Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron - Yade Yasemin Önder - E-Book

Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron E-Book

Yade Yasemin Önder

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Beschreibung

Ein großartiges, anarchistisches Sprachereignis: Yade Önders Romandebüt. Schon immer haben drei Bestandteile ausgereicht, um die Welt neu zu erschaffen und zurück ins Chaos zu stürzen: Vater, Mutter, Kind. Yade Yasemin Önder bringt diese Akteure so virtuos auf Kollisionskurs, dass einem die Luft wegbleibt: ein im schönsten Sinne atemberaubendes Debüt. Im Jahr nach Tschernobyl wird die Ich-Erzählerin geboren, irgendwo in der Westdeutschen Provinz, als »Mischling aus meiner Mutter und meinem Vater«, wie es heißt. Doch die intakte Kernfamilie währt nicht lange: Der türkische Vater (so übergewichtig, dass man »fast nichts mit ihm machen kann, was mit Schwerkraft zu tun hat«) stirbt. Alleingelassen ergeben Tochter und Mutter eine toxische Mischung. Der Roman erzählt, wie ein Mädchen hinausfindet aus einer beschädigten Familienaufstellung hinein in eine düster-funkelnde BRD. Er erzählt von einem Großvater mit Loch im Hals, von Sommern in Istanbul, die nach zu heißen Elektrogeräten riechen und nach Anis; von Dingen und Menschen, die auf Nimmerwiedersehen aus dem Fenster fliegen. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich immer wieder verliert und wiederfindet, auseinanderfällt und neu zusammensetzt. Bei alldem bleibt der Vater ein Wiedergänger, der deutlich macht: Auch jemand, der fehlt, kann zu viel sein. Önders Debüt ist ein wilder Roman über den Körper, über Fremdheit und Ankommen, über Identität und Differenz, der durch seine Kühnheit immer wieder verblüfft: schnell und klug und bei aller Düsterkeit irrsinnig komisch.

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Seitenzahl: 272

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Yade Yasemin Önder

Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Yade Yasemin Önder

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Der Anfang die Wiese

Fünf I

Dede I

Köfte

Abendbrot

Das Ende die Wiese

Der Himmel die Wiese

Nr. 51

Fünf II

Am Anfang war das Pferd

Die Hochzeit

Der Leichenschmaus

Ähnlichkeiten

Wir reisen

Papa, der weint

Fünf III

Die untergegangene Stadt

Nr. 25

Luftrezepte

Leerraum

Hannelores Käsekuchen

Innen außen

Flucht I

Nr. 40

Mama Couch

Gleichgewicht

Wir spielen

Nr. 31

Flucht II

Nr. 46

Flucht III

Wir verstehen uns gut I

Die Scheidung

Hymen als Hindernis I

Fünf IV

Siebzehn schöne Sommer

Wer im Sommer weint, der meint es ernst

Zoo I

Sie sagen

Wir verstehen uns gut II

Dede II

Alf

Zoo II

Fünf V

Papa Schwimmbad

Dede III

Hymen als Hindernis II

Das Schwarze Meer ist leer

Danksagung

Quellenangaben + Verweise

Inhaltsverzeichnis

Der Anfang die Wiese

An einem Tag ein Jahr nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese geboren. Geschrien haben muss ich lang, und dunkel war meine Stimme schon bei der Geburt, sagte man mir. Auf die Wiese hat mein Vater eine Dreizimmerwohnung gebaut und meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne. Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme und Moos, und das Wetter tat sein Übriges: Ausgebleicht waren alle von der Witterung, vor allem die aus Holz. Die Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal. Egal war aber nicht, der Herd kam zu spät, es war schon Dezember, erst dann konnte die Milch, die nicht von meiner Mutter stammte, in einem kleinen roten Töpfchen erhitzt werden. Das schmeckte mir, dann grinste ich, und mein Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Dreizimmerwohnung im Park.

 

Heute finde ich das Bild und pinne es mit einer Nadel in die Raufasertapete, die mein Mann Ex-Mann in Ochsenblut gestrichen hat. Ja, an die Wände hat er das geschmiert, es sieht aus wie in einem Ochsenschlachthaus. Ich glaube, unter anderem haben wir uns deswegen getrennt. Geh nicht ins Schlafzimmer, hat er mal gesagt, da war die Cola noch voll, abzüglich eines Vierviertelglases noch voll. Als ich dann in das Zimmer ging, stand dort ein Schaf, mit dem ich noch heute schlaf. Das war das Wärmste, was er mir je geschenkt hat! An unserem vierten Hochzeitstag war das, wir hatten als Fünfjährige geheiratet, und eine Pizza gab es, Kerzen hatten wir da reingesteckt, und als er sie auspustete, tropfte ein Tropfen Wachs auf eine Scheibe, und da wurden mir zwei Dinge klar: Salamipizza ist die beste und er der Mann meines Lebens.

 

Jedenfalls war unsere Dreizimmerwohnung im Sommer am schönsten, natürlich, denn es war ja Sommer. Ich hatte ein eigenes Zimmer, das Hannelore Kohl, unsere Nachbarin, die damals mit ihrem dicken Mann neben uns einzog, als das schönste Kinderzimmer bezeichnete, das sie jemals gesehen habe. Nein, nein, nein, hatte ich daraufhin geschrien, es fehlt die Schaukel, und außerdem hätte ich gerne einen Sonnenaufgang auf der Tapete! – Farbe, sagte meine Mutter, kostet, und mein Vater nickte, und kurz darauf sägte er einen Walnussbaum ab. Und er hatte diese Kreissäge, die sich laut im Kreis drehte, und ich weiß noch, ich sollte ihn zum Abendessen rufen, meine Mutter hatte wieder diesen Wiesensalat aus Wiesenblumen und Spinat gemacht, und ich wollte nicht, weil ich nicht wollte, weil ich faul war, wartete ich und wartete und wartete. Ich wartete also so lang, bis ein Schrei kam, vermutlich von dem Baum mit nur einem Blatt, denn dort fanden die Sägungen statt. Und ich eilte zu ihm, sah die Schaukel, das Geschenk, davon wusste ich ja nichts, dann das Blut, überall Blut, es sah aus wie in einem Menschenschlachthaus. Und da musste ich an das Abendessen denken, ein Daumen hier, der andere da, eine Hand hier, die andere da, schön drapiert wie Hähnchenstreifen auf Salat. Und plötzlich erbrach ich scharf in die noch immer sich drehende Kreissäge hinein, die das Erbrochene in klitzekleine Bröckchen schnitt, und die flogen nur so durch die Luft, auf Bäume, Blätter und ins Gras und – das sah ich erst dann – auch auf meinen Vater drauf. Schwer wie Steine fielen sie auf meinen Vater nieder, der da regungslos lag und – das weiß ich bis heute nicht – in dem Moment schon tot war?

An diesem Abend gab es keinen Salat, aber einen Schuldigen, und das war ich. Ich hatte nun meinen Vater auf dem Gewissen, und man weiß ja, wie schwer so ein Vater ist. Er wog ja damals schon an die drei-, vierhundert Kilo, das muss man sich mal vorstellen, er war so schwer, dass die Wiese sich konkav ins Erdreich bog, und wie viel Blut so ein schwerer Mann verliert, das kann man sich sicher auch vorstellen.

Dass mein Vater an dieser Krankheit litt, hat in unserer Familie zu einer – ich sage mal – Schieflage geführt. Mit ihm konnte man fast nichts machen, was mit einer Schwerkraft zu tun hatte. Mein Mann Ex-Mann hat mal gesagt, dass er Angst vor meiner Volljährigkeit habe, weil er sich vor dicken Frauen fürchte und weil mein Vater, das habe ich ihm dummerweise gesteckt, an seinem achtzehnten Geburtstag, den er in der Stadt feierte, wo Erdoğan mal im Gefängnis saß, schlagartig, das heißt innerhalb einer Sekunde, vom schlanken Minderjährigen zum extrem fettdicken Volljährigen mutierte. Seine Mutter, die in seinem VW-Bus ums Leben kam – aber das ist eine andere schlimme Geschichte –, erzählte meiner Mutter auf Türkischkurdisch, dass in ebendiesem Moment seine fünfzehn Hemdknöpfe aufplatzten und einer der Knöpfe ihr direkt ins Ohr flog. Das muss man sich mal vorstellen! Der eigene Junge wird binnen einer Sekunde extrem dickfett, und dann ist auch noch das Mutterohr kaputt, vom eigenen Sohn! Als meine Mutter mir das auf Deutsch übersetzte, weinte ich und umschloss mit meinem Kindermund ihr linkes Ohrläppchen und saugte so lange daran, bis ich einschlief. Als ich wieder aufwachte, flogen Möwen über meinem Kopf, und unter mir glitzerte der Bosporus, und es roch, wie immer in Istanbul, nach zu heißen Elektrogeräten und Anis.

Inhaltsverzeichnis

Fünf I

Wie viele Gegenstände, wie viele Gegenstände, wie viele Gegenstände sollen noch aus dem Fenster fliegen?, haben wir alle im Chor geschrien.

Die ersten Brüste wachsen, langsamer als die Achselhaare, ja, aber immerhin, es ändert sich was. Wir stoßen an mit Cassis, weil er da und lila ist, und spucken Hähnchenknochen in den Eimer, die fliegen nur so durch den Raum. Und die Zweite hatte mal wieder am meisten, obwohl Stelzenbeine, Kinderkörper, insgesamt sind wir ja fünf, aber die Schenkel reichen nie, weil sie, da sind wir uns alle einig, egal, jedenfalls wählt die Erste nulleinhundertneunzig – Nur zwei Mark pro Minute! – und stöhnt auf ein Band, und ein echter Mann am anderen Ende stöhnt zurück jetzt, Ah, ah, ah, macht er in das Kinderzimmer rein. Ein Mann – nur Stimme, kein Körper – fragt nach ihrer, also meiner Nummer, weil günstiger. Klar, sagt die Erste, null-sechs-elf, und so weiter, legt auf, und es klingelt, und wir kichern, lachen, wollen ernst sein, und er fragt: Wie riecht deine Muschi denn? Alle Fragezeichen in den Augen, keine hat ja schon eine echte Muschi. Äh, ja, sie ist klein. – Und eng, fragt er, feucht? – Ja, ja, ja, stöhnt die Erste, alle anderen pressen die Lippen zusammen. Er schwillt, schwillt, stöhnt er, Schwellpenis, flüstert die Vierte, Eins minus in Bio und Bruder im Stoßalter, klar weiß die das. Ich möchte ihn gleich in deine nasse –, da niest die Dritte, dreimal, das macht die immer in solchen Situationen, seitdem ihre Mutter vor den Lkw …, in jeder Klassenarbeit niest die ununterbrochen, egal, jedenfalls, ich kann nicht mehr und die Vierte auch nicht, und wir lachen auf, wirklich nur ganz kurz, und Psst! zischt die Erste, und die Stimme fragt plötzlich: Kann ich deine Mutter sprechen? – Hahaha, das geht nicht, die ist schon tot, schreie ich durch das Kinderzimmer, Da musst du schon woanders anrufen, schreit die Dritte, und längst ist aus der Stöhnstimme eine todernste geworden, nichts will er jetzt mehr, als meine Mutter sprechen. Deine Mutter! Wir legen auf, legen ganz schnell auf, aber eine Sekunde später klingelt es wieder, und ich mache die Anfangdreißigstimme und geh ran. Weiß von nichts, verwählt vielleicht? – Nein, nein, nein, das habe er nicht, und ich drücke schnell die Gabel, das Kabel aus der Wand reißt die Erste, und langweilig ist uns nun. Nein, das stimmt ja nicht, Angst haben wir, und wie kann man Angst am besten bekämpfen? Mit einer Wasserschlacht natürlich! Also rein ins Badezimmer, da steht die Zweite. War die weg die ganze Zeit? Warst du hier die ganze Zeit? Egal! Raus den Schlauch aus dem Schlauchbad, raus, und eine spritzt die andere voll, es ist ja Sommer, heiß, und alle Wassertropfen fliegen nur so durch den Nachmittag. Wie riecht deine Muschi denn?, schreit die Erste und Ah, ah, ah und Ja, ja, ja schreien wir im Chor zurück, und währenddessen sickern durch die Dielen tropfen Pfützen und ejakulieren sich im Erdgeschoss zusammen. Herrlich, dass wir davon nichts mitbekommen.

Und meine Mutter ist 25 Mitte dreißig, krumm von der Arbeit als Spätzünderin, kommt nach Hause, hat das Erdgeschoss im Eingang getroffen, stapft mitten in die Lache rein, kombiniert, und aus Sorgenfalten werden Zornesfalten. Schimpfen, speicheln, schnauben, schreien tut der Mund, und die Beine ab ins Kinderzimmer, und da landet schon auf meinem Lieblingsteppich der Eimer mit den Knochen. Nein, mein schöner Teppich, nein! Und da fliegt als Erstes aus dem Fenster jetzt der Gettoblaster mit den Spice Girls

swing it

shake it

move it

make it

who do you think you are?

trust it

use it

prove it

groove it

show me how good you are

wird immer leiser und ist weg. Und die Kerzen, die ich mühsam bei Karstadt geklaut habe, und unser Foto, wir fünf auf Fehmarn, stolz und mit Zahnspangen, fliegen raus, und dann der gelbe Wonderbra und der Tigertanga und meine Hausaufgaben, die Bücher, Mathe, Bio, Englisch, raus, der Erlkönig auch, die Lampe, das Tagebuch, die Zeichnung, der Nachttisch, einfach alles schmeißt die aus dem Fenster, eine Furie, eine Furie, und wir alle schreien im Chor: Wie viele Gegenstände, wie viele Gegenstände, wie viele Gegenstände sollen noch aus dem Fenster fliegen? Und das reicht der Spätzündermutter nicht, auch ich soll fliegen. Nein!, schreien wieder alle im Chor und hängen sich an die Mutterbeine, und ich schnell zum Schlauchbad, aber zu, besetzt, und die Mutter hinkt langsam, drei ganze Freundinnen hängen ja an ihr, hinterher, es ist wie in einem Traum, in dem man wegrennen will, aber nicht kann, für mich, und ich glaube, für meine Mutter auch, und ich breche mit meinem BMI 26 die Tür auf, Tür zu, Puh, das war knapp, und die Mutter, jetzt hämmert sie, Ich krieg dich noch, Specki!, vergebens, stapft sie wütend davon. Und durch das Schlüsselloch sehe ich nun die Katze aus dem Fenster fliegen, Miau macht sie und weg, und dann sehe ich das Regal, den Schreibtisch, den Kleiderschrank, das Bett und den Hund, er bellt und fletscht die Zähne auch und fliegt im hohen Bogen raus, und leise höre ich ihn jetzt nur noch winseln und dann das Schreien der Spätzünderin: Scheidungskinder, ihr!, und: Raus fliegt ihr, raus!, und ich sehe die Erste einmal und die Dritte dreimal aus dem Fenster fliegen, und die Vierte, die sehe ich überhaupt nicht mehr, und jetzt rauscht die Spülung und die Lamellentür geht auf und dahinter der Thron, das Familien-WC, und ein warmer Geruch aus Süße, Huhn und Straße steigt in meine Nase, und die Zweite – kurz höre ich einen Schrei, das wird wohl die Vierte gewesen sein – putzt sich mit der Bürste meines Vaters, Der Roten – verboten!, die Zahnspangenzähne, und still sind wir nun zusammen. Du hast gekotzt? Eklig, aber nicht uninteressant, und die Zweite öffnet die Tür und geht raus, meine Mutter ist in der Zwischenzeit auch aus dem Fenster gesprungen, und still bin ich nun und allein.

Ich sitze auf dem Teppich, einziges Überbleibsel, BMI 21, und spucke Hähnchenknochen, die fliegen nur so durch den Raum, um mich herum nur Pute und Pommes, Twix und Nutella. Zusammen sind wir fünf.

Inhaltsverzeichnis

Dede I

Da steht ein zwei Meter großer Mann vor mir und zieht sich aus. Seine Stimme ist Bariton und sein Körper eine Statue aus Griechenland. Sein Hund ist eine Bestie, die mich ankläfft und ausgesperrt wird. Ich lutsche seinen Kalkschwanz und denke an Pamukkale. Denke daran, dass mein Dede jetzt unter der Erde ist und wir beide nie verstanden haben, was der andere sagte. Wir saßen nebeneinander, und er rülpste: Çok güzel, und ich nickte nur, und er zog an seiner Pfeife, und der Qualm kam wieder heraus aus seinem Loch im Hals. Ich weine und eine Träne tropft auf den Penis und perlt ab. Die Statue stöhnt dunkel und kommt salzig in mir, es schmeckt nach dem ganz alten Beyaz Peynir.

 

Es gab eine Wäscheleine, die sich durch die ganze Wohnung zog. Daran hingen alte Hemden eines alten Menschen, der das Wasser nie aus der Leitung trinkt. Bakterien und Keime, erklärte meine Mutter mir frühmorgens und gähnte. Und Dede nahm mich mit zum Bäcker und kaufte mir einen Simit, weil ich so geweint hatte, als meine Mutter noch mal eingeschlafen war. Und weil alle Sesamkörner von meinem Simit fielen, weinte ich nur noch mehr. Wir liefen Hand in Hand zurück, und der Muezzin plärrte mit mir um die Wette. Es war morgens und schon so heiß, dass alles flimmerte. Und Dede versuchte vergeblich, mich mit seinem Çok güzel zu beruhigen.

Unten im Hof lag etwas und stank, der Geruch verfolgte uns bis in die Wohnung, er stank bis in die Küche, und ich weigerte mich, den Simit zu essen. Vielleicht weil er schwach oder krank war, vielleicht ging es um Territorialbesitz. Streunende Hunde machen das so. Bei den Temperaturen stinkt eine Leiche sehr schnell.

 

Der Bariton schnarcht, ich schleiche ins Bad, der Hund verfolgt mich und knurrt. Ich gehe schneller, ziehe die Tür zu, er kratzt an ihr und bellt. Ich höre ihn jaulen, dann schnüffeln und hecheln, dann wird es plötzlich still.

 

Dede aß Simit, und die Sesamkörner fielen aus dem Loch in seinem Hals heraus. Er nahm eine Tüte und schimpfte: Köpek … plastik … korkak … Er schüttelte den Kopf, und meine Mutter begann zu weinen, und ich fragte: Warum weinst du denn jetzt? Und was heißt das? Was sagt Dede da? – Das kann man nicht übersetzen, schmatzte mein Vater und trank einen Schluck aus der Leitung.

Ich kotze ins Wasser und sehe kleine Spermien darin schwimmen. Ich werfe eine Aspirin ins Wasser, und sie schäumt auf wie zum Beispiel milde rote Paprika, wenn man sie in Butter brät, oder wie die Strudel im Fluss, an dem wir jetzt spazieren gehen. Dede schmeißt eine Tüte ins Wasser, meine Eltern wundern sich, wie schnell sie untergeht. Dede lacht, dabei fliegt Schleim aus seinem Loch im Hals. Er landet im Nichts, weil wir wegschauen. Ich steige über seinen Hund, der jetzt im Flur der Statue liegt, und plötzlich stehen wir vor dem Stand eines zwei Meter großen Händlers, der so laut ist, dass ich mich aus Angst hinter Mama verstecke. Wir warten auf Papa, der um neue Polohemden feilscht, die, wie Mama sagt, nur getürkt sind. Zum Abschied bekomme ich einen Kuss und noch einen Simit. Dede rülpst: Seni seviyorum, und Papa sagt, was ich antworten soll. Ich wiederhole: Ben de seni seviyorum, und winke.

Inhaltsverzeichnis

Köfte

Manchmal besucht uns ein braunes Kätzchen. Auf dem Sims leckt es sein Pfötchen und dreht das Köpfchen nach links rechts links. Wir wollen es streicheln, aber schon huscht es davon. Weil ich weine, weil ich es hierbehalten will, legen Mama und ich uns auf die Lauer und warten. Und als es endlich einmal in Strömen regnet, schneidet Mama schnell einen Emmentaler und wir warten, bis das Kätzchen anbeißt. Stunden später sitzt es auf dem Perserteppich, und Mama föhnt sein Fell. Es gibt immer was zu tun, lacht sie und föhnt auch noch den Schwanz.

 

Die Katze kommt öfter, bald gehört sie uns. Wir nennen sie Köfte.

 

Einmal schweißt Papa draußen einen Gegenstand so laut, dass ich Köfte die Ohren zuhalte. Weil ihr das nicht gefällt, kratzt sie mir fünf Streifen Strafe auf die Arme. Deswegen hab ich sie in die Waschtrommel gesteckt und von außen gewunken und dabei laut Ich wasch dich jetzt! gesungen. Ich habe die Waschmaschine imitiert und selbst gepiept. Miau, macht Köfte, Miau. Nachdem ich den Schleudergang vorgebrummt habe, ist Köfte fertig gewaschen. Na gut, dann wollen wir wieder aufhören zu spielen, du bist und bleibst ja wohl braun. Köfte macht Miau, aber die Tür, die geht nicht mehr auf. Überall Knöpfe und Scheiben, Zahlen und Kreise. So ein Gerät kann nur eine Mutter verstehen, hat Papa mal gesagt und seine Arbeiterwäsche vor der Trommel geparkt.

Ich ziehe am Henkel, ich reiße am Plastik, klopfe gegen die Scheibe, doch sie geht nicht auf. Miau, macht Köfte, Miau. Luft, denke ich, hat sie dadrin überhaupt Luft?, und renne mit einer großen, übergroßen, riesigen Portion Angst zu Papa. Der steht da wie jeden Morgen, in voller Montur, und schüttelt den Kopf, der heute in einem Schweißerhelm steckt. Also renne ich zurück in die Küche und schau in die Trommel. Miau, macht Köfte, Miau.

 

Nur in dringenden Fällen, hat Mama am Morgen gesagt, denn schließlich ist es in der Klinik ihr erster Tag, also wähle ich die Zwei. Miau, macht Köfte, Miau. Am Telefon fragt eine Frau eine Frau, die eine Frau fragt, die eine Frau fragt, die eine Frau fragt, wo Mama ist. Als Mama endlich rangeht, wird sie ganz rot am anderen Ende der Leitung, ich weiß es, denn ihre Scham oder Rage rast durch das Kabel, und unser Hörer, der bis eben noch beige war, verfärbt sich wutrot.

 

Miau, macht Köfte, Miau. Ewig rede ich ihr durch die Scheibe gut zu, und als Mama endlich nach Hause kommt, wird sie sofort zehn Jahre älter. Das finde ich gar nicht gut, weil wir im Kindergarten diesen Wettbewerb haben. Wer die jüngste Mutter hat, gewinnt! Den ersten Platz kann ich jetzt natürlich vergessen. Während Mama einen Knopf antippt und die Maschinentür vorwurfsvoll aufploppt, als hätte sie die ganze Zeit auf nichts als ihre kompetente Knopfdrückerin gewartet, schaue ich in Mamas Gesicht, wo die Haut jetzt lappig herunterhängt. Köfte springt raus und Mama lacht erleichtert, dabei ziehen sich Furchen längs über ihre Wangen.

Jetzt sitzt Köfte auf dem Untersuchungsstuhl, der mein Kinderstuhl ist. Für Reflexe klopft Mama auf ihre Pfoten, den Rest von Köfte hört sie ab. Aber sie schaut nur in die Ohren richtig rein, dabei könnte sie doch alles kontrollieren. Es ist schon gut, aber das glaube ich ihr nicht nach der halbherzigen Untersuchung, die nicht mal vollständig war. Also hebe ich vorsichtshalber Köftes Schwanz und steck meinen Finger in ihren Po. Köfte quietscht und flutscht wie Seife davon.

 

Sie ist jetzt schon seit Tagen verschwunden. Jeden Tag warte ich auf der Wiese und rufe: Köfte. Dann, an einem Morgen, an dem der Tau endlich kitzelt, kommt Mama mit dem Großeinkauf nach Hause, denn in der Tierklinik ist die Arbeit seit heute wieder vorbei für sie. Kein Wunder, denke ich, schließlich habe ich ja die oberflächliche Krankheitsanalyse von Köfte hautnah miterlebt, und vielleicht sollte sie sich lieber den unbelebten Dingen zuwenden.

Trotzdem freue ich mich natürlich über sie, denn sie hat einen Block Käse mitgebracht. Sofort schneiden wir ihn in mikroskopisch kleine Stücke, reuevoll sage ich Entschuldigung zur verschwundenen Köfte, und dann werfen wir Käsewürfel ins Gras. Nicht mal fünf Minuten später findet Papa einen davon. Während er es durch die Öffnung des Schweißerhelms führt, wiederhole ich das Wort Entschuldigung, aber dieses Mal als Frage formuliert, die vorwurfsvoll klingen soll.

 

Jetzt sitzt Köfte wieder auf dem Tisch und schnurrt. Ihr Lenorfell pufft, dafür sind die Pfoten jetzt schwarz – was für ein komisches Tier. Um die Dreckspfötchen kümmere ich mich morgen, denke ich und: Mama hat recht: Es gibt wirklich immer was zu tun.

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Abendbrot

Wir sitzen beim Döner, Omi und Opi sind zu Besuch, irgendwann muss man ja mal die Kultur des anderen kennenlernen. Ich bin acht und trage sehr weite Kleider, aber man ahnt, was darunter so wächst. Und Papa bestellt zweimal alles plus Pommes, weil er weiß, dass seine frisch geschiedene Lieblingstochter die liebt. Lamm mit Rosinen und Platten voll Gemüse und eiskaltes Cacık und dampfender Grieß. Der Ausländer gibt sich die größte Mühe seit ein paar Jahrzehnten in unserem Land, sagt die Omi und rutscht so komisch auf dem Stuhl hin und her. Dass sie mal aufs Klo muss, verrät sie uns erst, als Opi ins letzte Baklava beißt. Und Mama jetzt peinlich, wie toll alles war, Gemüse, das kennt bei uns keiner. Zum Beispiel Okraschoten, oder kennst du die, Mami? Die Omi findet die schleimig, sonst nichts. Wie die Geschäfte so laufen, will der Opi jetzt noch wissen, meine Mutter sagt schnell nur: Es muss ja, es muss. Ich verdrehe die Augen und kaue Pommes und schütte noch mehr von der Mayo dazu. Dass ich mit der Figur aufpassen soll, sagt der Opi leise zu mir, während die anderen sich streiten, wer nun bezahlt. Dass die Speckbrüstchen nur ein Anfang wären, dass der Speck sich im Gegensatz zu mir richtig gerne bewege: zu Bauch, Beinen, Po. Dass ich mich mal an die Omi halten solle, die ja die Speisen nur seziere, und schau, wie schlank die noch ist!

Ich lege die Pommes zurück, lange schauen wir uns an. Plötzlich sehe ich ihn bei uns Sturm klingeln, ich sehe ihn Papa beschimpfen, ich sehe den Weihnachtsbaum, der auf ihm landet, ich sehe ihn als Jungen mit geschorenem Haar, ich sehe ihn einen Schnurrbart rasieren, ich sehe ihn durch den Schnee stapfen, ich sehe ihn unter der eisigen Dusche krampfen, ich sehe ihn Omi befruchten, ich sehe ihn in einer Ecke weinen, sehe ihn büffeln und die Uni bestehen, ich sehe ihn kleine Kätzchen quälen, ich sehe ihn einen Hirsch erschießen, ich sehe ihn mit Mama überm Knie, sehe ihn mit den vier anderen Schwestern überm Knie, ich sehe ihn scheißen, ich sehe ihn ein Poster der Beatles zerreißen, ich sehe ihn wichsen, ich sehe ihn nach ein paar Kurzen hicksen, ich sehe ihn mit mir ein Vogelhäuschen bauen und als Junge zehn Eier beim Nachbarn klauen, ich sehe ihn eine uralte Frau pflegen und danach den Hirsch zersägen. Und dann plötzlich sehe ich, wie die Pommes frites vom Teller abheben, ich sehe, wie sie sich suchen und finden, wie sie sich in der Luft ineinander verschlingen, wie sie nun eins sind und wie dieses Ding mit geballter Kraft als Kalorienbombe an seinen Schädel dranklatscht. Aua!, schreit jetzt der Ernährungsberater, was fällt dir ein?!, und schaut hilflos durch den Dönerimbiss, denn ich bin die Einzige, die noch am Tisch sitzt. Der Rest der Familie steht vor den Leuchtschildern, wo Mama stolz erklärt, wie die verschiedenen Gerichte so schmecken. Nur Papa schaut kurz zu uns rüber und sieht, was zwischen den Generationen passiert. Ich renne zu ihm und verstecke mich gut, denn aus der Gewaltfantasie eines Opas wird manchmal reale Wut. Wir gehen, schreit er seine Ehefrau an, und die schreit zurück, dass sie das entscheidet.Dass ihm das fettige Essen auf den Magen schlage und er deswegen jetzt obligatorisch vorschlage, sofort zu gehen. Olivenöl ist gesund, korrigiert Papa. Dass sein Körper doch wohl kein Indiz dafür sei, dass Olivenöl so gesund ist. Was er damit sagen wolle, fragt Papa und bäumt sich auf, woraufhin Mama Dört Rakı bestellt und Schluss jetzt! zischt und Papa die ganze Familie anblickt und dann nach draußen verschwindet, in ein Land, das ihn, wie er jeden Tag aufs Neue merkt, überhaupt nicht mag.

Inhaltsverzeichnis

Das Ende die Wiese

Die Tage nach Papas Tod sind kalt. Abends rufen wir Gute Nacht, gute Nacht, aber hören können wir uns kaum, so laut ist der Regen, hallt er durch den Raum. Wir haben die Fenster immer offen, auch in der arktischsten Nacht bleibt das Fenster auf halb acht, so nennt das meine Mutter, wenn sie die Fenster kippt. Warum, haben Papa und ich bis vorgestern täglich gefragt, müssen wir immer alle Fenster offen stehen lassen? Wir frieren uns doch hier noch einen Ast! Darauf sagte sie immer bloß: Wegen der Beatles, der Beatles, und wir sagten: Ja, das haben wir schon verstanden, aber verstanden haben wir das nicht!, woraufhin sie nur wieder zu den Fenstern rannte und eins nach dem anderen kippte.

Während ich also jetzt in meinem Zimmer liege, liegt meine Mutter in ihrem unter einer Decke, die bis heute zwei gewärmt hat, aber mein Vater liegt jetzt nicht mehr neben ihr, sondern unter der Erde am Ende der Wiese auf einem kleinen Berg mit Kopf in Richtung Südost. Ich stelle mir vor, wie Würmer in seinen Mund kriechen, Spinnen Netze in seine Achsel weben, das Leinentuch sich vollsaugt mit Regen und Schmutz. Ich stelle mir vor, wie die Maulwürfe ihn mustern und die Wurzeln sich nach ihm strecken, sich an ihn heften, ihn umarmen.

Ein, zwei Stunden nach seinem Tod hatte meine Mutter die Kreissäge abgestellt und irgendwo angerufen. Kurz darauf war ein Mann gekommen, der die Wiese großräumig abriegelte. Dann war ein Arzt gekommen, der ihn für tot befand. Dann war noch ein Mann gekommen, der ihn fotografierte. Kaum hatte er meinen Vater abgelichtet, war noch ein Mann gekommen, der merkwürdige Schilder aufstellte. Danach war noch ein Mann gekommen, dessen Job es sein musste, durch das Gras zu waten, und noch einer, der sich die Beine in den Bauch stand. Danach war noch ein Mann mit Fotoapparat gekommen, der aber von einem Mann, der im selben Moment aus einem Auto gestiegen war, vertrieben wurde. Dann war noch ein Mann im Astronautenanzug gekommen und dann noch ein Mann, der mit dem Mann ins Gespräch kam, der aus dem Auto gestiegen war und sich inzwischen über meinem Vater beugte. Dann war noch ein Mann gekommen, der sich ebenfalls über meinen Vater beugte. Dann war noch ein Mann gekommen, der in den Himmel sah, meine Mutter zu sich winkte, doch die hat da eh nur noch den Kopf geschüttelt. Dann war noch ein Mann gekommen, der alle Anwesenden verscheuchte.

Der letzte Mann begann, meinen Vater auszuziehen, mit ihm zu reden, manchmal sang er, manchmal fragte er ihn auch etwas, wobei sich seine Stimme gegen Ende der Frage überschlug und wie ein Muezzin mit Bronchitis klang. In sich verändernden Abständen zog er bronchialen Schleim hoch und rotzte ihn direkt in das Beet, das mein Vater erst vor wenigen Wochen frisch angelegt hatte. Zweimal landete der Schleim genau dahinter auf der Veranda und einmal auf ihrem Geländer. Einmal landete er auf dem Außentisch, einmal im Aschenbecher, zweimal auf der Zeitung von Donnerstag, einmal auf dem Stuhl, den mein Vater selbst gedrechselt hatte, einmal auf der Ud, die schon immer am Geländer lehnte und die er nie gespielt hatte. Manchmal landete er aber auch davor, also noch im Gras, der Schleim, er traf einmal eine rote Rose und tropfte dann auf ein Eichhörnchen, das unter ihrem Kelch nach Nüsschen suchte, er traf einen gelben Generator, die Schnauze des VW-Busses, eine Ameise und einen Zitronenfalter, er traf viele Dinge, auch Hannelore, obwohl die heute zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder das Haus verlassen hatte. Das ärgerte sie natürlich besonders, was ich gut verstehen konnte. Wie kann das möglich sein, hatte sie geschimpft, ich schließe mich jahrelang ein, und dann komme ich einmal hoch, um das Weltgeschehen draußen kurz zu sehen, ich nehme all meinen Mut zusammen, du weißt ja, Frau Nachbarin, was das für mich bedeutet, und dann steht da nicht nur diese scheiß Sonne am Himmel, sondern spuckt mich auch noch dieser Typ an. Meine Mutter schüttelte immer noch den Kopf. Was ist denn hier eigentlich passiert?, fragte Hannelore weiter,und weil meine Mutter immer noch nichts sagte, rannte sie wieder die Treppen runter in den Keller. Voller Hoffnung würde sie dort am Abend auf ihren Ehemann warten, um ihn zu überreden, nicht in die Hauptstadt zu ziehen, die nicht mal mehr lange eine war.

Als all das Blut endlich abgewaschen war – an manchen Stellen musste es auch mit einem kleinen Spatel abgekratzt werden –, drückte der Mann seine Zigarette aus, und in dem Moment sah ich meinen Vater zum ersten Mal nackt. Er trug eine Narbe in der Leiste, wo kam die her? Er hatte sie nie erwähnt. Und das Schamhaar, das überhaupt nicht zu seinem schwarzen Haar passte, kräuselte sich, obwohl es von keinen Lebenssäften mehr versorgt wurde, noch immer fröhlich und rot.

*

Die Waschung dauerte Stunden. Man hätte den Gartenschlauch nehmen sollen, sagte meine Mutter. Sie kannte die Dimensionen seines Körpers nur zu gut, und Effizienz war immer eine ihrer Tugenden gewesen. Die hatte sie gelernt, würde mein Psychologe später sagen, erst durch Schläge, dann Gehorsam, und schließlich verselbstständigte sich diese Effektivität, die ihr Vater auch Verlustarmut nannte, bis zu diesem Tag, an dem sie etwas Gewaltiges verlor und nichts dagegen tun konnte, außer –

Meine Mutter stromerte durch die Wohnung und überlegte laut, was sie mit all den Habseligkeiten ihres Mannes anstellen wollte, wie viel Quadratmeter mehr ihr nun in unserer Wohnung zur Verfügung stünden und dass sie endlich mal wieder was mit Kalorien kochen könne. Als sie den Akkuschrauber in den Mülleimer schmiss, schrie ich: Du kannst doch jetzt, da liegt er doch noch, da kannst du doch nicht so über meinen Vater reden! – Das, das ist nicht mehr dein Vater, schrie sie zurück, da liegt ein walzenförmiger Körper in Leinen eingehüllt. Natürlich kann ich das! Und ich schrie auch noch irgendetwas, aber da war sie schon in den Keller gegangen. Und nun hörte ich sie schimpfen und das Rascheln von Umzugskartons, die gleich zum Grab seiner Gegenstände würden.

 

In diesen Tagen geht auch die Wiese ein. Alle Blümchen lassen die Köpfe hängen, dann fallen sie ab, fliegen die Bienchen davon, und die anderen Tiere verziehen sich auf saftigeren Boden, denn unserer ist traurig und trocken geworden.

In diesen Tagen gibt es auch keine Spitzen mehr. Und allmählich verliert man das Bedürfnis, Dinge zu kontrollieren. Man verschreibt sich ohne Konsequenzen, man lässt Sätze einfach falsch da stehen. Man klaut Stifte und in Supermärkten und zeigt stolz die Ausbeute herum. Man verlässt nachts das Gefängnis und kommt morgens mit einer Lüge zum Frühstück, sich streckend, als wäre man gut ausgeruht. Man steckt die Nase in den Kühlschrank und zieht sie wieder raus. Man ruft bei alten Männern an. Man imitiert die Trends und zupft sich die Brauen streichholzdünn. Man hört auf zu essen und träumt von Pommes frites. Man spaziert schon vor Sonnenaufgang auf der Wiese herum, um nach Sonnenuntergang doch nicht am Grab gewesen zu sein. Man schreibt Dinge auf, die man vermisst. Man gibt eine Vermisstenanzeige auf:

 

Seit dem Tod meines Vaters fehlen mir schrecklich Ackerwitwenblumen, Echter Baldrian und Beinwell, Dost-Oregano, Duftveilchen, Gemeiner Efeu und Persischer Ehrenpreis, Echter Eibisch, Vierblättrige Einbeere, Eisenkraut und Erdbeere, Saat-Esparsette, Gewöhnlicher Feldsalat und Ferkelkraut, Weiße Fetthenne, Kriechendes Fingerkraut, Skabiosen- und Wiesenflockenblumen, Stinkgewöhnlicher Frauenmantel, Frühlingsknotenblumen, Gänseblümchen, Acker-, Gemüse- und Raue Gänsedisteln, Gänsefingerkraut, Gänsefuß-Bastard, Gänsefuß-Weißer, Gewöhnlicher Giersch, Gewöhnlicher Gilbweiderich und Punktierter Gilbweiderich, Wiesenglockenblumen, Kanadische Goldruten, Gewöhnliches Greiskraut, Gewöhnlicher Gundermann, Kriechender Günsel und klitzekleines Habichtskraut, aber auch Waldhabichtskraut, Scharfer Hahnenfuß, Hainsalat, Haselwurz, Ackerhellerkraut und natürlich der liebe Herbstlöwenzahn, Herbstzeitlose, Himbeeren, Gewöhnliches Hirtentäschel, Bunter, Gelber und Gemeiner Hohlzahn, Echter und Falscher Hopfen, Gewöhnlicher Hornklee, Huflattich und Ackerkamille, Ästiger Igelkolben, Echtes Johanniskraut, Echte und Strahlenlose Kamille, Wilde Karde, Klatschmohn, Weiß- und Wiesenklee, Große und auch etwas kleinere Kletten, Knoblauchrauke, Behaartes Knopfkraut, Ampfer-, Milder und Schlangenknöterich, Großblütige, Kleinblütige und Mehlige Königskerzen, aber auch die Schwarze Königskerze fehlte. Kornblumen, Kratzbeeren, Acker-, Gewöhnliche und Kratzdisteln, Feldkresse, Pfeilkresse, Kriech-Quecke, Bunte Kronwicke, Lichtnelken, Lampionblumen, Stachellattich, Schlangenlauch, Gewöhnliches Leberblümchen, Echtes Leinkraut, Hohler Lerchensporn, Gewöhnlicher Löwenzahn, Geflecktes Lungenkraut, Maiglöckchen, Moschus-, Rosen-, Weg- und Wilde Malve, Echtes Mädesüß, Wiesenmargerite, Mariendistel, Mauerlattich, Gewöhnlicher Meerrettich, Spreizende Melde, … – Hör endlich auf, oh bitte hör auf!, schreit meine Mutter. Beim Abendessen sehen wir uns an und schweigen, während uns die Teller mit Doseneintopf mexikanischer Art eine unangenehme Hitze in die Körper treiben.

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Als die Wiese abgestorben war, hatten Walzen dampfenden Asphalt gebracht. Jetzt parken Autos darauf und Menschen laufen hin und wieder vorbei, als wäre es das Normalste auf der Welt. Früher hatten wir die Wiese für uns, nur die Nachbarn luden wir zu Geburtstagen ein, für die Hannelore immer gigantische Käsekuchen buk.