Wohin mit dem Kreuz? - Matthias C. Wolff - E-Book

Wohin mit dem Kreuz? E-Book

Matthias C. Wolff

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Beschreibung

Die Vermittlung der Kreuzesbotschaft als Sühneort für Sünden wird in der heutigen Zeit zunehmend problematisch gesehen. Die Schwierigkeit besteht darin, in der Verkündigung einerseits den liebenden und verge- benden Gott in den Mittelpunkt zu stellen, andererseits aber zu betonen, dass dafür ein blutiges Opfer notwendig war. Ist Gott nun ein strenger, unerbittlicher Richter oder ist er unser liebender Vater? Beides zugleich scheint in der heutigen Zeit kaum mehr vermittelbar. Eine Möglichkeit ist, das Sühnemotiv des Kreuzes lediglich als zeitgenössische Metapher zu verstehen, die heute anders interpretiert werden muss. Aber stimmt das mit den Aussagen in der Bibel überein? Im vorliegenden Band untersuchen die Autoren die Bedeutung des Kreuzes sowohl exegetisch, wie soziologisch als auch missiologisch und kommen zu dem Schluss, dass die Versöhnungslehre der Schrift eine zeitlose Botschaft ist. Dieser tragende Grundgedanke entlastet aber nicht davon, immer wieder nach einer Sprache zu suchen, in der die Botschaft vom Kreuz auch heute noch verstanden wird. Hinweis: Diese Veröffentlichung enthält die Beiträge zum theologischen Studientag des BFP 2024

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Theologie heute

Pfingstkirchliche Beiträge zur Theologie

2024 • Band 5

Wohin mit dem Kreuz?

Die Bedeutung von Schuld und Sünde für die Evangeliumsverkündigung heute

Mit Beiträgen vonMatthias C. Wolff, Marc Strunk und Dr. Helene Wuhrer

Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden

 

Herausgegeben im Auftrag des Theologischen Ausschussses des

Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR (TA).

Verantwortlicher Leiter des TA ist Dr. Bernhard Olpen, Düsseldorf.

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2024 Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen

 

 

Abkürzungen von Reihen u. Ä. orientieren sich an: Redaktion der RGG4 (Hg.): Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG4. Tübingen: Mohr Siebeck. 2007. 

 

Bibelstellen sind, wenn nicht anders angegeben, der Revidierten Elberfelder Bibel, © 1985/1991/2006 SCM R. Brockhaus, Witten, entnommen.

 

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen in Form von Kopien einzelner Seiten oder Ausdrucken einzelner Abschnitte (digitale Version) sind nur für den privaten Gebrauch bzw. innerhalb einer Ortsgemeinde gestattet. Alle anderen Formen der Vervielfältigung (Mikrofilm, andere Verfahren oder die Verarbeitung durch elektronische Systeme) sind ohne schriftliche Einwilligung durch das Forum Theologie & Gemeinde nicht gestattet. 

 

 

 

Layout u. Umschlaggestaltung: admida-Verlagsservice, Erzhausen

Umschlagbild: mauro mora on unsplash.com

Realisierung E-Book: admida-Verlagsservice, Erzhausen

Druck: Winterwork, Borsdorf

 

ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-42-7

ISBN E-Book: 978-3-942001-43-4

Bestell-Nr. Th005

 

Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

Industriestr. 6–8, 64390 Erzhausen

[email protected] • www.forum-thg.de

 

Inhalt

Vorwort

A Anfragen an Kreuz und Sühne

Matthias C. Wolff, M. Th.

I Warum dieses Thema?

II Was genau ist der Streitpunkt?

III Welche Vorwürfe werden den Eckpunkten der klassischen Versöhnungslehre entgegengebracht?

IV Welche alternativen Deutungen des Kreuzes werden vorgeschlagen?

V Was ist für das biblische Versöhnungsverständnis festzuhalten?

B Versöhnung durch Jesus Christus

Marc Strunk, M. Th.

I Einleitung

II Versöhnungstheorien in der Theologiegeschichte

III Die Antwort Gottes auf die Folgen des Sündenfalls

IV Der Opferritus im Zusammenspiel von Glauben und Gehorsam

V Das Sühnemotiv im Neuen Testament

VI Der Tod Jesu und seine Konsequenzen

VII Fazit

C Auf dem Weg zu einer Schamkultur?

Matthias C. Wolff, M. Th.

I Scham- und Schuldkultur – Was ist das? – Definitionen, Historie, Beispiele

II Kulturelle Trends – Sind wir unterwegs zu einer Schamkultur?

III Gesellschaftlicher Wandel – Welche Zukunft hat das Christentum?

IV Pfingstliche Traditionen – Welche Prägungen dominieren?

V Theologische Herausforderungen – Passt das „Wort vom Kreuz“ noch?

D Kultursensible Verkündigung der Botschaft vom Kreuz

Dr. Helene Wuhrer

I Unser Auftrag: Vom Kreuz reden – und das verständlich!

II Immer wieder anders vom Kreuz reden

III Anknüpfungspunkte für das Evangelium

IV Die Rolle des Heiligen Geistes

V Biblische Vielfalt statt simpler Formeln

VI Über Sünde und Erlösungsbedürftigkeit reden

VII Den Grundgedanken von Sühne in der heutigen Kultur verkündigen

VIII Bei existentiellen Sehnsüchten beginnen

IX Verkündigung nicht nur von der Kanzel

Anhang

Die Predigt vom Kreuz – Handreichung des Präsidiums des BFP zur Bedeutung von Schuld und Sünde für die Evangeliumsverkündigung heute – September 2023

Weitere Veröffentlichungen im Forum Theologie & Gemeinde

 

Vorwort

Die Vermittlung der Kreuzesbotschaft als Sühneort für unsere Sünden wird heute von manchen Kirchen als zunehmend schwierig empfunden. Wie lässt sich die Botschaft eines liebenden Gottes mit der Notwendigkeit eines blutigen Opfers vereinbaren? Handelt es sich beim Sühnemotiv des Kreuzes lediglich um eine zeitgenössische Metaphorik, die heute anders ausgedrückt und interpretiert werden muss, um sie verständlich zu machen? Oder ist das Kreuz lediglich, wie schon zu Paulus’ Zeiten, ein Stein des Anstoßes, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit (1Kor 1,23)? Muss man es auch einem postmodernen und aufgeklärten Publikum zumuten, um den Kern der biblischen Versöhnungsbotschaft nicht zu verlieren?

Der vorliegende Band geht der Frage nach der Bedeutung des Kreuzes exegetisch, soziolologisch und missiologisch nach. Die Beiträge sind von dem grundlegenden Gedanken geprägt, dass es sich bei der Versöhnungslehre der Schrift um eine zeitlose Botschaft handelt, die freilich in den jeweiligen kulturellen Kontext eingetragen werden muss, ohne dabei jedoch die unvermeidliche Schroffheit von Kreuz, Sühne und Versöhnung zu verleugnen.

 

Dr. Bernhard Olpen

Leiter des Theologischen Ausschusses

 

A Anfragen an Kreuz und Sühne

Matthias C. Wolff, M. Th.

Das Kreuz ist das zentrale Symbol des Christentums. In ihm konzentriert sich buchstäblich das Heilsgeschehen, in dem sich Gott in Christus der Welt zuwendet und ihre Erlösung bewirkt. Unter „Kreuz“ in diesem Zusammenhang verstehen wir den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi und den Ereignisverbund von Kenosis, Inkarnation, Thanatos und Anastasis (Erniedrigung, Menschwerdung, Tod und Auferstehung; Phil 2,5-11).

Das „Wort vom Kreuz“ steht von Anfang an im Mittelpunkt der christlichen Verkündigung. Es hat einige Jahrhunderte gedauert, bis sich das Kreuz als Symbol oder Kunstgegenstand herauskristallisiert hatte. Sehr alte frühchristliche Darstellungen zeigen den Fisch, den guten Hirten oder XP, die griechischen Buchstaben „chi“ und „rho“ als Abkürzung für „Christos“. Im Zuge der Hellenisierung des Christentums in den ersten Jahrhunderten standen zunächst andere theologische Themen wie Trinität oder der Logosbegriff im Vordergrund.

„Alexamenos betet seinen Gott an.“

Das allererste bekannte Kruzifix ist eine eselköpfige Spottzeichnung in den Steinen einer Kaserne in Rom, mit der Legionäre um 200 n. Chr. anscheinend einen Kameraden verhöhnten, der Christ war. Die bildliche Darstellung des Kreuzes oder gar des Gekreuzigten, insbesondere die Entdeckung des Kreuzes als Kunstobjekt scheint sich erst nach der Abschaffung der Kreuzigung 320 als Todesstrafe durch Konstantin im Westen des Römischen Reiches verbreitet zu haben, als es niemanden mehr gab, der je eine Kreuzigung erlebt hatte. Erst 431, auf dem Konzil zu Ephesus, wurde das Kreuz offiziell als christliches Symbol anerkannt.

I Warum dieses Thema?

Das Kreuz – Tod und Auferstehung Christi – ist nach biblischer Darstellung Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte. Es steht nicht nur im Zentrum christlicher Verkündigung, sondern ist auch weltgeschichtliche Zeitenwende mit ewiger und kosmischer Bedeutung, wofür die Einteilung der Geschichte in eine Zeit vor Christus und nach Christus fast noch das geringste, wenngleich auch ein symbolträchtiges Zeichen ist. Die Dimension dieses Geschehens gedanklich und sprachlich zu erfassen, ist selbst für die inspirierten Verfasser der Heiligen Schrift eine Herausforderung, der sie sich in verschiedenen Bildern nähern. Keines dieser Bilder kann dabei die ganze Breite und Gedankentiefe des Erlösungswerkes ausloten, und manche Konnotationen des einen oder anderen Bildes können isoliert betrachtet sogar zu Missverständnissen führen. Doch in der Gesamtheit des biblischen Zeugnisses entsteht ein Panorama, das Gottes Handeln mit den Menschen verdeutlicht und zeigt, wie sehr ihm an einer Wiederherstellung der Beziehung gelegen ist. Es wird aber kaum möglich sein, ein Gesamtbild zu zeichnen, das jedes Detail klärt, alle Spannungen ausbügelt und jede Unklarheit beseitigt.

Der biblische Opfer- oder Sühnegedanke sei nun heute nicht mehr zu vermitteln, hört man vermehrt. Vor allem die Vorstellung eines zornigen Gottes, der eines blutigen Opfers bedürfe, passe weder in unsere Zeit noch zu dem Bild eines liebenden Gottes, das im Neuen Testament gezeichnet werde. Anstößig ist dabei sowohl der Gedanke, dass ich – der einzelne – einen Stellvertreter brauche, um nicht an meiner Sünde zugrunde zu gehen, als auch die Vorstellung eines Gottes, der überhaupt eines derartig brutalen Opfers bedürfe und diese Grausamkeit auch noch an seinem eigenen Sohne vollziehe. Muss diese Kritik zu einer Neuinterpretation des Kreuzes führen, um dem Menschen von heute das Heilsgeschehen angemessen erklären zu können? 

Dass die Botschaft vom Kreuz anstößig ist und auf Ablehnung stößt, ist eine Beobachtung, die schon Paulus machen musste (1Kor 1,23-24). Nicht erst dem heutigen Leser ist die Vorstellung, der Foltertod eines galiläischen Bauarbeiters im ersten Jahrhundert habe etwas mit seinem Leben zu tun, könne ihn „retten“, ja, könne gar die Welt mit all ihren Missständen „erlösen“, fremd. Erst recht im Zuge der zunehmenden Säkularisierung in unserer Kultur ist die Rede vom Kreuzestod Christi als stellvertretendem Sühneopfer zunehmend missverständlich und fragwürdig geworden. Dabei denken wir nicht nur an Fußballvereine, die aus Liebe zu ihren arabischen Sponsoren das Kreuz aus ihren Wappen entfernen1 oder an Tourismusagenturen, die in Erwartung muslimischer Gäste Gipfelkreuze aus ihren Bildbroschüren wegretuschieren2.

Auch in der christlichen Theologie wird die Rede vom Kreuz umgedeutet oder in ihren klassischen Deutungen abgelehnt.

II Was genau ist der Streitpunkt?

Das Kreuz war schon immer Gegenstand von Diskussionen und Kontroversen und hat auch nach Jahrhunderten nichts von seiner Irritationskraft eingebüßt. Selbst in der Vergangenheit gab es nicht das Versöhnungsverständnis – genausowenig wie es den den heutigen Menschen gibt, für den diese Vorstellung nicht mehr akzeptabel sei. Es lassen sich aber einige theologische Grundkonstanten festhalten, die das Versöhnungsverständnis über die Jahrhunderte geprägt haben, und zwar konfessionsübergreifend in katholischen und reformierten Kirchen.

Zu nennen sind hier:

• Die Erlösungsnotwendigkeit des Menschen, die Gefallenheit der Schöpfung, die Sündenverderbtheit der ganzen Menschheit. Hier wird besonders auf die augustinische Erbsündenlehre zurückgegriffen.

• Die Vorstellung eines gerechten und heiligen Gottes, dessen berechtigter Zorn durch ein Opfer abgewendet werden müsse. Hier wirkt v.  a. die Satisfaktionslehre Anselm von Canterburys nach.

• Die Stellvertretung Jesu Christi, der pro nobis starb (Röm 5,6,8,32; Eph 5,2; 1Tim 5,10; Tit 2,14; 1Petr 3,18; vgl. Mk 14,24), wobei das „für uns“ sowohl „zu unseren Gunsten“ als auch – noch stärker – „an unserer Stelle“ bedeutet. „Das Bekenntnis, dass Christus für uns und unsere Sünden gestorben ist, findet sich in Schrift und Tradition, es ist im liturgischen Gebet der Kirche präsent und bildet eine ökumenische Brücke zur reformatorischen Tradition“, fasst der katholische Theologe Jan-Heiner Tück zusammen.3

Selbstverständlich bilden diese Eckpunkte nicht die Breite der kirchen­historischen Versöhnungsverständnisse ab. Doch sie zeigen Kernaspekte, die sowohl in katholischen als auch in evangelischen, evangelikalen und pentekostalen Traditionen eine Rolle spielen, weswegen sich – der Einfachheit halber – von „klassischer Versöhnungslehre“ sprechen lässt. Die Eckpunkte drücken auch das aus, worauf sich die Kritik heutzutage konzentriert.

III Welche Vorwürfe werden den Eckpunkten der klassischen Versöhnungslehre entgegengebracht?

1 Ich bin kein Sünder!

Die Erlösungsbedürftigkeit wird in Frage gestellt, weniger die unserer Welt, als die des Einzelnen; vor allem die augustinische Erbsündenlehre steht in der Kritik. Dass mit der Menschheit und ihrem Zusammenleben auf diesem Planeten nicht alles in Ordnung ist, wird nicht bestritten. Diesen Umstand aber auf einen Sündenfall zurückzuführen, mit dem eine goldene Urzeit geendet habe, und seit dem eine – sexuell übertragene – Erbsünde für Schuld und Knechtung aller nachfolgenden Individuen und Generationen sorge, wird sowohl mit theologischen als auch mit evolutionshistorischen Begründungen abgelehnt.4 Zudem hat sich mit der Ausbreitung des Humanismus und dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung ein neues Bild vom Menschen durchgesetzt, das eine generelle Disposition zum Bösen zurückweist. Das hatte auch Auswirkungen auf das Versöhnungsverständnis.

Pädagogische Begriffe, die Jesus als Erzieher, Lehrer und moralisches Beispiel würdigen, wurden im Zeitalter der Vernunftreligion und der ethischen Selbstvervollkommnung bevorzugt. Auch heute gibt es Stimmen, die in der Preisgabe von Begriffen wie „Sühne“, „Opfer“ und „Genugtuung“ einen theologischen Freiheits- und Humanitätsgewinn sehen.5

2 Gott braucht kein blutiges Opfer!

Die Vorstellung eines gerechten und heiligen Gottes, dessen berechtigter Zorn durch ein Opfer abgewendet werden müsse, gilt als unvereinbar mit dem Gott der Liebe, der sich in Christus offenbart.

Die Ablehnung erfolgt nicht nur mit Blick auf humanistische Ideale, sondern auch mit Verweis auf die Bibel. Ist Gott etwa sadistisch? Mit dem Bild eines liebenden und gnädigen Gottes lasse sich diese Theologie nicht mehr vereinbaren. Magnus Striet schreibt:

Wenn Gewalt abzulehnen ist, unbedingt, so darf auch Gott sie höchstens tolerieren, und auch dann noch wäre nach den Gründen zu fragen, die dies akzeptabel machen.6

Noch deutlicher wird Karl-Heinz Menke:

Gänzlich und endgültig zu verabschieden ist die unselige Vorstellung, Gott, der Vater habe gleichsam vom Himmel her zugeschaut, wie sein Sohn im Ereignis der Inkarnation auf die Seite der Menschen getreten ist und ersatzweise die Sünden der Brüder und Schwestern am Kreuz gesühnt hat (Satisfaktionstheorie) […] Wer es für möglich hält, dass der Vater den Kreuzestod seines Sohnes als Ausgleich (Satisfaktion) für die Sünde seit Adam wollte; und er außerdem für möglich hält, dass der Vater den unschuldigen Sohn ersatzweise für die Sünden sterben ließ, obwohl er dies hätte verhindern können, der vertritt nicht nur eine antibiblische Theologie, sondern auch eine theologische Rechtfertigung von Gewalt.7

Hier wird nicht nur eine zeitbedingte Schwierigkeit in Anschlag gebracht, die es unmöglich mache, mit der klassischen Versöhnungslehre auf Verständnis zu stoßen; vielmehr wird das gesamte Opfermotiv des Kreuzes rundweg als wesensfremd und dem Charakter Gottes widersprechend eingeordnet.

3 Ich brauche keinen Stellvertreter!

Es gelte die sittliche Unvertretbarkeit des Individuums. In Fragen der Moral könne es keine Stellvertretung geben, war Immanuel Kant überzeugt; niemand könne die moralische Schuld eines anderen übernehmen.

Es wird somit nicht nur das Sündersein des Menschen und seine Erlösungsbedürftigkeit abgelehnt, sondern auch ein funktionales Gegenargument in Anwendung gebracht: Schuld kann nicht auf jemand anderes übertragen werden.

4 Jesus verkündigte das angebrochene Gottesreich!

Die Theologiegeschichte habe eine „staurozentrische Engführung“8 hervorgebracht, die Leben und Lehre Jesu zugunsten seines Todes und dessen Deutung verdrängt habe.9 Auch werde dadurch die Botschaft Jesu von der befreienden Gottesherrschaft verdunkelt.10 Jesus habe die Menschen zur Umkehr aufgerufen und das Reich Gottes nicht als zukünftig, sondern als bereits begonnen verkündigt. Im Mittelpunkt seines Dienstes haben die Linderung des Leides und die Aufforderung zur Lebenswende gestanden. Eine soteriologische Bedeutung habe er seinem Tode nicht beigemessen; die wenigen Anspielungen in den Evangelien seien als nachträgliche Zuschreibungen und Gemeindebildungen zu deuten. Jesus habe die Menschen zum neuen Handeln aufgerufen.

Diese kurze Übersicht wird nicht als vollständige Aufzählung zeitgenössischer Deutungen des Kreuzes gelten dürfen. Es handelt sich aber um wesentliche Kritikpunkte, die im Zuge dieser Untersuchung behandelt werden sollen.

IV Welche alternativen Deutungen des Kreuzes werden vorgeschlagen?

Genauso wie es schwierig ist, das klassische Versöhnungsverständnis zu definieren, ist es auch unmöglich, dem das moderne Versöhnungsverständnis entgegenzuhalten. Gerade in konservativeren Kirchen und Konfessionen, die weltweit gesehen – das wird gerade von liberaleren Theologen gerne übersehen, wenn sie davon reden, was man heute noch oder nicht mehr sagen könne! – in der Überzahl sind, werden die klassischen Elemente keineswegs abgelehnt. Und wenn ein Theologe neue Deutungen des Kreuzes vorschlägt, heißt das noch lange nicht, dass er damit jedes Element eines klassischen Versöhnungsverständnisses verwirft. Überhaupt ist es zu begrüßen und einfach notwendig, über Theologie immer wieder neu zu reflektieren und die biblischen Wahrheiten in einer neuen Zeit für eine neue Generation neu zur Sprache zu bringen. Eine klare Grenzziehung oder Lagerzuweisung sollte also vermieden werden. Dennoch lassen sich alternative Deutungen des Kreuzes finden, die man anhand folgender Merkmale darstellen kann:

• Solidarisierung. Christus hat sich durch Inkarnation und Kenosis, durch seine Menschwerdung und den Tod am Kreuz, restlos mit den Menschen identifiziert und solidarisiert. In jedem Leid begegnet uns Jesus als der Bruder, der uns versteht und in dem Gott an unserer Seite ist. Es gehe weniger um Schuld und Sünde als um Solidarität und Hingabe aus Liebe.

• Selbstrechtfertigung Gottes. Gerade unter dem Stichwort „Theologie nach Auschwitz“ wird über die Frage nachgedacht, wie Gott das Leid der Welt zulassen könne, wie er – zugespitzt formuliert – uns überhaupt noch gegenüberzutreten wage, da er diese infernalischen Untaten nicht verhinderte. Daraus entwickelt sich der Gedanke, Gott müsse sich rechtfertigen für seine Untätigkeit, und so sei der Tod des Gottessohnes nicht Stellvertretung vor Gott für die Sünde der Menschen, (auch nicht nur Solidarisierung mit den Menschen in Not), sondern Stellvertretung und Sühnung Gottes vor den Menschen.

Gott leistet in der Menschwerdung die Satisfaktion für seine eigene Schöpfungstat, indem er sich als Sohn das zumutet, was er allen Menschen zumutet. Ein Leben, das nicht nur voller Schönheit und Lust sein kann, sondern auch ungeheure Abgründe bereithält. Wenn man so will, „sühnt“ Gott sein riskantes Schöpfungswerk, und er gibt zugleich Hoffnung auf Zukunft.11

Das hört sich fast so an, als müsse Gott sich schuldig fühlen für die Zumutungen und Probleme der menschlichen Existenz, wofür er den Menschen Sühne anbiete, indem er dieses Leiden teile.

Gott solidarisiert sich im Gottessohn dann auch mit den Menschen, die diese Sühne Gottes einklagen. So sühnt er als Menschensohn stellvertretend für des Schöpfers Rettungsverweigerung und Eschatologieverzögerung, insgesamt für das Zulassen dieser leidvollen Welt.12 

V Was ist für das biblische Versöhnungsverständnis festzuhalten?

Im Folgenden soll auf die Einwände eingegangen und festgehalten werden, was – bei aller Varianz und Aktualisierung – als Kernbestandteil eines biblischen Versöhnungsverständnisses gelten kann.

» Zu Vorwurf 1 – Ich bin kein Sünder!

Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert dominiert in Deutschland und im Westen ein positives Menschenbild mit einer optimistischen Anthropologie. Der Mensch sei eigentlich gut, durch Umstände und Erziehung verdorben, doch in der Lage, sein Schicksal und das der Welt zu verbessern. Dieser Optimismus hat durch die Kriege und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts Schaden genommen, dominiert aber immer noch das Denken und bringt bestsellerfähige Literatur hervor.13

Demgegenüber vertritt die Bibel, vor allem das Neue Testament, ein eher pessimistisches Menschenbild. Sie sieht den Einzelnen wie auch die Menschheit insgesamt unter dem Einfluss der Sünde, die – gerade bei Paulus – Züge einer personalen Großmacht annimmt. Die Bibel ist spannungsfrei in ihrer Behauptung der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, doch die Dramatik der Verlorenheit wird im Neuen Testament (v.  a. im Römerbrief) noch klarer. Das Erste Testament erweckt durchaus den Eindruck, als könne der Gerechte das Gesetz halten und den Willen Gottes tun (Ps 119). Es hat insofern – wie auch der vordamaszenische Paulus! – ein optimistischeres Menschenbild. Erst nach der Begegnung mit Jesus Christus spricht der Apostel Paulus von der totalen Sündenverderbtheit – ein gradueller, aber kein prinzipieller Unterschied zum Ersten Testament. Das hat unter christlichen Lesern mitunterzu dem Eindruck geführt, als hätten die Juden unter dem Gesetz gelitten, was sicherlich nicht stimmt.

Die totale Sündenverderbtheit des Menschen und seine Unfähigkeit, aus eigenem Vermögen gut zu werden und – nach dem Willen Gottes – das Richtige zu tun, war die Ausgangsbeobachtung der Reformation und der Hintergrund, vor dem das Geschenk der Rettung aus Gnade zu neuer Leuchtkraft gelangte. Insofern gilt zu zeigen, dass Gott keine zornige Kehrseite hat, sondern sein Zorn Ausdruck seiner Gerechtigkeit ist, die seine Liebe und Heiligkeit und die konsequente Ablehnung des Bösen widerspiegelt.

» Zu Vorwurf 2 – Gott braucht kein blutiges Opfer!

Die Notwendigkeit eines Opfers dieser Art bleibt auch dann schwer verständlich, wenn man Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit grundsätzlich bejaht und in seinem richtenden Eingreifen eine Notwendigkeit sieht, um dem Bösen entgegenzutreten. Entscheidend ist aber folgende Einsicht:

Im Kreuz tritt Jesus nicht als Verbündeter des Menschen in den Kampf mit Gott ein. Auf Golgatha bringt daher nicht der Mensch Gott ein Opfer, sondern „Gott selbst ist es, der die Gabe der Versöhnung gewährt“14, indem er sich selbst hingibt. Der religionsgeschichtlich weitverbreitete Gedanke einer menschlichen Opfer- oder Sühneleistung, mit der es gelte, die erzürnten Götter zu besänftigen und sich ihres zukünftigen Wohlwollens zu versichern, darf nicht ungefiltert in die biblische Opfersymbolik hineingetragen werden. Denn schon im Ersten Testament war es Gott selbst, der den Menschen im rituellen Verzug den Weg der Versöhnung gewiesen hat. So ist auch im mosaischen Gesetz die Gnade Gottes das Agens, um Versöhnung zwischen JHWH und dem Volk Israel herzustellen. Die Rituale des Ersten Testamentes sind eben nicht der menschliche Versuch, sich die Gottheit gewogen zu machen. Sie sind Ausdruck der Liebe und Barmherzigkeit Gottes, der im Akt der Berufung und Befreiung in Vorleistung für sein Volk getreten ist. Daher ist als wichtigstes Bedeutungselement des Kreuzes festzuhalten, dass sich Gott in Christus selbst opfert. Gott tritt der Menschheit also nicht als der Fordernde gegenüber, sondern er erfüllt die Forderungen, die ihm seine Gerechtigkeit und Heiligkeit stellen, selbst.

Eine generelle Ablehnung des Opfermotivs geht oft einher mit einer Bagatellisierung der Sünde und einer Vernachlässigung von Gottes Gerechtigkeit, die sich dem Bösen in der Welt entgegenstellt. So ist zeitgenössischem theologischen Denken ein Hang zu Allversöhnung eigen. Eine Populärtheologie, die in Gott ausschließlich den liebevollen Papa und in Jesus nur noch den kumpelhaften Bruder sieht und christliche Nachfolge vor allem unter dem Aspekt des schöneren Lebens betrachtet, kann mit einem Gott, der in seiner Gerechtigkeit auch Ansprüche an die Menschen und ihr Zusammenleben stellt, immer weniger anfangen. Insofern stellt sich die Frage „Wohin mit dem Kreuz?“ auch der postevangelikalen Herausforderung und dem nachchristlichen Zeitgeist.

Doch auch wenn sich die Notwendigkeit, dass Gott in seiner Gerechtigkeit das Böse verurteilen muss, dem zeitgenössischen Bewusstsein nur zögernd mitteilt, kann gerade hier ein Ansatzpunkt sein, die Notwendigkeit der Erlösung deutlich zu machen, denn die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist etwas, das viele Menschen bewegt. Die Entchristlichung der Gesellschaft hat keinesfalls zu einer ethischen Beliebigkeit geführt, zu keinem „Werteverfall“, sondern zu einem Wertewandel, in dem plötzlich andere Dinge wichtig sind. Nicht mehr die klassischen evangelikalen Topoi wie Drogen, Rauchen, Familie und Sex, sondern Themen wie Klima, Wirtschaftsordnung, Schuldenerlass oder Minderheitenschutz rücken in den Vordergrund. Dabei weiß man sich durchaus auf Jesus und die Bibel zu berufen. Die Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung kann daher ein guter Anknüpfungspunkt für die Darlegung der Notwendigkeit von Vergebung und Versöhnung sein.

» Zu Vorwurf 3 – Ich brauche keinen Stellvertreter!

Die Ablehnung des Stellvertretergedankens ist sicherlich mitunter von einem individuellen Autonomismus und humanistischem Hochmut gespeist. Wer will schon gerne von jemandem abhängig sein, gerade in derart existenziellen Fragen, und das in einer Welt, in der es schon verpönt ist, wenn nur ein Ehepartner arbeitet? Doch die von Immanuel Kant konstatierte moralische Unvertretbarkeit des Individuums ist keinesfalls nur eine philosophische Antithese zur Versöhnungstheologie, sondern Grundlage des gesamten Strafrechts. Wenn es auch in Extremsituationen immer wieder vorkommt, dass Menschen ihr Leben für andere einsetzen oder gar opfern, so ist doch der Gedanke, jemand könnte die Haftstrafe anstelle eines Straftäters verbüßen, gänzlich abwegig.

Doch ist der biblische Stellvertretergedanke keine magische Ersatzhandlung, sondern setzt die persönliche Umkehr und Reue voraus. „Die sittliche Unvertretbarkeit der Person wird in diesem Geschehen nicht verletzt, da der Vorgang an das Ja des Vertretenen gebunden bleibt,“ resümiert Jan-Heiner Tück.15 Es ist ja gerade die neutestamentliche Überzeugung, dass Christi Opfer zwar allen gilt, aber nicht automatisch für jeden wirkt. Vielmehr legt die Verkündigung der Apostel mit Nachdruck Wert auf Glauben und Umkehr, um der Vergebung und Versöhnung durch Jesus teilhaftig zu werden. Ohne einen sehr persönlichen und individuellen Vorgang kann niemand Christ werden. Der Stellvertretergedanke des Neuen Testamentes geht nie so weit, das persönliche Bekennen und Handeln des Menschen für entbehrlich zu halten. Die Entscheidung für Christus ist ein existenzieller Vorgang, der die ganze Person und ihre Lebensführung umfasst; nichts davon kann auf einen Stellvertreter abgewälzt werden. Das biblische Wort vom stellvertretenden Sühneopfer will sagen, dass Christus die letzte Konsequenz, die sich aus unserer Zielverfehlung und Gottesferne ergibt, nämlich den Tod, auf sich genommen hat. Damit wird uns Christen der ewige Tod, d. h. die ewige Trennung von Gott erspart. Christi Wirken am Kreuz bewirkt die kommende Auferstehung der Toten und damit den Sieg über den Tod. Dieses Geschenk seiner Gnade ist aber zustimmungsbedürftig und somit jedem Anruch einer magischen Ersatzhandlung enthoben.

» Zu Vorwurf 4 – Jesus verkündigte das angebrochene Gottesreich!

Im Unterschied zu den ersten drei Vorwürfen, die sich eindeutig in klaren Widerspruch zu Texten der Heiligen Schrift setzen, ist diesem Einwand zunächst nichts entgegenzusetzen. Jesus verkündigte das Gottesreich und legte in seinen Predigten wenig Wert auf die Deutung seines kommenden Todes. Doch die Sinngebung des Kreuzestodes ist keinesfalls ein späterer Eintrag, der irgendwann in der Kirchengeschichte erfolgt sei. Vielmehr steht das „Wort vom Kreuz“