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Wir wollen leben! E-Book

Emran Feroz

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Beschreibung

Egoismus, Eurozentrismus und Rassismus sind stärker denn je. Nichts verdeutlicht dies mehr als der fortlaufende Krieg in Gaza, der zum Sinnbild jener korrumpierten Moralvorstellung geworden ist, die den Nahen Osten und andere Regionen der Welt seit Jahrzehnten heimsucht. Nach den gescheiterten Kriegen in Afghanistan, Irak und anderswo hätte man meinen können, dass die westliche Welt aus ihren Fehlern gelernt hätte. Doch seit Gaza wird täglich deutlich, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Errungenschaften der Aufklärung - Menschenrechte, liberale Demokratie und alles andere - haben für viele Teile der Welt nie gegolten. Der Westen hat alles verraten, wofür er einst angeblich stand.

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Seitenzahl: 135

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ebook Edition

Inhalt

Titelbild

Vorwort

Sie haben blaue Augen

Toter Journalismus

Aus dem Hotel oder »eingebettet«

Die gejagten Journalisten von Gaza: Wie ein Massenmord orchestriert wurde

Westliche Gewalt zählt nicht

Die Wilden vom Kabuler Flughafen

Die Messlatte der Heuchelei

Die blinden Flecken der Anderen

Der KI-Genozid

Wenn die Apostel der Demokratie schweigen

Nachwort

Anmerkungen

Navigationspunkte

Titelbild

Inhaltsverzeichnis

Emran Feroz

Wir wollen leben!

Von Afghanistan bis Gaza – ein Aufschrei gegen Entmenschlichung und Krieg

Impressum

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-98791-133-0

1. Auflage 2025

© Westend Verlag GmbH, Waldstr. 12 a, 63263 Neu-Isenburg

Umschlaggestaltung: Westend Verlag GmbH

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Für die gefallenen Journalistinnen und Journalisten von Gaza

Vorwort

Das vorliegende Buch ist eine Intervention. Eine Intervention in einer Zeit, in der ich fast jede Hoffnung verloren habe. Hoffnung für die Menschen in Gaza, in der Ukraine, Afghanistan und anderswo. Hoffnung für unseren Planeten, der von Menschen regiert wird, die ihn willkürlich zerstören. Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben, während immer mehr Gesellschaften sich bekriegen und mit mehr und mehr Waffen, darunter mittlerweile auch autonomen KI-Systemen, die selbst entscheiden, wen es zu töten gilt, beliefern lassen, um einander zu zerstören. Gesellschaften, die besetzen, um andere Gesellschaften auszulöschen. Ich habe aber vor allem Hoffnung in meinen Berufsstand, den Journalismus, verloren. Denn meine Zunft hat versagt. Sie hat es in weiten Teilen nicht geschafft, den israelischen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung des Gazastreifens, den wir alle, so pervers es klingt, im Minutentakt im Livestream erleben, als das zu benennen, was es ist. Nämlich ein grauenvoller Zivilisationsbruch. The point of no return – denn die Welt wird nach dem Ende des Grauens, das dort weiterhin vor sich geht, nicht mehr dieselbe sein. Der vor unseren Augen ablaufende Genozid in Gaza zeigt, dass manche Menschenleben offenbar weniger wertvoll sind als andere. Gaza verdeutlicht uns, dass für Millionen von Menschen die stets hoch gehaltenen Werte der westlichen Welt schlicht und einfach nicht gelten – selbst wenn sie monatelang minutiös dokumentieren, was mit ihnen geschieht, wie sie lebendig verbrannt, ausgehungert oder von Drohnen und Scharfschützen gejagt werden. Und Gaza zeigt uns, der vermeintlich aufgeklärten und fortgeschrittenen Gesellschaft Europas, wie wenig wir von diesen Werten selbst halten, denn unser System – die liberale Demokratie – zerfällt, und wir haben dazu beigetragen.

Tatsächlich war ich einst dummerweise etwas optimistischer. Nach den gescheiterten Antiterrorkriegen der westlichen Welt in Afghanistan, Irak und anderswo dachte ich, dass viele der Verantwortlichen aus ihren Fehlern gelernt hätten. Viel sprach auch damals nicht dafür, doch es gab Szenen, wie jene am Kabuler Flughafen im August 2021, die man nicht leugnen und, so dachte ich zumindest naiverweise, nicht anders deuten konnte. Die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 kosteten fast 3 000 unschuldigen Menschen das Leben. Bis heute gibt es nichts, das diese Gräueltat in irgendeiner Art und Weise rechtfertigen könnte. Eine konservative Schätzung des »Costs of War Project« aus dem Jahr 2021 beziffert die direkten Todesfälle infolge der Post-9/11-Kriege in Afrika, Nahost und Asien auf etwa 900 000 bis 940 000, davon über 430 000 Zivilisten.1 Andere Todeszahlen und Dunkelziffern liegen deutlich höher. Sie sind realistischer und wahrscheinlicher, unter anderem auch, weil viele der Opfer nie richtig gezählt wurden. Auch die Gewalt, die gegen all diese Menschen jahrzehntelang ausgeübt wurde, um sie im Kollektiv zu bestrafen, lässt sich durch nichts rechtfertigen. »Afghanen sind nicht so billig«, sagte mir einmal ein Anwalt, der die Opfer eines NATO-Luftangriffs vertrat. Er erzählte von Familien, die für ihre ermordeten Familienmitglieder von der Bundeswehr mit einigen hundert Dollar »entschädigt« worden waren. Wie undenkbar doch so etwas in Deutschland sein würde, dachte ich mir damals. Und wie wenig jene Menschen, die so hießen und aussahen wie ich, wert waren. Dass die verantwortlichen Akteure, demokratisch gewählte Staatschefs, mit ihren Verbrechen dennoch davongekommen sind, hat die westliche Werteordnung nachhaltig massiv beschädigt. 2022 kam Agnés Callamard, die Generalsekretärin von Amnesty International, zum Schluss, dass der globale Abbau des Völkerrechts im 21. Jahrhundert mit dem »War on Terror« der Amerikaner in Afghanistan und Irak begann. Erst dadurch merkten die Despoten der Welt, dass sie mit praktisch allem davonkommen können. Die Ermordung Jamal Khashoggis durch den saudischen Kronprinz Mohammed bin Salman. Russlands illegale Invasion der Ukraine. Die Verfolgung der muslimischen Uiguren in China. Schon damals sprach Callamard auch von der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete. Seit dem 7. Oktober 2023 spricht sie explizit von Genozid – und zeigt wenig Verständnis für jene, die das, was tagtäglich vor unseren Augen geschieht, leugnen.2 Es gibt nichts, das die Gräueltaten der Hamas und die Ermordung von 1 200 Menschen rechtfertigen könnte. Das sage ich nicht nur aufgrund einer eindeutigen Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten, sondern auch als jemand, der einen muslimischen Hintergrund hat und sich mit sogenannten militant-islamistischen Gruppen (aber: wann sprechen wir endlich auch von militanten Christianisten und Judaisten?) auskennt. Die Hamas ist eine brutale Gruppe von Mördern, die jegliches Widerstandsrecht stets für ihre eigene Agenda missbraucht und instrumentalisiert hat. Islamische Regeln, die es auch im Krieg gibt, etwa gegenüber Frauen, Kindern oder selbst der Natur, werden von ihr ignoriert. Selbiges gilt im Übrigen auch für andere Gruppierungen wie Al-Qaida oder die Taliban. Doch die Hamas ist nicht von heute auf morgen entstanden – und sie ist deutlich jünger als die Palästinafrage. Als die Vorläufer der Taliban, die Mudschaheddin-Rebellen, erstmals in Afghanistan auftauchten, war man im Westen froh darüber und unterstützte sie. Warum? Weil man in Zeiten des Kalten Krieges mit der Sowjetunion sowie der kommunistischen Diktatur in Kabul einen gemeinsamen Feind hatte. Kriegsverbrechen der Mudschaheddin wurden hier und da benannt, etwa vom damaligen UN-Sonderbeauftragten für Menschenrechte in Afghanistan, dem österreichischen Juristen Felix Ermacora. In einem ausführlichen Bericht schrieb Ermacora allerdings auch, dass die Gewalt der Rebellen in keiner Weise vergleichbar sei mit der genozidalen Kriegsführung der Sowjets im Afghanistan der 1980er-Jahre.3 Zur Erinnerung, weil vieles davon heute verdrängt und vergessen scheint: Die Rote Armee löschte ganze Dörfer aus, ließ in Kabul einen weitreichenden Folterapparat errichten und sprengte Kindern mit als Spielzeug getarnten Minen die Gliedmaßen weg. Im Fall der Beziehung zwischen der Hamas und Israel war man zuerst froh über die neue, militante Kraft, die neben der deutlich populäreren, marxistischen PLO, unter deren Flagge sowohl Muslime als auch Christen kämpften, entstanden war. Später – und vor allem seit dem 7. Oktober – konnte die Hamas für jeglichen Gewaltexzess herhalten, denn allen voran Benjamin Netanjahu und seine Extremisten brauchten den Feind auf der Gegenseite. Dabei berichtete die New York Times schon im November 2023, dass Israel bereits ein Jahr vor dem Angriff der Hamas über die Pläne der Extremisten informiert war.4 Heute spricht ein Großteil der Welt immer weniger über die Gräueltaten der Hamas, weil sie neben mehr als 60 000 getöteten Palästinensern (Stand: August 2025) verschwindend klein aussehen. Die Dunkelziffer liegt mit über 200 000 Toten deutlich höher. Laut den Zahlen der israelischen Armee selbst handelt es sich bei mindestens 83 Prozent der Todesopfer um Zivilisten.5 Viele dieser erschütternden Entwicklungen erinnern an die Antiterrorkriege des Westens, denn auch dort wurde viel bombardiert, wenig untersucht und umso mehr vertuscht. Das Geschehen in Gaza ist deshalb nicht von den Kriegen in Afghanistan, Irak und anderswo zu trennen, sondern muss zusammenhängend betrachtet werden. Nichts, auch nicht das Massaker des 7. Oktober, rechtfertigt den fortwährenden Genozid an der palästinensischen Bevölkerung. Es ist nicht nur ein Genozid, der vom israelischen Staat getragen wird, sondern auch von den Liberalen und den Demokraten westlicher Gesellschaften. Der britische Soziologe Martin Shaw spricht in diesem Kontext deshalb von einem »demokratischen Genozid«. Diese präzise Bezeichnung mag für manche erschütternd klingen, weil sie die Fundamente westlicher Gesellschaften erschüttert. Doch sie sind Mittäter – und zu ihnen zählen nicht nur Politiker, die unter anderem Waffenlieferungen genehmigen und den Massenmord seit zwei Jahren mittragen, sondern auch viele Journalisten, die täglich in kreativster Manier Wege und Mittel finden, um zu leugnen, zu relativieren und zu entmenschlichen. Auch das werden wir, die sich dem wahren Kern des Journalismus verpflichtet sehen, weder vergeben noch vergessen.

Deutlich schlimmer ist allerdings die Demontage der westlichen Idee, an der – und das könnte manche nun schockieren – mir als Kind afghanischer Geflüchteter tatsächlich etwas liegt. Österreich und Deutschland waren und sind weiterhin die Orte, an denen ich lebe. Ich bin Österreicher und verlasse mich auf Gesetz und Ordnung meines Geburtslandes – meiner Heimat. Als die Sowjets Afghanistan überfielen, fand mein Vater in den Tiroler Alpen ein neues Zuhause. Meine Kritik an westlicher Machtpolitik und ihrer Folgen äußere ich als einheimischer Dissident und nicht als ausländischer Scharfmacher. Das sollte offensichtlich sein, denn es gibt wenige (oder wahrscheinlich gar keine) Länder oder Regionen, die für mich und meine Familie sonst jemals infrage gekommen wären. Das politische System in Westeuropa ist natürlich nicht vergleichbar mit autoritären und totalitären Diktaturen wie China, Russland, dem Iran oder Saudi-Arabien. Ich bin überzeugt davon, dass der Aufstieg der jeweiligen Regime in diesen Ländern bedrohlich für unser friedliches Zusammenleben ist. Und selbstverständlich kommtfür mich und viele andere Menschen mitderselben Herkunft auch Afghanistan, das seit August 2021 wieder von den Taliban regiert wird, nicht infrage. Kurz und knapp: Der Westen ist trotz seiner zahlreichen Makel weiterhin die beste Option. Doch er zerstört sich, indem er seinen eigenen Fortschritt zugrunde richtet. Was bringt ein Internationaler Strafgerichtshof, wenn dort hauptsächlich afrikanische oder jugoslawische Kriegsverbrecher verurteilt werden, aber keine amerikanischen oder israelischen? Wie kann man stolz auf die Abschaffung der Todesstrafe sein, während man anderswo Menschen per Drohnen oder wie zuletzt im Libanon mittels manipulierter Pager extralegal in die Luft jagt? Warum publizieren liberale Zeitungen in Deutschland menschenfeindliche Stücke, in denen der Massenmord an arabischstämmigen Menschen gutgeheißen und das Aushungern der palästinensischen Bevölkerung in Gaza als »strategisch richtig« bezeichnet wird?6 Es gibt viele solcher Fragen, die allesamt berechtigt sind. Nur ein Bruchteil davon wird in den nächsten 80 Seiten behandelt werden. Klar ist allerdings leider auch, dass sämtliche Züge abgefahren sind. Nichts zeigt die hässliche Fratze des Westens mehr als seine eigene Heuchelei – und deutlicher könnte diese in diesen Tagen kaum noch sein.

Sie haben blaue Augen

Frühjahr 2022: Seit mehreren Tagen dominiert die russische Invasion der Ukraine die Berichterstattung in aller Welt, und eine erstaunliche Zahl von Reportern, Analysten und anderweitigen Beobachtern des Krieges demonstriert offenkundigen Rassismus. Einer der ersten Journalisten, der damit auffiel, war Charlie D’Agata vom amerikanischen Sender CBS News. In einem Bericht aus Kiew meinte er, dass die Ukraine nicht mit dem Irak oder Afghanistan vergleichbar sei, weil es sich um ein »europäisches« und »zivilisiertes« Land handele.1 Nach einem Shitstorm entschuldigte sich D’Agata für seine Formulierung, doch sie war kein Einzelfall und nur ein Vorzeichen für das, was noch kommen würde. In einem Interview mit der britischen BBC sagte der ukrainische Generalstaatsanwalt David Sakvarelidze, dass er in diesen Tagen besonders emotional sei, weil er sehe, wie »europäische Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren« täglich getötet werden.2 Dieser Satz, der in den sozialen Medien für Entsetzen sorgte, wurde vom Interviewer in keiner Weise hinterfragt. Stattdessen wurde der rassistische Berichterstattungsfeldzug anderswo erbarmungslos fortgesetzt. Korrespondentin Lucy Watson vom britischen ITV behauptete sichtlich aufgebracht, dass es sich bei der Ukraine »nicht um ein Dritte-Welt-Land« handeln würde, sondern um »Europa«. Deshalb sei der Krieg dort so viel schlimmer. Auch im britischen Daily Telegraph hieß es, der Krieg in der Ukraine sei besonders schlimm, weil die Opfer »aussehen wie wir«. Andere Medien, darunter etwa französische oder sogar die englischsprachige Ausgabe des katarischen Al Jazeera, taten es ihnen gleich.

Meist wurde dasselbe impliziert: Die Geflüchteten aus der Ukraine seien im positiven Sinne »anders«. Sie seien hellhäutig oder weiß, christlich, »wie wir« und deshalb »zivilisierter« als jene, die in den vergangenen Jahren gen Europa gezogen sind, sprich, Menschen aus Afghanistan, Syrien oder Somalia. Der ZDF-Korrespondent Armin Coerper fiel damit auf, dass er meinte, im Niemandsland zwischen Polen und der Ukraine sehr viele »muslimisch aussehende Männer« erkannt zu haben, die separiert worden seien – womöglich sogar als Teil einer neuen Flüchtlingsroute aus dem Nahen Osten. Der Höhepunkt dieser rassistischen Scharade wurde ausgerechnet im deutschen Fernsehen zur Prime Time erreicht. Bei »Hart aber fair« hatte sich wieder einmal eine eher homogene Runde zusammengefunden und verbreitete fröhlich Stereotype über Geflüchtete aus bestimmten Regionen. Da saß etwa ein Gabor Steingart, der nach entsprechender Vorlage vom damaligen Moderator Frank Plasberg die Ukrainer auch zu »unserem Kulturkreis« zuordnete und sagte: »Ja, es sind Christen«, und dass er sich deshalb vorstellen könnte, dass es »diesmal funktioniert«. (Das heißt, beim letzten Mal hat es nicht funktioniert?) Der Mann zu seiner Rechten, der pensionierte deutsche Nato-General Hans-Lothar Domröse, holte noch weiter und brutaler aus. Nach seinen Worten handelt es sich bei den Geflüchteten von 2015 zu einem großen Teil um junge Männer, »wehrfähige, starke Männer, die eigentlich ihr Land verteidigen sollten«. Nun, so Domröse, sei ja zum Glück Gegenteiliges der Fall: Ukrainische Männer würden ihre Heimat gegen die russischen Truppen verteidigen, unter anderem mit Stinger-Raketen »aus dem Keller« (sic!), während die »Frauen, Mütter und Kinder« gehen.

Bei so viel Rassismus und Ignoranz blieb mir die Spucke weg. Widersprochen wurde weder Steingart noch Domröse. Stattdessen gewann man fast schon den Eindruck, dass sich einige der Gäste (und womöglich auch Frank Plasberg selbst) an der vermeintlichen Überlegenheit des weißen, christlichen Mannes, der nun seine Heimat verteidigt, regelrecht aufgeilen möchten. Der Tenor war etwa: So gehört sich das! Nicht wie bei den anderen, den muslimischen Feiglingen aus irgendeinem shithole country. Man musste sich in Anbetracht der Vielzahl der Vorfälle fragen: Zeigt sich hier nur etwas, was schon lange da war? Rutscht der Rassismus vielleicht sogar raus, weil man sich betroffen fühlt? Und warum war dies in der Vergangenheit nicht der Fall? Entgegen vielen Behauptungen handelt es sich bei dem Ukrainekrieg nämlich nicht um den ersten bewaffneten Konflikt in Europa seit Ende des 2. Weltkrieges. Als während des Jugoslawienkrieges der 1990er-Jahre ein Genozid gegen die Bosniaken verübt wurde, konnten sich nur wenige Deutsche, Briten oder Franzosen mit ihnen solidarisieren – obwohl sie so aussahen wie sie. Ähnliches war auch der Fall, als Wladimir Putin die tschetschenische Hauptstadt Grosny dem Erdboden gleichmachte und zahlreiche Menschen flüchten mussten. Auch die damaligen Geflüchteten sahen »europäisch« aus – wenn man das überhaupt so bezeichnen will –, doch sie trugen »muslimische« Namen wie Emir oder Ramsan, und die haben, so meinen anscheinend viele bis heute, nichts mit Europa und »unserem Kulturkreis« zu tun.

Dass dieser Huntington’sche Begriff, der bereits zigfach dekonstruiert wurde, weiterhin so inflationär verwendet wird, ist in meinen Augen ein Skandal. Auch im Kontext des Geschehens rund um die Ukraine blendet er viele Realitäten einfach aus. Als Putin etwa vor einigen Jahren die Krim annektierte, gehörten muslimische Krimtartaren, über die heute kaum noch gesprochen wird, zu den größten Opfern. Bereits 2014 kämpften viele von ihnen auf ukrainischer Seite. Der vom Westen zelebrierte Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, ist kein Christ, sondern Jude. Anstatt diese Komplexitäten und die Vielschichtigkeit des Konflikts zu thematisieren, wurde ein einfaches und gefährliches Bild gezeichnet. Menschen werden gegeneinander aufgewogen, mitsamt ihren Erfahrungen, Schicksalen und Traumata.