Im Angesicht der Lüge - Doris Gercke - E-Book

Im Angesicht der Lüge E-Book

Doris Gercke

0,0

Beschreibung

Der neunte Fall der Kultermittlerin Bella Block jetzt neu im eBook! Von Hamburg bis Odessa: Ein Wettlauf gegen die Zeit … Die hartgesottene Hamburger Privatdetektivin Bella Block braucht nach Jahren im Job einen Tapetenwechsel – da kommt ihr das Angebot einer taffen Modeunternehmerin gerade recht, sie als Dolmetscherin nach Odessa zu begleiten. Doch kaum dort angekommen, wird Charlotte entführt: Bella gerät in einen Sog aus Intrigen und Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Modedynastien und der russischen Mafia. Während Bella in dem brutalen Ringen um Einfluss versucht Oberwasser zu behalten, erhält sie Hilfe von unerwarteter Seite: der Turkmenin Tolgonai, die Rache geschworen hat für all die Entwürdigungen von Frauen in der Region. Gemeinsam mit ihrer ungewöhnlichen Mitstreiterin muss Bella alles riskieren, um die Wahrheit ans Licht zu bringen – und die Entführte zu retten … Der neunte Fall der legendären Kommissarin Bella Block, der unabhängig gelesen werden kann – ein bitterböser Kriminalroman für die Fans von Simone Buchholz. In Band 10 ermittelt Bella Block in einem entsetzlichen Kindermord, bei dem nichts ist, wie es scheint …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Die hartgesottene Hamburger Privatdetektivin Bella Block braucht nach Jahren im Job einen Tapetenwechsel – da kommt ihr das Angebot einer taffen Modeunternehmerin gerade recht, sie als Dolmetscherin nach Odessa zu begleiten. Doch kaum dort angekommen, wird Charlotte entführt: Bella gerät in einen Sog aus Intrigen und Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Modedynastien und der russischen Mafia. Während Bella in dem brutalen Ringen um Einfluss versucht Oberwasser zu behalten, erhält sie Hilfe von unerwarteter Seite: der Turkmenin Tolgonai, die Rache geschworen hat für all die Entwürdigungen von Frauen in der Region. Gemeinsam mit ihrer ungewöhnlichen Mitstreiterin muss Bella alles riskieren, um die Wahrheit ans Licht zu bringen – und die Entführte zu retten …

Über die Autorin:

Doris Gercke, 1937 in Greifswald geboren, ist eine der bekanntesten Krimi-Autorinnen Deutschlands. Berühmt wurde sie durch ihre Reihe um die Kultermittlerin Bella Block, im ZDF verfilmt mit Hannelore Hoger in der Titelrolle. Auf der Criminale 2000 erhielt sie den »Ehrenglauser« für ihr Gesamtwerk. Doris Gercke lebt in Hamburg.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre 17-teilige Reihe »Ein Fall für Bella Block«. Folgende Fälle sind als Hörbücher bei Saga Egmont erschienen: »Du musst hängen«, »Das lange Schweigen«, »Schlaf, Kindchen, schlaf« und »Das zweite Gesicht«.

***

Aktualisierte eBook-Neuausgabe Juli 2025

Dieses Buch erschien bereits 1996 unter dem Titel »Dschingis Khans Tochter« bei Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

Copyright © der Originalausgabe 1996 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/marado 333

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ma)

ISBN 978-3-98952-830-7

***

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Doris Gercke

Im Angesicht der Lüge

Ein Fall für Bella Block 9

dotbooks.

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Zitatnachweis

Lesetipps

Motto

Ophelia:

Nieder mit dem Glück der Unterwerfung.

Kapitel 1

Unter dem Äussersten der weißen Sonnenschirme des Eiscafés, nur durch die Straße vom Platz vor der Odessaer Oper getrennt, sitzt ein Mann. Er trägt einen grauen Anzug, ein offenes Hemd und braune Schuhe ohne Strümpfe. Der Mann hat ein blasses Gesicht. Zwischen Nase und Mund wächst ein dünner, schwarzer Bart. Die Ärmel des Jacketts sind an den Handgelenken durchgescheuert. Der Mann ist der einzige Gast in dem Eiscafé. Die Kellnerin kommt heran. Er sieht ihr entgegen. Sie wendet sich um und geht zurück an das Büfett im Hintergrund. Sie wird ihn nicht nach seinen Wünschen fragen.

Der Mann sieht ruhig auf die Straße. Er beobachtet ein Auto, schwarzglänzend, mit silbernen Beschlägen. Das Auto rollt langsam heran und hält auf dem leeren, unteren Ende der Straße, in Höhe der weißen Schirme des Eiscafés. Der Fahrer steigt aus, öffnet die Tür hinter der Fahrertür und bleibt daneben stehen. Er nimmt die Mütze vom Kopf, hält sie sich vor die Brust und lächelt. Seine Mütze ist blau wie sein Anzug. Eine schmale, rot-goldene Litze blinkt über dem Mützenschirm und an den Ärmeln seiner Jacke. Es ist Mittag, Herbstmittag in Odessa, die Sonne wärmt den Mann unter den weißen Sonnenschirmen des Eiscafés, den glitzernden Chauffeur und das wunderschöne Mädchen, das zuerst langsam, zögernd ein schlankes, weißbestrumpftes Bein aus der geöffneten Autotür gestreckt hat und nun, schmal, in glänzender, weißer Seide, die eng am Körper liegt, neben dem Chauffeur steht, groß wie der Mann in der Livree, nur eben viel zarter, viel schöner. Beide, der Chauffeur und das Mädchen, sehen über das Dach des Wagens auf die andere Seite. Die Autotür ist von innen geöffnet worden. Schnell und ohne zu zögern steigt der junge Mann im schwarzen Anzug aus. Jetzt geht er um die Kühlerhaube des Wagens herum, der Chauffeur tritt zur Seite, lächelnd nimmt der Junge das weißseidene Mädchen am Arm, legt die Hand unter dessen rechten Ellenbogen und führt es über den leeren Bürgersteig. Am Rand, vor den weißen Schirmen, bleiben beide stehen, wenden sich um und sehen zurück auf die Straße. Auf dem Bürgersteig, in respektvollem Abstand, sammeln sich Männer, Frauen und Kinder, die die beiden betrachten. Die Menschen sprechen nicht, rufen nur manchmal ein Kind zurück, das der weißen Seide zu nahe gekommen ist.

So, in respektvollem Abstand umringt, von Stille umringt, steht das Paar und sieht den Wagen entgegen, die nun, einer nach dem anderen, heranrollen, auf der eben noch fast leeren Straße anhalten, im Rücken die prachtvolle Fassade des Operngebäudes. Männer in teuren Anzügen mit glitzernden Westen und schwarz-weißen Schuhen, dicke Männer mit roten Nacken und schwarzen Haaren, die ihre Zigarren auch im Auto nicht ausgehen ließen, steigen aus und kommen lachend heran. Frauen folgen ihnen, deren Kleider so kostbar sind, so leuchtende Farben, so raffinierte Schnitte haben, dass manche unter den Gaffern sich fragen mögen, wo gibt es diese Stoffe zu kaufen? Welches Schuhgeschäft bietet Schuhe an aus feinstem Schlangenleder, mit hohen Absätzen und Spangen über dem Spann? Wo kauft man solche Handtaschen, passend zu Kleid und Schuhen, an goldenen Ketten über den Schultern hängend, unter dem Arm zu tragen, mit passenden Puderdosen in ledergefütterten Klappen? Die werden jetzt aufgeschlagen, und in dem fröhlichen Kreis, der sich um das junge Paar gebildet hat, werden Nasen gepudert, zarte, junge und fleischige, alte, mit kostbaren, federleichten Quasten. Acht, neun Autos halten nun auf der Straße. Die Chauffeure stehen in einer Gruppe neben dem ersten Wagen, zünden sich Zigaretten an, stehen, die Arme über der Brust gekreuzt, beisammen und unterhalten sich.

In die Gruppe der Gaffer auf dem Bürgersteig ist Bewegung gekommen. Ein Fotograf ist aufgetaucht. Laut, mit rudernden Armbewegungen versucht er, die feine Gesellschaft zur Tür und auf die Stufen des weißen Gebäudes am Bürgersteig zu drängen. Da soll die Gesellschaft sich aufstellen; das junge Paar unten, neben ihm und auf der Treppe seine Gäste. Es dauert eine Weile, bis alle so stehen, dass sie ein hübsches Bild abgeben. Die Gaffer rücken näher heran.

Weg, ruft der Fotograf, zur Seite da!

Sie weichen ein wenig zur Seite. Der Fotograf dirigiert die Gruppe mit den Händen. Der Mann unter dem Sonnenschirm nimmt seine Aktentasche vom Boden und steht auf. Er wird näher herangehen müssen. Die vielen Gaffer verstellen seinen Blick. Er kann die Gruppe auf den Stufen von seinem Platz aus nicht mehr sehen. Auch die Kellnerin kommt aus dem Hintergrund nach vorn an den Rand der Straße. Sie sieht die vielen Menschen und den Mann im grauen Anzug, der sich langsam der Gruppe nähert. Sie sieht, dass er seine Tasche öffnet, seine Hand hineinsteckt und wieder herauszieht.

Ich weiß nicht, warum ich gerufen habe, wird sie später sagen. Sie beginnt zu schreien in demselben Augenblick, in dem der Mann im grauen Anzug über die Köpfe der Menge hinweg die Bombe in die glitzernde Gruppe auf den Treppenstufen wirft. Die Detonation ist so stark, dass in dem Haus, auf dessen Treppe die Gruppe stand, alle Scheiben bersten. Auch in den anderen Häusern in der Nähe splittert das Glas in den Fenstern. Es klirrt und scheppert, aber niemand hört darauf in diesem Augenblick. Wer noch etwas wahrnimmt, hört die Schreie der Verletzten. Wer noch etwas sieht, sieht die Glieder der Zerfetzten. Wer noch etwas will, will Hilfe.

Der Anblick eines zerfetzten, abgerissenen Beins, an dessen Fuß ein eleganter, unzerstörter Schuh merkwürdig obszön wirkte, und der Kommentar des Sprechers, der irgendetwas über »Mode« quasselte, waren der endgültige Anlass für Bella, das Fernsehgerät auszuschalten. Ihr Bedarf an Fetzen, gleich welcher Art, war nicht groß; genaugenommen war er gar nicht vorhanden.

Du bist harmoniesüchtig, Bella, dachte sie, während sie überlegte, ob sie in die Küche gehen und das Tablett mit Wodka und Orangensaft holen sollte, das Willi dorthin gestellt hatte, bevor sie gegangen war. Willi war gegangen und würde nicht wiederkommen.

Es war Nachmittag, Herbst, die Sonne schien ungewöhnlich warm. Es war unsinnig, so zu tun, als sei nichts geschehen. Willi hatte es vorgezogen, sich in die Arme eines verliebten Studenten zu stürzen. Obwohl das Leben mit Bella durchaus erotische Augenblicke gehabt hatte, war Willi die Liebe zu einem Jüngling am Ende verlockender erschienen. Genaugenommen hatte Bella sie zu dieser Entscheidung gezwungen. Ein paarmal war sie gemeinsam mit dem Jungen, der sinnigerweise Willi hieß, bei Bella erschienen. Bella hatte »Wilhelmina« sagen müssen, nur um zu vermeiden, dass sich zwei Köpfe gleichzeitig bewegten, vier Augen mit den gleichen erwartungsvollen Blicken ihr entgegensahen. Der Junge, Jurastudent, war ein freundlicher, sanfter Typ, Wilhelmina intellektuell hoffnungslos unterlegen, aber im Bett wahrscheinlich hemmungslos vor Lust, mit der ganzen Rücksichtslosigkeit des jungen Liebhabers. Wie und unter welchen Umständen die erste Begegnung zwischen den beiden stattgefunden hatte, erzählte Wilhelmina an einem Morgen, während Bella bald nicht mehr zuhörte, nur die im ersten Herbstnebel auf der Elbe laut werdenden Nebelhörner wahrnahm und zu verstehen begann, dass die Zeit mit Willi vorüber war. Zwei Wochen hatte sie gewartet mit dem letzten Gespräch. Ein wenig in der Hoffnung, Willi würde zur Besinnung kommen, hatte sie deren Versuch zugesehen, das Leben mit Bella in der gewohnten Form aufrechtzuerhalten und den Ansprüchen ihres Liebhabers und ihres Körpers gerecht zu werden. Dann hatte sie die Sache beendet. Während der junge Mann vor einer Kommission von ausgewachsenen Männern saß, die ihn mit Fragen einfachster Qualität (»Ist der Verteidiger als Organ der Rechtspflege anzusehen?«) in Verlegenheit zu bringen suchten, um ihn anschließend zu sich in die Gemeinschaft der Volljuristen zu erheben, saßen Bella und Willi sich zum letzten Mal in Bellas Arbeitszimmer gegenüber.

Wir werden unser Arbeitsverhältnis beenden, sagte Bella. Willi sah sie an. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie verstanden hatte, worum es ging.

Besser, wir behalten uns in guter Erinnerung, sagte Bella.

Willi wäre nicht Willi gewesen, wenn sie kampflos aufgegeben hätte.

Ich hätte gern mit Ihnen geschlafen, sagte sie.

Einen Augenblick war Bella hilflos. Wie selbstverständlich sich jetzt dieser Satz anhörte, der so lange Zeit zwischen ihnen nicht gesagt worden war.

Ich weiß, sagte sie. Ich auch, wahrscheinlich.

Willi schwieg und sah vor sich auf den Boden.

Ich geh dann, sagte sie nach einer kleinen Pause.

Sie stand auf und ging in die Küche. Ihre abgetretenen Absätze knallten hart auf den Boden, während Bella sie hin und her gehen hörte. Sie wusste plötzlich, dass sie gerade dieses Knallen der Absätze vermissen würde.

Ich habe die Sachen auf das Tablett gestellt, sagte Willi. Sie stand in der Tür mit traurigem Gesicht, hielt den Kopf ein wenig schief, fragend, ein Bild des Jammers.

Danke, sagte Bella, auch für alles andere. Und viel Glück.

Ohne zu antworten, wandte Willi sich ab und verließ das Haus. Bella blieb im Sessel sitzen.

Später, als ihr klargeworden war, dass es wenig Sinn hatte, über Versäumnisse nachzudenken, die sich nicht mehr beheben ließen, hatte sie das Fernsehgerät eingeschaltet. Vielleicht hätte sie sich gezwungen, den Bildern aus Odessa mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie gewusst hätte, dass sie selbst in ein paar Tagen dort sein würde. Aber sie wusste es nicht. Sie ging in die Küche, trug das Tablett mit Wodka und Orangensaft zum Sessel am Fenster und fing an, sich langsam und systematisch zu betrinken. Gegen Abend begann das Telefon zu läuten. Sie nahm den Hörer nicht ab. Irgendjemand versuchte wieder und wieder, sie zu erreichen. Später beschloss sie, anstatt den Telefonstecker aus der Wand zu ziehen, das Haus zu verlassen. Noch war es das Haus, in dem Willi und sie zusammen gearbeitet hatten. Es musste ein Abstand geschaffen werden zwischen dem alten Leben und dem neuen, das jetzt zu beginnen hatte. Während sie im Dunkeln die Stufen zum Strand hinunterstieg, hin und wieder sich an einem Zaun oder einer Mauer stützend, kühlte der Wind ihren Kopf, und der Geruch nach Öl und Tang und Teer trug dazu bei, dass sie nüchtern wurde. Einmal begegnete ihr ein Mann, der vom Strand die Treppen heraufkam.

Kann ich Ihnen helfen, fragte er. Auch diese Frage trug dazu bei, sie wieder klar denken zu lassen.

Der Strand war dunkel und leer. Lautlos zog ein Containerschiff an ihr vorbei. Drüben am anderen Ufer waren die Lichterketten von MBB zu sehen. Vielleicht waren solche Anblicke dafür verantwortlich, dass Menschen im Zusammenhang mit Rüstung romantische Gefühle bekamen? »›Tante Ju‹ oder ›Iron Anny‹, wie die Maschine liebevoll genannt wird«, stand vor ein paar Tagen im kostenlos verteilten Anzeigenblatt und darüber in dicken Buchstaben BLASMUSIK UND SCHUNKELLIEDER. Die sollten den Ausflug der Kinder in der »Tante Ju« begleiten, ihnen aufspielen beim Volksfest-Rundflug mit der »Iron Anny«. So wie Odessa ihnen nichts sein würde, als eine spannende Kriminalgeschichte mit einem abgerissenen Bein am Rand des Kraters, den eine Mafia-Bombe vor der Oper hinterlassen hatte. Die Eltern würden mit ihren Kindern in der »Tante Ju« begeistert durch die Lüfte schaukeln. Ein Volk ohne Erinnern, ohne Geschichte, tot, gefährlich tot.

Irgendwann spürte Bella ihre Beine müde werden vom Stapfen durch den Sand. Da kehrte sie um, mit nassen Schuhen und durstig. Vier oder fünf Stunden war sie gelaufen, zu wenig, um genaue Vorstellungen davon zu haben, wie sich ihr neues Leben gestalten würde. Zu lange, um noch eine geöffnete Kneipe zu finden. Müde fiel sie ins Bett und schlief sofort ein.

Kapitel 2

Ich warne dich, Nigger.

Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht ankotzen, Nigger.

Der Mann hält die Arme an die Wand. Seine Beine sind gespreizt, zwischen Körper und Wand ist auf dem Fußboden ein stinkender Haufen von Erbrochenem. Kastner, der Polizist hinter ihm, schlägt ihm leicht, wie zur Probe, in die Kniekehlen. Der Mann hört nicht auf, sich zu übergeben. Ein zweiter Polizist kommt den Flur entlang.

Dass du dazu Lust hast, Kastner, sagt er, schmeiß ihn doch gleich weg. In zehn Minuten geht der Transport. Der Mann an der Wand würgt noch immer.

Hab ich dir nicht gesagt, du sollst mich nicht ankotzen. Hier, los, trink.

Ein Schlag in die Kniekehlen befiehlt dem Mann, sich umzudrehen. Schweißperlen haben sich auf seinem Gesicht gebildet. Er sieht grau aus. Kastner hält ihm ein Glas mit grauweißem Inhalt hin.

Los, mach schon.

Der Mann beginnt beim Anblick des Glases erneut zu würgen. Er übergibt sich, einige Spritzer treffen Kastners Schuhe. Der stößt ihm mit dem Schlagstock vor die Brust. Der Mann taumelt, gerät mit den Füßen in das Erbrochene.

Du Sau, sagt Kastner zufrieden. Ihr seid alle Säue. Schwarze Säue. Bleib da stehen und rühr dich nicht vom Fleck.

Er geht den Flur entlang, bleibt stehen und stellt das Glas, das er noch in der Hand hält, auf dem Fußboden ab.

Das ist leer, wenn ich zurückkomme, sagt er, wir sind noch nicht fertig miteinander Kapierst du?

Der Mann an der Wand schweigt. Kastner ist hinter einer Tür verschwunden. Jetzt ist er allein im Flur. Es stinkt, und die Luft ist überhitzt durch die schlecht isolierten Heizungsrohre, die an der Decke entlanglaufen. Er macht ein paar Schritte auf das Glas zu. Auf dem Fußboden entstehen Abdrücke aus Erbrochenem. Als er das Glas in der Hand hält und sich umsieht, geht die Tür wieder auf.

So ist es brav, sagt Kastner. Er ist ein großer kräftiger Mann mit blonden, kurzgeschnittenen Haaren und der Andeutung eines modischen Dreitagebarts. Er ist so groß und kräftig, dass die Kamera in seinen Händen wie ein Spielzeug wirkt.

An die Wand, Nigger, dich wollen wir schwarz auf weiß. Runter mit der Pudelmütze.

Bevor Kastner mit dem Schlagstock seinen Kopf erreicht, hat der Mann die Pudelmütze vom Kopf gerissen. Während Kastner fotografiert, sind vor der Tür Stimmen zu hören.

Kommst du endlich? Wie lange brauchst du noch? Seid ihr fertig? Wir sind so weit.

Los, Nigger, saubermachen, sagt der Polizist leise.

Der Mann sieht sich um. Er weiß nicht, womit er das Erbrochene beseitigen soll.

Nimm deine Jacke, du Schwein. Siehst du die Tür da? Weißt du, was 00 heißt? Ihr scheißt noch hinter die Büsche, was? Kommt aus dem Busch und scheißt hinter die Büsche. Rein da, nimm Papier, los, dalli.

Der Mann rennt, kommt mit ein paar Papierhandtüchern zurück und beginnt, den Fußboden zu säubern. Der Polizist, der vor einer Weile über den Flur gegangen ist, kommt zurück.

Es stinkt hier, sagt er, hoffentlich seid ihr bald fertig. Er gibt sich Mühe, sagt Kastner. Er will auch auf Transport. Freut sich schon auf seinen Kral. Dalli, dalli.

Der Mann trägt die schmutzigen Papiertücher hinter die Toilettentür. Kastner hält die Flurtür schon auf, als er wieder zurückkommt. Der Mann hat nasse Hände.

Hat sich die Pfoten gewaschen, das Schwein. Los, raus hier.

Der Mann geht schnell an Kastner vorbei, nicht schnell genug. Er wird in die Seite gestoßen, fliegt schräg nach vorn und prallt gegen eine Gruppe von Schwarzen, die im angrenzenden Raum in der Nähe der Tür gestanden haben.

Marsch jetzt, hier ist keine Wärmehalle. Raus, bevor ich mich vergesse.

Die Schwarzen werden zur Tür gedrängt, über den Bürgersteig in ein bereitstehendes Auto geschoben, die Tür wird hinter ihnen verschlossen. Passanten gehen vorbei, ohne hinzusehen. Im Innern ist es dunkel. Der Wagen fährt an. Die Männer wissen nicht, wohin sie gefahren werden. Sie hocken auf dem Boden, stumm und äußerlich gleichgültig. Sie haben Angst. Die Angst verstärkt sich, als der Wagen anhält und die Tür geöffnet wird. Es sind keine Lichter zu sehen, weder von Häusern noch von Straßenlaternen. Die Scheinwerfer des Wagens sind abgeschaltet.

Hände hoch und einzeln rauskommen!

Sechs Männer steigen nacheinander aus dem Wagen. Sie halten die Hände über dem Kopf verschränkt. Jedem Einzelnen leuchtet Kastner mit der Taschenlampe ins Gesicht, während er kommandiert: An die Wand, Hände bleiben oben.

Die Männer tasten sich unsicher vorwärts, kommen langsam voran, stoßen gegen eine Mauer, bleiben stehen.

Da bleibt ihr und rührt euch nicht.

Sie hören, wie Kastner und sein Kollege die Tür des Wagens zuschieben, einsteigen, die Vordertüren schließen und den Wagen starten. Die Köpfe gegen die Mauer gelehnt, die Hände darüber abgestützt, stehen sie und warten. Sie hören, dass der Wagen in ihrem Rücken wendet. Plötzlich werden die Scheinwerfer eingeschaltet. Licht fällt gegen die Mauer, auf ihre Rücken, auf die erhobenen Arme. Der Wagen fährt dichter heran, steht erst, als er fast ihre Beine berührt. Durch das Motorengeräusch hören sie Kastners Stimme.

Wenn ich euch noch mal erwische, kommt ihr nicht so billig davon. Das nächste Mal seid ihr dran.

Der Wagen setzt zurück und fährt davon. Es dauert eine Weile, bis die Männer die Arme von der Mauer nehmen. Sie versuchen, sich zu orientieren. Es ist vier Uhr morgens. In der Ferne sehen sie den roten Himmel über der Stadt. Vor ihnen liegen Felder. Wege oder Häuser sind nicht zu erkennen.

Kapitel 3

Für den Polizisten Kastner ist der Dienst beendet. Er lässt sich an der Wache absetzen, steigt um in seinen Privatwagen und fährt nach Hause. Um diese Zeit sind die Straßen noch leer. Für den Weg bis nach Lurup braucht er nicht länger als eine halbe Stunde. Als er ankommt und vor dem Gartentor parkt – wenn er um diese Zeit vom Dienst kommt, fährt er sein Auto nicht auf das Grundstück, eine Angewohnheit von früher, als die Frau noch zu Hause war und er sich Mühe gab, sie morgens nicht zu wecken – ist es kurz nach fünf. Er schließt den Wagen ab, geht über den Plattenweg, sieht sich an der Haustür noch einmal um. Niemand beobachtet ihn. Die Nachbarn schlafen noch.

Dann steht er im Hausflur, den Schlüssel noch in der Hand und lauscht. Auch als die Frau noch da war, ist es morgens im Haus still gewesen, wenn er vom Dienst gekommen ist. Dann lag sie im Bett und schlief. Bevor sie ihn für immer verließ, hat er nicht gewusst, dass es unterschiedliche Arten von Stille geben kann. Kastner nimmt die Post vom Boden auf, die hinter der Haustür gelegen hat, und geht in die Küche. Früher standen da, wenn er kam, eine Thermosflasche mit Tee und ein Brett mit belegten Broten, über das sie eine dünne Klarsichtfolie gezogen hatte. Manchmal stand daneben eine Schale mit Pudding oder ein Teller mit Obst. Sie wusste, dass er Hunger hat, wenn er vom Dienst kommt. Er saß allein in der Küche und aß, aber er war doch nicht allein gewesen. Als sie gegangen war, hatte er in der ersten Zeit selbst für den Tee und die Brote gesorgt. Irgendwann mochte er nicht mehr so tun, als sei die Frau noch da. Wenn er jetzt nach Hause kommt, ist die Küche aufgeräumt, ohne Leben.

Kastner bleibt in der Tür stehen. Er wundert sich über sich selbst. Was ist los? Weshalb beunruhigen ihn Dinge, die nicht zu ändern sind? Er wird sich nicht gleich hinlegen. Er wird sich ein Frühstück machen, die Stille aushalten. Dann erst schlafen gehen. Als das Brett mit den Broten auf dem Tisch steht, die Küche nach Kaffee duftet, setzt er sich, um gleich noch einmal aufzustehen. Es geht ihm schon viel besser als vorhin. Innerlich lächelnd geht er hinüber ins Wohnzimmer und öffnet die oberste Schublade des Eckschranks. Sie hat einen Servietten-Tick gehabt. Er wird eine Serviette benutzen, so wie sie es gewollt hätte. Es ist das erste Mal, seit er allein ist, dass er die Schublade öffnet. Er sieht auf das Durcheinander von verschiedenfarbigen Papierservietten, weißen Papierdeckchen, irgendwelchen runden Papierfetzen und zieht die Schublade ganz heraus. Sorgfältig glättet er zerdrückte Servietten und stapelt sie, nach Farben geordnet, auf dem Wohnzimmertisch. Es gibt verschieden bedruckte rote und grüne Weihnachtsservietten, solche für Ostern, einige sind mit Blumen bedruckt, andere fein wie Spitzentaschentücher. Ein paar sind gebraucht und wieder in die Schublade zurückgelegt worden. Ob sie es war, die die Spuren auf dem bunten Papier hinterlassen hat? Kastner spürt, dass er traurig wird. Aber er schiebt die Schublade nicht zurück, sortiert weiter Papiertücher, Tortendecken und diese merkwürdigen runden Papierdinger, deren Sinn er nicht kennt. Er räumt die ordentlichen Stapel wieder ein und trägt die unbrauchbaren und benutzten Servietten in die Küche, um sie in den Müll zu werfen. Er vergisst, eine Serviette neben sein Frühstücksgedeck zu legen. Er ist traurig und fühlt sich sehr allein.

Kapitel 4

Am Morgen bleibt das Haus ruhig. Bella schläft lange und tief. Als sie wach wird, bleibt sie liegen, gegen ihre Gewohnheit. Es ist schwierig, ein neues Leben anzufangen, wenn das alte in Form von Büchern, Heften, Zetteln mit Notizen noch daliegt, als sei nichts geschehen, und darauf wartet, fortgesetzt zu werden. Sie beginnt darüber nachzudenken, ob wirklich nur die Trennung von Willi ihr die Lust genommen hat, die Arbeit fortzusetzen, mit der sie in den letzten Wochen beschäftigt war. Zuletzt haben sie Anzeigen gesammelt: zu Coca-Cola-Flaschen umgeformte Säulen des Parthenon-Tempels, Belmondo-Schuhe an den Füßen eines griechischen Diskuswerfers, Versicherungswerbung auf einer griechischen Vase.

Ein Gefühl der Ohnmacht war in den letzten Wochen in ihr entstanden. Welchen Nutzen hatte der Beweis, dass der Pergamon-Altar die Darstellung des erbarmungslosen Kampfes der neuen patriarchalischen Ordnung gegen die alte Ordnung der bluttriefenden Mütter sei. Wer will noch die Wahrheit wissen, wenn Venus für Wärme wirbt, die deutsche Braunkohle verbreitet, und der schwule Antinoos in der Parfüm-Werbung Mädchen küsst.

Es gab tatsächlich diesen

augenblick der lautlosigkeit

da der mächtige dunst des weines

[...] tote und mörder aussöhnt.

Tote und Mörder, Geschundene und Schinder waren lautlos eins geworden, ausgesöhnt sollten sie sein und waren es.

Es ist Mittag, als Bella beschließt aufzustehen. Sie fühlt sich merkwürdig leicht, unangemessen fröhlich, und beschließt, noch vor dem Duschen ein Stück den Strand entlangzulaufen. Auf dem Rückweg – sie hält die Tüte mit den Brötchen in der Hand, die gestern noch Willi gebracht hätte – kommt ihr eine Frau entgegen, deren Anblick geeignet wäre, ihr Selbstbewusstsein ins Wanken zu bringen, wenn sie nicht schönen Frauen von jeher mit Gleichmut begegnet wäre. Jedenfalls beim ersten Hinsehen.

Sie sind Frau Block, nehme ich an.

Auch die Stimme ist angenehm, klar, kräftig, gar nicht schüchtern.

Wollen Sie zu mir? Wenn Sie Zeit haben zu warten, bis ich angezogen bin, kommen Sie mit.

Bella nimmt im Vorbeigehen den Duft wahr, zu dessen Verbreitung Antinoos beigetragen hat. Der Gedanke, dass es Willi gewesen ist, die ihr eine Probe des Parfüms besorgt hat, lässt sich schon ohne größere Gemütsbewegungen denken. Bin ich herzlos, zu ernsthaften Gefühlen unfähig?, fragt sie sich, während sie unter der Dusche steht.

Die junge Frau, vielleicht Mitte dreißig, steht unten im Arbeitszimmer am Fenster. Bella wirft ihrem Rücken einen Blick zu, geht in die Küche und stellt Frühstücksutensilien für zwei Personen auf ein Tablett. Sie trägt es hinein, stellt es auf den Tisch am Fenster und bittet die Besucherin, Platz zu nehmen. Sie denkt nicht darüber nach, dass sie alles so angeordnet hat, als säße Willi ihr zur täglichen Arbeitsbesprechung gegenüber. Charlotte Mehring, sagt die Frau, während sie sich in Willis Sessel setzt. Sie trägt die Art Kleidung, die für Frauen mit perfekter Figur gemacht wird; schmale lange Hosen, einreihig geknöpfte Jacke, flache Schuhe, Rollkragenpullover, alles dunkelbraun und von bester Qualität. Ihre Haare sind blond und glatt, fransig bis zum Kinn, der Haarschnitt so teuer wie die Schuhe. Sie lächelt, weil Bella sie einen Augenblick zu lange gemustert hat, nimmt die Bewunderung wie selbstverständlich hin, die sie zu verdienen meint. Ihr Lächeln ist sympathisch.

Wir haben einen gemeinsamen Bekannten, sagt sie, das heißt, für mich ist er ein Verwandter.

Einen kurzen Augenblick denkt Bella an Eddy, nur, um den Gedanken schnell wieder wegzuschieben. Sie kann sich nicht vorstellen, jemanden zu kennen, der mit dieser Person verwandt sein könnte.

Mein Onkel hat mir allerdings gesagt, dass Ihr Verhältnis – sie zögert einen Augenblick, bevor sie weiterspricht –, dass Ihr Verhältnis zu ihm größeren Schwankungen unterworfen ist. Weshalb ich Sie bitten möchte, Onkel Peter einfach zu vergessen und mich anzuhören.

Onkel Peter. Bella ist sich nicht bewusst, jemanden dieses Namens zu kennen.

Peter Kranz, sagt die Schöne, während sie mit langen schlanken Fingern die Kaffeekanne fasst, darf ich, sagt und, ohne eine Antwort abzuwarten, erst Bella und dann sich Kaffee einschenkt. Bella sieht der Bewegung ihrer Hände zu.

Ich hab ihn vor ein paar Tagen getroffen, irgendein Familienfest, und ihm erzählt, dass ich eine Frau suche, die Russisch spricht. Ich habe die Absicht, einen Teil meiner Produktion in den Osten zu verlegen. Außerdem möchte ich herausfinden, ob es sich lohnt, dort einen Laden zu eröffnen. Ich brauche eine Begleitung bei der ersten Kontaktaufnahme. Onkel Peter sagte, Sie seien perfekt in Russisch und außerdem eine geeignete Reisebegleiterin. Er macht sich Sorgen, weil er meint, die Verhältnisse da drüben seien für mich schwer zu durchschauen. Und es sei nicht ungefährlich. Ich glaube ihm nicht so ganz. Er ist einer von denen, die nur noch Übeltäter sehen, weil sie täglich mit ihnen zu tun haben. Ich könnte mir vorstellen, dass die Leute da froh sind, wenn sie Arbeit bekommen.

Wahrscheinlich, sagt Bella. So froh wie die Leute hier, die freigesetzt werden und nun endlich das tun können, wozu sie bisher keine Zeit gehabt haben.

Überall sind die Leute froh. Die da drüben, weil Sie ihnen Arbeit bringen. Unsere, weil sie endlich frei sind. Frohe Völker, frohe Zukunft. Hat Onkel Peter Ihnen gesagt, dass ich nicht umsonst zu haben bin? Er hat gesagt, Sie seien früher mal eine Kollegin von ihm gewesen, hätten lange als Privatdetektivin gearbeitet und wären jetzt nicht – ich meine, ist ja auch egal, was er gesagt hat. Ich würde Sie gern als Begleiterin engagieren. Ich weiß noch nicht genau, wie lange, eine Woche, zehn Tage, vierzehn Tage. Die Kosten übernehme ich selbstverständlich. Geld ist kein Problem. Sagen Sie mir nur, wie hoch Ihr Honorar sein soll.

Was genau wäre meine Aufgabe?

Sie fliegen mit mir, wohnen im selben Hotel und begleiten mich bei verschiedenen Verhandlungen. Sie übersetzen für mich, unabhängig davon, ob uns drüben Dolmetscher angeboten werden. Und Sie halten an den Produktionsstätten, die wir hoffentlich zu sehen bekommen, die Augen offen. Ich will wissen, wie die Maschinen aussehen, wie der organisatorische Ablauf in den Werkhallen ist, ob die Leute zufrieden oder unzufrieden mit ihrer Arbeit sind, was sie für Stundenlöhne bekommen.

Ob sie überhaupt Lohn bekommen.

Auch das, wenn es nötig ist.

Wo genau ist eigentlich dieses »Drüben«? Sie haben bisher noch nicht gesagt, wohin wir fahren werden. Dann habe ich Sie also gewonnen?

Vermutlich, sagt Bella, wenn es sich nicht gerade um Sibirien handelt. Da wäre es mir jetzt schon zu kalt. Sibirien? Nein, viel zu weit. Die Transportwege sind außerdem unsicher. Nein, nicht so weit. Ich denke an Odessa, an die Ukraine.

Meine Seele sagt mir, ich muss nach Odessa.

Wie bitte?

Tschechow sagt Bella, Tschechows Seele. Aber ich glaube, meine könnte ihm zustimmen.

Erst als Charlotte Mehring gegangen ist, begreift Bella, was sie getan hat. Und es ist ihr recht. Den Tag und den Abend verbringt sie damit, alle Spuren der Arbeit zu beseitigen, mit der sie in den vergangenen Monaten beschäftigt war. Die Lust, die sie dabei empfindet, das Vergnügen, Bücher, Zettel, beschriebene Blätter, Aktenordner in Kartons zu verstauen und auf den Boden zu tragen, überrascht sie.

Als sie damit fertig ist, setzt sie sich an den Schreibtisch und beginnt einen kurzen Brief an Willi, um ihr mitzuteilen, dass sie sich verpflichtet fühle, ihre Studien bis zu einem Abschluss »gleich welcher Art« zu finanzieren. Sie schreibt auch, dass sie für unbestimmte Zeit verreise und nach ihrer Rückkehr von sich aus den Kontakt wieder aufnehmen werde. Sie schreibt: »Viel Glück, Willi«, und es gelingt ihr ohne Anstrengung, die Worte so zu setzen, dass sie aufrichtig klingen. Sie glaubt nicht, dass sie Willi wiedersehen wird.

Dann ruft sie Kranz an. Sie hat vor, sich nach seiner Nichte zu erkundigen, aber dazu kommt sie kaum. Kranz überschüttet sie sofort mit einer Mischung aus Vorwürfen, Bewunderung und Jammern über sein Schicksal. Bella fällt es schwer, seinen Redestrom zu unterbrechen. Es scheint, als sei aus dem eher schweigsamen, überlegenen Mann ein wütender, in die Enge getriebener Beamter geworden. Erst als Bella ihm versichert, sie habe den ganzen Tag noch keine Zeitung gelesen und wisse nicht, wovon er rede, versucht er, verständlicher zu werden.

Sie lesen also keine Zeitung mehr, gut, gut. Sie können sich das ja auch leisten. Ich komme ins Büro und vor mir liegen, säuberlich aufbereitet, die neuesten Meldungen. Wissen Sie, was ich seit ein paar Tagen morgens als Erstes tue? Ich beobachte das Gesicht meiner Sekretärin, wenn ich zur Tür hereinkomme. Was glauben Sie, wie oft es in dieser Woche nicht mitleidig ausgesehen hat? Einmal, am Donnerstag. Weil nämlich am Mittwoch der HSV verloren hatte. Sonst bin im Augenblick ich der Verlierer.

Sie?

Na ja, auch der Verein, dem ich angehöre. Aber was glauben Sie, wie oft mein Name genannt wird.

Ist es Ihnen nicht gelungen, Wölfe im Schafspelz zu züchten, oder was immer Ihre Aufgabe war? Oder ist. Ich wundere mich, wie sehr Sie sich mit Ihrer Arbeit identifizieren. Ich dachte, es sei Ihnen klar, unter welchen Bedingungen Ihre Polizei arbeitet und wie die Leute gestrickt sind, die zur Polizei gehen. Sie waren doch früher gelassener, wenn es um Polizisten ging. Oder wenn Ihr Name in den Zeitungen genannt wurde. Die rechte Hand des Innensenators – klang doch immer hübsch. Weshalb jetzt auf einmal nicht mehr?

Bella, sagt Kranz, ich bitte Sie, machen Sie sich nicht lustig über mich. Mir ist nicht danach.

Aber wieso denn, ich habe das ganz ernst gemeint.

Der Innensenator ist zurückgetreten, sagt Kranz.

Es hört sich an, als verkünde er den Tod seines Vaters oder seiner Mutter oder beider. Vermutlich ist sein Schock aber größer.

Oh, mein Beileid, sagt Bella. Tut mir leid, dass ich Sie in Ihrer Trauer aufgestört habe. Fühlen Sie sich trotzdem in der Lage, mir ein paar Fragen, Charlotte Mehring betreffend, zu beantworten?

Ach, reden Sie schon.

Sie hört Kranz einen Stuhl heranziehen und ein Geräusch, als atme er erleichtert aus, während er sich auf den Sitz fallen lässt. Vielleicht ist er froh, von den Sorgen um seine Karriere abgelenkt zu werden.

Immerhin haben Sie die Frau zu mir geschickt. Sie möchte, dass ich sie nach Odessa begleite. Ist denn die Firma, die ihr gehört, so groß, dass sie ausländische Produktionsstätten suchen muss?

Wo leben Sie denn, fragt Kranz. Heute lässt doch schon jeder kleine Krauter im Osten produzieren. Charlottes Laden macht Millionen-Umsätze. Ich denke schon, dass es sich für sie lohnen könnte. Übrigens zeichnen Sie sich durch bemerkenswerte Ignoranz aus, was den Bereich Mode betrifft. Eigentlich kennt man die Mehring-Produkte. Noch nie was von »Charlotte-Design« gehört?

Bella antwortet nicht sofort. Sie denkt darüber nach, weshalb sie Kranz angerufen hat. Sie sieht die Mehring vor sich, schön, kühl, wortgewandt – aber etwas war nicht in Ordnung gewesen unter der Maske. Nein, in einer Maske war sie nicht erschienen. Man kann sich gut vorstellen, dass ein Teil ihres Wesens so ist, wie sie ihn vorführt. Aber da ist noch etwas anderes, irgendetwas, das sie verbirgt, das sie aber mehr beschäftigt als niedrige Löhne und große Verdienstspannen. Danach wollte sie Kranz eigentlich fragen. Und jetzt weiß sie nicht mehr, ob sie sich nicht getäuscht hat. Oder ob Kranz seine Nichte so gut kennt, dass er in der Lage ist, eine Sache zu erklären, von der sie selbst nicht genau weiß, ob sie existiert. Bella, sind Sie noch da?

Ja, sagt Bella, ich habe gerade über etwas nachgedacht. Ich glaube, ich sollte jetzt auflegen.

Habe ich Ihnen schon erzählt, mit welcher Begründung er zurückgetreten ist?

Kranz spricht schnell, vielleicht ist ihm nicht nach Alleinsein. Vielleicht hat ihr Anruf in ihm das Bedürfnis zu reden ausgelöst. In den oberen Etagen ist die Luft sehr dünn. Freunde, auf die man sich verlassen kann, die nicht jedes Wort zu viel als Sprossen für die Strickleiter benutzen, auf der nach oben zu kriechen sie selbst die Absicht haben, sind eher selten.

Nein, sagt Bella, ich vermute, wenn mir danach ist, kann ich es morgen in der Zeitung lesen.

Wann fahren Sie? Sie hätten nicht zufällig Lust, mit mir essen zu gehen, bevor Sie mit Charlotte –

Essen? Überlegen Sie gut. Das kann teuer für Sie werden.

Noch hab ich den Job ja.

Es hört sich tatsächlich so an, als rechne er damit, diesen Job in absehbarer Zeit nicht mehr zu haben. Was natürlich möglich ist, aber ganz sicher nur geringe Gehaltseinbußen mit sich bringen wird.

Trotzdem, trinken ist mir lieber. Sagen wir morgen Abend? Wir treffen uns an den Landungsbrücken, Tor 6.

Bella legt auf. Sie fühlt sich so wunderbar leicht, dass es sie selbst erstaunt; und sie weiß, dass dies Gefühl anhalten wird.

Am Abend trifft sie sich mit Kranz. Sie hat immer noch keine Lust zu essen, was ihm offensichtlich recht ist. Kranz schlägt vor, den Abend mit einem trockenen Martini zu beginnen, den man am besten in der Tower-Bar über dem Hafen bekäme. Bella ist einverstanden. Während sie mit dem Fahrstuhl nach oben fahren, betrachtet sie ihn. Manche Männer sehen, auch wenn sie älter werden, noch passabel aus. Kranz ist ein hagerer Typ, der manchmal das Gesicht verzieht, als habe er Magenschmerzen. Wenn er lacht oder seine Magenschmerzen vergisst, sieht er intelligent aus.

Die Bar ist noch leer. Sie trinken ihren Martini, sehen auf die Lichter im Hafen und spielen Touristen. Als der Barmixer beginnt, ihnen die Skyline zu erklären, wechseln sie das Lokal. Einmal versucht Kranz, Bella für seine Probleme im Dienst zu interessieren, begreift aber schnell, dass sie sehr wenig Lust hat, sich damit zu befassen.

In der nächsten Bar bleibt Kranz bei Martini, während Bella von nun an Wodka und Orangensaft trinkt. Sie lachen viel, besonders, wenn sie sich daran erinnern, bei welchen Gelegenheiten sie sich bisher getroffen haben.