Wofür wir kämpfen - Tino Käßner - E-Book

Wofür wir kämpfen E-Book

Tino Käßner

4,9
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Schicksal einer Soldatenfamilie: intim, facettenreich und ohne falsche Sentimentalität erzählt

Was als humanitärer Einsatz der Bundeswehr begann, wird heute offen als Krieg in Afghanistan bezeichnet. Die Opfer auf deutscher Seite wurden jahrelang tabuisiert. Eines von ihnen ist Tino Käßner. Durch einen Selbstmordanschlag hat er seinen rechten Unterschenkel verloren. Doch er nimmt die Herausforderung an, das Beste daraus zu machen. Heute ist er Botschafter der Kriegsopferfürsorge und begeisterter Radleistungssportler. Zusammen mit seiner Frau Antje gewährt er uns einen Einblick in ihren Alltag. Sie zeigen, dass der eigentliche Lebenskampf erst nach dem Anschlag an der Front begonnen hat. Nach und nach wird deutlich, dass hier nicht ein Einzelschicksal beschrieben wird, sondern wie die Gesellschaft insgesamt mit diesem Thema umgeht. Tod oder Versehrtheit gehören zum Berufsrisiko eines Soldaten dazu. Für einen Außenstehenden kaum verständlich. Wie entscheidet man sich, dieses Risiko auf sich zu nehmen, und wie geht man damit um, wenn man mit den Konsequenzen leben muss?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 404

Bewertungen
4,9 (20 Bewertungen)
18
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

InschriftDer AnschlagSchlechte Nachrichten erreichen DeutschlandDie Fahrt nach KoblenzDie Rettung kommt vom Himmel – MedEvacDie Wahrheit und nichts als die WahrheitDas Wiedersehen mit TinoDas Leid, die Kinder und die FamilieVon der DDR zur Bundeswehr – Antjes GeschichteAntje macht ihr TestamentVon Karl-Marx-Stadt nach Kabul – Tinos GeschichteSoldatenliebe – Antje lernt Tino kennenDas Feldlager Rajlovac – Antje in BosnienLeben auf Abruf – Tinos Einsätze in AfghanistanDie AmputationSoldat Armin FranzTathintergründe und der AttentäterDie Druckwelle erreicht MurnauTino erwacht aus dem KomaErste Schritte ins LebenEin Soldat braucht auch Mut zum LebenPhantomschmerz und ProthesenhoffnungZu HauseDie HochzeitDie Fahrt zum Gardasee – Tinos SportkarriereWofür wir kämpfen – das FazitEpilogListe der im Auslandseinsatz getöteten Bundeswehr-SoldatenDanksagungCopyright

»Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt, wenn sich dort Bedrohungen für unser Land, wie im Falle international organisierter Terroristen, formieren. Wir müssen Gefahren dort begegnen, wo sie entstehen. Denn sie können unsere Sicherheit auch aus großen Entfernungen beeinträchtigen, wenn wir nicht handeln.«

Bundesverteidigungsminister Peter Struck, Regierungserklärung vom 11. März 2004

Der Anschlag

Mein Mann Tino Käßner ist Soldat im Einsatz in Afghanistan, als er am 14. November 2005 gegen 14 Uhr 30 den Motor seines gepanzerten Geländewagens startet.

Der Himmel über der afghanischen Hauptstadt Kabul ist strahlend blau; kein Smog, kein Staub, der sonst die ganze Stadt überzieht und in jede Ritze dringt. 25 Grad Wärme – ein Hauch von Frühling liegt wie ein Versprechen für eine bessere Zukunft über dieser geschundenen Stadt.

Zusammen mit seinem Kommandoführer, Hauptfeldwebel Stefan Deuschl, und Oberstleutnant Armin Franz verlässt Tino die schwer bewachte deutsche Militärbasis der deutschen ISAF-Truppen, Camp Warehouse, am östlichen Stadtrand von Kabul. Es ist eine Routinefahrt. Sie sind ohne Begleitschutz unterwegs in einem gepanzerten Mercedes-Geländewagen vom Typ Wolf. Knapp 15 Minuten später wird die Bombe eines Selbstmordattentäters ihr Fahrzeug zerreißen und mein Mann wird mit dem Tod ringen.

Ich sitze zu dieser Zeit bei einer Tasse Kaffee über einer Präsentation in einer Münchner Werbeagentur. Wegen der Zeitverschiebung zwischen Kabul und München ist es 11 Uhr Vormittag. Tino und ich sind seit knapp zwei Jahren ein Paar, für kommenden Mai ist unsere Hochzeit geplant. Er ist Personenschützer bei den Feldjägern im oberbayerischen Murnau und seit vier Wochen in seinem dritten Auslandseinsatz in Afghanistan – zusammen mit seinem Kommandoführer und Freund Stefan Deuschl.

Violetta Deuschl, Stefans Ehefrau, hat morgens ihre beiden Söhne Robin und Henry in die Schule nach Garmisch-Partenkirchen gebracht und sortiert jetzt in einer Garmischer Rechtsanwaltskanzlei Gerichtsakten für ihre Chefin. Am Sonntag konnten sie und die Kinder kurz mit Stefan telefonieren. Das ist ein festes Ritual; den neun und elf Jahre alten Söhnen soll die Stimme ihres Vaters vertraut bleiben, auch wenn er monatelang im Ausland ist. Auch Vio, wie Stefan seine Frau nennt, gibt seine Stimme Sicherheit, vertreibt die Unruhe, die sie zum ersten Mal gespürt hat, als sie ihren Mann zu diesem Einsatz nach Kabul verabschiedet hatte.

Es ist ein typischer Montagmorgen im November. Zu Wochenbeginn hängt eine dichte Nebeldecke über Bayern, mit Sprühregen und Temperaturen um die 14 Grad. Dasselbe Wetter in Dresden, 460 Kilometer entfernt. Dort sitzt meine Mutter Ilona im Liegenschaftsamt der Elbestadt über einer Grundstücksakte. Mein Vater ist mit seinem Taxi auf Tour. In der kleinen Versicherungsagentur in Chemnitz bespricht Tinos Mutter mit einer Kundin einen Versicherungsantrag und seine Schwester Heike bereitet einen Patienten im Unfallkrankenhaus Murnau auf seine OP vor. Wir alle gehen an diesem Montagmorgen in unserer Tagesroutine auf und sehen mehr oder minder gut gelaunt einer neuen Arbeitswoche entgegen. Was keiner von uns ahnt: Die Geschehnisse der kommenden Stunden werden uns alle komplett aus der Bahn werfen und unser Leben verändern.

Dabei scheint auch in Kabul alles ruhig. In der Morgenbesprechung, so Tino und Stefan später, hatte der Kompaniechef nichts Beunruhigendes berichtet. Keine besondere Gefahrensituation, bei der sonst Fahrten aus dem Lager auf das Notwendige reduziert oder völlig eingestellt werden. Keine Meldungen von Sprengstoffanschlägen, Schießereien oder Raketenbeschuss. Die Lage in Kabul war seit Wochen ruhig. Die Hoffnung, dass sich die Gefahr von Anschlägen weiterhin verringert hatte, schien berechtigt.

Schicksalhafte Ereignisse

Das war schon mal anders. Ein knappes halbes Jahr zuvor, im Juni 2005, hatte es den letzten großen Anschlag auf die deutschen Einsatztruppen gegeben. In jenem Juni stand Tino mitten in seinen Vorbereitungen für seinen dritten Auslandseinsatz als Feldjäger in Kabul, der wieder vier Monate dauern sollte.

Die Einsatzvorbereitungen bei den Feldjägern an Tinos Standort in Murnau laufen seit Wochen auf Hochtouren. Fahrtraining, Schießübungen und taktische Schulungen stehen auf dem Programm. Tino kennt Kabul ja bereits aus vorausgegangenen Einsätzen und bringt wertvolle Erfahrungen im Training ein. Auch Stefan Deuschl hat schon mehrere gefährliche Auslandseinsätze erfolgreich hinter sich gebracht, auf dem Balkan. Er ist Kommandoführer aus Leidenschaft und ein sehr erfahrener, umsichtiger Soldat. Als Stefan Tino fragt, ob er mit nach Kabul will, sagt Tino erfreut zu. Stefan Deuschl ist sein Vorbild – und allein die Tatsache, dass er Tino in seinem Team haben will, kommt einer Beförderung gleich. Die beiden sind Spezialisten für den Personenschutz und ein eingespieltes Team. Sie sollen helfen, Anschläge zu verhindern.

Kurz vorher hatte ich Tino an seinem Geburtstag einen Heiratsantrag gemacht. Nach seinem Einsatz wollten wir unsere Hochzeit feiern, wir wollten Kinder haben und ein Haus bauen. Wir hatten Pläne für eine glückliche, friedliche Zukunft. Tino war voll auf seinen Einsatz konzentriert, während andere Soldaten, die sie ablösen sollten, sich auf die Rückkehr in die Heimat freuten. In Wesendorf bei Hannover wartet Ina Schlotterhose auf ihren Mann. Eigentlich sollte er erst Ende August 2005 zurückkommen vom Einsatz in Afghanistan. Doch er landet schon Ende Juni auf dem Militärflughafen Köln-Wahn. In einem Sarg. Am 25. Juni 2005 wurden Hauptfeldwebel Andreas Heine und Oberfeldwebel Christian Schlotterhose sowie sechs afghanische Soldaten bei einem Anschlag in Rustaqu 120 Kilometer nordöstlich von Kunduz getötet. Schlotterhose hinterließ eine 24-jährige Ehefrau. Es war sein dritter Auslandseinsatz. Genau wie bei Tino.

Die Meldung in den Nachrichten über den Anschlag berührte uns – und doch schien alles so fern. Dass Tino in Kabul selbst Opfer eines Anschlags werden könnte, daran versuchten wir nicht zu denken.

Wie die meisten Deutschen wollten wir die Bilder des Anschlags von uns fernhalten und die letzten Junisommerabende vor dem Einsatz gemeinsam genießen. Auf Abstand halten, was verunsichert. Nach vorne schauen. Unsicherheit bedeutet Angst. Berufssoldaten wissen um das Risiko, das sie eingehen. Sie blenden es aus. Die Personenschützer bei den Feldjägern vertrauen auf ihre Spezialausbildung und darauf, dass sie Gefahrensituationen rechtzeitig erkennen und in Griff bekommen. Die Opfer, das sind immer die anderen – auch das würde sich als Irrtum herausstellen.

Tino holte sein Mountainbike aus dem Keller und fuhr noch eine Runde um den Staffelsee. Er liebte das Mountainbiking und den Radsport überhaupt und trainierte jeden Tag, oft auch mit Stefan Deuschl zusammen. Wenn er fährt, ruht Tino völlig in sich und ist eins mit seinem Körper, dann kann er total abschalten. Als Tino zurückkam, stehen 180 Zentimeter Muskelmasse vor mir, bei nur 70 Kilo Gewicht. Er sah glücklich aus. Tino ist ein schöner Mann: große Augen, ein gewinnendes Lächeln und eine sanfte Stimme. Ich bin immer noch sehr verliebt. Wir wohnten erst seit wenigen Monaten zusammen. Zeit, uns kennenzulernen, hatten wir bisher nur zwischen seinen Einsätzen gefunden. Er war fast mehr unterwegs in Afghanistan als zu Hause, seit wir uns im Juni 2003 kennengelernt haben.

Noch so ein Datum: Juni 2003, kurz vor Tinos erstem Afghanistan-Einsatz, kurz bevor ich Tino das erste Mal gesehen habe. Auch ich war damals bei der Bundeswehr und stand, wie Tino, vor meinem ersten Auslandseinsatz – er in Afghanistan, ich auf dem Balkan. Am 7. Juni 2003 jagte sich ein Selbstmordattentäter in einem gelben Taxi mit 150 Kilogramm Dynamit neben einem Mannschaftsbus der Bundeswehr in die Luft. Die Soldaten waren auf dem Weg zum Flughafen. Endlich zurück in die Heimat, endlich Pause nach dem anstrengenden Dienst für den Frieden am Hindukusch. Vier Soldaten sterben – Stabsunteroffizier Jörg Baasch, Oberfähnrich Andreas Beljo, Feldwebel Helmi Jimenez-Paradis und Oberfeldwebel Carsten Kühlmorgen – 29 weitere werden schwer verletzt. Es ist der erste direkte Angriff auf deutsche Soldaten mit Todesopfern nach dem Zweiten Weltkrieg. Es schien so, als wären die Bundeswehrsoldaten eher versehentlich diesem Anschlag zum Opfer gefallen, der eigentlich die US-Truppen hätte treffen sollen, die in der Operation »Enduring Freedom« den Terror der Taliban massiv bekämpfen. Niemand hatte damit gerechnet, dass es einen solch brutalen Angriff auf deutsche Soldaten geben könnte, die doch gekommen waren, um friedliche Wiederaufbauhilfe zu leisten. Doch von da an war klar, dass Afghanistan auch im deutschen Sektor unberechenbar und lebensgefährlich zu werden drohte.

Zwei Jahre später, an diesem Sommerabend im Juni 2005, wollten Tino und ich die Nachrichten von dem neuerlichen Anschlag in Kabul nicht an uns herankommen lassen. So wie viele Deutsche, denen allmählich immer klarer wird, dass es bei dieser Friedensmission nicht mehr nur um die Sicherung von Aufbaumaßnahmen in einem vom Bürgerkrieg zerstörten Land geht – sondern vielleicht um Krieg. Dieses Wort kam uns damals noch nicht in den Sinn. Anders als die Soldaten der Verbände aus den USA, Kanada und Großbritannien standen die deutschen Soldaten nicht im direkten Kampfeinsatz der Operation »Enduring Freedom«. Sie genossen hohes Ansehen in der afghanischen Bevölkerung. Mehr als zu Hause in Deutschland, so schien uns manchmal.

Die deutschen Soldaten kamen nicht nach Afghanistan, um die Taliban zu bekämpfen, sondern ausschließlich, um der Bevölkerung zu helfen. Sie sicherten den Bau von Schulen, Straßen und Brücken, bohrten Brunnen und bildeten die afghanische Polizei und das afghanische Militär aus, damit endlich wieder Frieden und Sicherheit einkehren sollte. So lautete der Auftrag, als der Deutsche Bundestag am 22. Dezember 2001 das Mandat für die deutsche Beteiligung der Bundeswehr am ISAF-Einsatz erteilte. Basis für die Entscheidung des Parlaments war eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, in der »die Einrichtung einer internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe für den Zeitraum von sechs Monaten« beschlossen wurde. Dieser Einsatz im Rahmen der ISAF (International Security Assistance Force, deutsch: Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe) war hinsichtlich Auftrag und militärischer Struktur vollständig von der amerikanisch-britischen Operation »Enduring Freedom« getrennt, die der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Taliban in Afghanistan dienen sollte. Nur deshalb hatte es auch eine so breite Zustimmung im Bundestag gegeben. Nach dem Zusammenbruch des Talibanregimes träumten die Politiker von baldigen freien, demokratischen Wahlen und einer handlungsfähigen Regierung, die einen raschen Abzug der Truppen ermöglichen würde. Ausländische Einsatzkräfte wurden ins Land gerufen, um Aufbauhilfe zu leisten und die afghanische Regierung bei der Einhaltung der Menschenrechte, der Wiederherstellung und Wahrung der inneren Sicherheit und der Ausbildung der Sicherheitskräfte bei Armee und Polizei zu unterstützen.

Sechs Monate. Die damals nur für ein halbes Jahr aufgestellte Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe steht 2011 bereits im zehnten Einsatzjahr – und sicher werden es noch mehr werden, trotz aller Abzugsankündigungen. Denn der Frieden, den dieses Land so dringend brauchte, ist immer noch in weiter Ferne.

Die Amani-Oberrealschule

Ab Anfang Oktober 2005 ist Tino in Kabul. Seit Juni hat es keine weiteren Anschläge auf deutsche Soldaten oder deutsche Einrichtungen gegeben. Das Team von Stefan Deuschl ist am Morgen des 14. November 2005 schon bei Sonnenaufgang auf den Beinen. Um 7 Uhr fahren sie eine deutsche Delegation und den zweiten Kommandeur des Stabs zur Amani-Oberrealschule in Kabul. Eigentlich sind die Feldjäger nur für VIP-Besucher zuständig, doch an diesem Tag liegt nichts an, und so sichern sie den Chef des Stabes. Das Schulgebäude befindet sich in unmittelbarer Nähe der deutschen Botschaft. Ein Freundschaftsspiel zwischen deutschen Soldaten und der Fußballmannschaft der Schule steht auf dem Programm.

Dass hier wieder Fußball gespielt werden darf, ist keineswegs selbstverständlich. Unter den radikal-islamischen Taliban war Fußball von 1996 bis 2001 verboten, bei Verstößen drohte sogar die Todesstrafe. Heute ist Fußball fester Bestandteil des Schulsports. Das Fußballturnier ist ein Symbol mit hoher Signalwirkung. Die Afghanen sind begeisterte Fußballspieler. Vor allem die Jugendlichen. Die Amani-Oberrealschule hat einen enormen Stellenwert in Afghanistan und ist ein Symbol für den Wiederaufbau des Landes. Sie gehört dort zu den führenden Schulen. Zahlreiche afghanische Führungskräfte, die heute wichtige Positionen in der Gesellschaft innehaben, sind in der Amani-Schule ausgebildet worden und haben später sogar in Deutschland studiert. Deutsch ist Unterrichtssprache und Prüfungsfach auf der Eliteschule. Ein Grund, warum auch heute noch erstaunlich viele ältere Afghanen gut Deutsch sprechen. Im Mai 2002 stand hier Franz Beckenbauer vor den Fußballern der Amani-Schule. Vor der Endrunde der Fußballweltmeisterschaft in Japan und Südkorea war der »Kaiser« Franz zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Kabul zum Truppenbesuch gereist. Kanzler und Kaiser kicken mit den begeisterten Schülern – die Schüler in ihren gelben Trikots, Kaiser Franz und Kanzler Schröder mit einer schusssicheren Weste unter ihren teuren Anzügen. Sie kommen schnell ins Schwitzen. Der Kaiser fragt mit Blick auf den Kanzler lachend, ob es denn Amani- oder Armani-Schule heiße, nach dem italienischen Modedesigner. Der Kanzler trägt Brioni.

Seither wird das Fußballspiel in Afghanistan auch vom DFB und von deutschen Bundesligavereinen mit sehr viel Engagement unterstützt und das Auswärtige Amt startete das Projekt »Mädchenfußball in Afghanistan«, weil Frauen dort jahrelang keinen Sport ausüben, geschweige denn Fußball spielen durften.

Viele deutsche Firmen und Freundeskreise aus Deutschland fördern die Schule mit Geld und Sachspenden. Die Schule ist ein Symbol für die jahrzehntelangen Beziehungen zwischen Deutschland und dem afghanischen Volk. Ein Symbol auch dafür, dass es Heilung geben kann für dieses verwundete Land. 1924 wird die Schule zur Förderung der Führungselite des Landes gegründet, mit starker deutscher Unterstützung. In der Blütezeit der deutsch-afghanischen Beziehungen arbeiten hier bis in die Achtzigerjahre neben afghanischen Lehrkräften 24 Lehrer aus Deutschland. Ein technisches Institut und eine Kunstschule werden angeschlossen. Während der sowjetischen Besatzung müssen fast alle deutschen Lehrer das Land verlassen und in den nachfolgenden Kriegswirren wird die Schule fast vollständig zerstört. Als unter der Herrschaft der Mudschaheddin hier 1000 Kämpfer kaserniert werden, werden Bücher, Tische, Türen und Fenster verheizt, die Schuleinrichtung wird geplündert. Selbst die Elektrokabel werden wegen des Kupfers aus den Wänden gerissen. Einer Erfolgsgeschichte droht das Ende. 1998 aber wird der Unterricht wieder aufgenommen. Im Jahr 2002 beginnt mit Unterstützung der Bundesregierung der Wiederaufbau. Im Juni 2004 kommt Außenminister Joschka Fischer zum 80-jährigen Gründungsjubiläum in die Amani-Schule, um sie nach dem abgeschlossenen Wiederaufbau offiziell an die afghanische Regierung zu übergeben. Die Amani-Schule ist ein Leuchtturmprojekt der Bundesrepublik, das Hoffnung machen soll für ein friedliches Afghanistan. Heute werden hier über 3500 Schüler von 163 Lehrkräften – sechs davon aus Deutschland – unterrichtet.

Tausende Schüler stehen an diesem Morgen afghanische und deutsche Fähnchen schwingend am Spielfeldrand und feuern ihre Mannschaft an. Unter den vielen erwachsenen Zuschauern sind etliche Deutsche. Kaum einer in ihrer Heimat weiß, dass über 4000 Bundesbürger in Kabul leben und arbeiten und wie eng die traditionellen Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan sind.

Auch für Tino ist das alles neu. Er ist begeistert: »Die Stimmung war genial – die haben da richtig Spaß gehabt. Von der ersten bis zur zehnten Klasse war alles auf den Beinen. Die Kinder haben ihre Scheu schnell abgelegt und sind immer lockerer mit uns Soldaten umgegangen. Die haben gestrahlt ohne Ende.«

Die Soldaten finden sogar die Zeit und spielen Tischtennis mit den Jugendlichen, was das Verhältnis zusätzlich entkrampft. Sport kennt halt keine Grenzen.

Trotz der lockeren Atmosphäre dürfen Stefan und Tino in ihrer Konzentration nicht nachlassen. Sie stehen vor der Tribüne mit dem Rücken zum Spielfeld und kontrollieren die Umgebung. Über Funk sind sie mit den anderen Schutzkräften verbunden. Als Personenschützer müssen sie alles im Blick behalten, bis das Spiel unter großem Jubel zu Ende geht. Wer gewonnen hat, ist völlig zweitrangig. »1:0 für den Frieden!«, kommentiert Tino später im Auto.

Auf dem Rückweg holen die Feldjäger noch den Kommodore des Luftwaffenstützpunkts von Termez am Kabul International Airport ab. Tino ist sich später sicher: »Die Spitzel waren überall in der Stadt. Oft haben wir gesehen, wie Afghanen hektisch zu ihrem Handy griffen, als wir vorbeifuhren. Wenn uns jemand den Tag über beobachtet hat, konnte er feststellen, dass wir immer wichtige Personen im Auto hatten – Anschlagsziele, deren Vernichtung Prestige bringen würde für die Taliban.«

Stefan und Tino fahren gelöst und gut gelaunt ins Camp Warehouse zurück. Später werden sie immer wieder erzählen, wie sehr sie diese Begeisterung der vielen jungen Menschen beeindruckt hat. Hier erleben sie zum ersten Mal hautnah, dass ihre Arbeit sinnvoll ist – dass ein gefahrloses Miteinander in einer Schule wie der Amani-Schule Zukunft und Hoffnung bedeuten kann für dieses Land nach 30 Jahren Gewalt und Blutvergießen. Das Glücksgefühl der Kinder hat sich auf die Soldaten übertragen, die hier spüren, wofür sie kämpfen. Stefan wünscht sich, dass alle Kinder Afghanistans eines Tages ohne Angst vor Anschlägen und ohne die Anwesenheit von Soldaten Fußball spielen können – so wie seine zwei Jungen zu Hause in Garmisch-Partenkirchen es tun, so wie er Fußball spielen konnte ohne Angst vor Gewalt, als er selbst jung war. Tino und Stefan wundern sich, dass in den deutschen Medien nie über solche positiven Ereignisse berichtet wird, darüber, dass der Einsatz auch Fortschritte zeigt. Warum immer wieder nur diese Schreckensbilder über Anschläge und Todesopfer?

Oberstleutnant Armin Franz

Das Team von Stefan Deuschl trifft sich nach der Rückkehr ins Lager zum Mittagessen mit Oberstleutnant Armin Franz. Franz ist zwar Reservist, meldet sich aber jedes Jahr freiwillig zu einem mehrmonatigen Auslandseinsatz. In Kabul ist er zuständig für die Betreuung der Besuchergruppen und Delegationen, die dort ins deutsche Camp kommen. Für das kommende Wochenende steht wieder Besuch an, der mit den örtlichen Sicherheitskräften und der Botschaft koordiniert werden muss. Angeblich soll es der deutsche Generalbundesanwalt Kay Nehm sein, der mit afghanischen Regierungsstellen über Ermittlungsersuchen und einen Ausbau bei der Strafverfolgung sprechen will. Nehm wäre ein äußerst gefährdetes Anschlagsziel.

Franz ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Die Bundeswehr ist seine Familie, sagen Stefan und Tino später. Nach dem Ende seiner aktiven Zeit als Zeitsoldat Anfang der Achtzigerjahre nimmt der gelernte Maschinenbauingenieur freiwillig an über 40 Wehrübungen teil. Anfang 2001 wird er zum Oberstleutnant befördert. Achtmal meldet sich der Offizier freiwillig zu gefährlichen Auslandseinsätzen. Insgesamt 737 Tage dient er im Kosovo. Franz ist schon seit Mitte Juni in Kabul und zuständiger Besuchsoffizier des 8. deutschen Einsatzkontingents ISAF, als Tino und Stefan auf dem Kabul International Airport landen.

Die Feldjäger arbeiten gerne mit Franz zusammen. Das Vorteam, das Stefan und Tino jetzt abgelöst haben, berichtet über die guten Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit ihm. Sie mögen seine ruhige und geradlinige Art. Ein Pfundskerl, professionell, mit fast skurrilen Zügen. Im Camp Warehouse erlangt Franz eine gewisse Berühmtheit wegen seines Morgenrituals: Täglich Punkt sieben steht er im Morgenmantel vor seinem Wohncontainer und raucht für alle sichtbar seine erste Zigarette. Die Soldaten im Lager könnten ihre Uhren danach stellen. Franz nimmt an fast allen Einsatzbesprechungen der VIP-Personenschützer teil. Er hat die streng vertraulichen Informationen über die Reisedaten der Besucher, ihre Termine und Gesprächspartner direkt vom Einsatzführungskommando in Potsdam. Nichts davon darf nach außen dringen, wenn jede mögliche Vorbereitung von Anschlägen der Taliban verhindert werden soll. Die Zusammenarbeit ist diskret und vertrauensvoll. Franz ist kein typischer Reservist. Er pocht nicht auf seinen Rang oder sein Dienstalter und macht sich nicht wichtig, sondern er hört zu und erwirbt sich wegen seiner Professionalität schnell den Respekt der Berufssoldaten. Seine Einwände sind fundiert und überzeugend. Er spricht nicht viel über seine vergangenen Auslandseinsätze, schon gar nicht über Persönliches. Aber die Männer spüren seine Erfahrung und die Personenschützer schätzen seine schnörkellose Art. Sie wissen, dass Franz genau deshalb dieser schwierige Job anvertraut wurde und er wegen seiner Umsichtigkeit in den vorangegangenen Auslandseinsätzen mit der NATO-Medaille KOSOVO und ISAF, der KFOR-Einsatzmedaille in Gold sowie der ISAF-Einsatzmedaille in Bronze ausgezeichnet worden ist.

Gegen 13 Uhr 45 beenden die Soldaten ihre Mittagspause und machen sich zur Abfahrt fertig. Vor dem Essen hatten die Soldaten ihre Geländewagen in die »Inst« – das Bundeswehrkürzel für die »Instandsetzungseinheit« – gebracht. Wegen des allgegenwärtigen Sandstaubs auf den Straßen Kabuls müssen die Luftfilter der Wagen nach jeder Fahrt kontrolliert werden. Auch die Waffen werden gereinigt und geprüft. Der Wolf von Kommandoführer Stefan Deuschl ist noch in der Instandsetzung und nicht einsatzbereit. Er fragt in die Runde: »Wer fährt?« Ohne zu zögern meldet sich Tino. »Okay, abfahrbereit 14 Uhr – dann holen wir den Franz ab und fahren nach Kabul rein.« Ab da lief der Countdown.

Gegen 14 Uhr 35 passiert der Wolf mit Stefan, Tino und Armin Franz das schwer bewachte Tor von Camp Warehouse Richtung Kabul City. Tino sitzt am Steuer, Stefan auf dem Beifahrersitz, Armin Franz hinten rechts. Der gepanzerte Wolf biegt auf die Route Violet ein, die vierspurige Hauptverkehrsader zwischen Kabul und Dschalalabad. Es ist eine Routinefahrt. Knapp 15 Minuten später ist Armin Franz tot. Tino hat mir erst viel später erzählen können, was genau auf der Fahrt passiert ist.

Die verhängnisvolle Fahrt

»Wir fuhren aus dem Lager. Ich am Steuer, Stefan als Beifahrer und Armin Franz rechts hinter dem Beifahrer. Sowie du aus dem sicheren Bereich des Lagers fährst, stehst du unter Strom. Alles in dir ist in Alarmbereitschaft. In dir spult die Checkliste ab, was du zu machen hast und worauf du besonders achten musst. Man macht zwar mal ein kurzes Späßchen und redet miteinander, soweit das beim Fahrlärm geht. Aber du bist immer hoch wachsam und registrierst alles. Unaufmerksamkeit wäre leichtsinnig und unprofessionell – einfach, weil die Gefahr allgegenwärtig ist. Ich blickte nur kurz nach rechts zu Stefan rüber und sah, dass er das Straßengeschehen genauso konzentriert überwachte. An diesem Tag herrschte wieder das übliche Chaos auf Kabuls wichtigster Ausfallstraße. Wir fuhren die Route Violet Richtung International Airport Kabul. Die Route Violet ist keine Stadtautobahn wie bei uns in Deutschland, sondern eine vierspurige Staubpiste, stellenweise Asphalt oder Beton, stellenweise nur Schotter, seitlich begrenzt durch die wild wuchernden Werkstätten, Läden und Bretterbuden der Händler. Zwischen Fahrbahn und Gegenfahrbahn befinden sich Parkplätze für Jingletrucks – die dort typischen, bunt bemalten und mit Glöckchen und Flitterkram verzierten Busse und Lastwagen – oder Reihen von Betonpfeilern, um das bei den Afghanen so beliebte Überholen auf der Gegenfahrbahn zu verhindern und somit auch die nachfolgenden Duelle, bei denen die Fahrer testen, wer mutiger ist und länger durchhält. Gefahren wird überall, wo Platz ist, sich eine Lücke in den endlosen Fahrzeugkolonnen auftut. Auf den Straßen Kabuls zählt nur das Recht des Stärkeren, nicht irgendeine Straßenverkehrsordnung.

Die Route Violet ist ein sich meist träge und chaotisch voranwälzender Tsunami von hupenden Autos, Bussen, LKW, Eselskarren und Militärfahrzeugen. Wir sind trotzdem gut vorangekommen an diesem Tag. Für die Verhältnisse normal schneller Verkehr, also etwa 60 km/h. Alles sah nach einer Routinefahrt aus.

Plötzlich spürte ich einen unglaublich schweren Stoß von links hinten. Der Wolf schleudert und droht umzukippen. Der gepanzerte Wagen ist schwer, gerät leicht außer Kontrolle und schaukelt sich auf, eine Schwäche dieses Fahrzeugtyps. Ich muss den Wagen wieder unter Kontrolle bringen, lenke gegen die Ausbruchsrichtung und steige voll in die Eisen. Staub wirbelt auf. An uns schießen andere Fahrzeuge vorbei. Wildes Hupen. Ich bringe den Wolf wie im Fahrtraining gelernt zum Stehen, krache aber mit dem Kühler voll auf einen Betonpoller und setze auf. Splitterndes Glas. Die Airbags gehen auf. Im Auto der Airbagnebel durch das Talkum. Wir sind halb taub durch den Knall. Der Motor stirbt ab. Vielleicht hätte bei diesem Aufprall ein Rammgitter verhindert, dass wir liegengeblieben sind. Es war bestellt, aber nicht geliefert worden. Beinah jeder in München und Garmisch hat ein Rammgitter an seinem Geländewagen – nur wir in Afghanistan nicht. Ein Fehler, der sich rächen wird. Der Motor ist kaputt, wir sind bewegungsunfähig. Die erste Regel der Personenschützer aber heißt: Bleib in Bewegung – sonst wirst du zum Ziel.

In so einem Inferno gibt es die berühmte Schrecksekunde, bevor man beginnt, sich zu orientieren und die Initiative zu ergreifen. Erste Analyse: Nichts weiter passiert. Insassen ohne Schäden, wir waren angeschnallt. Stefan und ich schauen uns verdutzt an. Ich hatte zunächst geglaubt, ein Reifen sei geplatzt – das allein ist schon eine schwierige Situation bei einem gepanzerten Fahrzeug. Ein eingestürztes Kanalrohr vielleicht, das ein Loch in die Straße gerissen hat, vielleicht auch ein Unfall – denn immer häufiger gab es in Kabul auch provozierte Zusammenstöße, weil die ISAF für afghanische Verhältnisse sehr hohe Schadenersatzsummen zahlte, um keine Missstimmung in der Bevölkerung und den Clans entstehen zu lassen. Für manche wird das Spiel mit dem Leben zum Geschäft. All diese Geschichten schossen mir in ungeordneten Puzzleteilen durch den Kopf. Aber den Gedanken an einen Anschlag gab es in diesem Moment nicht. Wir waren einfach überrascht. Das alles geschah in wenigen Sekunden.

Später erinnere ich mich, dass ich vor dem Aussteigen im Rückspiegel einen Toyota gesehen habe, einen Rechtslenker. Dieses Auto muss uns erwischt haben. Aber woher war der Wagen gekommen? Wir hatten nicht mal einen Schatten gesehen. Der Wolf ist etwas höher als normale Fahrzeuge, das Auto des Attentäters musste also irgendwie im toten Winkel des Rückspiegels vorbeigetaucht sein und hatte uns dann seitlich gerammt. Dazu musste der Fahrer aber aus einer Wartestellung von der Gegenfahrbahn gekommen sein. Er hatte genau den Moment abgepasst, als unser Fahrzeug in seiner Höhe die Lücke zwischen den Betonpollern passierte. Auf der Gegenfahrbahn durfte in diesem Moment kein Gegenverkehr rollen. All diese Faktoren, die so ein Attentat unberechenbar und äußerst waghalsig erscheinen lassen, waren in diesem Moment, als wir vorbeifuhren, gegeben. Wie viel Wut und Verzweiflung müssen einen Menschen antreiben, dass er so ein Risiko auf sich nimmt? Er hatte nur wenige Augenblicke, um Vollgas zu geben, die Straße zu kreuzen und uns aus voller Fahrt seitlich zu rammen. Er hat sie genutzt.

Noch heute laufen die Bilder wie ein schwerer, langsamer Zeitlupenbrei vor meinem inneren Auge ab. Matrix für Arme – ohne jede Chance, die Kugeln oder das weitere Unglück aufhalten zu können. Ich drehe den Zündschlüssel, der Anlasser heult kurz auf. Das war’s. Der Motor ist nicht mehr zu starten. Es gibt keinen Grund mehr, im Auto zu bleiben. Stefan sagt: ›Komm, schauen wir mal!‹ Wir steigen aus. Links vorne ich, rechts vorne Stefan, rechts hinten Armin Franz. Stefan hat immer seine kurzläufige MP7 vor der Brust, zusätzlich eine Pistole. Die Waffe ist zur Abwehr immer am Mann. Wir würden sie auch einsetzen, wenn wir angegriffen werden. Aber wir haben keine Zeit mehr dazu. Bei der Bundeswehr sagt man: ›Ein Plan überlebt die ersten zehn Sekunden eines Kampfes nicht‹ – wir hatten nicht mal den Bruchteil einer Sekunde. Zehn Meter hinter uns sehe ich, wie ein Toyota plötzlich wendet. Die anderen müssen das auch gesehen haben. Das Auto hat massive Schäden am Kühler. Der Unfallfahrer legt krachend den ersten Gang sein. Er will nicht fliehen, sondern er hat es auf uns abgesehen. Es ist ein Attentäter. Ich fixiere den Fahrer, und wir bekommen Blickkontakt. Er sieht aus wie Millionen andere afghanische Männer: schwarzer Bart, tiefschwarze, funkelnde Augen, schwarze Kopfbedeckung. Er schaut mich an, der Mund ist zu einem schiefen Grinsen verzogen. Sein Wagen beschleunigt mit radierenden Reifen und hält genau auf die Stelle zu, wo Armin Franz steht, rechts hinter dem Auto. Ich denke noch: Was soll das? Hier geht was schief! Und dann dieser Knall. Die Explosion ist ungeheuerlich. Sie nimmt jede Faser deines Körpers, jeden Nerv in ihre Gewalt. Sie greift nach deinem Leben und versucht dich auszulöschen. Zwölf Kilo TNT zündet der Attentäter in zwei bis drei Metern Abstand zu uns. Ein greller Blitz, warmes, pulsierendes Orange – du spürst das Blut in deinen Adern kochen. Die Augen sind geblendet, und dann dieses Pfeifen im Ohr wie nach einem Hörsturz – es ist, als hätte eine einstürzende Wand dich lebendig begraben und läge mit tonnenschwerem Druck auf deiner Lunge. Nach dem grellen Blitz wird es dunkel vom Staub. Glas und Metall, Dreck prasselt auf dich herab. Du kannst nicht atmen. Deine Lunge brennt. Du drohst zu ersticken. Du kannst dich nicht bewegen. Hier ist das Leben zu Ende.

Stefan steht rechts am Fahrzeug hinter der geöffneten Beifahrertür. Die Tür hat eine starke Panzerung und Panzerscheiben. So steht er mit dem Oberkörper geschützt im Explosionsschatten. Nur seine Beine haben keinen Schutz. In Höhe von Stefans Oberschenkeln, da, wo die Wagentür aufhört, fegt die ungeheure Druckwelle ungehindert durch und zerfetzt seine Beine. Ich bin auf der anderen Seite – mich schützt der ganze gepanzerte Fahrzeugkörper des Wolf, der Unterboden liegt zwar noch tiefer als die Türen, aber auch mich erwischt es an den Beinen unterhalb der Knie – die Explosion greift unter dem Auto hindurch nach mir und zertrümmert meine Unterschenkel.

Das alles geschah in wenigen Sekundenbruchteilen. Unabwendbar und auf schreckliche Weise endgültig. Den Film mit den wichtigsten Szenen deines Lebens, den du in Todesgefahr angeblich sehen sollst – der fiel aus bei mir, die Bilder kamen nicht. Nicht mal dazu war Zeit. Wir hatten keine Chance. Wir haben nichts falsch gemacht. Selbst das Aussteigen aus dem gepanzerten Wagen war richtig. Das Auto ließ sich nicht mehr bewegen, und eine Flucht war ausgeschlossen. Zudem hätten mit Panzerfäusten bewaffnete Terroristen bei einem stehenden Fahrzeug leichtes Spiel gehabt. Wären wir einfach im Wagen sitzen geblieben, bis Hilfe kommt, wären wir heute alle drei tot. Der Wolf hatte kein Überdruckventil gegen Explosionsdruck. Die Druckwelle wäre in das Wageninnere geströmt, hätte aber nicht schnell genug wieder entweichen können. Uns wären nicht die Beine abgerissen worden, aber es hätte uns innerlich zerrissen – Milz und Lunge wären geplatzt. Ich habe das später im Krankenhaus mit Stefan alles in jeder Variante noch einmal durchgespielt. Also, egal wie man es dreht und wendet: Wenn ich heute so darüber nachdenke, dann ist so, wie es passiert ist, noch am wenigsten passiert. So sind wenigstens Stefan und ich mit dem Leben davongekommen. Was uns hilft ist die Tatsache, dass wir keinen Fehler gemacht haben. Es waren Zufälle, kein menschliches Versagen, die uns zum Ziel machten. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir hatten keine Chance.

Ich muss nach der Explosion kurz bewusstlos gewesen sein. Als ich wieder zu mir komme, liege ich im Staub vor dem Vorderreifen. Es ist plötzlich totenstill. Vielleicht liegt es auch daran, dass meine Trommelfelle geplatzt sind. Mein erster Gedanke ist völlig banal: Oh, jetzt ist etwas passiert. Aber der Satz hilft mir. Durch das einsetzende schrille Pfeifen im Ohr höre ich leise ein Stimmenwirrwarr. Autos hupen. Schreie der Verletzten. Wimmern.

Die nächste Erinnerung: Ich lausche in meinen Körper hinein, konzentriere mich auf Arme und Beine – ich spüre keinerlei Schmerzen. Es scheint nichts zu fehlen, aber die Adern sind vollgepumpt mit Adrenalin, das betäubt und täuscht. Ich versuche, die Kontrolle zurückzugewinnen. So, wie wir es trainiert haben: initiativ sein, aufstehen, den Kameraden helfen. Ich will mich am Auto hochziehen, aber die Beine gehorchen nicht mehr – ich spüre nur ein Brennen. Ich zwinge meinen Blick nach unten und sehe, dass mein rechter Fuß eine anormale Stellung hat – verdreht, als würde er nicht zu mir gehören. Auch das linke Bein blutet. Oberhalb der Stiefel saugt sich die Uniform mit Blut voll. Ein sich rasend schnell ausbreitender Fleck. Aufstehen geht nicht mehr. Mir wird klar, dass etwas mit meinen Beinen nicht stimmt.

Was hinter dem Auto vorgeht, kann ich nicht erkennen. Ich versuche, vom Auto wegzurobben, es brennt überall und das Auto ist voll mit Munition und Gewehrgranaten. Aber es geht nicht. Plötzlich werde ich weggezogen. Und dann sehe ich zu meinem Entsetzen diese Gesichter über mir: Bärtige Afghanen in Landestracht, die genauso aussehen wie der Taliban, der sich Sekunden vorher in die Luft gesprengt hat. Für einen kurzen Moment kommt die Todesangst: Werden sie mich gleich töten oder mich entführen und später hinrichten? Doch es sind keine Feinde, sondern Helfer. Einer der Bärtigen trägt Uniform, das ist vertraut – ein afghanischer Soldat, der sich hinter mich kniet, meinen Kopf stützt und auf Farsi unverständlich, aber beruhigend auf mich einredet. Halb am Wegdämmern sehe ich Fernsehleute, die ihre Kamera auf mich richten und die zerstörten Autos filmen. Ich höre mich reden wie einen Fremden, der sagt, dass die Leute Camp Warehouse informieren sollen. Ich fingere nach den Verbandspäckchen in meiner Uniform, weil ich merke, wie meine Beine immer tauber und steifer werden. Ich spüre einen langsam stechenden Schmerz im Fuß, als wäre er eingeschlafen. Die Afghanen heben mich auf und wollen mich zu einem Kleinbus tragen, ich wehre ab – aber ich kann es nicht verhindern. Dann sind plötzlich englische Soldaten da. Europäer. Endlich kommt richtige Hilfe. Ich rufe immer wieder, dass sie nach meinen Kameraden hinter dem Auto sehen sollen. Ich rufe nach Stefan, bekomme aber keine Antwort. Ein britischer Soldat bindet mir mit einem brutalen Ruck das Bein ab. Ein anderer jagt mir eine Morphiumspritze in den Oberschenkel.«

Diese Soldaten sind der Beginn einer Rettungskette von Ärzten und Helfern, die am Ende 6000 Kilometer weit bis ins Bundeswehrkrankenhaus nach Koblenz reichen wird. Sie führen die sogenannte Erstversorgung durch in den ersten kostbaren Minuten nach der Verwundung, die über Leben und Tod des Verletzten entscheiden. Diese Menschen haben Tino und Stefan das Leben gerettet. Auf einer Trage wuchten sie Tino auf ihren Jeep und fahren ihn ins Feldlazarett des amerikanischen Camps, das nur wenige Meter entfernt ist.

Im Lazarett wird Tino sofort in die mit Ultraschall- und Röntgendiagnostik ausgerüsteten Schockräume gebracht. Die medizinische Notfallversorgung beginnt. Im Schockraum wird eine Computertomografie erstellt, die den Ärzten in wenigen Minuten einen kompletten Überblick über das Ausmaß der inneren Verletzungen ermöglicht. Dort kommt Tino langsam aus seinem Schockzustand zu sich und spürt, wie die Schwere seiner Verletzungen die Macht in seinem Körper übernimmt: »Das Adrenalin, das mich die ganze Zeit hochgepeitscht hat, lässt langsam nach, ich spüre ein schmerzendes Pulsieren in meinen Beinen. Minuten später liege ich auf dem OP-Tisch im Sanitätszelt der Amerikaner, grelles Licht und konzentrierte Gesichter amerikanischer Ärzte. So kurze Zeit nach der Explosion in einem Krankenhaus! Das kann man nur als Glück bezeichnen.

Ich kann nur schlecht Englisch. Sie schneiden mir die zerfetzte Uniform vom Leib. Ich gerate in Panik. Ich sage ihnen, dass ich zwei geladene Waffen am Körper trage, die HK-P8 im Holster am Bein und die kleinere P7 unter der Splitterweste. Ich radebreche, dass ich einen Dolmetscher brauche und dass sie Camp Warehouse informieren sollen. Ich frage nach Stefan und Franz. Die Ärzte interessiert das scheinbar alles nicht. Sie legen Infusionen, ich bekomme Spritzen. Sie arbeiten schnell und konzentriert, geben kurze Anweisungen an die Schwestern. In ihren Mienen lese ich, dass sie besorgt sind – es scheint nicht gut um mich zu stehen. Mein Körper beginnt zu zittern, ich beginne auszukühlen. Schüttelfrost. Ich frage noch, was jetzt passiert, und bekomme Angst. Ich merke, dass ich schwächer werde. Eine Schwester hält beruhigend meine Hand. Ich habe kein Zeitgefühl. Plötzlich steht ein deutscher Sanitätsoffizier im OP und spricht mit dem amerikanischen Kollegen. Er klopft mir ermutigend auf die Schulter, lächelt mich an und sagt: ›Soldat, alles wird gut.‹ Das ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann – der Blutverlust und die Medikamente haben endgültig den Widerstand meines Körpers gebrochen. Jetzt, wo ich versorgt bin und mich sicher fühlen kann, lasse ich los und falle in einen tiefen, endlosen Schacht hinein in die Dunkelheit. «

Schlechte Nachrichten erreichen Deutschland

Wenn ich früher von Schicksalsschlägen anderer Menschen gehört habe, habe ich mich oft gefragt, was die Leidtragenden fühlen, wenn sie erfahren, dass sie betroffen sind. Als Tino ins Koma fällt, ist es bei uns in Bayern etwa 11 Uhr 30. Ich hatte keine Vorahnung gehabt, dass etwas passiert sein könnte, keine Unruhe gespürt. Nichts. Heute weiß ich, Katastrophen beginnen ganz klein und unscheinbar.

Vor allem die schlechten Nachrichten scheinen sich wie mit Lichtgeschwindigkeit über Kabel, Satelliten und das Internet zu verbreiten. Noch während sich die Sanitäter über Tino beugen und sein Leben zu retten versuchen, erscheinen wenige Minuten nach dem Anschlag schon die ersten Eilmeldungen auf den Redaktionsmonitoren und finden ihren Weg in die deutschen Radionachrichten:

»Ein deutscher Soldat der Internationalen Schutztruppe in Afghanistan (ISAF) ist in Kabul bei einem Selbstmordanschlag getötet worden. Der Anschlag sei im Osten der afghanischen Stadt verübt worden, sagte Jusuf Stanisai, ein Sprecher des afghanischen Innenministeriums. Der Selbstmordattentäter habe mit seinem mit Sprengstoff beladenen Toyota ein ISAF-Fahrzeug mit Bundeswehrsoldaten gerammt. Zwei weitere Soldaten sowie drei Zivilisten seien verletzt worden.«

Ich stelle keine Verbindung zwischen Tino und dem Anschlag her, komme zunächst gar nicht auf den Gedanken, dass er eines der Opfer sein könnte. Wir sind so voller Vertrauen in unsere Unversehrtheit, dass wir die ersten Signale meist übersehen. Also arbeite ich einfach weiter, werde aber von Minute zu Minute unruhiger. Schließlich wähle ich doch die Nummer von Tinos Kaserne in Murnau. Der Wachhabende sagt nur: »Nein, nichts bekannt, gib uns mal deine Handynummer. Falls etwas sein sollte, melden wir uns.«

Viele Angehörige in Deutschland von Soldaten im Einsatz in Afghanistan telefonieren jetzt so wie ich mit den Kasernen und versuchen, Genaueres herauszufinden. Wir spüren, dass sich etwas auf uns zubewegt, etwas, was wir noch nie zuvor so deutlich gespürt haben: Angst.

Die Kommandeure im deutschen Hauptquartier Camp Warehouse und im Einsatzführungszentrum in Potsdam versuchen unterdessen fieberhaft, sich einen Überblick zu verschaffen, was genau geschehen ist. Die Meldungen sind verwirrend, weil es an diesem Morgen an der Route Violet noch einen anderen Anschlag mit Toten gibt, und nahe des Stadtzentrums erschießen ISAF-Kräfte bei einem weiteren Zwischenfall den Fahrer eines Autos, das trotz Stoppsignalen ungebremst auf ihre Straßensperre zurast. Die Sicherheitskräfte sind nach den Anschlägen äußerst nervös.

Ich will Tino eine E-Mail schicken und fragen, ob er etwas von dem Anschlag mitbekommen hat, und gleich auf der Startseite meines E-Mailaccounts sehe ich das Foto des zerstörten Feldjägerautos. Es ist eines der gepanzerten Personenschützerfahrzeuge vom Typ Wolf, mit denen auch Tino unterwegs ist. In diesem Moment wird mir klar, dass es diesmal ganz nahe einschlagen würde. Denn so viele Feldjäger im Personenschutz gibt es in Kabul nicht, und von diesem Wolf fahren in Kabul nur ein paar herum. Ich wusste auch, dass Tino und Stefan mit vier weiteren Soldaten aus Murnau in Kabul für den Personenschutz zuständig waren. Dann habe ich angefangen zu rechnen: Selbst wenn die dritte Person eine zu schützende Person gewesen sein sollte, dann waren garantiert zwei vom Personenschutz mit dabei. Es war jetzt völlig ausgeschlossen, dass Tino nicht in irgendeiner Weise in die Sache verwickelt war. Mehr noch: Ich war überzeugt, dass Tino eines der Opfer sei.

Aber was konnte ich tun? Warten. Die Mail an Tino war abgeschickt. Selbst wenn ihm nichts passiert war, würde die Antwort bis zum Abend dauern. Damals rauchte ich noch. Ich zündete mir eine Zigarette nach der anderen an und musste immer auf den Balkon, weil wir im Büro nicht rauchen durften. Die Kollegen fragten, was denn los wäre. Ich erzählte, dass ich jede Sekunde mit dem Anruf rechnen würde, dass es Tino erwischt hätte. Bis dahin wusste keiner meiner Kollegen, dass mein Freund im Einsatz war. Eine Kollegin meinte: »Da sind doch so viele Soldaten unten, da wird Tino schon nicht dabei sein.«

Diese Ungewissheit. Als ich den Fernseher im Büro anschalte, kommen schon die ersten Bilder – fast in Echtzeit, wie man meint. In Kabul dreht ein Kamerateam der britischen Nachrichtenagentur Associated Press Bilder von der Route Violet, als nur 200 Meter entfernt die Bombe explodiert. Vom Dach einer Werkstatt aus liefern sie wacklige, grobkörnige Bilder von einem Soldaten, der schwer verletzt am Vorderreifen eines zerstörten Militärfahrzeugs sitzt, man sieht ein brennendes Autowrack in einem Trümmerfeld, noch mehr Verletzte, Schaulustige und herbeieilende Soldaten und Löschmannschaften … Im Camp Warehouse hat das Oberkommando den Code »Blaulicht Charlie« ausgegeben, den in der Bundeswehr üblichen Alarm für einen medizinischen Notfall mit Bundeswehrangehörigen. Patrouillen und Ärzte sind unterwegs zum Anschlagsort.

Während ich in Murnau fassungslos die Berichte im Fernsehen verfolge, erreicht die Nachricht vom Anschlag an diesem 14. Novemer 2005 auch die Bundesregierung und ihre Politiker. In Karlsruhe eilt Verteidigungsminister Peter Struck vor die Kameras. Er ist dort auf dem SPD-Parteitag, wo die Partei über den neuen Koalitionsvertrag mit der Union abstimmen soll. Die SPD hat die Bundestagswahl verloren: Ein Machtwechsel, der Brioni-Mann geht, Angela Merkel wird Kanzlerin, und in der kommenden Woche soll auch Struck sein Amt an den designierten Verteidigungsminister Dr. Franz Josef Jung von der CDU übergeben. Ein bitterer Abschied für Peter Struck, der in seinen letzten fünf Amtstagen noch einmal vor die Angehörigen toter und verletzter Soldaten treten muss. Erst sechs Wochen zuvor hatte Struck die Ausweitung des ISAF-Mandats mit großer Mehrheit durch den Bundestag gebracht und die Anzahl der deutschen Soldaten auf 3000 erhöht. Struck wirkt deutlich betroffen, als er in die Kameras spricht: »Wir haben heute einen Soldaten verloren. In Kabul. In Afghanistan. Es war ein Angehöriger der Feldjäger, der bei diesem Selbstmordattentat auf dieses Feldjägerfahrzeug ums Leben gekommen ist. Außerdem ist ein Soldat schwer verletzt worden bei diesem Selbstmordattentat. Ein anderer leicht verletzt. Und es gibt auch Verletzte im Bereich der afghanischen Bevölkerung.« Einen Grund, der Gewalt nachzugeben und die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen, sieht Struck nicht, im Gegenteil: »Dieser Anschlag ist ein Beweis dafür, dass wir keine stabile und keine ruhige Lage, selbst nicht in der Hauptstadt Afghanistans haben. Und ein Beweis dafür, dass wir eine Präsenz der internationalen Truppe dort auch brauchen.« Mit diesem Anschlag, so der Nachrichtensprecher, wären seit Beginn des Auslandseinsatzes der Bundeswehr in Afghanistan im Dezember 2001 bereits 18 Soldaten »ums Leben gekommen«. Der Nachrichtensprecher sagt nicht »gefallen« denn nach offizieller Lesart herrscht kein Krieg in Afghanistan.

Strucks designierter Nachfolger Dr. Franz Josef Jung bereitet sich zu gleicher Zeit im Verteidigungsministerium auf die Amtsübernahme vor und meldet sich von dort: »Ich stehe in der Kontinuität und ich denke, dass wir diese Verantwortung wahrzunehmen haben, weil wir hier eine internationale Vereinbarung erfüllen und eine friedenssichernde Funktion wahrnehmen. Und trotzdem muss so ein heimtückischer terroristischer Anschlag mit aller Schärfe verurteilt werden, und deshalb gehören unsere Anteilnahme und unser Mitgefühl jetzt den Angehörigen und Familien der verletzten und getöteten Soldaten. «

In Berlin gibt der noch amtierende Außenminister Joschka Fischer die Marschrichtung aus, dass trotz aller Trauer der Einsatz weitergehen muss: »Ich bin entsetzt und erschüttert über den heutigen Anschlag in Kabul. Die Bundesregierung verurteilt diesen Anschlag auf das Schärfste. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Ihnen gilt unser tiefes Mitgefühl, den Verletzten wünschen wir baldige und vollständige Genesung. Der heutige Anschlag macht deutlich, dass der Kampf um Stabilität und Sicherheit in Afghanistan noch nicht gewonnen ist. Ziel der Terroristen, die dieses Attentat verübt haben, ist es, den Wiederaufbau- und Demokratisierungsprozess zu sabotieren, der mit dem Abschluss der ersten freien Parlamentswahlen einen weiteren ganz wichtigen Schritt vorangebracht wurde. Dieses Kalkül wird nicht aufgehen. Afghanistan kann auch in Zukunft auf die Unterstützung der Bundesrepublik zählen.«

Eine Ahnung wird zur Gewissheit

Ich denke noch darüber nach, was diese ganzen Politikerworte für mich und Tino zu bedeuten haben, als mein Handy klingelt: »Hallo, hier ist der Paketdienst. Wir haben eine Zustellung, Ihre Anschrift ist leider unleserlich geworden – können Sie uns bitte noch mal Ihre genaue Adresse nennen?« Ich habe mich noch gewundert, woher ein Paketdienst meine Handynummer hat. Erst später sagen sie es mir: Es sind Tinos Kameraden aus Murnau, die mich dringend suchen Sie wollen helfen. Sie wollen zu mir, um in meiner Nähe zu sein, wenn sie mir sagen, dass Tino schwer verletzt ist. Es gibt für diese Ereignisse die Anweisung, dass den Angehörigen die Nachricht persönlich überbracht wird, zu zweit, und nie am Telefon.

Ich werde immer nervöser, an Arbeiten ist nicht mehr zu denken. Ich will meinem Chef sagen, dass ich nach Hause fahre – aber er lehnt ab. Er ist seltsam ruhig und bittet mich, noch ein paar Korrekturen auszuführen, bevor ich gehe. Sobald ich fertig bin, gibt er mir weitere kleine Aufträge. Leicht zu erledigen – aber es würde Zeit brauchen. Mein Chef weiß da bereits Bescheid. Die Feldjäger haben ihn angerufen, er solle mich unbedingt im Büro halten.

Ich ahne, dass etwas auf mich zukommt. Unruhig beginne ich meinen Schreibtisch aufzuräumen, den Computer abzuschalten, die Ablage zu sortieren. Ich trage schmutzige Kaffeetassen in die Küche, rauche mit tiefen Zügen meine nächste Zigarette. Es ist wie vor einem langen Urlaub oder nach einer Kündigung, wenn man für die, die bleiben, alles Wichtige geordnet hinterlassen möchte. Als ich fertig bin, will ich bei meinem Chef eine regelrechte Übergabe machen und mich verabschieden. Ich bin entschlossen zu gehen und sicher, dass ich längere Zeit nicht mehr in die Agentur kommen werde, falls eintritt, was ich befürchte. Ich will gerade eintreten, als ich hinter seiner halb geöffneten Bürotür zwei Feldjäger stehen sehe, einer von ihnen ist Tinos Bataillonskommandeur. Wie vor den Kopf gestoßen gehe ich die Treppe rückwärts wieder hinunter in mein Büro, Schritt für Schritt, die Hand am kalten Geländer. Gedanken schießen mir durch den Kopf: »O nein – jetzt ist es wirklich wahr. Hoffentlich ist Tino nicht tot. Tino!« Wenn die Feldjäger persönlich an meinen Arbeitsplatz kommen, dann sieht es nicht gut aus. Ich verliere sprichwörtlich den Boden unter den Füßen und brauche einen Moment, um mich wieder zu fassen. Die Korrekturen drücke ich wortlos einem Kollegen in die Hand, dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und gehe ins Büro vom Chef. Der nimmt mich wortlos in den Arm. Ich erinnere mich, wie ich gezittert habe voller Bangen und mir dauernd sagte: Haltung bewahren, Antje!

Ich reiße mich zusammen, begrüße die Soldaten, als wären sie Kunden der Werbeagentur, und bitte sie in unser Besprechungszimmer. Die Männer folgen mir einigermaßen fassungslos. Ich frage sogar noch: »Kann ich Ihnen Kaffee bringen? « Ich würde das Spielchen gerne noch weitermachen, nur um einen Aufschub zu bekommen. Ich will die Wahrheit gar nicht hören – es ist wie bei einem kleinen Mädchen, das sich die Hand vor die Augen hält, in der festen Überzeugung, auch nicht gesehen zu werden, wenn es selbst nichts sieht. Ich habe ganz einfach Angst. Die Soldaten lehnen ab, es gehe jetzt um mich – der Kaffee sei nicht wichtig. Ich bitte meinen Chef, eine rauchen zu dürfen. Eine Zigarette, das ist ein weiterer Zeitaufschub, und ich brauche das in dieser Sekunde.

Doch dann gibt es nichts mehr zum Aufschieben. Die Soldaten sagen: »Tino ist betroffen. Aber er ist nicht der Tote. Wir wissen nicht, ob er der Schwer- oder der Leichtverletzte ist. Wir warten auf Meldungen aus Kabul über das Einsatzkräfteführungskommando in Potsdam.« Der zweite Verletzte, das wissen die Soldaten, ist Stefan Deuschl. Ich denke an Stefans Familie in Garmisch-Partenkirchen, an seine Frau Violetta und seine beiden Söhne Robin und Henry. Ich denke daran, dass jetzt Tinos und Stefans Kameraden an der Tür klingeln, um seiner Frau Violetta die Nachricht zu überbringen.

Schlimme Neuigkeiten für Violetta

Vio hat mir später erzählt, wie die Nachricht zu ihr durchdrang, die unser Leben verändern würde: »Das erste Mal habe ich um 12 Uhr 45 gehört, dass etwas passiert sein könnte. Ich war gerade bei den Eltern von Stefan, die ich jeden Tag besucht habe, bevor ich zu Hause das Mittagessen für die Kinder gemacht habe. Meine Chefin hatte in den Nachrichten von dem Anschlag gehört; sie rief mich an und fragte, wo Stefan genau im Einsatz sei. Ich hatte in Erinnerung, dass Stefan eine Patrouillenfahrt nach Kunduz geplant hatte. Afghanistan ist groß. Kabul ist eine Millionenstadt. Ich sagte völlig arglos: ›Der ist unterwegs, ich weiß auch nicht genau, wo die gerade sind – warum fragst du?‹ Sie antwortete: ›Ach, nix weiter, ich habe da nur gerade was im Radio gehört.‹ Ich sagte: ›Ich skype heute Nachmittag mit Stefan, ich geb dir dann Bescheid!‹ Für mich war immer noch alles in bester Ordnung, es erschien mir so unwirklich, dass ich es nicht an mich herangelassen habe.

Um 14 Uhr die nächste Erschütterung. Ich stehe in der Küche und bereite gerade das Essen vor, und wieder die Eilmeldung zu dem Anschlag in Kabul. Jetzt erst erfasst mich eine Unruhe, dieselbe Unruhe, die ich damals gespürt hatte, als sich Stefan von uns in den Einsatz verabschiedet hatte. Ich hatte zum ersten Mal Angst, ohne sagen zu können, was anders gewesen war als bei den drei vorausgegangenen Einsätzen. Stefan hat immer gesagt: ›Wenn mal was ist – die Nerven behalten und zuerst in der Dienststelle anrufen: Die wissen am schnellsten Bescheid und werden dir helfen.‹ Wir waren gut mit dem Kompaniefeldwebel Markus Eng und seiner Familie befreundet. Seine und unsere Kinder sind gemeinsam zur Schule gegangen, zum Eishockeytraining und haben auch sonst viel zusammen gemacht. Als ich anrufe, ist Markus Eng nicht an seinem Schreibtisch, sondern sein Stellvertreter, den ich auch gut kannte. Er wusste sofort, worum es geht, hatte aber auch keine näheren Informationen, denn es herrschte Nachrichtensperre. Ich lauschte dem Tut-Tut-Tut des Telefons nach. Wenn in Afghanistan Nachrichtensperre verhängt wird, das wusste ich von Stefan, muss etwas sehr Ernstes passiert sein. Ich habe mir gesagt: Na, jetzt mal ruhig Blut, nicht den Kopf verlieren. Vielleicht betrifft es uns ja gar nicht. Also wieder umschalten auf Routine, dem normalen Tagesablauf weiter folgen: Essen kochen und Robin und Henry zum Eishockeytraining ins Eissportstadion fahren. «