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Der zehnte Fall der Kultermittlerin Bella Block jetzt neu im eBook! Die Wahrheit liegt im Schweigen … Von ihrem Freund, dem Polizeipsychologen Kranz, wird die abgeklärte Hamburger Privatdetektivin Bella Block um Hilfe bei einer erschütternden Bluttat gebeten. In einem idyllischen Einfamilienhaus am Rande der Stadt hat Lara G. ihre drei Kinder ermordet. Doch die Angeklagte schweigt zu der entsetzlichen Tat; weder im Verhör noch vor Gericht äußert sie sich zu den Ereignissen, die sie in den Abgrund führten. Bedeutet ihr Schweigen ein Schuldeingeständnis – oder ist es womöglich der Ausdruck eines tiefliegenden Traumas? Während sie zwischen Schuld und Unschuld, Tatsache und Lüge unterscheiden muss, stößt Bella auf dunkle Geheimnisse und eine Wahrheit, mit der niemand rechnen konnte … »Doris Gercke konzentriert sich auf das Innenleben ihrer Charaktere. Und baut sprachgewandt, subtil und clever die Spannung auf.« Berner Zeitung Der zehnte Fall der legendären Kommissarin Bella Block, der unabhängig gelesen werden kann – ein bitterböser Kriminalroman für die Fans von Simone Buchholz. In Band 11 wird Bella Block von ihrer Vergangenheit eingeholt – kann sie »Dschingis Khans Tochter« erneut vertrauen?
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Von ihrem Freund, dem Polizeipsychologen Kranz, wird die abgeklärte Hamburger Privatdetektivin Bella Block um Hilfe bei einer erschütternden Bluttat gebeten. In einem idyllischen Einfamilienhaus am Rande der Stadt hat Lara G. ihre drei Kinder ermordet. Doch die Angeklagte schweigt zu der entsetzlichen Tat; weder im Verhör noch vor Gericht äußert sie sich zu den Ereignissen, die sie in den Abgrund führten. Bedeutet ihr Schweigen ein Schuldeingeständnis – oder ist es womöglich der Ausdruck eines tiefliegenden Traumas? Während sie zwischen Schuld und Unschuld, Tatsache und Lüge unterscheiden muss, stößt Bella auf dunkle Geheimnisse und eine Wahrheit, mit der niemand rechnen konnte …
eBook-Neuausgabe Oktober 2025
Dieses Buch erschien bereits 2000 unter dem Titel »Die Frau vom Meer« bei Hoffmann und Campe.
Copyright © der Originalausgabe 2000 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Lana Nikola und AdobeStock/Anatoli
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)
ISBN 978-3-69076-113-0
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Doris Gercke
Ein Fall für Bella Block 10
Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.
Ingeborg Bachmann
Mai 1999
Es ist Morgen, es ist Ende Mai, und in der Siedlung ist es wieder still geworden. Die Männer sind in ihren Autos davongefahren, einige haben Kinder mitgenommen, um sie an Schulen abzusetzen. Es riecht nach Rosen. In allen Gärten beginnen Rosen zu blühen, in sorgfältig gepflegten Beeten, die am Morgen oder am Abend von Frauen gewässert werden. Dieser Frühsommer ist trocken. In einer halben Stunde etwa werden die Frauen die Häuser verlassen, um sich der Rosenbeete anzunehmen. Noch sitzen sie hinter den Gardinen ihrer Küchenfenster, trinken Kaffee, nur wenige Wein, vor sich den Tisch mit den Tassen und Tellern und Krümeln von Mann und Kindern, und aus dem Radio kommen die Meldungen von anderen Männern. Von Männern, die damit beschäftigt sind, Krieg zu spielen. Spielen sie wirklich Krieg? Unwillkürlich hat es sich vorgedrängt, das Wort »spielen«, denn die Dinge, die die Männer jetzt gerade tun, unterscheiden sich kaum von denen, die zum Spiel gehörten, als die Männer Kinder waren. Es ist blutiger heute. Aber dafür ist es das wirkliche Leben, mit wirklichen Toten und wirklichen Orden und wirklichen Kameras.
Ist es Ihnen schwergefallen, die Bomben auszulösen? Ich meine, Sie hätten sich doch sagen können, es könnten auch Unschuldige getroffen werden? So fragen die Reporter, wenn es zwanzig Uhr ist, die Nation vor dem Fernsehgerät sitzt und der Mann in Uniform, ein großer Junge in Uniform, bereitwillig antwortet.
Wir sind hier nicht, weil wir zerstören wollen, wird er sagen. Sie wissen, und all Ihre Zuschauer wissen, daß unser Einsatz der Bewahrung der Menschenrechte dient.
Und die Frauen in den Häusern, die in Gärten stehen, die nach Rosen duften, in einer Siedlung, über der an diesem Frühsommermorgen der Lärm der Stadt nur von fern und wie ein zarter, aber dicht gewebter Schleier aus Geräusch zu hören ist, die Frauen hören die Botschaft von gestern Abend noch einmal und stehen auf und räumen das Geschirr zusammen. Das haben sie schon als Mädchen geübt, in Puppenstuben oder in Sandkästen, manche auf Wiesen, in umgestürzten und ausgehöhlten Bäumen oder auf den Steinstufen der Häuser; und oft in der Nähe von Jungen, die mit Soldaten spielten, kleinen, buntbemalten Figürchen, die hin und her geschoben wurden und Waffen trugen und beinahe echt aussahen. Den Frauen an den Radios ist das Bild, das die Stimme des Sprechers in ihrem Kopf hervorruft, deshalb nicht fremd.
Die Straßen in der Siedlung sind also leer, als eine ältere Frau an diesem Morgen ihren Garten verläßt, um ihren Hund auszuführen. Die Frau trägt einen beigefarbenen Trainingsanzug. Als sie sich bückt, um den Hund von der Leine zu lassen, reckt sie für einen kurzen Augenblick ein gewaltiges Hinterteil in die Morgensonne. Sie weiß noch nicht, daß sie in wenigen Minuten ihren Status von »Nachbarin-ohne-Kinder-mit-Mann-und-Hund« in »die-wichtigste-Zeugin-der-Staatsanwaltschaft« ändern wird. Deshalb drücken ihre Bewegungen Gelassenheit und ihre Blicke die übliche, schon zur Routine gewordene Neugier aus, während sie langsam dem fröhlich davonwieselnden Hund folgt. Was soll es schon an Neuigkeiten geben bei dem morgendlichen Spaziergang, der seit dreiundzwanzig Jahren immer um die gleiche Zeit und auf demselben Weg, allerdings, um bei der einfachen Wahrheit zu bleiben, nun schon mit dem vierten Dackel, vorgenommen wird. (Dieser Hund ist ein kleiner schwarzbrauner Kurzhaardackel.)
Sie sieht, wer vergessen hat, seine Mülltonne auf die Straße zu stellen, aber es sind immer dieselben Leute. Sie sieht auch, wer versäumt hat, am Abend vorher den Gartenschlauch einzurollen. Und weil die Hecken von den Männern erst am Wochenende geschnitten werden, heute aber ein gewöhnlicher Donnerstag ist, kann sich die Spaziergängerin nur damit begnügen zu prüfen, welche der nachbarlichen Hecken diesmal dringend des Schnitts bedarf. Man wird sehen, ob die Besitzer die gleiche Ansicht haben.
Es handelt sich also um einen eher träumerischen Spaziergang. Bis der kleine Hund in die Lücke springt, die durch eine ausgebrochene Latte im unteren Teil der Gartentür entstanden ist, und einen fremden Garten betritt.
Man ist Nachbar, alle sind hier Nachbarn. Aber man hat sein Eigenes, Gott sei Dank, und es geht nicht einfach jeder auf das Grundstück des anderen. Also bleibt die Frau, sie heißt Karola Krüger, und ihr Mann ist Postbeamter, der in drei Monaten pensioniert werden wird, vor der Gartenpforte stehen und ruft ihren Hund; das heißt, sie will ihn rufen, aber sie zögert.
Von ihrem Platz an der Straße aus kann sie das Grundstück hinter der Pforte fast ganz übersehen. Es bleibt nur ein toter Winkel, ein Stückchen Garten, das hinter dem Haus liegt. Sie sieht den mit grauen Platten ausgelegten Weg, der zur Haustür führt. Auf dem Weg, vielleicht zwei Meter von ihr entfernt, ist eine rosa Gummiente. Unter dem kleinen Vordach über der Haustür liegt eine Zeitung auf dem Boden. Am Haus sind alle Fenster geschlossen, nur die Tür, die auf die nachträglich angebaute Terrasse führt, ist weit geöffnet. Auf den Brettern des Terrassenbodens liegt Spielzeug. In blau angestrichenen Blumentöpfen, ordentlich nebeneinander am Geländer der Terrasse aufgestellt, wachsen Sommerblumen und Kräuter.
Die müssen gegossen werden, denkt die Nachbarin. Ihre Augen sind dem Dackel gefolgt, der durch den stillen Garten gelaufen ist und nun die Sandkiste am rechten unteren Ende erreicht. Die Sandkiste liegt im Schatten, denn die Sonne steht noch nicht hoch genug über den Apfelbäumen. Neben der Sandkiste steht eine große Frau. Sie hält die Arme weit von sich gestreckt über den Sand.
Die Nachbarin ruft jetzt den Dackel zurück, der versucht, mit den Schuhen der Frau neben der Sandkiste zu spielen. Weshalb liegen die Schuhe im Gras? Weshalb bewegt sich die Frau nicht? Weshalb ist es so still in diesem Garten, der doch zum Spielen da sein soll?
Ohne den Blick von der reglosen Gestalt im Schatten neben der Sandkiste abzuwenden, öffnet die Nachbarin leise die Gartenpforte. Weshalb paßt sie sich der Stille an? Sie geht langsam über den Plattenweg, will über den Rasen gehen, um nach der immer noch reglos stehenden Frau zu sehen, als sie bemerkt, daß die Haustür nur angelehnt ist.
Später wird sie sagen, sie habe den Weg durch die Haustür ins Haus genommen, um nach den Kindern zu sehen, denn die Stille sei ihr plötzlich unheimlich vorgekommen. Das wird sie ein paarmal wiederholen, zuerst vor der Polizei, dann für Reporter vom Rundfunk, dann für das Fernsehen, noch später vor Gericht. Da glaubt sie es selbst schon längst.
Jetzt, in diesem Augenblick, in der Stille des Sommermorgens und mit der reglosen Frau im hinteren Teil des Gartens, der Frau, die offenbar nicht gewillt ist, dem Hund die Schuhe wegzunehmen, erkennt die Nachbarin einfach ihre Chance: Sie kann ungestört durch die Haustür gehen und sich im Haus umsehen.
Der Hausflur hat einen Fußboden aus schwarzen und weißen Fliesen. Mindestens zehn Paar Kinderschuhe liegen herum. Es sieht aus, als hätten die Schuhe in einer Reihe unter den Garderobenhaken gestanden und seien dann durcheinandergestoßen worden. Vielleicht ist jemand im Dunkeln darüber gestolpert? Rechts befindet sich eine Tür, auf der eine kleine blaue Badewanne aus Keramik klebt. Die Tür ist geschlossen. Die Augen der Nachbarin sehen jedes Detail. Wann hat man schon einmal die Gelegenheit, sich ungestört in einem fremden Haus umsehen zu können? Am Ende des Flurs steht eine Tür offen. Sie erkennt einen Küchenschrank. Angezogen von der Möglichkeit, die fremde Küche zu inspizieren, geht die Nachbarin auf die offene Tür zu. Sie muß an der Treppe aus hellem Holz vorbei, die neben der Badezimmertür nach oben führt. Auf der untersten Stufe entdeckt sie einen braunen Fleck. Unwillkürlich inspiziert ihr Blick die darüberliegenden Stufen. Die Treppe ist mit diesen sonderbaren braunen Flecken übersät. Nach oben hin werden es mehr. Wo sind eigentlich die Kinder? Weshalb ist es so still?
Da wußte ich, daß etwas Schreckliches passiert ist, wird sie bald darauf sagen. Und diesmal lügt sie nicht. Die Nachbarin gehört zu den Menschen, die ein plötzlicher Schrecken erst einmal reglos macht, die eine Hand vor den Mund nehmen, um den Schrei zu ersticken, den sie nicht schreien werden, die dastehen und dem Adrenalinstoß nachspüren, der ihnen die Knie schwach macht, noch bevor sie wissen, was wirklich geschehen ist.
Man braucht eine Weile, um diesen beinahe lähmenden und doch so lebendigen Zustand zu überwinden und wieder handlungsfähig zu werden. Manche Menschen beenden ihn mit einem kräftigen Schrei. Sie treiben sich dadurch sozusagen selbst zu den nötigen Aktivitäten an. Andere gehen irgendwann stumm und entschlossen zur Tat über. Zu denen gehört die Nachbarin. Gerade diese Menschen handeln in ungewöhnlichen Situationen allerdings nicht immer überlegt, auch wenn es ihnen in ihrem vom Schock bestimmten Zustand so vorkommen mag. Was im ersten Augenblick richtig zu sein scheint, muß sich später nicht immer als richtig erweisen.
Die Nachbarin, die den Hund, den zurückzuholen ja ursprünglich ihre Absicht gewesen war, vollkommen vergessen hat, geht in die Küche, sucht und findet — wie schnell sich doch Frauen in fremden Küchen zurechtfinden – einen Eimer aus rotem Kunststoff, füllt ihn mit Wasser, nimmt ein graukariertes Handtuch von einem Haken hinter der Tür, das sie vielleicht wegen seiner Farbe an einen Scheuerlappen erinnert, taucht das Handtuch in das klare, kalte Wasser, mit dem sie den Eimer gefüllt hat -
Das ist merkwürdig, wird sie später sagen. Ich tu sonst immer Spülmittel in das Aufwischwasser. Ich muß wohl gedacht haben, um das Blut von der lackierten Treppe abzuwischen, brauche ich es nicht. Ich wollte ja nur, daß die Kinder nicht ausrutschen. Aber das ist sicher wieder nicht die Wahrheit, denn was sollte den Schock ausgelöst haben, der ihr noch immer in den Gliedern sitzt, wenn nicht, daß sie von den geschlachteten Kindern schon weiß?
Zurück in den Flur und die Treppe aufgewischt, Stufe für Stufe gebückt nach oben. Da sind zwei offene Türen. Elternschlafzimmer und Bad, im Bad tropft ein Wasserhahn.
Ich dachte »Elternschlafzimmer«, obwohl ja bekannt war, daß die Frau allein lebte. Meistens jedenfalls. Das ist einfach so, wenn man die Doppelbetten sieht.
Zwei weitere Türen sind angelehnt. Da hin, da weg führen die braunen Flecken, die sie nun sorgfältig wegwischt. Als die Nachbarin den Eimer zur Seite stellt, ist das Wasser darin rotbraun, und es ist nicht der Widerschein des roten Kunststoffs, der es färbt. Nun endlich ist sie bereit, die erste der Türen zu öffnen. So lange hat sie gebraucht, so viele sinnlose Bewegungen waren nötig, um sich auf das Schreckliche vorzubereiten.
In den Kinderzimmern, die aussehen wie gewöhnliche Kinderzimmer, lustig und unaufgeräumt und freundlich, liegen die Körper der Mädchen in ihren Betten, zerstört, zerschlagen, zerhackt, blutiges Fleisch.
Der Nachbarin wird übel. Während sie eine Hand vor den Mund preßt, geht sie mit unsicheren Schritten die Treppe hinunter. Sie hält sich am Geländer fest, die Treppe ist noch naß. Es kostet sie große Anstrengung, die eben gesäuberte Treppe nicht mit dem Inhalt ihres Magens zu beschmutzen. Sie möchte das Bad erreichen, sich in die Wanne übergeben. Aber die Wanne ist nicht leer, sondern mit Wasser gefüllt und mit dem dritten Kind, einem Jungen, der, friedlich und ein wenig verzerrt aussehend durch das Wasser, auf dem Grund der Wanne liegt.
Die Nachbarin erinnert sich später nicht mehr an das, was sie gedacht hat, während sie im Wohnzimmer neben dem Telefon saß, durch die geöffnete Terrassentür den Blick auf die reglose Frau gerichtet. Auch den noch immer mit den Schuhen der Frau beschäftigten Dackel beachtet sie nicht. Da es fast eine Viertelstunde dauert, bis die Polizei eintrifft, und sie später das Gefühl hat, sie müsse sich rechtfertigen für die langen Minuten der Untätigkeit – schließlich hätte die Frau fliehen können –, wird sie irgendwann sagen, sie habe die Mörderin nicht aus den Augen gelassen und hätte sie am Weglaufen gehindert, sobald sie es versucht hätte.
Vielleicht erinnert sie sich nicht, weil sie sich nicht erinnern darf. Denn, aufgerüttelt und hellsichtig geworden durch den doppelten Schock, kann sie in diesen Minuten ihr eigenes Leben roh und unverdeckt vor sich liegen sehen. Sie kann den Blick darauf nicht verhindern. Dazu reicht ihre Kraft nicht. Ihre Kraft reicht auch nicht aus, um die Furcht zu verdrängen, die aus dem Einverständnis entsteht, das sie empfindet und das verborgen sein sollte. Später, vor Gericht, wird sie dieses Einverständnis schon unter mehreren Schichten aus Anklage, Denunziation, Gehässigkeiten, falschen Freundlichkeiten, Scham und bereitwilligen Aussagen verdeckt haben.
Ende Januar 2000
Sie haben keine Arbeit, Bella.
Kranz, Polizeipsychologe mit Einsichten, die über das bei staatlich besoldeten Psychologen im allgemeinen vorhandene Maß hinausgehen, versucht eine Art Beschwörerblick. Er ahnt, schon bevor er die dazugehörige Miene vollkommen entwickelt hat, daß die Beschwörung mißlingen wird. Trotzdem möchte er nicht aufgeben, Bella zu einer Zusammenarbeit zu bewegen, von der er sich nicht nur beruflich, sondern auch privat viel verspricht.
Ich habe Geld, antwortet Bella, das genügt mir. Sie weiß im selben Augenblick, daß sie einen Fehler gemacht hat, und hofft, daß Kranz ihn nicht bemerkt.
Das genügt Ihnen nicht, sagt Kranz. Es sei denn, Sie hätten sich in drei Jahren Sibirien so sehr verändert, daß ich Sie ganz neu kennenlernen müßte. Denken Sie nicht, ich hätte dazu keine Lust, aber so, wie Sie bisher waren, haben Sie mir durchaus gefallen.
Bella antwortet nicht gleich. Sie beobachtet die Kellnerin, die einem Mann am Nachbartisch den Weg zu den nahegelegenen Kramer-Amtsstuben beschreibt. Die Kellnerin benutzt dazu ihre Hände, kleine, rundliche Hände mit rosigen, dicken Fingerchen und kurzen, leicht nach oben gebogenen Fingernägeln. Auch der Mann sieht auf diese Hände, bevor er Bellas Blick bemerkt. Er versucht ein einverständiges Lächeln.
Wie ich war, denkt Bella, wie ich bin. Wer will das wissen. Kranz etwa? Sie kann sich vorstellen, wie er sie sieht. Kranz ist Polizeibeamter, Psychologe und wahrscheinlich noch immer eine der rechten Hände des Innensenators. Sie schätzt ihn trotzdem. Aber wie will er wissen, wer sie ist?
Sie hat sich immer vorstellen können, wie ihre Mutter Olga sie gesehen hat. Olga, gestorben, während sie, Bella, in Odessa war. Oder Tolgonai, Dschingis Khans Tochter aus Odessa, der sie vor langer Zeit dazu verholfen hat, nach Deutschland einzureisen. Vor wie langer Zeit? Ist das wirklich schon länger als drei Jahre her? Was hatten die Vorstellungen all dieser Menschen von ihr wirklich mit ihr zu tun?
Es gibt ein paar Fragen, sagt sie endlich. Könnten wir versuchen, bevor ich auf Ihren Vorschlag eingehe und mich zu irgendeiner Form von Aktivität entschließe, meine Fragen zu beantworten? Ich glaube, ich muß mich erst einmal wieder zurechtfinden.
Das ist immerhin keine endgültige Absage. Kranz sieht Bella aufmerksam an. Findet er sie verändert? Ein wenig älter geworden ist sie, natürlich, auch auf eine andere Art fremd als früher.
Ich wüßte gern, was Sie getan haben in den vergangenen drei Jahren, sagt er. Bitte, halten Sie mich nicht für neugierig. Es kommt mir nur so vor, als seien Sie sehr weit weg gewesen und noch immer nicht wieder hier angekommen. Vielleicht fiele es mir leichter –
Nicht jetzt, sagt Bella. Also: Was ist aus dem Mädchen geworden, Tolgonai? Ich habe meinen Paß fälschen lassen, damit sie nach Deutschland gehen konnte. Sie haben sie damals in Empfang genommen. Vermutlich waren Sie es, der sie in mein Haus gebracht hat. Sie war doch dort, oder?
Ja, antwortet Kranz. Sie war ein paar Wochen dort. Dann ist sie verschwunden. Ich weiß nicht, wo sie sich jetzt aufhält.
Bella erinnert sich daran, wie sie ihr Haus vorgefunden hat, als sie zurückkam. Sie hat inzwischen Zeit genug gehabt, festzustellen, daß es dort alte und frische Spuren von Tolgonai gibt. Es sieht aus, als sei irgendwann wieder mit ihrem Auftauchen zu rechnen. Sie sagt Kranz nichts davon. Er ist Polizeibeamter. Damit, daß er sich damals bereit erklärt hat, dem Mädchen Tolgonai bei seiner illegalen Einreise aus Odessa zu helfen, hat er sich sicher mehr zugemutet, als er jemals vorgehabt hat. Bella stellt sich vor, wie Kranz versucht hat, Tolgonai zu betreuen. Und daß er erleichtert war, als er sie eines Tages nicht mehr in Bellas Haus angetroffen hat.
Haben Sie sie suchen lassen? fragt sie. Heimlich natürlich, setzt sie hinzu, als sie Kranz’ ablehnenden Gesichtsausdruck sieht.
Nein, habe ich nicht, sagt Kranz. Ehrlich gesagt, war ich froh, als sie weg war. Ich – ich hab’s versucht, aber ich wußte sehr wenig mit ihr anzufangen. Irgendwie – ja, wie soll ich sagen, sie war –
Sie war nicht dankbar, nehme ich an. Ist es das, was Sie sagen wollen?
Ja, sagt Kranz, kann schon sein. Und nun halten Sie mich bloß nicht für spießig. Außerdem stimmt’s auch nicht ganz, das mit dem »nicht dankbar«, meine ich. Es war anders, es war eher so, daß es ihr vollkommen gleichgültig war, ob ich da war oder nicht. Sie war, wie soll ich sagen, sie war »für sich«, wenn Sie verstehen, was ich meine. Irgendwann habe ich angefangen damit zu rechnen, daß sie eines Tages verschwunden sein wird. Als es dann soweit war, war ich nicht überrascht. Ich war erleichtert. – Ich war sicher, daß sie allein zurechtkommen würde, setzt er nach einer Pause hinzu.
Natürlich, antwortet Bella und denkt daran, wie sie Tolgonai in Odessa kennengelernt hat und daß von Anfang an der Eindruck furchtloser Unabhängigkeit von ihr ausging. Meine Seele haben sie nicht umgebracht.
Sie hat keine Angst mehr, sagt Bella leise.
Bitte?
Kranz sieht so beunruhigt auf Bella, daß die nun doch lächelt.
Nicht meine Seele, sagt sie. Das gehört zu Tolgonais Geschichte. Sie kam aus dem Süden. Man hatte ihr ziemlich übel mitgespielt. In Odessa pflegte sie einen eher ungewöhnlichen Lebensstil. Sie hat versucht, mir zu erklären, wie sie lebt. Dabei spielte ihre Vergangenheit eine Rolle. Ich erinnerte mich gerade an dieses Gespräch. Was würden Sie sagen, wenn Ihnen eine junge Frau erklärt, ihre Seele habe keine Angst mehr? Ich war damals jedenfalls ziemlich beeindruckt.
Ich bin froh, daß Sie wieder mit sich reden lassen, sagt Kranz.
Eine Weile schweigen beide. Bella beobachtet die Kellnerin. Offenbar wird sie abgelöst. Sie steht neben der Theke und bindet ihre Schürze ab. Die dicken rosa Fingerchen mühen sich, die Schürzenbänder im Rücken zu lösen. Draußen, vor den bis zum Boden reichenden Fenstern, geht ein schmaler älterer Herr mit einem Hund an der Leine vorüber. Der Mann zieht ein Bein nach, vielleicht hat er ein steifes Knie. Bella denkt flüchtig an Eddy. Unwillkürlich schüttelt sie den Kopf. Sie weigert sich noch immer, ihr altes Leben wieder aufzunehmen. Nach ihrer Rückkehr aus Rußland hat es Wochen gedauert, bis sie fähig war, ihr Haus zu verlassen. Erst ganz langsam hat sie sich mit dem Gedanken vertraut machen können, zurückgekommen und wieder in ihr altes Leben geraten zu sein, ein Leben, das ihr nun unanständig und unwahr vorkam. Irgendwann ist sie wieder auf die Straße gegangen, und dann ist mit jedem Schritt die Erinnerung wieder zu ihr zurückgekehrt. Sie hat versucht, der Erinnerung auszuweichen. Es hat nicht funktioniert. In ihrem Inneren ist ein Chaos entstanden, ein Chaos aus Bruchstücken ihres früheren Lebens und den Bildern, die all ihre Sinne in den vergangenen Jahren in Rußland ausgenommen haben. Sie hat den Versuch unternommen, in diesen Bildern zu leben.
Sie, Bella, die nüchterne, skeptische Person, hat sich geweigert, die neue, alte Realität anzuerkennen. Im Grunde weigert sie sich immer noch.
Es ist zu früh, sagt Bella schließlich. Wir hätten uns irgendwann später treffen sollen. Ich kann jetzt keine Entscheidung treffen. Sie müssen mir Zeit lassen.
Kranz sieht sie an. Er versucht herauszufinden, was in ihr vorgeht, und kommt der Wahrheit ziemlich nah. Deshalb weiß er, was er zu tun hat.
Sie hatten ein paar Fragen, sagt er, nicht nur die nach Tolgonai. Ich vermute, Sie möchten wissen, wo man Ihre Mutter begraben hat. Ich schlage vor, wir brechen unsere Zelte hier ab, und ich fahre Sie zum Friedhof.
Am Nebentisch erkundigt sich eine Dame nach dem Hersteller und dem Preis der Lampen, mit denen das Café dekoriert ist.
Ich weiß nicht, sagt die Kellnerin, ich glaube, dreitausend Mark.
Dreitausend Mark – Bella wiederholt leise den Preis und sieht sich um. In dem langgestreckten Raum stehen mindestens zehn dieser Lampen: gedrehte, rohe Eisenstäbe, die eine nach oben offene Glasschale tragen.
Später wird sie erfahren, daß die Frau Lena heißt. Lena trägt einen kurzen grünen Rock und hohe Stiefel mit abgetretenen Absätzen. Über dem hellen Rollkragenpullover hat sie eine schwarze Lederjacke in der Taille eng zusammengebunden. Sie schwankt ein wenig, als das Auto auf sie zufährt, fast, als wäre sie betrunken. Als der LKW anhält, wendet sie ihr Gesicht dem Fahrer zu: ein breitflächiges, gleichmäßiges Gesicht mit klaren braunen Augen. Gelb gefärbte Haare, an den Schläfen und auf dem Scheitel ist die ursprünglich schwarze Haarfarbe zu sehen. Bella rutscht aus der Fahrerkabine. Sie spürt den hartgefrorenen Boden durch ihre zerlöcherten Schuhsohlen. Der Fahrer gibt Gas, bevor sie den Griff der Wagentür losgelassen hat; bevor die Blonde ein Wort an ihn richten kann. Dreck spritzt den beiden Frauen am Straßenrand ins Gesicht.
Was willst du, fragt die Blonde.
Nichts, antwortet Bella. Schlafen.
Die Blonde lacht nicht einmal. Weit hinten auf der Straße ist ein LKW zu erkennen, der schnell näher kommt. Die Blonde tritt an den Straßenrand. Der Fahrer hält an. Er macht eine einladende Geste. Er zeigt auch auf Bella. Bella schüttelt den Kopf. Der Fahrer gibt Gas, bevor Lena in die Kabine klettern kann. Eine zweite Schlammschicht legt sich auf die Gesichter und die Kleidung der beiden Frauen am Straßenrand.
Hau ab, sagt Lena. Entweder du machst mit, oder du haust ab.
Soll ich Ihnen erzählen, wie ich Olgas Begräbnis, verzeihen Sie, wie ich das Begräbnis Ihrer Mutter erlebt habe? fragt Kranz, während sie die Hamburger Straße in Richtung Ohlsdorf hinunterfahren. Es war übrigens der Tag, an dem Tolgonai hier ankam. Ich hatte keine Zeit, sie vorher noch in Ihr Haus zu bringen. Ich habe sie einfach mitgenommen. Ich glaube aber, sie hat –
Ich kann mir vorstellen, wie es war, sagt Bella. Ein paar rote Fahnen, ein paar alte Leute, eine lange Rede, vermutlich kamen Wörter drin vor wie kämpferisch, solidarisch, Bewußtsein, Arbeiterklasse – lassen Sie’s lieber.
Na ja, so ungefähr, antwortet Kranz, nur daß es nicht ein paar, sondern eine Menge alter Leute waren, die Ihre Mutter zu Grabe getragen haben. Sogar meine Kollegen vom Verfassungsschutz waren überrascht. War übrigens nicht möglich, denen klarzumachen, daß Tolgonai meine Nichte ist. Ich vermute, sie hat inzwischen bei denen eine Karteikarte.
Im Stillen denkt er, daß Bella doch noch nicht wirklich angekommen ist. Sie würde nicht so verächtlich über die Dinge sprechen, die den alten Leuten wichtig waren, wenn sie wüßte, daß die Begriffe inzwischen in der Sprache von Polithuren ständig ad absurdum geführt werden.
Nur mit halbem Ohr hört er Bellas Bemerkung: Ach, arbeiten Ihre Kollegen noch mit Karteikarten? Wie die Russen?
Sie wissen, was ich gemeint habe, sagt Kranz. Ich glaube aber nicht, daß man Tolgonai beschatten läßt.
Sie glauben? Oder wissen Sie?
Na ja, ich weiß es. Ich hab mir gedacht, ich sollte Bescheid wissen für den Fall, daß Sie eines Tages Rechenschaft von mir fordern.
Nun lächelt Bella, und Kranz ist erleichtert. Es gibt also doch einen Zugang zum Eisblock, denkt er.
Olgas Grab wird offensichtlich gepflegt. Es gibt keinen Grabstein, aber einen sorgfältig ausgesuchten, dicken, etwa eineinhalb Meter hohen Birkenstamm, an dem eine kleine Tafel befestigt ist:
OLGA BULGAKOVA 1909-1996
Die Genossen, sagt Kranz, ich hab mir gedacht, die würden sich –
Einen Augenblick nur, sagt Bella.
Entschuldigen Sie. Kranz geht schnell weg. Bella hört unter seinen Schritten ein paar gefrorene Ästchen knacken. In den Bäumen wiegen sich Krähen im Wind. Es ist noch hell, aber eine Ahnung von Dämmerung liegt schon über dem Licht. In der Luft ist der Geruch von Schnee.
Später, als sie wieder im Auto sitzen, sagt Bella unvermittelt: Ich weiß natürlich, daß man nicht so leben kann, wie ich es in der letzten Zeit versucht habe. Eigentlich habe ich auch gar nichts versucht. Es war einfach so, daß ich nicht anders konnte. Ihre Stimme verändert sich, sie versucht, lustig zu klingen. Ich weiß, ich hab mich zu lange nicht gemeldet. Und nun ist die Situation sogar nicht ungefährlich für Sie, nur weil Sie mir damals die Bitte erfüllt haben, Tolgonai in Empfang zu nehmen. Dabei sind Sie im Augenblick die einzige Person, mit der ich reden könnte. Wenn ich könnte.
Es geht ihr noch immer nicht gut, denkt Kranz. Ich sollte sie in Ruhe lassen. Aber ich brauche sie.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag, antwortet er. Ich fahre Sie jetzt nach Hause. Sie setzen sich in irgendeinen bequemen Sessel, während ich versuche, in Ihrem verwahrlosten Haushalt etwas Eßbares oder etwas Trinkbares aufzutreiben.
Oh, ja, sagt Bella. Und dann machen wir es uns gemütlich, und ich erzähle Ihnen von meinem Leben in den letzten Jahren. Und dann sagen Sie mir, was Sie von mir wollen, und ich sage »ja«, und alles ist wieder gut.
Kranz sagt nichts mehr. Nach einer Weile – da stehen sie auf der Fuhlsbüttler Straße im Stau – macht er das Radio an. Bella beobachtet Menschen, die schnell und geduckt in grell erleuchteten Läden verschwinden. Weshalb krümmen sie sich, denkt sie, während die Stimme des Radiosprechers nacheinander die Fusion zweier Banken zur größten Bank der Welt und die Ankündigung von James Levine, er werde künftig mit den Münchner Philharmonikern an der Weltspitze musizieren, verkündet. Weshalb krümmen sie sich, denkt Bella und zwingt sich, genauer hinzusehen.
Mai 2000
Am Abend vor dem ersten Verhandlungstag gegen Lara G., die angeklagt ist, ihre drei Kinder aus niedrigen Beweggründen getötet zu haben – so steht es in der Anklageschrift –, sitzen Bella und Kranz zusammen in Bellas Wohnzimmer. Der Nachmittag ist warm, eine erste Ahnung von Sommer liegt in der Luft. Bella hat die Fenster weit geöffnet. Am Fuß des Elbhangs fließt die Elbe ruhig und träge vorüber, grün wie ein breites Band aus gekochtem Spinat. Feine Gegend hier, ruft Kranz. Er steht am Fenster, während Bella in der winzigen Küche damit beschäftigt ist, zwei Gläser, Eis und zwei Flaschen auf ein Tablett zu stellen.
Und so feine Leute, antwortet Bella. Sie kommt ins Zimmer und stellt das Tablett auf dem Schreibtisch ab. Eines der Bücher, das dort gelegen hat, fällt zu Boden. Kranz bückt sich, hält das Buch in der Hand, schlägt es auf, liest:
Dem stillen Ozean stoß ich den grünen Keil
mitten ins Herz und schwemm mich selber an.
Bella nimmt ihm das Buch aus der Hand.
Zinnvögel steigen auf und Zimtgeruch!
Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein.
Darf ich? Kranz nimmt ihr das Buch wieder ab und sieht auf den Umschlag. Kann es sein, daß mir dieses Buch schon einmal begegnet ist? Irgendwo – lassen Sie mich überlegen –
Ich sag’s Ihnen lieber gleich. Ich hab’s einfach mitgehen lassen. Aus Laras Wohnung.
Bella, wenn man Ihnen den kleinen Finger gibt –
Hören Sie, was hätten wohl Ihre Kripoleute mit diesem Buch angefangen: »Meine liebsten Gedichte«, herausgegeben von Johannes Bobrowski. Ich hingegen habe Verse darin gefunden, hier zum Beispiel:
heute nacht hab ich unentwegt vom gärtner
Namenlos geträumt wie er auf der roten
Stadtmauer von Perleberg das gras absichelt
Schön, nicht? Außerdem: Was soll das heißen, »wenn man Ihnen den kleinen Finger gibt«? Helfe ich Ihnen? Oder helfen Sie mir?
Schon gut. Aber nicht Sie haben die Anstreichungen in dem Band vorgenommen, Bella, sagt Kranz. Mit diesen Anstreichungen ist das Buch unter Umständen ein wichtiges Beweismittel. Das sollte Ihnen klar sein.
Genau, antwortet Bella. Deshalb ist es jetzt hier. Sie haben mich doch gebeten, mich um die Frau zu kümmern. Was soll ich tun, wenn sie nicht mit mir reden will. Ich muß einfach nach jedem Strohhalm greifen, um sie zu verstehen.
Haben Sie es noch einmal versucht? Spricht sie mit Ihnen? Bella schüttelt den Kopf. Sie legt das Buch zur Seite und füllt zwei Wassergläser mit Campari und Weißwein. Prüfend hält sie die Gläser gegen das Licht. Die Flüssigkeit darin leuchtet hellrot.
Schön, nicht? Weshalb interessiert Sie die ganze Geschichte eigentlich so?
Ja, schön, sagt Kranz und nimmt ihr eines der Gläser aus der Hand. Sie trinken sich zu.
Ich bin froh, daß es Ihnen besser geht, sagt er, als er sein Glas absetzt. Weshalb mich die Sache interessiert? Ja –
Es hat mit seiner Arbeit zu tun, denkt Bella. Soll ich ihm wirklich helfen? Damals, als ich seine Hilfe brauchte, hat er nicht gezögert.
Ich will offen sein, sagt Kranz. Wir haben in der letzten Zeit eine Menge Ärger gehabt. Der Innensenator kann im Augenblick keine schlechte Presse mehr gebrauchen. Der Fall Lara G. ist kompliziert, weil es nur Indizien gibt. Und für diese Indizien ist die Polizei zuständig. Wenn da im Prozeß etwas schiefgeht, heißt es, die Polizei hat die Schuld. Es ist natürlich auch deshalb so kompliziert, weil die Frau nicht redet. Wenn sie bereit wäre, zu sagen, wer der Täter ist, könnten wir uns den Aufwand ersparen. Ich habe übrigens dafür gesorgt, daß man Ihnen einen Platz im Zuschauerraum reserviert. Sie werden ihn doch nutzen?
Natürlich, antwortet Bella. Weshalb sind Sie eigentlich so sicher, daß sie ihre Kinder nicht selbst umgebracht hat? Nur weil die Kripo und die Staatsanwaltschaft das Gegenteil behaupten? Ich habe mir die Akten gründlich angesehen. Es gibt eigentlich nicht den geringsten Grund anzunehmen, sie sei unschuldig. Die Beweislage ist eindeutig.
Vielleicht weiß ich das ja, antwortet Kranz. Vielleicht habe ich einfach gehofft, Sie könnten sie zum Reden bringen. Es gefällt mir nicht, daß eine Stumme verurteilt werden wird. Diese Lara G. ist übrigens eine faszinierende Person, finde ich.
Ich konnte nichts tun, sagt Bella. Sie wollte mich nicht sehen. Wenn sie bereit gewesen wäre, mich zu sich zu lassen, hätte ich sie zum Reden gebracht. Vielleicht hat sie so etwas geahnt. Es kann aber auch sein, daß sie sich in eine Haltung geflüchtet hat, in der ihr ihre Umwelt vollkommen gleichgültig ist. Ich habe sie ein paarmal beim Hofgang beobachtet. Weit weg, ich versichere Ihnen, sie war sehr weit weg.
Das ist wahrscheinlich das Vernünftigste, was man bei diesen Hofgängen machen kann. Hatten Sie den Eindruck, daß die anderen Frauen sich besonders für sie interessierten?
Nein, sagt Bella, sie haben sie in Ruhe gelassen, von Anfang an. Jedenfalls hat das die Aufseherin behauptet, und ich habe nichts anderes feststellen können. Sie lebt wie in einer Glasglocke. Man kann sie sehen, aber man kommt nicht an sie heran.
Was sollen wir also tun? Was wollen Sie tun?
Ich weiß nicht, antwortet Bella. Ich nehme an, der Prozeß wird eine ganze Weile dauern. Ich werde dasitzen und sie mir ansehen. Im Grunde hoffe ich, daß sie bei irgendeiner Gelegenheit eine Reaktion zeigt, die mich weiterbringen könnte. Was ist eigentlich Ihr Eindruck: Wie sorgfältig ist denn nun wirklich ermittelt worden?
Kranz denkt einen Augenblick nach. Schließlich nimmt er sein Glas wieder auf, trinkt, setzt das Glas auf die Fensterbank, sieht Bella an.
Einigermaßen sorgfältig schon, glaube ich. Wenn man von der Tatsache absieht, daß die Beweislage von Anfang an ziemlich eindeutig war. So etwas ist natürlich immer gefährlich. Es fördert den einäugigen Blick. Und außerdem wissen Sie selbst: Die Ausbildung unserer Kriminalisten hat sich in den letzten Jahren nicht unbedingt verbessert. Die Unterrichtsstunden werden weniger, man beginnt die Grenzen zwischen Kripo und Schutzpolizei zu verwischen, die zunehmende Übertragung von Polizeiaufgaben auf den Bundesgrenzschutz –
Sie meinen die grundgesetzwidrige Übertragung von Polizeiaufgaben auf den –
Ja, die meine ich, das motiviert unsere Beamten nicht besonders. Es gibt sogar schon Polizeibeamte, und es sind nicht die schlechtesten, die beginnen, das böse Wort vom Polizeistaat im Mund zu führen. In diesem Fall haben sich die Kollegen aber trotzdem große Mühe gegeben. Bis jetzt kann man ihnen keine Fehler vorhalten.
Und der Anwalt? Wieso hat sie eigentlich einen Mann als Pflichtverteidiger bekommen?
Ich weiß es nicht. Kann sein, es waren der Strafkammer schon zu viele Frauen im Spiel. Die Vorsitzende Richterin ist eine Frau. Und auch die Anklage wird durch eine Frau vertreten. Außerdem, Sie wissen doch, bei der Auswahl der Pflichtverteidiger geht es der Reihenfolge nach. Sie hätte sich äußern müssen. So war nichts zu machen.
Und dieser Anwalt, Gebauer, so heißt er doch? Taugt der etwas?
Keine Ahnung, antwortet Kranz. Wir haben inzwischen so viele Anwälte zugelassen, wie soll man da noch jeden kennen. Die Kollegen von der Kripo glauben übrigens, sie müßten ihn nicht fürchten. Sie haben mir erzählt, der Anwalt habe so spät Akteneinsicht beantragt, daß sie nicht glauben, er sei mit der Sache besonders vertraut.
Sieht aus, als hätte er seine sprachlose Mandantin schon jetzt aufgegeben.
Zu beneiden ist er jedenfalls nicht, sagt Kranz. Ich glaube, es war richtig, Sie nicht schon vorher mit ihm bekannt zu machen. Wenn Sie irgend etwas finden, eine Lücke, einen winzigen Widerspruch in der Beweiskette, ist es noch früh genug. Ich glaube, es würde ihn nur verunsichern, wenn er wüßte, daß Sie den Prozeß beobachten.
Sie sind sehr interessiert an der Geschichte, fast ein bißchen zu sehr, stimmt’s?
Bella fragt mit weicher Stimme, und Kranz, durch die Stimme plötzlich an etwas erinnert, antwortet, ohne zu überlegen und ebenso leise: Sie ist schön.
Bella ist verblüfft. Diese Lara G. ist tatsächlich schön, denkt sie, schön und unnahbar, und es könnte sein, daß der Mann da vor ihr sich vorgenommen hat, ihr Geheimnis zu ergründen. Er will alles über sie wissen. Er erträgt es nicht, daß sie sich ihm entzieht, ihm und allen anderen, die von ihr eine Erklärung verlangen. Sie wollen wissen, weshalb sich eine Frau so konsequent von allem lossagt, was die Gesellschaft ihr und allen Frauen als unumstößliche Regeln, als niemals zu verletzendes Gesetz vorgeschrieben hat. Während aber alle anderen hoffen, daß mörderische Leidenschaft, Haß, Neid, Gier, Verschlagenheit, Eifersucht, alle niederen Beweggründe, die sie sich in ihren dumpfen Vorstellungen machen können, in diesem Fall eine Rolle gespielt haben, möchte Kranz – sie sieht ihn prüfend an –, wirklich, er möchte Erlösung. Insgeheim möchte er so etwas wie eine höhere Idee, die ihn glauben machen kann, daß Frauen trotz alledem die besseren Menschen sind und daß durch sie die Welt geheilt werden kann.
Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken hört sie Kranz sagen: Bitte, finden Sie mich nicht lächerlich. Ich gebe auch zu, daß es absurd klingen könnte, aber ich glaube, wenn es mehr solche Frauen gäbe, sähe die Welt ganz anders aus.
Das ist lächerlich und absurd zugleich, denkt Bella. Ich hätte nicht übel Lust, den ganzen Kram hinzuwerfen. Soll ich die sein, die diesem Mann, der an der Welt verzweifelt ist und sein Seelenheil nun bei einer Kindsmörderin zu finden hofft, Hilfsdienste leistet?
Wissen Sie, ich habe überhaupt keine Lust, darüber nachzudenken, ob und weshalb ich Sie lächerlich finden könnte, antwortet sie. Ich glaube, ich sollte mich noch ein wenig bewegen. Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, dürfen Sie mitkommen. Wir laufen am Elbufer entlang, reden darüber, ob der Fluß noch immer Spinat führt oder schon flüssiges Blei, ob Dichter die Zukunft voraussehen können – in diesem Punkt warne ich Sie: Mein Großvater konnte es – und ob das hier ein ordentliches Gedicht ist:
Einmal kommt – ich habe Zeichen
Sterbesturm aus fernem Norden.
Überall stinkt es nach Leichen
Es beginnt das große Morden ...
Hören Sie auf, Bella, ich geh schon, sagt Kranz lachend. Ich hab schon begriffen: Sie wollen allein sein.
Etwas an dieser Geschichte stimmt nicht. Das ist die Erkenntnis, die Bella nach drei Stunden Spazierengehen, unterbrochen von kurzen Dauerläufen, gewonnen hat. Sie hat Zeit genug gehabt, sich die Vorgänge und Ermittlungsergebnisse, die in den Akten stehen, noch einmal gründlich durch den Kopf gehen zu lassen. Alles spricht dafür, daß Lara G. ihre Kinder getötet hat. Nur hatte sie kein überzeugendes Motiv. Jedenfalls keines, das Bella überzeugt. Weshalb, verdammt, redet sie nicht, wenn sie unschuldig ist?
Bella ist auf ihrem Rückweg bis zum Anleger Teufelsbrück gegangen. An die Stelle des alten Teufelsbrücker Fährhauses war schon vor ihrer Reise nach Odessa ein modernes Restaurant gesetzt worden. Sie hat damals darauf verzichtet, dort einzukehren, weil der nach Elbvorort-Luxus aussehende Bau sie abstieß. Seit sie aus Odessa, oder genauer: aus Sibirien, zurückgekommen ist, hat sich ihr emotionales Verhältnis zu Hamburg verändert. Es ist, als wäre sie innerlich auf Distanz gegangen. Sie hat geglaubt, sie wäre hier zu Hause; jetzt aber scheint es ihr, als wäre sie nirgends mehr zu Hause, und es ist ihr recht so.
Zu Hause, zu Hause!
Lenas Stimme ist rauh. Sie wirft die aufgeweichte Zigarette weg. Es hat zu schneien begonnen. Deshalb sehen sie den LKW erst, als er beinahe vor ihnen ist. Lena stellt sich wild winkend an den Straßenrand. Der Fahrer hält, kurz bevor sie zur Seite springt, um nicht überfahren zu werden. Lena reißt die Tür auf und klettert in das Fahrerhaus, ohne sich nach Bella umzusehen. Der Fahrer wartet. Er wartet darauf, daß Bella einsteigt.
Laß mich machen, sagt Bella leise zu der neben ihr sitzenden Lena. Wir teilen.
