieder des AVSV sollten sich umeinander kümmern, doch die Kleine hier will mir nicht mal Feuer geben.« Sie zwinkerte mir zu, und ich wurde knallrot vor Scham. Ich war zwanzig; das Rauchen hätte ich doch längst lernen müssen.

Philine lächelte mich an. »Ich bin Philine. Und wie heißt du?«

»Hannie«, sagte ich spontan und erschrak über mich selbst. Bisher hatten alle mich Johanna oder Jo genannt, aber seit ich vor einem Jahr mein Studium an der Universität von Amsterdam begonnen hatte, dachte ich darüber nach, mir eine neue Identität zu geben, hatte es bis zu diesem Tag jedoch nicht gewagt. Der Name kam mir irgendwie eingebildet vor. Zu verwegen. Und ich war nicht sicher, ob ich wirklich das Recht hatte, mich selbst als eine andere Person zu sehen.

»Hallo, Hannie«, sagte sie und akzeptierte meinen neuen Namen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wahrscheinlich hätte jeder das getan. Meine Mutter sagte immer, ich würde viel zu viel nachdenken.

Philine schüttelte mir die Hand. »Und Prinzessin Sonja hast du schon kennengelernt.« Meine Augen wurden groß. »Sie ist keine echte Prinzessin«, erklärte Philine grinsend, ohne meine Hand loszulassen.

»Na ja, mütterlicherseits bin ich immerhin mit den Habsburgs verwandt«, erklärte Sonja mit einem Hauch von Stolz.

»Das glaube ich erst, wenn du einen Prinzen heiratest«, sagte Philine. »Und du, Hannie? Bist du eine Prinzessin? Oder auch nur eine langweilige Jurastudentin wie wir?«

Ich strahlte die beiden an. Sie waren so klug und hübsch und energiegeladen, ich brannte darauf, weiter mit ihnen zu reden. Eigentlich hatte ich gehofft, auf der Universität mehr Freunde zu finden als auf dem Gymnasium, hatte jedoch die gleichen Fehler gemacht wie immer, hatte Einladungen zum Kaffee abgelehnt und behauptet, ich hätte zu viel zu lernen. Natürlich hatte ich nicht mehr zu tun als alle anderen, aber schon bei der Vorstellung, mit Fremden Kontakte zu knüpfen, bekam ich schweißnasse Hände. Auch jetzt. Ich war nur bei dieser Party, weil ich mir vor ein paar Tagen geschworen hatte, herzukommen und mindestens dreißig Minuten zu bleiben. Acht Minuten hatte ich noch vor mir.

»Nur eine langweilige Jurastudentin«, sagte ich und fühlte mich in der sonnigen Gegenwart dieser beiden schon viel entspannter. »Ich bin aus Haarlem.«

»Schön«, sagte Philine.

»Ich war noch nie in Haarlem«, sagte Sonja.

»Sonja«, mahnte Philine.

»Was?«

»Du warst in Paris und in Rom, aber noch nie in Haarlem? Das ist gerade mal ein paar Kilometer entfernt!«

»Paris hat den Louvre und Rom das Colosseum. Was hat Haarlem zu bieten?«

»Sonja!« Philine gab ihr einen spielerischen Klaps auf die Hand.

»Pardon«, sagte Sonja, an mich gewandt. »Haarlem ist bestimmt schön. Ich werde bald hinfahren.«

»Nein, das wirst du nicht.« Auch Philine wandte sich mir zu. »Jetzt verstehst du, warum wir sie Prinzessin nennen.«

»Prinzessin?«, unterbrach uns eine tiefe Stimme, und ein großer, blonder junger Mann in einer ordentlich gebügelten Marineuniform trat zu uns. »Hier bist du also, Sonja. Ich hab dich schon gesucht.«

Mit seinen gepflegten glattgekämmten Haaren und seinem selbstbewussten Lächeln strahlte er eine Attraktivität aus, die mich nervös machte. Zu gut aussehend. Zu selbstsicher. Ich mied solche Männer. Wie sollte ich jemals mit so jemandem sprechen? Zum Glück schienen Philine und ich in Sonjas Gegenwart unsichtbar geworden zu sein.

»Piet!«, rief Sonja und fiel ihm um den Hals – auf die gleiche lässig-elegante und doch kokette Art, wie die Mädchen hier sie so perfekt beherrschten. Und sie wirkte vollkommen natürlich. »Wie geht es dir?«

Piets Gesicht entspannte sich, ein breites Lächeln erschien. »Ich habe gestern in der Bibliothek auf dich gewartet«, sagte er.

»Ach ja?« Sonja flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er machte große Augen, als freue er sich. Ich versuchte, mir vorzustellen, was sie gesagt haben könnte, um diesen Effekt zu erzielen, aber mir fiel nichts ein. Im nächsten Moment entwand sie sich seinen Armen und stellte uns einander vor. »Piet, du kennst ja Philine«, sagte sie, worauf er nickte und Philine übertrieben förmlich die Hand küsste. Sie spielte mit und knickste.

»Und das ist unsere Freundin Hannah.«

»Hannie«, korrigierte Philine.

»Hannie.« Pieter griff nach meiner Hand, und ich entriss sie ihm sofort wieder, weil ich befürchtete, er würde sie ebenfalls küssen.

»Entschuldigung«, sagte er und vergewisserte sich mit einem schnellen Blick zu Sonja, ob er sie verärgert hatte.

»Nein, nein, mir tut es leid«, stieß ich verlegen hervor und ärgerte mich über mich selbst.

»Was hast du dem armen Mädchen angetan?«, neckte Sonja ihn. Natürlich war mir klar, dass alles nur ein Scherz war, doch ich fühlte eine gewisse Genugtuung, dass sie mich verteidigte. »Weißt du, Piet, wir wollten gerade gehen«, erklärte sie. »Aber ich freue mich sehr, dass wir uns wenigstens noch gesehen haben.« Sie küsste ihn auf die Wange, hinterließ dort eine perfekte rosa Rosenknospe und packte dann Philine und mich an der Hand. »Wir müssen Hannie nach Hause bringen«, verkündete sie und zog uns zum Ausgang. »Sie hat morgen einen großen Tag, sie wird nämlich von der Königin geehrt.«

Jetzt verblasste Piets Selbstvertrauen. »Aber es hat doch gerade erst angefangen«, wandte er ein.

»Ich weiß, aber …« Sonja ging noch schneller, als wäre die Sache extrem dringend. »… aber es ist schließlich die Königin.« Sie warf Piet eine Kusshand zu und zerrte uns an den AVSV-Mädchen vorbei, die ihr im Eingangsbereich nachstarrten, als wäre es ihnen nicht ganz unrecht, dass dieses Starlet verschwand.

»Mäntel!«, rief Philine im Befehlston, bog ab und zog uns energisch mit sich. Sonja kreischte, und ich schlitterte über den glatten Fliesenboden zur Garderobe. Dann flitzten wir zur Tür hinaus. Erst auf dem Hof blieben wir stehen und lachten über unser albernes Abenteuer.

»Wer war das gerade?«, fragte Philine.

Sonja verdrehte die Augen. »Pieter Hauer. Ich gehe ihm schon seit Monaten aus dem Weg.«

»Er scheint aber ganz nett zu sein«, meinte Philine. »Und er sieht gut aus.«

Sonja sah mich an. »Findest du das auch?«

Ich wollte mir etwas Geistreiches einfallen lassen, doch dann fand ich es leichter, bei der Wahrheit zu bleiben. »Ich mochte ihn nicht besonders.«

»Ha!« Sonja umarmte mich. »Ich wusste doch, dass man sich auf dich verlassen kann«, sagte sie. »Auch wenn du mir kein Feuer geben willst.«

»Was ist das denn?« Philine beobachtete, wie ich mir umständlich meinen Mantel anzog – oben am Revers steckte Annies Brosche, die ich auf keinen Fall verlieren wollte. »Hübsch«, sagte sie und beugte sich darüber. »Ist das ein Star?«

»Ein Spatz«, korrigierte ich.

»Genau wie du«, meinte Sonja mit einem großzügigen Lächeln, »süß und beherzt.« Sie wandte sich an Philine. »Genau das meinte ich neulich, diese ewigen geselligen Runden langweilen mich unendlich – wir müssen unseren Bekanntenkreis erweitern. Genau das habe ich gesagt! Und dann ist Hannie aufgetaucht. Wie ein kleiner Spatz.«

Ich stand zwischen den beiden, stumm vor Staunen, aber durchaus ermutigt. Sonja berührte meine Locken und nahm nachdenklich eine Strähne zwischen die Finger. »Für solche Haare würde ich sterben.«

»Dafür?« Ich zog die leuchtend rote Strähne glatt, und als ich sie losließ, kräuselte sie sich augenblicklich wieder zu einer Locke. Mein kleiner Fuchs. Mein Fluch. Fragt einfach eines der Kinder, die mich früher wegen meiner Haarfarbe gehänselt haben.

»Weißt du noch, als du deine Haare mit Peroxid traktiert hast, Sonja?«, fragte Philine und zog eine Grimasse.

»Ja – küchenschabenbraun. Aber mit so etwas«, meinte Sonja und arrangierte eine meiner Locken neu, so dass sie mir übers Auge fiel, »mit so etwas musst du geboren werden. Das ist dein Glorienschein.«

In den letzten zehn Minuten hatte ich mehr Komplimente bekommen als in den zwanzig Jahren meines ganzen Lebens. Jedenfalls fühlte es sich so an. Schon immer war ich schnell errötet, und jetzt war mein Gesicht wahrscheinlich puterrot vor Verlegenheit. Und vor Glück.

»Kommt, wir gehen zu dir, Sonja, und hören ein paar Platten«, sagte Philine.

»Glaub ihr kein Wort«, sagte Sonja und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Wir gehen zu mir, stellen Radio Oranje an und trinken Wein.«

Sie wollten, dass ich mit ihnen kam? Mit diesen beiden glamourösen Großstadtmädchen, die Radiosendungen des Widerstands aus London hörten? Ich dachte, Nellie und ich wären die Einzigen, die den Sender regelmäßig zum Lagebericht unserer Exilkönigin anstellten. Und sie tranken dazu auch noch Wein?

Ich hatte keine Ahnung, warum, aber diese Mädchen interessierten sich tatsächlich für mich. Sie wussten nicht, dass ich ein schüchternes kleines Füchslein war, das seine Nächte allein verbrachte, mit Nachdenken und Träumen. Sie dachten, ich sei ein mutiger, ein »beherzter« Spatz. Und das Beste daran – für sie war ich einfach Hannie.

Und dank Sonja und Philine wurden all diese Dinge wahr.

Kapitel 2

Winter 1941

Vielleicht hätte ich mich dem Widerstand nie angeschlossen, wenn ich an diesem Dienstagmorgen nicht meine Periode bekommen hätte. Als ich aufwachte, entdeckte ich einen großen rostroten Blutfleck auf meinem Laken.

Ich hatte meine eigene Nische in unserer winzigen Wohnung, die nur aus einem einzigen, klug eingerichteten Zimmer mit Dachschräge bestand – genau wie mein Kinderzimmer damals in Haarlem. Nellies und Evas Betten nahmen die beiden gegenüberliegenden Ecken des Raums ein, meines war in einen Alkoven beim Kamin gequetscht. Was den Niederlanden an Bergen fehlte, machten wir mit unseren hohen, schmalen Gebäuden wett. Ständig gestalteten wir aus einem einzigen Raum zwei oder drei Zimmer und fanden Platz, wo es eigentlich gar keinen gab. Als Nation hielten wir uns viel auf unsere praktischen Lösungen zugute, ein kleines, aber zähes Land nüchterner Menschen, die wussten, dass der Erfolg eines winzigen überfüllten Landes von guten Manieren und Respekt vor den Regeln abhängt.

»Morgen!«, sagte Nellie und beugte sich über das Kaltwasser-Waschbecken, um ihr Gesicht im Spiegel zu begutachten. Blonde Haare, blaue Augen, eine klassische holländische Schönheit, genau wie Eva. Von der Art, wie ich sie mir selbst immer gewünscht hatte.

»Dieser blöde Bindengürtel«, sagte ich, während ich mich bückte, um das Ding mit den Sicherheitsnadeln zusammenzustecken. Wie bei den meisten Mädchen, die ich kannte, hatte auch meine Mutter den Gürtel für mich genäht, und nun, da sie nicht hier war, um ihn zu reparieren, fiel er immer mehr auseinander. Ich hatte mich geweigert, nähen zu lernen – ein für mich sehr seltener Akt der Rebellion. Aber ich wollte in meiner Freizeit nicht die ganze Flickarbeit erledigen müssen, wie es meine Mutter stets getan hatte.

»Wahrscheinlich kannst du dir da, wo meine Tante arbeitet, etwas Besseres besorgen«, sagte Nellie. »Die haben elastische Gürtel, Kotex, die ganzen guten Sachen.«

»Ach ja?« Ich stand auf und schaute auf mein Bettzeug hinunter. Es sah aus, als wäre jemand darauf ermordet worden. »Und das kriegt man dort einfach so?«

»Ich glaube schon«, antwortete sie. »Da gibt es so was stapelweise.« Damit griff sie Mantel und Tasche und machte sich bereit zum Aufbruch.

Ich spürte, wie der schäbige Bindengürtel unter meinem ruinierten Nachthemd von meiner Hüfte baumelte. »Kannst du mir die Adresse geben?«

Obwohl ich noch immer an der Juristischen Fakultät eingeschrieben war, schien nichts, was man mir über Gerechtigkeit beibrachte, auf die sich verändernde Welt um mich herum zuzutreffen. Ich war 1920 geboren, zwei Jahre nach dem Ende jenes Kriegs, der alle Kriege beenden sollte. Niemand hätte sich vorstellen können, dass es einen zweiten dieser Art geben könne. Und als Deutschland einmarschierte, wollte ich kämpfen, helfen vor allem. Aber was konnte ich tun? Nach der deutschen Invasion hatte sich unsere kleine niederländische Armee aufgelöst, und Soldatinnen gab es ohnehin nicht. Sollte ich fliehen? Ich konnte meine Heimat nicht verlassen. Ich wollte bleiben und etwas … irgendetwas tun. Als ich beim Büro des Flüchtlingskomitees ankam, war ich auf der Suche nach einem besseren Bindengürtel. Als ich es verließ, stand fest, dass ich dort zukünftig zweimal die Woche arbeiten würde, natürlich ehrenamtlich.

Unter der Leitung unserer respekteinflößenden Aufseherin Schwester Dekker, die uns den Zugang zu medizinischem Bedarf aus dem Krankenhaus ermöglichte, arbeiteten hier einige politisch aktive Frauen, die etwa im Alter meiner Mutter waren. Diese Frauen unterstützten schon seit den frühen Tagen des Spanischen Bürgerkriegs Geflüchtete – in diesem Fall hauptsächlich polnische und deutsche Juden auf der Flucht vor den Nazis. Es war keine aufregende Arbeit, wir falteten Wäsche und packten Hilfspakete für Familien, die Not litten, aber immerhin taten wir etwas Nützliches. Etwas, das es wert war.

Und es versetzte mich in die Lage, meine neuen Freundinnen Sonja und Philine noch in anderer Hinsicht zu unterstützen. Wenige Wochen nachdem ich sie kennengelernt hatte, waren jüdische Studierende, Angestellte und Lehrkräfte aus den öffentlichen Lehranstalten, einschließlich der Amsterdamer Universität, vertrieben worden, und ich machte mich nützlich, indem ich vormittags die Vorlesungen besuchte und den Unterrichtsstoff nachmittags für Sonja und Philine wiederholte. Als ich zu einer dieser Studiensitzungen mit einer ganzen Kiste der neuesten Hygieneprodukte für Frauen erschien, war die Sache besiegelt. Nichts zementiert weibliche Freundschaften so sehr wie Mitgefühl bei Blutflecken.

»Schwester Dekker hat gesagt, wir werden doppelt so viele Pakete brauchen«, sagte ich, als wir eines Nachmittags durch Sonjas Viertel wanderten. Seit der deutschen Invasion waren nun sechs Monate vergangen.

»Du bist ein echter Glücksgriff für die Organisation«, meinte Sonja. Zu Beginn hatte mich die Freiwilligenarbeit noch in merkwürdiger Weise an früher erinnert. Genau wie ich es als Heranwachsende an der Seite meiner Mutter für irgendwelche Kirchengruppen getan hatte, saßen wir an langen Holztischen und packten gewissenhaft Pakete mit Hygieneartikeln, Rasierzeug und Fleischkonserven. Doch in letzter Zeit wurde ein Gefühl von Dringlichkeit spürbar, und das Arbeitstempo steigerte sich von Tag zu Tag.

»Wohin werden die ganzen Hilfspakete geschickt?«, fragte Philine, als wir uns eines Nachmittags auf dem Gehweg zwischen den Einkaufenden hindurchdrängelten.

»Hauptsächlich nach Westerbork«, antwortete ich. Westerbork war ein Lager etwa hundertsechzig Kilometer von Amsterdam entfernt, mit Barracken und einem Bahndepot. Es war bereits vor dem Krieg für die Unterbringung jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland errichtet worden. Es gab Gerüchte, die Nazis hätten vor, es in ein Gefangenenlager für holländische Juden umzuwandeln. Doch diese Spekulationen erschienen eigentlich viel zu drastisch. Sicher, es wurde viel darüber getuschelt, was mit Zigeunern, Juden oder all denen geschehen würde, die für sie arbeiteten. Aber wir lebten in den Niederlanden, der Heimat von Erasmus von Rotterdam und Spinoza, seit Jahrhunderten herrschte hier Religionsfreiheit. Ich versuchte, all diese Sorgen abzutun. Genau wie ich die Möglichkeit abgetan hatte, dass es einen weiteren Krieg geben könne.

»Warum ist bloß alles so überfüllt?«, sagte Sonja. Wir hatten geplant, irgendwo einen Kaffee zu trinken, aber sämtliche Cafés, an denen wir vorbeikamen, waren voll. Inzwischen hatten wir uns daran gewöhnt, überall auf den Straßen deutschen Soldaten zu begegnen. Die jüngeren von ihnen mit ihren Schildmützen und kurzen Jacken waren die freundlichsten und ohne Zweifel froh darüber, nach Amsterdam und nicht an die Ostfront entsendet worden zu sein.

»Ekelhaft«, sagte Philine leise, als wir auf der anderen Straßenseite einen Pulk Soldaten sahen, die Schulkindern bunt verpackte deutsche Süßigkeiten zuwarfen. Die Kinder kreischten, begeistert und ängstlich zugleich, während sie versuchten, so viel wie möglich von den seltenen Leckereien zu ergattern.

»So freundlich in ihren scheußlichen Uniformen«, brummte Sonja.

»Feldgrau.« Ich fauchte das Wort, als hinterließe es einen schlechten Geschmack in meinem Mund – und genau das war auch der Fall. Feldgrau war die vorherrschende Farbe der deutschen Truppen, ein widerliches grünliches Grau, das klammheimlich zu einem Teil des Amsterdamer Stadtbilds geworden war, an den Körpern, den Lastwagen, den militärischen Kontrollpunkten der Deutschen.

»Es ist eigentlich gar keine Farbe«, stellte Philine fest. »Sieht aus wie eine Schuhsohle.«

»Die Unterseite eines Sofas«, fügte Sonja hinzu.

»Oder das Linoleum, das man in Krankenhäusern benutzt«, ergänzte ich.

»Ja!«, sagte Sonja. Sie lachte.

»Hallo!«, rief einer der Soldaten ihr zu und winkte.

»Ignoriert sie einfach«, sagte Philine.

»Kommt, wir suchen uns ein Café, wo wir uns hinsetzen können«, sagte Sonja, wie immer geübt darin, unerwünschter männlicher Aufmerksamkeit zu entgehen. In der Erwartung, uns in eines der zahlreichen Etablissements auf dem Platz verdrücken zu können, bogen wir um die Ecke – und blieben wie angewurzelt stehen. Der kleine Platz war von einem tragbaren Musikpavillon in Beschlag genommen worden, eine erhöhte Bühne mit einem Segeltuchdach, unter dem eine Blaskapelle von etwa zwei Dutzend Musikern samt ihren Instrumenten vor schwarzen Notenständern saßen, alle in Uniform. Ein Dirigent, ebenfalls in Uniform, klopfte mit dem Taktstock auf sein Pult, um die Aufmerksamkeit der Musiker auf sich zu ziehen. An der Vorderseite der Bühne war ein Banner mit der Aufschrift Musikkorps der Ordnungspolizei angebracht.

»Die Orpo hat eine Musikkapelle?«

»Wo lernst du bloß dieses ganze Zeug?«, fragte Philine, die noch dabei war, die Buchstaben des Banners zu entziffern.

»Beim Flüchtlingskomitee«, antwortete ich. Die Frauen dort wussten einfach alles.

Wir blieben eine Weile am Rand des Platzes stehen und beobachteten die Musiker bei ihren Vorbereitungen. Die Kapelle saß etwas beengt auf der kleinen Bühne, der Rest des Platzes war so gut wie leer. Lediglich auf der Vorderseite drängte sich eine Gruppe deutscher Soldaten und ihrer Befehlshaber in protzigen Uniformen, und weiter hinten sah man vereinzelte Grüppchen neugieriger holländischer Bürger, größtenteils Teenager und Kinder. Die Cafés waren geschlossen.

Deshalb also waren die Seitenstraßen so voll. Das Spektakel ging mir durch Mark und Bein: Der Gedanke, dass die Deutschen über Zeit und Mittel verfügten, etwas so Nutzloses wie eine Polizeikapelle zusammenzustellen, all die Instrumente und Notenpulte und sogar Noten per Zug aus der Berliner Kommandozentrale heranzuschaffen und uns ihre vergiftete Kultur aufzuzwingen, während sie uns unser Land unter den Füßen wegstahlen, erfüllte mich mit Zorn. Warum schickten die Besatzer nicht wenigstens Lebensmittel? In den Läden waren die meisten Regale leer.

»Wenigstens haben diese hier hübschere Farben«, stellte Sonja fest. Die Orpo trug Uniformen in hellerem, wenn auch immer noch institutionellem Graugrün.

»Lasst euch nicht in die Irre führen«, sagte ich. »Sie gehören genauso zur SS.« Nach der Invasion hatte es nur ein paar Wochen gedauert, bis wir die Abkürzungen der Naziregimenter in all ihrer absurden Kompliziertheit lernten. Die Ordnungspolizei war die Orpo, bestehend aus Alltagspolizisten. Die gefürchtete Schutzstaffel war die SS, die eine Rolle zwischen Straßenpolizisten und Hinterhofschlägern ausfüllte, und der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS war der SD, der Geheimdienst der SS – die Spione. Es half, dass ich in der Schule Deutsch gelernt hatte.

Dann verkündete der Dirigent etwas auf Deutsch, und die Musiker begannen zu spielen. Das blecherne Schmettern eines Militärmarschs erfüllte den Platz mit einem provozierend fröhlichen Humptahumpta. »Igitt«, sagte Sonja, die auf ihrem Grammophon zu Hause vorzugsweise Jazz laufen ließ.

»Was hast du sonst über Westerbork gehört?«, fragte Philine leise und beugte sich zu mir, damit ich sie trotz der Musik verstehen konnte. »Dekker hat gesagt, dort wird jetzt alles geregelt«, antwortete ich. »Die Deutschen sind in ihrem Krankenhaus aufgetaucht und haben sämtliche Akten beschlagnahmt, von Patienten, Ärzten, Personal – allen. Mit der Begründung, sie brauchten sie, um die Hilfsleistungen neu zu organisieren.«

»Akten?«, hakte Philine nach. »Was denn für Akten?«

»Ausweisdokumente, glaube ich. Name, Adresse, Arbeitsstelle und so weiter. Als bräuchten die Deutschen ihr eigenes System, um unseres damit zu ersetzen.« Dabei konnte niemand die Niederländer übertrumpfen, wenn es um Ordnung und eine effiziente Verwaltung ging. In den Niederlanden war der öffentliche Dienst mächtiger als die Armee. »Jedenfalls ist es ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre«, fuhr ich in meinem Bühnenflüstern fort, überzeugt von meiner juristischen Analyse, »und nach der Genfer Konvention ganz sicher illegal.«

»Sie sondern die Juden aus«, sagte Philine leise und starrte mit gesenktem Kopf vor sich auf das Kopfsteinpflaster, so dass ich sie kaum verstand.

»Was?«, fragte ich. »Nein, sie wollten sämtliche Akten. Nicht nur die jüdischen.« Ungläubig blickten Sonja und Philine mich an. Es dauerte eine Sekunde, bis ich zum ersten Mal fühlte, wie sich eine Kluft zwischen uns auftat. Ich sah es in ihren Gesichtern: Wenn die Deutschen die Absicht hatten, das Krankenhauspersonal und die Patienten durch religiöse oder ethnische Identifikation irgendwann voneinander abzusondern, würden diese Dokumente es ihnen leicht machen. So hatten sie in Deutschland angefangen, lange vor Kriegsbeginn. Das wusste ich. Die Scham über meine Dummheit machte es mir schwer, Philine und Sonja in die Augen zu schauen. »Oh«, sagte ich nur. Von der Bühne erhob sich die Musik zu einem Crescendo, und die Stimmung der deutschen Funktionäre im Publikum hob sich ebenfalls. Wir dagegen verstummten und starrten ausdruckslos vor uns hin, während die Musik weiterspielte.

Als ich Sonja und Philine ein paar Monate zuvor kennenlernte, waren sie für mich einfach typische niederländische Mädchen wie ich selbst. Als ich erfuhr, dass sie Jüdinnen waren, bedeutete das für mich nichts anderes, als wenn ich erfahren hätte, dass sie dem katholischen Glauben angehörten: Es spielte überhaupt keine Rolle. Meine Mutter war die gläubige Tochter eines protestantischen Pfarrers, mein Vater Sozialist, ein Freigeist, was zwischen ihnen nie ein Problem gewesen war. Abgesehen davon, dass man an hohen Feiertagen in die Kirche ging, war niemand, den ich kannte, besonders religiös. Ich war im Haarlem der Mittelschicht aufgewachsen und kannte nicht viele Juden, auch wenn es sie natürlich gab. Zweifelsohne waren die meisten jedoch, genau wie Philine und Sonja, in Familien aufgewachsen, die ihren Glauben kaum praktizierten. Philines und Sonjas Familien lebten seit Jahrhunderten in den Niederlanden, wie die meisten holländischen Juden. Wir waren als Nation eben nicht nur für Windmühlen und Holzpantinen bekannt, sondern auch für unsere Toleranz, und genau deshalb zog es die Menschen auf der Flucht vor dem Faschismus in die Niederlande.

Als die Nazis einmarschierten, machten sie ein großes Theater darum, wie lieb sie uns hatten – ihre kleinen holländischen Brüder und Schwestern in dem von Adolf Hitler verheißenen »Tausendjährigen Reich« der Naziherrschaft. Die Deutschen wollten die Niederlande nicht zerstören, darauf beharrten sie, sie wollten sie retten. Uns mit offenen Armen aufnehmen. Natürlich war das pure Propaganda. Aber abgesehen von dem Luftangriff, bei dem Rotterdam am ersten Tag der Invasion in Schutt und Asche gelegt worden war, hatten sie uns tatsächlich weitgehend in Ruhe gelassen. Sogar die Juden. Die Deutschen waren da, aber sie bauten keine Ghettos und warfen auch keine Bomben mehr auf unser Land. Womöglich entwickelten sich die Dinge in den Niederlanden wirklich anders als in Deutschland und Österreich. Trotzdem begann sich der penetrante Dunst des Nazismus in jeder Ecke des täglichen Lebens auszubreiten. Denn wir waren keinesfalls die Brüder und Schwestern der Nazis, und sie planten nicht, uns zu schonen.

Ich hatte unzählige Diskussionen meiner Eltern dazu gehört, über ihre Sorgen ob des Aufstiegs von Mussolini, Franco oder Hitler. Annie, älter und kühner als ich, mischte sich in diese Gespräche der Erwachsenen ein, während ich still dabeisaß und lauschte. Als Zehnjährige wünschte ich mir oft, sie würden das Thema wechseln und über jene Dinge reden, über die nach meiner Vorstellung normale Familien redeten – beispielsweise übers Wetter. Doch nun war ich dankbar für die nächtlichen Debatten, dank ihnen hatte ich zumindest eine Ahnung von dem, was uns möglicherweise bevorstand. Meine Eltern sprachen über den Widerstand und das mutige Engagement der Partisanen in Italien und Spanien, doch wir alle wussten, wie solche Geschichten endeten. Mussolini und Franco waren noch immer an der Macht. Und so war ich wohl weniger naiv als die Zwanzigjährigen, in deren Familien nur übers Wetter gesprochen wurde. Doch mit einem verstohlenen Blick auf die beiden Mädchen, die so rasch meine besten Freundinnen geworden waren – die ersten echten Freundinnen seit Annies Tod –, wusste ich, dass ich noch viel zu lernen hatte. Zusammen standen wir in der am weitesten von der Blaskapelle entfernten Ecke des Platzes und lauschten der Musik, die mit einem letzten Tusch und dem Dröhnen der Tuba endete. Sonja zuckte zusammen. So grässlich die Besatzung war, für Sonja und Philine war sie tausendmal schlimmer. Sie hatten Angst vor Dingen, an die ich bislang noch nicht einmal im Traum gedacht hatte.

Die Deutschen in den ersten Reihen klatschten und jubelten. Der Rest der Menge blieb still. Sonja schaute sich um. »Es wird immer schlimmer«, flüsterte sie. Ich konnte nicht beurteilen, ob sie es eigentlich hatte laut sagen wollen.

»Gehen wir«, sagte Philine und nahm Sonja bei der Hand. So wanderten wir am Rand des Platzes entlang und bogen in eine kleinere Straße ein, in der all die normalen Menschen waren, die sich um diese Zeit sonst auf dem Platz tummelten.

»Ich habe versucht, mit meinem Vater übers Fortgehen zu reden, aber er ist so stur«, erzählte Philine im Weitergehen. »›Solange wir uns an die Gesetze halten, werden wir keine Schwierigkeiten bekommen‹, sagt er immer. Und da er ›im Leben noch nie ein Gesetz gebrochen‹ hat …«, endete sie mit gerunzelter Stirn.

»Vor zehn Jahren hat mein Vater meine deutschen Tanten und Onkel überredet, nach Amsterdam zu kommen, um sich in Sicherheit zu bringen«, erzählte Sonja kopfschüttelnd. »Aber jetzt wissen sie nicht mehr, was sie tun sollen. Meine Eltern und ihre Freunde reden auch übers Fortgehen, aber bisher sind die Baums die Einzigen, die sich tatsächlich auf den Weg gemacht haben. Und meine Mutter meint, sie hätten einfach überreagiert.«

Philine und Sonja sprachen selten so offen mit mir, obwohl sie bestimmt dauernd über diese Fragen nachdachten. Die Scham trieb mir die Röte ins Gesicht. Ich wollte unbedingt, dass meine Freundinnen genug Vertrauen zu mir hatten, mir solche Dinge zu erzählen. Auf einmal erschien mir ihr Vertrauen das Allerwichtigste auf der ganzen Welt.

»Wohin sind sie gegangen?«, fragte ich. »Die Baums?«

»Nach Amerika«, antwortete Sonja. »Anscheinend haben sie Verwandte in … Detroit? Wo auch immer das genau sein mag.«

Der Ton unserer Unterhaltung änderte sich. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns nicht mehr ins Café setzen würden. »Biegen wir hier ab«, sagte Philine. Wir gingen eine ruhigere Straße hinunter, und außer dem Wummern der Basstrommel verklang die Musik allmählich hinter uns. »Detroit ist die Stadt, in der Henry Ford seine Autos bauen lässt«, erklärte sie. Natürlich wusste Philine so etwas – Gott sei Dank hatte ich auf dem Gymnasium nie mit ihr konkurrieren müssen, wo ich mich konkurrenzlos an meinem Status als Klassenbeste erfreut hatte.

»Wie haben sie das geschafft?«, fragte ich Philine.

»Wie mein Vater sagt: ›Mit Geld ist nichts unmöglich‹«, antwortete Philine. Dann sah sie Sonja an. »Ich meinte nur …«

»Nein, es stimmt ja«, erwiderte Sonja mit einem Achselzucken. »Die Baums sind wohlhabend. Sie haben alles verkauft, was sie konnten, und ihr Geld von der Bank geholt – jedenfalls, so viel sie bekommen konnten. Meine Mutter sagt, die Bank habe nicht alles rausgerückt und Frau Baum hätte das Land mit einem Ring an jedem Finger und jedem Zeh verlassen.« Zur Veranschaulichung ließ sie ihre Finger wackeln, und jeder einzelne ihrer Fingernägel war wunderschön poliert.

»Selbst wenn wir genug Geld hätten, um zu fliehen«, sagte Philine, »würde mein Vater sich noch weigern. ›Ich bin Franzose, ein Lehrer, das bin ich‹, sagt er immer. ›Was soll ich in Amerika tun? Schuhe putzen?‹« Sie rollte die Augen. »Dabei weiß jeder, dass es in Amerika Arbeit genug gibt.«

Ja, das sagte man. Man sagte auch, dass am Tag der deutschen Invasion Dutzende holländische Juden im Glauben, der Tod erwarte sie, Selbstmord begangen hätten. Aber danach war nicht viel passiert, und zunächst hatte es den Anschein – für mich jedenfalls –, als hätten sie auf furchtbarste Weise überreagiert. Nun allerdings regten sich Zweifel in mir. Was war mit meinen anderen Annahmen, mit der Vorstellung, dieser Krieg würde höchstens vier Jahre dauern – wie der Große Krieg damals? Womöglich würde dieser Krieg ewig weitergehen. Niemand wusste es.

»Würdest du wirklich gehen?«, fragte ich Philine.

»Wenn ich müsste«, antwortete sie. Inzwischen standen wir vor dem Haus, in dem sie wohnte. »Kommt mit nach oben«, sagte sie zu uns, und ich war froh, immer noch dazuzugehören.

»Ich gehe«, sagte Sonja.

»Komm, bleib doch«, protestierte Philine.

»Nein«, entgegnete Sonja. »Ich meine, ich gehe nach Amerika. Mein Entschluss steht fest.«

»Nach Amerika?«, wiederholte ich. »Wann?«

»Irgendwann«, antwortete sie und folgte mir die Treppe hinauf. »Jetzt noch nicht, aber irgendwann. Entweder mit meinen Eltern oder ohne sie. Ich werde nicht hier rumsitzen und darauf warten, dass …« Sie hielt auf dem engen Korridor inne und senkte die Stimme. »Wenn ich gehe und sie nicht bereit sind, dann gehe ich allein.« Am Ende des Satzes nickte sie entschlossen, wie um ein Versprechen zu besiegeln, das sie sich selbst gegeben hatte.

»Nein, Sonja«, sagte Philine besorgt, »das ist gefährlich, du kannst nicht allein weggehen.«

Doch Sonja verdrehte die Augen und lachte. »Schaut euch an, da gackern wir wie dumme Hühner! Entspannt euch, Mädels. Ich hab meine Kabine noch nicht gebucht.«

Ich sagte nichts, ich hatte das Gefühl, dazu kein Recht zu haben. Philine seufzte. »O Sonja«, sagte sie nur.

»O was?«, fauchte Sonja, die offenbar genug von dieser Unterhaltung hatte. »Gehen wir jetzt rein?«

»Nichts«, beantwortete Philine ihre Frage ausweichend. »Nichts.«

Kapitel 3

»Ah, ma chérie.«

Weich und melodisch schwebte die Stimme ihres Vaters durch den Flur zur offenen Wohnungstür, und Philine blieb einen Moment stehen. »Bonjour, Papa«, rief sie, und augenblicklich war die Sorge aus ihren Zügen verschwunden und ihrer ruhigen Freundlichkeit gewichen. »Sonja und Hannie sind hier.«

Ich war Herrn Polak schon mehrmals begegnet, und als wir ins Wohnzimmer gingen, saß er dort wie üblich mit einer Decke über den Knien und einem Buch in der Hand. Er war Anfang vierzig, hatte aber die Ausstrahlung eines Menschen, der nie jung gewesen war, seine Haare waren silbern, und er kniff ständig die Augen zusammen. Genau wie seine Tochter war er stets freundlich, Philines sanfter Vater, der Lehrer aus Frankreich. Er liebte seine Tochter von Herzen, und die enge Beziehung der beiden war offensichtlich, genau wie meine eigene zu meinem Vater, der ebenfalls Lehrer war. Doch mein Vater befand sich nicht in der gleichen Gefahr wie Herr Polak. Ich spürte einen Kloß im Hals. War es denn wirklich so schlimm, Schuhe zu putzen?

»Ich hab nicht viel Zeit«, sagte ich.

»Aber wir haben noch gar nicht gelernt«, wandte Philine ein.

Marie, das langjährige Hausmädchen der Polaks, kam mit einer dampfenden Tasse Tee herein, die sie neben Herrn Polak abstellte. Mindestens sechzig Jahre alt, war Marie keine Jüdin, aber dennoch aus Deutschland geflüchtet. Sie hatte ihre Heimat aus wirtschaftlicher Not in den frühen Zwanzigern verlassen, um in Amsterdam Arbeit zu suchen. Schon seit zwanzig Jahren arbeitete sie bei den Polaks und war wie eine Mutter für Philine, die noch ein Baby gewesen war, als ihre eigene Mutter an einem Fieber starb. Obgleich Angestellte der Polaks, war Marie immer mehr zum öffentlichen Gesicht der Familie geworden. Sie erledigte sämtliche Einkäufe und Gespräche mit Außenstehenden, konnte auch in den besseren Geschäften einkaufen, wo Juden nur noch ungern bedient wurden. Mit ihren weißen, zu einem Knoten aufgesteckten Haaren und dem von lebenslanger Hausarbeit krumm gewordenen Rücken hätte man sie für Herrn Polaks Mutter halten können.

Eigentlich war es für Nichtjuden verboten, für Juden zu arbeiten, aber das kümmerte Marie nicht, sie machte einfach weiter, unsichtbar, wie es ältere Frauen oft sind. Als ich Philine einmal fragte: »Glaubst du, dass sie euch jemals verlassen wird?«, starrte sie mich entsetzt an. »Natürlich nicht«, antwortete sie, hielt dann jedoch inne. »Sie liebt uns«, sagte sie schließlich. »Und wo sollte sie sonst auch hingehen?«

»Merci, Marie«, sagte Herr Polak. Marie nickte und verschwand in die Küche.

»Hannie«, begrüßte mich Herr Polak, »la petite dernière.« Die kleine Nachzüglerin, sein Spitzname für mich, die ich hinter meinen beiden Freundinnen hertrottete wie ein Entchen hinter zwei Schwänen. Er schenkte mir ein wohlwollendes Lächeln. »Wohin bist du unterwegs an so einem kalten Abend? Nach Hause hoffentlich?« Es beunruhigte ihn, dass ich nicht bei meiner Familie wohnte und zum Abendessen meist Bohnensuppe aß.

»Ich hab noch etwas zu erledigen, dann gehe ich nach Hause, versprochen.«

»Pass auf dich auf da draußen.« Er hob den Vorhang an und blickte hinaus auf die dunkle Straße. Zu dieser Jahreszeit ging die Sonne schon früh unter, und mit dem Licht verschwand auch ihre Wärme. Seit die Luftwaffe vor ein paar Monaten begonnen hatte, England zu bombardieren, waren die Straßenlaternen entfernt oder zerschossen worden. Inzwischen hatten wir alle gelernt, unseren Weg im Dunkeln zu finden.

»Das mache ich«, antwortete ich.

»Wenigstens müssen wir uns keine Sorgen machen, dass die Deutschen uns bombardieren, n’est‑ce pas?«, sagte er mit einem leisen Lachen und ließ den Vorhang wieder fallen. »Vielleicht der einzige Vorteil daran, sie als Nachbarn zu haben.«

»Vermutlich«, sagte ich, beunruhigt von seiner Entschlossenheit, an der Situation noch etwas Hoffnungsvolles zu entdecken. So mussten sich Philine und Sonja fühlen, wenn sie mit mir redeten.

»Wir haben Glück, dass wir nicht in London sind«, fuhr er fort und deutete auf die Zeitung auf dem Tisch neben sich. »Sie bombardieren jetzt auch die Kirchen, kannst du dir das vorstellen?« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wie Rabbi de Hond sagt: ›Die Synagogen sind unsere Zuflucht und die Tefillin unsere Luftabwehr.‹« Er lächelte schwach und seufzte. »Was die Briten erleiden müssen, ist grauenhaft.«

Darauf wusste ich nichts zu antworten. Die Tefillin, winzige schwarze Gebetskapseln, enthielten Schriftrollen mit Texten aus der Tora. Soweit ich wusste, besuchte von der Familie Polak keiner die Synagoge, aber Herr Polak suchte Hoffnung, ganz gleich, wo er sie zu finden glaubte. Ich konnte es ihm kaum zum Vorwurf machen, tat ich doch das Gleiche.

»Ich habe Angst um die Königin«, fuhr Herr Polak fort und berührte die verwelkte weiße Nelke, die im Knopfloch seines Revers steckte. Inzwischen trug man die Lieblingsblume Prinz Bernhards als Zeichen der Loyalität mit der holländischen Königsfamilie. Königin Wilhelmina, Prinz Bernhard und der Rest der Familie waren mit Beginn des Kriegs nach London geflohen, wo sie eine Exilregierung bildeten. Wir alle lauschten ihren mitreißenden Reden bei Radio Oranje – was natürlich verboten war. »Wie kann sie denn mitten in alldem in Sicherheit sein?«

»Mmm«, sagte ich nur und musste an die Orpo-Kapelle denken, die wir gerade auf dem Platz gesehen hatten, an die Art und Weise, wie die deutschen Truppen durch unsere Stadt marschierten und sie für sich beanspruchten. Noch allzu deutlich hatte ich den Ausdruck auf Sonjas und Philines Gesichtern vor Augen, als wir vorhin die Blaskapelle beobachtet hatten. Die Besorgnis, die Angst. Den Ekel, die Abscheu. »Bestimmt macht die Königin sich ebensolche Sorgen um uns«, sagte ich.

»Selbstverständlich«, stimmte er zu. »Doch sie vertraut auf uns. In der Sendung gestern Abend hat sie unseren ›Mut zum Widerstand und die Stärke unseres Volksgeists‹ gelobt.« Herr Polak lächelte, allein die spektrale Präsenz der Königin tröstete ihn.

Mich nicht. Trotz der guten Absichten der Königin tröstete man so höchstens ein Kind. Mich interessierte nur, dass sie ausdrücklich den Widerstand erwähnt hatte. Zu Anfang des Kriegs war viel von Widerstand geredet worden, aber das Wort war rasch aus der Öffentlichkeit verschwunden und wurde eigentlich nur noch von Leuten wie der Königin, die von London aus sagen konnte, was sie wollte, in den Mund genommen. Und dennoch wirkte das Verschwinden des Wortes wie ein Omen. Alles, was in diesem Krieg etwas bewirken könnte, verschwand von der Bildfläche, von der Sprache über Gewehre bis hin zu den Druckerpressen. Als die Deutschen dann jedoch den Besitz privater Rundfunkempfänger verboten, passten die Widerständler sich an. Sie reduzierten die Geräte auf ein Gewirr von Drähten und Metall, versteckten die auseinandergebauten Teile unter den Bodendielen und montierten sie nur zusammen, um den abendlichen Sendungen der Königin zu lauschen. Jemand stand an der Wohnungstür Schmiere, danach wurde alles wieder fachmännisch versteckt. Der Widerstand war nicht verschwunden, er wartete, lag auf der Lauer, genau wie die Radios.

»Freut mich«, sagte ich nur.

In seiner Königinnenstimme zitierte Herr Polak weiter: »›Diejenigen, die Gutes wollen, können nicht für alle Zeit daran gehindert werden, es zu tun‹, hat sie gesagt.« Er lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück.

Hatte er denn die Zeitung nicht gelesen? Hatte er die Fotos nicht gesehen, die wir alle gesehen hatten – Tausende behelmte deutsche Soldaten, die, den Reichsadler schwenkend, durch den Arc de Triomphe marschierten? Die widerlichen Touristenschnappschüsse von Adolf Hitler am Eiffelturm? Paris war gerade mal fünfhundert Kilometer entfernt. Die unter der Kontrolle der Nazis stehenden Zeitungen, von denen die Stadt heute geradezu überflutet wurde, waren voll mit begeisterten Nachrichten über die anhaltenden Erfolge der Wehrmacht in Osteuropa. War ihm nicht klar, dass diejenigen, die das Gute wollten, tatsächlich fast überall daran gehindert wurden, es durchzusetzen? Mühsam schluckte ich meine Gefühle hinunter. Jeder von uns hatte im Krieg auf seine eigene Art zu kämpfen.

»Gute Nacht, Herr Polak«, sagte ich, »es war schön, Sie zu sehen.«

»Du bist ein gutes Mädchen, Hannie«, sagte Herr Polak, als müsse er sich vergewissern. »À bientôt, Mademoiselle.« Im Hinausgehen sah ich noch, wie er die welkende Nelke in seinem Knopfloch zurechtrückte. Ich konnte nur hoffen, dass Marie ihn gewarnt hatte, wie gefährlich es war, sie in der Öffentlichkeit zu tragen.

»Sehen wir uns morgen?« An der Tür küsste Sonja mich auf die Wange, Philine, die hinter ihr stand, lächelte mich an.

»Mein Vater hat dich sehr gern«, sagte sie leise.

Auch ich lächelte. »Die meisten Eltern mögen mich.« Wir umarmten uns, und ich rannte die Treppe hinunter, zurück in die Dunkelheit der Straße.

So viel hatte sich verändert, seit ich Sonja und Philine kennengelernt hatte. Ich fühlte mich stärker mit der Stadt, mit den Menschen um mich herum verbunden. Nach dem Tanzabend hatte ich gehofft, den beiden auf dem Campus zu begegnen, aber niemals hätte ich erwartet, dass sie mich in ihre Freundschaft einschließen würden. Doch genau das hatten sie getan. Sie mochten mich. Und ich vermutete, dass meine Gegenwart sie von irgendetwas befreite. Zumindest hielt meine Gegenwart sie meist davon ab, den immer gleichen düsteren Dialog wiederzukäuen, während Woche um Woche unter deutscher Besatzung verstrich. Statt sich gegenseitig mit dem grausigen Stand der Dinge zu quälen, konnten sie sich darauf konzentrieren, mir alles Mögliche beizubringen: wie man sich in der großen Stadt Amsterdam bewegte, wie man sich im Gespräch mit Jungs selbstbewusst zeigte, welche Pulloverfarbe bei Rothaarigen am besten aussah. Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Themen, die uns davon abhielten, stets wieder beim Offensichtlichen zu landen.

Doch heute fühlte sich plötzlich alles anders an. Dinge, die für meine Freundinnen immer schon offensichtlich gewesen waren, wurden es nun auch für mich.

Ruckelnd kam der Pendlerzug im Westen von Amsterdam zum Stehen. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Gleise, erhoben sich die Backsteingebäude der Westergas-Fabrik und die massiven zylindrischen Stahltanks am Kanal, der das Arbeiterviertel in diesem Teil der Stadt durchzog. In der Abenddämmerung stand ich auf dem fast menschenleeren Bahnsteig, und die eiskalte Luft ließ mich frösteln.

Schwester Dekker hatte mich gebeten, hier am Stadtrand einen Umschlag bei einem sicheren Haus für Flüchtlinge vorbeizubringen. »Du scheinst mir ein vernünftiges Mädchen zu sein«, hatte sie am Morgen zu mir gesagt. »Kannst du etwas für mich erledigen?« Erst hatte sie mir den Umschlag in die Hand gedrückt, dann einen separaten Zettel mit einer Adresse. »Bring den Brief einfach zu dieser Adresse, ja? Aber behalte die Adresse für dich.«

Ich nickte, weil ich alles tat, worum sie mich bat. Immer. Dekkers brüske Geschäftigkeit erinnerte mich an meine Mutter, die stille, aber kraftvolle Erdenschwere, die im Heim meiner Kindheit alles zusammengehalten hatte. Wie meiner Mutter widersprach ich Schwester Dekker nur äußerst selten, stellte meist auch keine Fragen, was Schwester Dekker offensichtlich zu schätzen wusste.

Ich stolperte ein paar schäbige Häuserblocks entlang, bis ich die angegebene Hausnummer fand, meinte jedoch, am falschen Ort gelandet zu sein. Eine Festung kalter roter Backsteine, fünf Stockwerke hoch, ragte das Gebäude still und verlassen vor mir auf. Apartment 6 hatte kein Namensschild – jemand schien es mit den Fingernägeln abgekratzt zu haben. Doch daneben befand sich eine rissige Klingel, also drückte ich auf den Knopf.

»Ja?«, erklang von oben eine barsche Stimme. Ich blickte hinauf. »Ja?«, wiederholte die Stimme, und ich entdeckte einen faltigen alten Mann mit einer Marinemütze, der sich zwei Stockwerke über mir aus dem Fenster beugte.

»Flüchtlingskomitee?«, fragte ich und hielt den Umschlag in die Höhe. Ich hatte angenommen, ich würde lediglich Papiere bei einer anderen Gruppe der Organisation abgeben. Aber inzwischen war ich mir nicht mehr so sicher. Das Innere des Gebäudes war noch dunkler als die nur von den Sternen erhellten Straßen – entweder waren die Korridorlampen durchgebrannt, oder es gab keine. Ich tastete mich zur Treppe vor und folgte einem schrägen Rechteck Licht, das oben aus einer offenen Tür fiel.

»Wer hat dich geschickt?«, fragte der Mann, der aus dem Türschlitz spähte.

»Schwester Dekker.«

Er blinzelte. »Bist du das neue Mädchen?«

»Weiß ich nicht«, antwortete ich. »Vermutlich.« Ich warf einen Blick über seine Schulter und fragte: »Ist das hier das Komitee?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Vermutlich«, sagte er und streckte die Hand nach dem Umschlag aus, den ich ihm durch den Türspalt reichte, lachte leise, und ich sah, dass ihm drei Zähne fehlten. Jetzt öffnete er die Tür etwas weiter, und aus dem Inneren der Wohnung strömten Wärme und Licht und der stickige Mief von Beengtheit – Essensgeruch, Holzfeuer, menschliche Körper. Hinter dem Mann erkannte ich zwei Erwachsene und drei Kinder, die sich unter einer Steppdecke auf einer klumpigen, auf dem Boden liegenden Matratze zusammenkauerten. Dies war keine Flüchtlingsorganisation. Diese Menschen waren die Flüchtlinge selbst.

»Danken Sie Schwester Dekker in meinem Namen«, sagte der Mann. »Und ich danke auch Ihnen, Fräulein.« Kurz bevor die Tür sich schloss, zwinkerte er mir zu. »Oranje zal overwinnen«, sagte er. Dann war die Tür zu, und ehe ich antworten konnte, wurde der Riegel vorgeschoben.

Oranje wird siegen.

Einen Moment blieb ich in der Dunkelheit stehen und lauschte dem Geflüster hinter der Tür, das von der Straße nicht zu hören gewesen war. All diese Menschen in diesem winzigen Raum. Flüchtlinge. Aus Deutschland? Aus Polen? Von hier? Das ganze Gebäude verströmte eine tiefe Traurigkeit. Und obgleich ich weder Jüdin noch geflüchtet war, wusste ich nur zu gut, was es bedeutet, die eigene Familie verschwinden zu sehen.

Annie.

Auf dem Rückweg zum Bahnhof hielt ich mich im Schatten der Häuser. Ich hatte Annie abgöttisch geliebt. Alle hatten sie geliebt. Aber sie war mit zwölf Jahren an Diphtherie gestorben, als ich sieben war. Ihr Tod hatte meinen Eltern das Herz gebrochen, und wir alle hatten uns auf die Inseln unseres Selbst zurückgezogen, um irgendwie weiterexistieren zu können. Mein Vater nahm Zuflucht bei der Lehrergewerkschaft, meine Mutter in ihren Sorgen. Ich in meiner Arbeit, im Lernen. Schon vor Annies Tod war ich ein lernbegieriges Kind gewesen, aber danach wurde es zur Besessenheit. Mein ganzes Leben bestand aus Lesen, Schreiben, Studieren und dem Ablegen von Prüfungen. Ich zog den Kopf ein, wartete, dass etwas passierte.

Die Tatsache, dass ich nicht Annie war, hatte mein ganzes Leben bestimmt. Bis zu dem Moment, in dem ich Sonja und Philine begegnete. Jetzt entdeckte ich mich als junge Frau, die nachts an fremde Türen klopfte und gleich einer verwegenen Spionin geheime Passworte austauschte: Oranje zal overwinnen. Für Philine, Sonja und jetzt sogar für Schwester Dekker war ich Hannie.

»Ha!« Ich lachte tatsächlich laut über mich selbst, weil ich so begriffsstutzig war. Annie … Hannie. Es war mir gar nicht aufgefallen. Annie war noch immer bei mir – in mir, genau genommen. Und ich hatte noch so viel von ihr zu lernen.

Durch die kalte Novemberluft trabte ich zum Bahnhof. Abgesehen von ein paar deutschen Soldaten, die rauchend an einem Pfeiler lehnten und sich unterhielten, war kein Mensch zu entdecken. Ich holte mein Fahrrad, sah die am Fahnenmast wehende Hakenkreuzfahne und fuhr, so schnell ich konnte, nach Hause. Als ich mein Fahrrad auf dem Weg zwischen meinem und dem Nachbarhaus abstellte, fielen mir Plakate auf, die jemand, nachdem ich am Morgen weggegangen war, an die Hauswand geklebt haben musste.

Sechs davon hingen in einer Reihe, alle mit demselben Bild. So hängten die Deutschen ihre Propagandaplakate gern auf, in steter Wiederholung ihrer Botschaft, gleich der Melodie eines verhassten Ohrwurms. Diesmal war eine Landkarte abgebildet, auf der, ausgehend von der Sowjetunion, eine große rote Welle auf Westeuropa zurollte, einzig zurückgehalten von zwei Flaggen, dem Hakenkreuz des Dritten Reichs und dem Doppelblitz der SS.

Storm tegen het Bolsjewisme!