Wolfspest - Hef Buthe - E-Book

Wolfspest E-Book

Hef Buthe

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Beschreibung

Der Journalist Peter Stösser bringt Wolfsfelle aus Sibirien mit und schleppt unwissentlich eine neue Art von Pest ein. Die Wolfspest war ein von russischen Labors in Sibirien entwickelter Kampfstoff, der im Kalten Krieg eine verheerende Seuche ausgelöst hätte. Die Forschungen wurden angeblich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingestellt und alle Bestände vernichtet. Aber wieso erkranken neuerdings Hunderte von Menschen in Europa an der Wolfspest? Welche Rolle spielt das menschliche Gendefekt "CCR5-Delta-32"? Kann man es finden und nachbauen? Es wäre die Sensation in der Medizin, weil es gegen alle Infektionen schützen könnte. Ein mörderischer Wettlauf rivalisierender Genlabore beginnt. Es gibt erste Tote in Köln. Niemand darf darüber berichten. Doch Peter Stösser recherchiert. Hartnäckig, wie immer.

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WOLFSPEST

Thriller

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Hrsg.: Ulla Buthe

Autor: Hef Buthe

Cover: Hef Buthe

© Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-024-4

MOBI ISBN 978-3-95865-025-1

 

www.hef-buthe.de

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

1 - Sibirien Januar 1976 – Die Jagd I

>>Halt die Schnauze, Peter Stösser! Und gib keinen Laut von dir. Da ist er.<<

Seit zwei Tagen und einer Nacht bei gefühlten 40 Grad Minus gab ich schon lange keinen Ton mehr von mir. Ich fror erbärmlich. Meine Zähne schlugen aufeinander. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Wilhelm hatte das alte Scharfschützengewehr aus dem Zweiten Weltkrieg mit Zielfernrohr im Anschlag und folgte seinem Opfer. Der Schuss fiel und hallte in den Wäldern um uns wider. Daneben.

Wilhelm lud gekonnt schnell durch, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan. Den Fausthandschuh von der Rechten hatte er ausgezogen und hielt ihn zwischen den Zähnen. Wir hatten mit dem Gewehr zwischen uns in einer Schneehöhle geschlafen. Es durfte nicht einfrieren. Ob wir erfroren, schien ihm egal zu sein. Wir wärmten uns gegenseitig mit einer Tötungswaffe zwischen uns. Ich verstand, warum das Gewehr die Braut des Soldaten war.

Er zielte neu. Dieses Mal überschlug sich das Opfer durch den Vorwärtstrieb der eigenen Wucht bei der Flucht.

>>Na endlich<<, stöhnte Wilhelm und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wie konnte ein Mensch bei dieser Kälte schwitzen?

>>Hast du noch einen?<<

Ja, ich hatte noch einen. Es war meine letzte Flasche Bourbon, die ich auf der Fahrt hierher gebracht hatte. Auf der Fahrt nach Hause. Von Saigon nach Moskau. Und von dort nach Frankfurt. So war es geplant. Aber, es schien, wie alles in meinem Leben, nicht zu funktionieren. Ich wurde mein Grundübel „Neugier“ einfach nicht los.

Einmal Journalist zu sein, ist wie ein Junkie ohne Selbsthilfegruppe, hatte mein Verleger gesagt. Das war Jahre her. Ich hatte ihn damals für verrückt erklärt, aber meinen Mund gehalten. Er bezahlte und ich wollte in die Welt hinaus. Mehr war nicht. Das war für mich ein Abkommen, mit dem ich leben konnte. Und das teilweise recht gut. Man traf in diesem Job die skurrilsten Menschen. Entweder man suchte nach ihnen, oder sie wurden von unserer Rasse der Desperados für die Meinungsbildung angezogen. Irgendwann entstand ein Automatismus, der nur aus zwei klaren und überschaubaren Fronten bestand: Ja oder Nein. Dazwischen war nur noch Bestechung und Korruption, um ans Ziel zu kommen. Wer was versuchte und damit Erfolg haben würde, das stellte sich erst bei der Endabrechnung heraus.

Würde es auch hier so sein? Es sah nicht so aus. Dafür war alles zu einfach. Zu durchschaubar. Außerdem hatte ich die Story nicht gesucht. Sie war mir zugelaufen wie ein hungriges Tier auf der Suche nach Nahrung. Nicht in der Lage Mülltonnen zu durchsuchen, weil es keinen Müll und somit auch keine Müllbehälter gab, und sie entwickelte ihr Eigenleben. Der Schwachpunkt war diesmal ... ich.

>>Meine Trefferquote lässt nach<<, murmelte Wilhelm und wischte sich die Eiskristalle aus dem Bart. Er stand auf und sah mich an. >>Hilfst du mir? Das war der erste für deinen Mantel. Wir brauchen noch sechs. Sonst kann Lisa nichts damit anfangen.<<

Warum war ich Idiot nur hier aus der Bahn gestiegen? Die Heimat nach sieben Jahren in greifbarer Nähe und inzwischen doch wieder so fern. Vielleicht wollte ich nicht nach Hause. Ich half Wilhelm das Opfer zu bergen. Es war ein schönes Opfer. Aber es musste weg, bevor es die untergeordneten Rassen als ihre Beute sahen.

In seiner Beurteilung behielt Wilhelm recht. Es war ein perfektes Fell. Braun-Grau mit weißem Unterhaar des dichten Winterbesatzes. Im Zweikampf ums Rudel hatte das Tier eine böse Bisswunde am rechten Hinterlauf erhalten. Alleine hätte er nicht länger überlebt. Es war ein Gnadenschuss gewesen. Angelockt vom Rest einer Ziege, die wir über Kilometer, nein, hier hieß es Werst, hergeschleppt hatten. Der Kadaver war tiefgefroren. Der Wolf hatte ihn dennoch gerochen und Wilhelm wusste das.

>>Und jetzt?<<

>>Was und jetzt?<<, maulte Wilhelm zurück. Mit den Hinterläufen hängte er das Tier an einer Birke auf und zog ihm das Fell ab.

>>Sollen wir hier jetzt noch ein paar Tage warten, bis du ein ganzes Wolfsrudel erlegt hast? Nur für einen blöden Mantel?<<

Wilhelm nickte. >>Was glaubst du, wovon wir hier leben? Ja. Ein toter Wolf zieht einen anderen an. So musst du sie nicht lange suchen. Sie kommen zu dir. So intelligent sind sie nicht, wie die Einheimischen sagen. Wer Hunger hat, kommt zur Beute. Da setzt auch beim Menschen der Verstand aus.<< Er zuckte mit den Schultern und trennte weiter das Fell vom Körper, bevor alles anfror. Dann trug er den Kadaver in Position. Genau in Schussweite außerhalb der Baumgrenze. Er justierte die Optik nach. Einen weiteren Fehlschuss wollte er sich nicht leisten und steckte die zwei leeren Patronenhülsen ein. >>Die kosten Geld<<, kommentierte er meinen fragenden Blick.

>>Schaufel die Blutspuren zu<<, verlangte er von mir und grub das Fell in den Schnee, bis nichts mehr davon sichtbar war.

>>Sie riechen es doch. Aber ein wenig Mühe sollen sie schon dabei haben. Sich möglichst viel bewegen.<< Er spannte die Fallen und legte sie um das vergrabene Fell so aus, dass sie nicht sichtbar waren. Dann bettete er die Eingeweide des Wolfes darüber. >>Mal sehen, was wir heute Nacht noch so alles fangen<<, grinste er zufrieden. >>Nur ein größeres Pelztier kann die Fallen auslösen. Auf die muss ich schon keine Kugel verschwenden. Geschäft ist Geschäft.<<

Er setzte sich auf einen gefallenen Baumstamm, drehte eine Papierossi und begutachtete zufrieden sein Werk.

>>Die Kunden in Moskau sind momentan unersättlich nach Fellen. Und die Viecher haben nun mal nur im Winter den besten Pelz. Mit einem räudigen Sommerfell brauchst du nicht zu kommen.<<

Er sah auf die Ebene hinaus. Das Tageslicht schwand langsam. Raubvögel machten sich über die nackte Leiche des Wolfes und der Köderziege her.

Wieder stand mir eine eisige Nacht bevor.

Wilhelm brach die saftlosen Äste der Bäume um uns ab und schichtete sie zu einem Lagerfeuer. Dazwischen streute er gemahlene Kohle. Darüber verteilte er trockene Birkenrinde und zündete alles an. Die Rinde brannte wie Zunder. Er setzte einen Topf ins Feuer, der schon einige offene Feuer überlebt haben musste. Die Außenseite war schwarz verkrustet. Dann füllte er ihn mit Schnee, bis genügend Wasser entstand. Es folgte Dörrfisch, der kurz mitkochte. Etwas, das wie ranziger Speck aussah, löste sich rasch zu einer Fettschicht auf.

>>Das ist das Unterhautfett von Bibern. Hält sich nur im Winter<<, erklärte er kurz und knapp. Ein paar gefrorene Kartoffeln. Fertig war das Essen. Die Blechbehälter wärmten die Hände. Der Geschmack war gewöhnungsbedürftig aber beruhigend. Wir schlürften die Suppe ohne ein Wort. Wie wir immer schwiegen, wenn keine direkte Frage im Raum stand, die Wilhelm nicht durch Kopfbewegungen beantworten konnte. Er redete nicht gerne. >>Warum gräbst du das Fell ein? Das klaut uns doch keiner mehr.<<

>>Um mögliche Pestträger im Fell zu töten. Frost mögen sie nicht.<<

>>Pestträger?<< Ich schluckte schneller.

Wilhelm nickte. >>Ja, jedes Pelztier hat Flöhe. Sie brauchen Körperwärme. Damit sichern sie sich ihr Überleben. Aber nicht jedem Tier sieht man an, wie viele es davon hat. Und einige davon sind Pestträger. Das ist nun mal in Sibirien so.<<

Das ist nun mal so in Sibirien ... wie er das sagte! Das schien hier Normalität zu sein. >>Du meinst ... die Pest gibt es noch bei euch?<<

Wilhelm blies die unrasierten Backen auf und lachte. >>Natürlich gibt es die Pest noch. Sie wird dann von den Pelztieren übertragen. Und was muss man dann sein? Vorsichtig.<< Sein Lachen war heiser. Von Wodka und Papierossis aufgeraut. Wie ein Wolf in höchstem Diskant heulen, konnte er bestimmt nicht mehr. >>Hält sich aber in Grenzen. Wir können damit umgehen. Ein paar hundert Unvorsichtige im Jahr. Mehr nicht. Ist was?<<

>>Nein nichts<<, schüttelte ich den Kopf. Ein paar hundert Pesttote. In Deutschland würden die Gesundheitsämter hohl drehen, wenn nur einer diagnostiziert wurde. Dann hatte die ältere Frau im Wolfsmantel auf der Fahrt gen Westen doch recht gehabt. Ich hatte das für eine Spinnerei gehalten und wechselte das Thema.

>>Immer noch ein Jäger? Ein Scharfschütze, der tut, was er gelernt hat?<<

Wilhelm nickte. Er war nicht einmal erstaunt über mein Wissen. >>Meine Frau redet mal wieder zuviel. Eines Tages werde ich ihr das Maul stopfen ... dieser ewigen Lehrerin. Sie bringt uns noch in Teufels Küche.<< Das Feuer drohte niederzubrennen. >>Ja. Da du es weißt. Aber weder die russischen Scharfschützen noch die Wölfe waren oder sind meine Feinde. Einmal habe ich verloren, meist die anderen. Ein Beruf wie jeder andere. Mehr nicht.<<

Irgendwo im Wald knallte es wie ein Schuss. Ich sah mich um und sah nichts. Wilhelm ließ sich nicht beirren. >>Bei der Kälte platzen die Bäume, wenn sie ihre Säfte nicht tief genug gespeichert haben<<, murmelte er mit der Zigarette im Mundwinkel und suchte weiter die Ebene durch das Zielfernrohr ab. >>Es sind alte Bäume, wie ich. Da weiß man auch nicht mehr wohin mit dem Saft. Meist ist er da, wo er nicht mehr hingehört.<<

Er nickte zufrieden, setzte die Waffe ab. >>Sie haben die Beute gerochen und warten nun ab. Aber ihr Hunger ist größer als ihr Instinkt. Sie werden sich im Rudel auf die Beute stürzen.<< Seine Mundwinkel zuckten nur ein wenig im letzten Flackern des Feuers. >>Vielleicht erspart uns das einige Nächte hier draußen. Wir müssen jetzt schlafen und vor ihnen wach sein. Dann ist der nächste fällig ...und ...<< Er zögerte und prüfte das Gewehr.

>>Was und?<<, hakte ich nach. Mir war nichts lieber, als aus dieser menschenfeindlichen Natur zu kommen. Ein Feuer. Ein Bett. Normales heißes Essen. Mehr wollte ich nicht.

>>Wenn sich das Rudel um die Beute streitet, kann ich sie alle erlegen. Ich muss nur schnell sein.<<

>>Und wenn nicht?<< gab ich zu bedenken und dachte an meine kalten Füße. Er zuckte kurz mit den Schultern. >>Dann haben wir Pech gehabt und müssen weiter auf Einzelgänger warten, oder ein anderes Rudel suchen gehen. Das kann dann ein paar Tage dauern. Vielleicht auch Wochen. Mal sehen.<< Er drückte die Kippe im Schnee aus. Das Feuer war erloschen.

>>Es riecht nach Schnee. Das ist nicht gut.<< Er schlüpfte in die gegrabene Schneehöhle und wickelte das Gewehr ein. Um nicht zu erfrieren, musste ich ihm folgen und mit unter die Fuchsdecke schlüpfen.

>>Halt ja dein Maul<<, wies er mich zurecht. >>Die Nacht hat ihre eigenen Geräusche und die vertragen keine Menschenlaute ... und wage es ja nicht zu schnarchen. Sonst drehe ich dir die Luft ab.<<

Sein rechter Arm umschlang mich. Das gab Wärme. Die rechte Hand legte sich an meinen Hals, sofort bereit mein Schnarchen zu unterbinden. Das Gewehr drückte mir in den Rücken. Wir stanken nach Tabak, Bourbon, verbrannten Ästen, Fisch, Tierfell und ungewaschenen Körpern. Die Nacht würde für mich wieder eine Art Vorhölle sein. Eine Prüfung, ob ich für das Ziel bereit war. Mir waren Urwaldgeräusche vertraut. Nur hätte ich nicht gedacht, dass auch ein Winterwald in Sibirien solch einen nächtlichen Krach veranstaltete. Es ziepte, raschelte, knurrte und krachte. Meine überreizten Sinne versuchten, jedes Geräusch auf Freund oder Feind zu analysieren. Es war vergebens. Diese Laute konnte nur jemand unterscheiden, der hier schon lange lebte. Für einen Stadtmenschen waren sie ein einziges Gruseltheater. Eine eiskalte Geisterbahn.

Eine Schlinge zog sich um meinen Hals. Gleich würde ich hängen. Hängen an einer Birke, wie ein Wolf zum Fell abziehen. Ich rang nach Luft, versuchte den Strick loszuwerden. Nur nicht fallen. Nicht jetzt ...

Von irgendwoher klang ein fauchender Klageschrei. Ketten klirrten. Der Schrei verstärkte sich von Schmerz in Wut.

>>Keinen Ton<<, flüsterte Wilhelm und nahm die Hand von meinem Hals.

Hatte ich geschlafen? Und wenn, wie lange? Ich rieb mir die Druckstellen. Das Fauchen verstärkte sich. Es war in unserer Nähe. Die Ketten klirrten tatsächlich.

>>Ein Luchs ist in die Falle gegangen<<, kommentierte Wilhelm kurz. Machte aber keine Anstalt, das Tier zu töten. Er blieb einfach liegen und schälte das Gewehr aus der gemeinsamen Pelzdecke. >>Ausgezeichnet<<, flüsterte er. >>Besser geht es nicht.<<

>>Was ist daran gut?<<, flüsterte ich zurück. >>Das Tier quält sich. Erschieße es. Dann hast du ein Fell mehr.<<

>>Solch einen Mist kann auch nur ein Journalist sagen<<, knurrte es an meinem Ohr. >>Der lebende Luchs ist besser, als ein gefrorener Köder. Lass ihn schreien. Dann kommen die Wölfe schneller. Sie hören das leichte Opfer, das ihnen sonst zu schnell ist und sie nur von einem Baum aus anfaucht. Sein Fell habe ich doch schon in der Falle. Keine Kugel. Er verreckt von selbst.<<

Der Luchs tobte an der Kette. Seine wütenden Schreie wurden schwächer. Reduzierten sich auf ein wehmütiges Wimmern. Irgendwann würde er vor Erschöpfung und Blutverlust einschlafen. Wilhelm suchte mit dem Gewehr die Gegend ab. Es begann zu schneien. Mir war nach einem Kaffee. Aber an ein Feuer war nicht zu denken.

2 - Transsibirische Eisenbahn - Dezember 1975

>>Sie haben dem Mann einhundertzwanzig Dollar zuviel gegeben. Sind Sie so reich?<<

Nein. So reich war ich nicht. Aber ich verstand kein Russisch. Dafür hatte ich ein Viererabteil in der berühmt-berüchtigten Transsibirischen Eisenbahn ergattert und war auf dem Weg nach Moskau.

Die billigeren Abteile waren in Großraumwaggons, die sich die Fahrgäste mit Hühnern in Käfigen, Ferkeln in Kartons und anderen Agrariern teilten. Die vollbusigen Schaffnerinnen in grüner Armeeuniform verhielten sich auch so, als hätten sie einen GULAG zu beaufsichtigen. Unsere war fünfzig Kilo freundlicher, aber sie nervte. Dafür hatte ich mit einer Frau das Abteil alleine. Die Landschaft vor dem Fenster war perfekt in Weiß gestrichen und zuckelte mit Tempobegrenzung an uns vorbei. Zehn Tage bis Moskau. Ziemlich genau zehntausend Kilometer im Winter.

>>Wie meinen Sie das?<<

Die Frau lächelte. >>Sie sind Deutscher?<<

Ich nickte. Sie nickte.

>>Sehr gut. Dann kann ich ja meine Sprache wieder auffrischen.<< Sie reichte mir die Hand. >>Ich bin Elisabeth. Meine Freunde nennen mich Lisa.<<

Ihr Deutsch war nahezu perfekt. Mit einem kleinen Akzent des Slawischen. Sie war nicht mehr jung, aber ihr Alter schwer zu schätzen.

>>Sie haben nach Moskau gebucht. Wollen Sie nach Hause?<<

Ja, ich wollte nach mehr als fünf Jahren Vietnamkrieg nach Hause. Auch wenn ich dort kein Zuhause hatte. Es war der Stallgeruch, der mich anzog. Die Vertrautheit, endlich wieder mit Freunden und Bekannten um die Häuser zu ziehen. In der Kölner Altstadt mal wieder richtig einen draufzumachen, ohne an einen neuen Kriegseinsatz vor Tagesanbruch denken zu müssen. Eine Straßenbahn statt Kugeln zu hören, würde mir eine diebische Freude bereiten. Eigentlich hasste ich diese um die Ecke quietschenden Verkehrsmittel. Aber ich würde sie jetzt als liebenswert in meiner Kartei austauschen.

>>Mein Mann ist auch Deutscher.<<

>>Aha<<, antworte ich geistesabwesend und sah zum Fenster hinaus. Die Achsen gaben seit Stunden nur ein Geräusch von sich ... Da Dong, da Dong. Immer wenn ein Radpaar über die Nahtstellen der Schienen rumpelte. Ein eintöniges Geräusch, wie die Landschaft da draußen.

>>Mögen Sie?<< Die Frau, die sich Lisa nannte, schnitt mit einem scharfen Klappmesser etwas ab, das wie bei uns nach Dörrfisch aussah.

>>Sie müssen es im Mund einspeicheln, dann erst kauen<<, lächelte sie und reichte Gurken dazu. Wer war diese Frau? Ich hatte zuviel für das Abteil bezahlt. Nun gut. Das war nicht mehr zu ändern. Aber Lisa sah auch nicht aus, als würde sie sich nur von Dörrfisch ernähren. Die übrigen Plätze waren mit Kisten und Kartons vollgepackt und sie trug einen Mantel, den ich so noch nie gesehen hatte. Knöchellang. Nur die dürren Hände passten nicht zu diesem Luxusgebilde von Eleganz.

>>Das sind Wölfe<<, beantwortete sie meine Blicke. >>Mein Mann ist auch Pelztierjäger und ich habe gerade in Wladiwostok unsere Ware abgeliefert und wieder eingekauft. Was ist da besser, als noch besser in der eigenen Kollektion auszusehen?<<

Ich speichelte den Fisch ein und versuchte zu schlucken. Das Zeug roch nicht nur nach Fisch, es war auch salzig.

>>Kriegt man besser mit Wodka runter.<< Lisa hielt mir die Flasche hin. >>Aber das Zeug ist fast unbegrenzt haltbar.<<

Welches? Der Fisch oder der Wodka? Ich würgte beides hinunter. Das würde nicht meine Lieblingsspeise.

>>Ihr Mann ist Deutscher?<< Der Wodka neutralisierte den Salzgeschmack sofort.

Lisa nickte und zog die Fellstiefel aus. >>Ja. Aber das fragen Sie ihn besser selber. Er mag es nicht, wenn ich über ihn spreche.<<

Dann sahen wir wieder schweigend Stunde um Stunde zum Fenster hinaus und rauchten. Da Dong, da Dong war das einzige Geräusch. Lisa schloss die Augen und hörte zu. Sie lächelte.

>>Meine Mutter war Lehrerin für Deutsch und Französisch beim letzten Zar. Die Bolschewiken haben uns lebenslänglich nach Sibirien verbannt<<, murmelte sie im Halbschlaf. >>Seither bin ich in dieser unmöglichen Gegend. Aber, ich habe mich mit ihr arrangiert ... oder sie sich mit mir. Ich bin noch nicht alt genug, um das herauszufinden. Wir belauern uns noch. Mal sehen, wer zuerst nachgibt. Woher kommen Sie?<<

>>Auch Pelztierjäger. Was heißt das?<<, versuchte ich das Gespräch wieder in Gang zu bringen. >>Was macht er denn noch?<<

Lisa zog die Mundwinkel zusammen und nahm einen Schluck. >>Das, was alle ehemaligen Gefangenen des letzten Krieges in diesem verdammten Land machen. Sie arbeiten entweder in Bergwerken, auf Gas- und Ölbohrfeldern, suchen nach Erzen, Diamanten, oder sind bei der Bahn mit einhundert Rubel pro Monat.<<

Wir sahen wieder zum Fenster hinaus. Landschaft. Nichts als Landschaft.

>>Ihr Mann ist also Pelztierjäger und bei der Bahn?<<, versuchte ich die kargen Informationen für mich aufzuarbeiten. Lisa nickte. >>Von irgendetwas muss man ja leben. Er ist bei jedem Wetter für zehn Kilometer und einer Ausweichstelle von vier Gleisen zuständig.<<

Mich ritt der Teufel. Sonst hätte ich die nächste Frage nicht gestellt.

>>Was würde mich solch ein Mantel kosten, den Sie anhaben?<<

Lisa hob die Augenbrauen und taxierte mich. Ein kleines Schmunzeln flog über ihr Gesicht. Ihre runzligen Hände streichelten das Fell.

>>Wer bei der Buchung 120 Dollar wegwerfen kann ... für den kostet solch ein Mantel zweitausend ... Dollar natürlich. Aber nur für die Felle. Das Nähen noch einmal soviel.<< Sie lachte, als sei es ein Witz. >>Aber für Sie würde ich es für tausendfünfhundert machen. Sie bekommen nämlich die einzelnen Felle nicht durch den Zoll. Die Ausfuhr ist verboten. Ich kann Ihnen die Felle nur aufbereiten. Der Rest ist Ihre Angelegenheit.<<

Wollte ich das wirklich? Ich kam aus einer Region, die niemals kälter als zwanzig Grad plus war. Daher hatte ich mich in Wladiwostok mit Filzstiefeln, Filzhemden und einer Wattejacke eingedeckt. Musste aber bald feststellen, dass ich auch darin schon auf dem Bahnsteig fror. Ich schlug ein. Ich wollte solch einen Wolfsmantel.

Da Dong, rumpelten wir weiter. >>Kaffee, Tee, Wodka?<<, grinste die Schaffnerin. >>Njet<<, wehrte Lisa ab. >>Wir haben alles dabei.<< Hundert Rubel im Monat bei der Bahn? Ich gab der Schaffnerin zehn Dollar. Dafür würde sie mir wohl noch bei der Entführung des Zuges helfen.

Lisa schüttelte missmutig den Kopf. >>Das hätten Sie mir besser als Anzahlung gegeben. Oder haben Sie an dieser KYPBA einen Narren gefressen? Sie behandeln sie wie eine Nutte. Na los, gehen Sie. Für den Preis lässt die sich die ganze Nacht von ihnen ficken.<<

Ich schwieg jetzt besser. Meine asiatische Lebenserfahrung schien nicht in dieses Land zu passen. Lisa verschränkte kurz die Arme vor der Brust. Sie war wütend und packte die Lebensmittel ein. Ich klappte das Bett herunter. Diese Menschen waren mir fremd, auch wenn sie meine Sprache beherrschten. Dann gab es eben keinen Wolfsmantel. In ein paar Tagen würde ich zu Hause sein.

Da Dong, da Dong. Wir rumpelten weiter Richtung Westen. Es war ein einschläferndes Geräusch. Ich drehte mich zur Wand.

>>Was sind Sie von Beruf? Wo kommen Sie her?<<, gab Lisa keine Ruhe. >>Dumme Menschen haben nicht soviel Geld.<<

>>Journalist und ich komme aus einem Krieg in Vietnam<<, knurrte ich.

>>So, so Journalist. Dann kann ich Sie brauchen<<, kam es von unten. >>Sagt Ihnen die Pest etwas?<<

Ich wollte nur etwas schlafen und dann in den Speisewagen. Der Dörrfisch lag mir wie Blei im Magen. >>Ja. Die ist aber ausgerottet. Und warum sind Sie so wütend, wenn ich einer Bedienung mein Geld gebe? Ist das hier verboten?<<

Ich zog mir die Decke über den Kopf. Lisa gab keine Ruhe.

>>Hier ist alles verboten. Deshalb bezahle ich nicht noch meine Gefängniswärter. Und diese Kommunisten schon überhaupt nicht. Das sollten Sie sich merken. Sonst spannen die Sie sehr schnell für ihre Vorhaben ein.<<

Das war mir klar und auch völlig egal. Wenn es einen Flug gegeben hätte, wäre ich schon längst zu Hause.

>>Wissen Sie, ich lernte meinen Mann vor über dreißig Jahren in einem Straflager bei Nowosibirsk kennen<<, plapperte sie munter drauf los. >>Er kam als deutscher Kriegsgefangener zu uns. Ein schneidiger Kerl. Nicht so ungehobelt, wie diese Bolschewiki. Nein. Ein feiner Mann. Ich war aufgrund meiner zaristischen Vergangenheit lebenslang dorthin verbannt.<<

Ich stellte mich schlafend und versuchte möglichst ruhig zu atmen. Lisa sprach zu mir. Ich vermied jede Reaktion. War es das, was sie suchte? Nur einen lebenden Körper, der nicht widersprach?

>>Dann kam Wilhelm. Unteroffizier der Deutschen Wehrmacht. Zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt. Nur weil er in Stalingrad als Scharfschütze fünfundzwanzig von diesen Kommunisten umgelegt hatte. Zwanzig Jahre Strafarbeit an der Transsibirischen Bahn. An den Gleisen, auf denen wir fahren. Haben Sie eine Ahnung, was das bedeutet? Nur gut, dass ich Küchenchefin im Lager war.<<

Pause. Etwas raschelte. Ich stellte mich langsam tot und atmete immer flacher.

>>Na ja, ich war seine Rettung<<, fuhr sie ungerührt fort. >>Ich war die Einzige, die Deutsch und Russisch sprach. Ich habe ihm dann einen leichteren Bereich verschafft. Da musste er nicht mehr bei jedem Wetter draußen arbeiten.<<

Die Frau nervte wie diese Da Dong Achsen.

>>Und? Was soll ich damit anfangen? Das war vor meiner Zeit<<, knurrte ich ungehalten. Sie sollte endlich den Mund halten.

>>Ich meinte nur, ich könnte mal wieder in einer Kultursprache mit jemandem reden. Aber dann nicht<<, knurrte es leise aus dem Wolfsmantel. Sie hatte sich gesetzt und summte ein Lied vor sich hin.

So war an Schlafen nicht zu denken. Ich musste mich ihr stellen und schwang mich auf die Bettkante. >>Was soll das mit der Pest? Die gibt es doch seit dem späten Mittelalter nicht mehr.<<

Lisa lächelte. >>Wenn Sie meinen. Dann sind Sie also doch nicht so gebildet. Schade.<< Lisa setzte eine Nickelbrille auf die Nase und zog Strickzeug aus ihrer Ledertasche. Bald klapperten die Nadeln mit grünen, gelben und roten Wollfäden.

>>Das werden Socken.<< Sie sah über die Brille hinweg. Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich jetzt tun sollte. Vom Bett in halber Höhe des Abteils abzuspringen, mich wieder mit zusätzlichem Geklapper in den Schlaf schütteln zu lassen, oder in den Speisewagen zu gehen.

>>Die braucht man dringend in diesem Land. Welche Schuhgröße haben Sie? Ich könnte diese für Sie stricken. Bis wir ankommen, sind die fertig.<< Sie schmunzelte. >>Ich bin darin sehr geübt. Ich kann auch Felle gerben und nähen. Das lernt man alles in diesem Land.<< Ihre Hände führten die Nadeln flink und ohne hinzusehen.

>>Nein danke. Ich gehe in den Speisewagen.<<

>>Würde ich auch gerne. Es macht richtig Freude, sich mal wieder in Deutsch zu unterhalten. Aber Sie sehen ja .<<, sie deutete auf die Taschen, Kartons und Kisten. >>Die Bolschewiki klauen alles, was sich bewegen lässt.<<

Etwas sehr unschlüssig hielt ich den Griff der Abteiltür in der Hand.

>>Wenn Sie übersetzen, wird nichts geklaut und Sie kommen mit in den Speisewagen.<< Mir war plötzlich danach, mich mit dieser Frau zu unterhalten. Aber unter meinen Bedingungen.

>>Sie sind doch nicht so dumm, wie Sie tun.<< Lisa schlürfte ihren Mokka. Der Speisewagen waberte vom Tabakqualm der Gäste. Niemand der Anwesenden sah aus, als würde er im Großraumabteil fahren. Sie waren alle Geschäftsleute, die sich etwas leisten konnten. Warum flogen sie dann nicht von A nach B, wie ich es vorgehabt hatte? Ich verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sie hatten wohl auch am falschen Ende der Welt angefangen.

Ich hob kurz die Schultern. >>Ich lerne schnell. Wenn nichts vom Gepäck fehlt, bekommt die Frau, die Sie Nutte nennen, zwanzig Dollar. Mal sehen, ob das funktioniert.<< Lisa nickte zufrieden.

>>Könnte funktionieren. Haben Sie eine Uhr?<<

Ich nannte ihr die Tageszeit.

>>Gut, dann sind wir in acht Stunden da, wohin ich möchte. Sie werden mein Gast sein, bis der Mantel fertig ist. Aber dann bitte Barzahlung. Können Sie das? Eine Bank gibt es bis dahin nicht. Sonst wird das nichts mit dem Mantel.<<

Im Kopf ging ich meinen Bargeldbestand. Bis Moskau würde er mit Mantel reichen. >>Ja!<<

Lisa nickte zufrieden. >>Dann trinken wir einen darauf. Möchten Sie Wodka oder etwas anderes?<<

Ich wusste inzwischen, dass mich die Kriege, über die ich berichtet hatte, zu einem Außenseiter gemacht hatten. Aber die Gier nach diesem Fell war neu. Irgendwo war in mir der Neandertaler losgetreten worden. Ich korrigierte mich sofort. Nein. Die waren ja ausgestorben, weil sie die Felle nicht verarbeiten konnten und erfroren. Na dann war ich doch jüngeren Ursprungs. Meine Vorfahren schienen Pelze geschätzt zu haben und ihre Verarbeitung zu ihrem Kapital gemacht zu haben. Missmutig schüttelte ich den inneren Schweinehund. Wozu brauchte er oder ich einen Wolfsmantel?

>>Wie lange dauert es, solch einen Mantel zu fertigen?<< Es war eine ausweichende Frage, um überhaupt Interesse zu bekunden. Der Whisky war teuer und schlecht. Er verdarb mir die Laune. Lisa war nach dem zweiten Wodka bester Stimmung. Da Dong ratterten die Achsen.

>>Weiß ich nicht. Dazu muss ich erst die Felle haben, die Wilhelm auftreibt. Dann müssen sie in die Gerberei, die ist bei uns gleich ums Haus, dann muss ich sie schneiden und nähen. Kann ein paar Wochen dauern.<<

Ein paar Wochen. Das passte nicht in meinen Vorwärtsdrang nach Hause zu kommen. Von Wildnis, ob in den Tropen oder Sibirien, hatte ich die Schnauze voll. Ich wollte Zivilisation. Mehr nicht.

Lisa musterte mich. Mein Gesicht spiegelte sich in ihrem Blick. >>Na ja. Das lässt sich auch beschleunigen, wenn Sie Wilhelm bei der Jagd begleiten. Er trödelt mir dabei sowieso etwas zu lange da draußen herum. Er ist ein Einzelgänger. Aber wir haben Aufträge, die erfüllt werden müssen. Anzahlungen, Sie verstehen.<< Sie wog den Kopf hin und her. Der Qualm im Wagon wurde langsam selbst für Raucher unerträglich. Alle hatten getrunken und schnatterten aufeinander los.

Ja, ich verstand. Sie ließ zwei Einzelgänger aufeinander los, um ihr geschäftliches Ziel der pünktlichen Lieferung zu erreichen. Sie hatte mich klug eingeschätzt und geködert. Geködert mit etwas, das nur ihr Mann mir beschaffen konnte. Und sie versuchte, mich ihm als Aufpasser und Auftraggeber an die Seite zu stellen. Nicht schlecht, liebe Lisa. Die Frau gefiel mir langsam. Sie setzte die Spielregeln fest. Um das Goldene Flies zu bekommen, mussten die Kämpfer sich erst auf dem Schlachtfeld beweisen. Und Kämpfer konnten in ihren Augen niemand sein, der sich sofort mit jemandem verbündete, der nicht selbst Schlachten geschlagen hatte. Sie streute geschickt Vertrauen, Misstrauen mit einer dicken Prise Zusammenhaltenmüssen, egal wie, in einen Sudkessel und rührte kräftig. Dann fragte sie die Suppe nur noch ... schmeckt oder nicht?

>>Danke. Ich habe es mir überlegt. Das dauert mir zu lange. Ich fahre nach Hause.<< Ich sah zum Fenster hinaus. Da Dong ... nichts als weiße, eintönige Landschaft. Hierher als zahlender Passagier für Stunden, Tage eingesperrt zu sein, war schon mehr, als der Preis hergab. Für Verbannte war es schlimmer als die Todesstrafe.

Lisa schmunzelte. >>In Ordnung. Dann werden Sie nichts über die Pest erfahren, die euch im Westen droht.<<

Pest. Was interessierte mich diese ausgestorbene Krankheit? Damit brauchte ich keinem Redakteur zu kommen. Der würde mich nur ansehen und den Kopf schütteln. >>Solange wir keine tödliche Grippewelle haben, interessiert das hier kein Schwein. Hast du so eine Welle? Nein. Dann schleich dich und vergeude nicht meine Zeit.<<

Ich schüttelte den Kopf. Lisa zuckte kurz mit den Schultern und klapperte weiter mit den Stricknadeln. >>Na schön. Dann nicht.<<

Die Nacht hatte sich über das weiße Elend draußen gelegt. Ich zog mir die Decke über die Ohren und versuchte das Da Dong zu meiner Schlafmelodie zu machen, um bald wieder geweckt zu werden. Jemand rüttelte mich aus dem ersten Schlaf. Ich knipste die Leselampe an.

>>Sie schnarchen abscheulich. Die Socken für Sie sind fertig. Hier beißen Sie auf einen. Das hilft.<< Lisa kroch zurück unter ihre Decke und gab keine Ruhe. >>Wissen Sie, dass die sibirischen Wolfspelze die besten der Welt sind? Ihr im Westen bekommt nur minderwertige Ware aus Kanada. Ausgekämmt. Kein Unterfell und zahlt das Doppelte wie für unsere Felle ... wenn ihr die überhaupt bekommt.<<

Lisa versuchte mich auf irgendeine Weise zu ködern. Für was, wurde mir nicht klar. Im erneuten Einschlafen nahm ich nur noch wahr, dass es für einen Journalisten doch interessant sein müsste, über eine Wolfsjagd zu berichten. Keine Treibjagd, wie bei den bösen Kanadiern, die die Tiere aus dem Hubschrauber abschossen. Nein. Mann gegen Wolf.

Ein vielleicht reizvolles Thema. Aber meine Kameras waren nicht auf diese Temperaturen eingestellt. Die Filme würden reißen, die Mechanik versagen. Wir nannten es Tropenschmierung. Alle beweglichen Teile mussten vom Hersteller auseinandergenommen und für extreme Hitze oder extreme Kälte präpariert werden. Und meine waren für die Tropen präpariert.

Die Schwerkraft warf mich auf die Seite. Begleitet von einem nervtötenden Geräusch. Stahl schrammte auf Stahl. >>Kaffee ist fertig<<, lächelte Lisa. >>Wir, ich meine ich, bin da.<<

Vor dem Fenster baumelte ein altes Holzschild, das ich, wenn ich meine Kyrillischkenntnisse zusammenklaubte, als Alexandrowka entziffern konnte. Ein breites Holzgebäude und ein kleines Hinweisschild, dass wir uns hier 6500 Kilometer östlich von Moskau befanden. Himmel, ich hatte nicht einmal die Hälfte meiner Heimreise überstanden.

>>Ich steige hier aus. Sie können sich zwei Stunden die Beine vertreten, bis der Gegenzug durch ist.<< Sie lächelte verschmitzt, als erwartete sie ausgerechnet jetzt eine Entscheidung von mir. Wolfspelz mit anhängenden Informationen oder Doswedanja. Auf Nimmerwiedersehen. >>Ich mache Ihnen einen schönen heißen Tee. Aber nehmen Sie besser Ihren Seesack mit. Sie wissen ja ...<<

Ja, ich wusste. Lisa konnte als unverbesserliche Zaristin die Bolschewiki, wie sie das derzeitige Regime nannte, nicht leiden.

3 - Die Jagd II

Wilhelm lag an der Baumgrenze und beobachtete die Ebene vor uns durch das Zielfernrohr. Der Luchs zerrte nur noch ab und zu verzweifelt an der Falle, die seinen rechten Vorderlauf bis auf den Knochen zerschunden hatte.

>>Das Rudel hat sich getrennt<<, brummte Wilhelm und warf mir eine Automatik zu.

>>Du kommst aus einem Krieg. Kannst du damit umgehen?<<

Ich überprüfte die Pistole. Eine 7, 65er Makarow mit zwölf Schuss und einer Kugel im Lauf. Sie musste nur entsichert werden. Ich verstand aber seine Aufforderung nicht und wog die Waffe in der Hand.

>>Was heißt getrennt? Und wozu brauche ich die Waffe?<<

Wilhelm nahm das Auge nicht von der Optik.

>>Weil sie schlau sind. Schlauer, als ich dachte. Aber das ist unsere Chance, alle gleichzeitig zu erwischen. Spart uns eine Woche hier draußen. Halt mir den Rücken frei und achte auf den Luchs.<< Er beobachtete und fluchte.

>>Da schleichen sich nur drei an die gefrorenen Köder. Es waren aber sieben. Pass jetzt ja auf! Bist du schussbereit? Die anderen vier wollen an den Luchs und werden durch den Wald kommen. Die gehören dir. Warte ab, bis ich meine erledigt habe. Dann musst du in Sekunden jeden der anderen, die zeitgleich angreifen werden, wenigstens verletzt haben, dass wir ihre Spuren verfolgen können.<<

So viel und so schnell hatte ich Wilhelm noch nicht sprechen gehört. Jetzt begann ich zu schwitzen. Mit einer Pistole gegen vier Wölfe? Das konnte nicht gut gehen. Der Pelzjäger schien als ehemaliger Scharfschütze vorauszusetzen, dass jeder, der aus einem Krieg kam, mit einer Waffe umgehen konnte. Ihm noch einmal klar zu machen, dass ich Journalist und kein Krieger war, das war jetzt zu spät.

Der Luchs roch die Jäger und versuchte sich das Bein abzubeißen. Das Tier war in Panik und fauchte um sein restliches Leben. Ich hätte es ihm gerne erspart. Aber ich hatte mit meiner Angst genug zu tun, sah in den Wald und überprüfte die Waffe wieder und wieder. Sie war immer noch geladen und schussbereit. Wie zum Teufel reagierten Wölfe, die sich ungeachtet des Menschen ihr Opfer holen wollten? War ich ihr Feind? Konnte ich sie durch meine Anwesenheit abschrecken? Vielleicht in die Flucht schlagen? Ich konnte sie vertreiben. Mit einem einzigen Schuss auf den Luchs. Dann waren die Wölfe, die Wilhelm im Visier hatte, auch sofort weg.

Und dann? Dann musste ich nur noch auf den nächsten Zug warten und Richtung Moskau fahren. Wilhelm würde endgültig kein Wort mehr mit mir sprechen und mein Verhalten als geschäftsschädigend bezeichnen. Er hatte mir mehrfach gesagt, dass ich freiwillig mitkommen konnte, aber seine Geschäfte nicht stören dürfe. Sonst würde er mir das Fell über die Ohren ziehen. Es gäbe Abnehmer für Felle genug.

Ich hatte zugesichert, mich an seine Anweisungen zu halten. Lisa hatte es mich sogar schwören lassen. Nun saß ich hier mit einer Waffe in der Hand, einem Luchs im Todeskampf und stierte in den Wald. Waren hungrige Wölfe wirklich so rücksichtslos in ihrem Angriff, wie es in den alten schwarz-weiß Filmen von Eisenstein gezeigt wurde? Ich hatte gelernt, dass sie eher scheu waren und lieber verhungerten, als sich mit einem Menschen anzulegen. Was stimmte nun? Warum musste ausgerechnet ich das herausfinden?

Drei Schüsse folgten in sehr schneller Reihenfolge...

4 - Bahnhof Alexandrowka – Januar 1976 - I

>>Hast du die Weichen für „6237“ gestellt?<<

Lisa nickte. >>Und auch vorher enteist.<<

Wilhelm grunzte zufrieden und streckte die Beine mit den gestrickten Socken am Kanonenofen hoch. Es dampfte und zischte. Ich lag auf der Ofenbank und hatte nur noch den dringenden Wunsch zu schlafen und aus meinen blutbesudelten Kleidern zu kommen.

>>Die Felle müssen in die Gerberei<<, murmelte der hagere Mann mit den roten Haaren und dem sommersprossigen Gesicht.

Lisa nickte. >>Schon geschehen. Übermorgen kann ich mit dem Nähen und Schneiden anfangen. War eine gute Beute. Ihr solltet öfters zusammen jagen gehen.<<

Nicht noch einmal, sträubte sich alles in mir. Wilhelm hatte seine drei Wölfe erledigt. Ich schoss nur noch blindlings auf die Meute, die sich auf den Luchs stürzte. Mich beachteten sie nicht. Ich existierte nicht für sie. Zwei davon traf ich. Zwei verletzte ich. Wilhelm war ihrer Blutspur gefolgt und gab ihnen den Fangschuss. Unsere Beute: acht Wölfe und ein Luchs.

>>Denke nicht daran, noch mal jemanden mitzunehmen, der schnarcht<<, knurrte Wilhelm und nahm die Füße vom Ofen. >>Wann kommt Michael?<<

>>Mit dem „1977“ aus Irkutsk. Der hat acht Stunden Verspätung wegen Schneeverwehung. Ich mache dann mal Essen.<< Lisa klapperte mit eisernen Töpfen und Pfannen und heizte das Feuer im ebenso eisernen Ofen an. Sie legte Birkenscheide in die Brennstelle und schürte die Asche, bis Funken flogen. Die Gaslampe über dem Esstisch gab ein spärliches Licht. Wie alles in diesem alten Bahnhofsgebäude spärlich war. Ein kleiner Teil war den Fahrgästen am Bahnsteig vorbehalten. Aber, wer verließ um diese Jahreszeit freiwillig den geheizten Zug? Ohne Kiosk. Ohne Toiletten. Ein kleiner Raum mit den Hebeln für die Weichenstellung. Ein Telefon. Ein Schreibtisch, über dem ein Kalender aus dem Jahr 1948 prangte. Das war der Rest des Bahnhofs.

Die Räume dahinter bewohnte Wilhelm mit seiner Frau Lisa. Eine große Wohn-Essküche. Drei spartanisch eingerichtete Schlafräume. Hinter dem Haus war vielleicht ein Garten. Aber der würde dieses Jahr bei den Schneemengen seine liebe Mühe haben, seinen genetischen Wachstumskalender einzuhalten. Eine Scheune. Eine Werkstatt, in der früher kleinere Reparaturen an den Loks ausgeführt wurden. Hier schnitt Lisa heute ihre Felle zu und Wilhelm füllte seine verschossenen Patronen mit neuem Pulver und goss die Kugeln in die Kalibrierungsformen.

>>Wer ist Michael?<<, fragte ich in die kleine, kauende Runde unter der Gasleuchte. Wilhelm sah seine Frau nur kurz an und schmatzte weiter.

>>Das ist unser Sohn. Er ist bei einem Institut in Irkutsk als Biochemiker tätig.<< Lisa wischte sich den Mund mit der Schürze ab.

>>Erzähl weiter. Du hast doch Peter deswegen hierher gelockt und den Mantel zu billig gemacht. Also los. Was ist?<< Wilhelm zog die Augenbrauen drohend zusammen und löffelte weiter. Lisa wurde nervös und schenkte mir nach.

>>Na ja, wir sprachen doch über die Pest. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Daher habe ich ...<<

>>Wir haben .<<, knurrte Wilhelm dazwischen.

>>Ja, wir haben unseren Sohn gebeten …<<, kuschte Lisa, >>die tausend Kilometer hierher auf sich zu nehmen. >>Sie fahren doch in den Westen. Er sollte sich mal mit Ihnen unterhalten.<<

Der Westen. Natürlich. Aber bis Moskau waren es noch fast viertausend Kilometer. Bis ich dann in Köln war, noch ein paar tausend. Mein Reiseziel lag noch in weiter Ferne. Aber Irkutsk lag auf meinem Weg. Warum sollte mich der Sohn dann hier treffen?

>>Ich hätte mich auch in Irkutsk mit Ihrem Sohn unterhalten können<<, gab ich zu bedenken.

Die beiden schüttelten den Kopf. >>Zu gefährlich. Der KGB ist überall. Ein Heimaturlaub im Nichts ist unverfänglicher. Noch einen Wodka?<<

Nein. Ich mochte keinen Wodka mehr. Das Zeug schmeckte nach nichts und machte einen dennoch betrunken.

>>Warum seid ihr beiden überhaupt noch hier? Du bist Deutscher, Lisa Sowjetbürgerin. Der Krieg ist längst aus. Ihr könnt doch reisen.<< Es war für mich unvorstellbar, dass man sich in diesem Land wohlfühlen konnte. In dieser Baracke zu leben, die sich Bahnhof schimpfte. Die wenigen Fenster waren klein und mit Strohsäcken gegen die Kälte geschützt. Ein Fallensteller in den Rocky Mountains würde es vielleicht als Luxus empfinden. Ich nicht.

>>Weil man uns einfach vergessen hat.<<

>>Vergessen? Wie kann man dann bei der Bahn sein und bezahlt werden?<< Etwas stimmte da nicht. Wer vom Staat bezahlt wurde, auch wenn der tausende von Kilometern entfernt war, konnte nicht vergessen worden sein.

>>Ist aber so.<< Wilhelm stemmte sich vom Tisch hoch. >>Ich sehe nach den Ziegen und muss dann die Waffen reinigen.<< Er zog die Tür quietschend ins Schloss.

Es schneite. Der Wind drückte den Rauch in den Kamin zurück. Lisa stieß die Ofenklappe zu und setzte sich wieder.

>>Ja, es ist leider so. Man hat uns vergessen. Es hat uns mehrere Rudel Wölfe gekostet, um unseren Sohn überhaupt studieren lassen zu können. Dennoch ...<< Sie seufzte und setzte Wasser zum Spülen auf. >>Dennoch bekommt keiner von uns einen gültigen Pass. Wir haben nur Passierscheine, die uns berechtigen bis Omsk zu fahren, das sind noch etwa dreitausend Kilometer bis Moskau. Lebenslang heißt bei denen lebenslang.<<

Die Landkarte. Sie hing an der Wand neben dem Ofen und hatte auch schon ein langes Leben hinter sich. Omsk im Westen. Wladiwostok im Osten. Da wo mein Elend angefangen hatte. Von da aus waren es nur hundert Meilen auf See nach Japan. Ich fuhr mit dem Finger über die vergilbte Karte.

>>Vergessen Sie es<<, murmelte Lisa. >>Wir haben uns schon alle möglichen Fluchtwege ausgemalt. Es gibt kein Entrinnen für uns.<< Sie spülte ab. >>Ohne Pässe ist das sinnlos. Und ... wir sind auch langsam zu alt. Noch einmal neu anfangen? In einem fremden Land? Nein. Das soll unser Sohn versuchen. Aber den werden Sie ja in ein paar Stunden kennenlernen.<< Ihr Gesicht wurde so verrunzelt wie ihre Hände, die nicht in diesen eleganten Wolfspelz passten, der nun achtlos an einem Nagel hing.

Stöhnend erhob sie sich und prüfte die Hitze der Herdplatte, sah auf die hölzerne Uhr an der Breitseite des Raums und nickte still.

>>Sie entschuldigen. Ich muss jetzt Blinis backen. In drei Stunden kommt der Zug aus Ulan-Ude. Die brauchen einhundert davon für die Fahrgäste. Würden Sie bitte Wilhelm sagen, dass ich fünfzig Eier brauche. Die Hühner müssten genug gelegt haben.<< Sie überlegte einen Moment. >>Ach ja, er soll mir noch Dörrfisch bringen. Für die Füllungen haben wir nicht mehr genug Fleisch. Den muss ich ja auch noch einweichen. Und ...<< Sie sah an mir entlang. >>Ziehen Sie meinen Mantel an. Es ist verflucht kalt draußen. In der Werkstatt hat Wilhelm sicher Feuer gemacht. Aber vorher brauche ich die Eier und den Fisch. Dann könnt ihr Männer quatschen. Aber sauft nicht so viel.<<

Der Mantel war noch wärmer, als ich es mir vorgestellt hatte und schwer. Zu warm für die Werkstatt. Wilhelm sah nur kurz von seiner Arbeit hoch. Mit nacktem Oberkörper und einer Lederschürze schmiedete er neue Anker für die Fallen auf dem Amboss und stocherte in der Glut der Esse, in der weitere Eisenteile glühten. Der Raum war ein einziges Waffenlager. Tellerminen, Handfeuerwaffen, Maschinengewehre. Kurz alles, was man glaubte für einen Krieg zu brauchen.

>>Was ist?<<, knurrte er.

>>Du sollst Eier und Dörrfisch holen. Für den Zug aus Ulan-Ude<<, setzte ich entschuldigend hinzu.

Wilhelm hieb noch eine Krümmung in das Eisen und warf es in einen Eimer mit Wasser. Dort versank es zischend. >>Warum fällt ihr das jetzt erst ein?<<, fluchte er. >>Hol du das Zeug. Du hast den Mantel an. Der Stall ist eine Tür weiter. Davor findest du den Fisch.<<

Solche Ställe kannte ich aus meiner Kindheit. Etwa zwanzig Ziegen, zwei stämmige, schwarze Pferde und Dutzende von Hühnern heizten ihn mit ihrer Körperwärme. Die Tiere schaffen sich ihr eigenes Klima, um überleben zu können. Und wir versuchten unseres mit ihren Fellen zu korrigieren. >>Schwachsinn<<, murmelte ich für mich und sammelte die Eier aus dem Stroh in einen Weidenkorb. Den gefrorenen Fisch konnte ich mir unter die Arme klemmen. Er baumelte an einer alten Stange im eisigen Wind, als ich Lisa die Zutaten für die Blinis brachte.

>>Was habt ihr vor?<< Ich setzte ich mich auf einen Strohballen und sah Wilhelm zu, wie er weiter auf die Eisen einhieb. Er trieb einen konischen Eichenpflock in das glühende Ende, um ein Loch zu formen, in das die Fallenkette eingehängt wurde. Dann hämmerte er darum herum und schreckte alles zusammen ab. Der Pflock fiel einfach heraus. Das Eisen zog sich zusammen. Das Holz nicht.

>>Was wir vorhaben?<< Er faltete den Lederschurz zusammen, wusch sich kurz im warmen Abschreckwasser und zog sich wieder an.

>>Unser Sohn muss hier raus. Er ist ein begnadeter Biochemiker, der bei euch das Hundertfache verdienen kann.<<

Wilhelm nahm sein Gewehr auseinander, reinigte den Lauf, fettete Schloss und Schlagbolzenführung neu. Dann reinigte er die leeren Hülsen und prüfte sie auf ihre Wiederverwendbarkeit. Eine Art Mokkakanne mit Schnabel füllte er mit Blei und setzte das Gefäß in die Glut der Esse. Auf einem groben Holztisch bereitete er die Kalibrierungshölzer aus. Jedes ins Holz gedrechselte Loch entsprach genau dem Kaliber der Waffe, für die die Patronen gegossen werden sollten. Mal waren die Löcher am Boden rund, mal spitz, mal platt. Je nachdem, welche Form das Geschoss letztendlich haben sollte. Rund für Hasen und Füchse. Spitz für Wölfe und größeres Wild. Platt für Menschen. Dum dum Geschosse.

Wilhelm steckte die Hülsen in ein weiteres Brett und füllte sie aus einer Glasflache, die mit einem Schnabel versehen war. Das Schießpulver. Die Zigarette klebte ihm im Mundwinkel.

>>Was ist? Machst du dir ins Hemd?<<, kommentierte er meinen fragenden Blick. >>Das Zeug explodiert so nicht. Es brennt einfach ab. Das war es. Explosiv wird es erst, wenn ich es einsperre.<<

>>Aha. Erst, wenn du es in der Patrone einsperrst<<, kommentierte ich seinen unbekümmerten Umgang mit Sprengstoff. >>Und wie stellst du dir das vor, wie dein Sohn, als begnadeter Biochemiker, in den Westen kommen soll?<<

Das Blei war flüssig. Schnell, bevor es erkaltete, zog er die Kanne über die Matrizen. Gab neues Blei in die Kanne.

>>Dazu hat dich meine Frau doch angelacht. Du wirst ihn in den Westen bringen.<<

>>Ich?<<, schoss ich vom Heuballen hoch, als hätte ich mich mit nacktem Hintern in ein Ameisennest gesetzt.

>>Ich? Ihr habt sie doch nicht alle. Wie soll ich das machen? Ich bin Journalist und kein Politiker.<<

>>Eben. Journalist<<, grunzte Wilhelm und zwängte die erkalteten Geschosse mit einer Zange auf die gefüllten Hülsen.

>>Moment.<< Ich setzte mich wieder und nahm einen Schluck aus der Flasche. >>Es dürfte dir doch ein Leichtes sein, als ehemals deutscher Kriegsgefangener über das Rote Kreuz und den Suchdienst für Vermisste nach Deutschland zurückzukehren.<<

Wilhelm pfropfte weiter Geschosse auf die Hülsen und nickte fast abwesend. Er zog seine rot-blonden Augenbrauen zusammen und kniff die Stirnhaut über der Nasenwurzel zusammen.

>>Das hat mir schon der deutsche Geschäftsmann letzten Winter geraten, der auch solch einen Wolfsmantel gekauft hat.<<

>>Ja und?<<, hakte ich nach.

Wilhelm hob nur kurz die Schultern. >>Hab’s versucht. Aber Lisa und unser Sohn dürfen nicht raus. Und ohne die gehe ich nicht.<< Es entstand eine lange Pause. Zigaretten, Wodka, Munition und eine Esse, die vor sich hinknisterte.

>>Was soll ich alleine in Deutschland?<<, murmelte er. >>Meinen letzten Heimaturlaub hatte ich 1942 und bin gleich an die Front zurück. Mein Stadtviertel, meine Geburtsstätte, meine Eltern gab es nicht mehr. Alles von Bomben platt gemacht. Dann hat mich nur noch der Zorn gepackt und ich habe mich an jedem Gegner gerächt, der mir vors Gewehr kam. Nein, nein. Ohne meine Familie gehe ich nicht.<<

Wieder war Schweigen angesagt. Er lud die Waffen. Eine Ziege meckerte im Stall. Hühner schlugen mit dem Gefieder.

>>Ein deutscher Geschäftsmann, sagst du. Woher kam der?<<, versuchte ich dem Gespräch eine weniger melancholische Wendung zu geben.

Wilhelm legte das Gewehr über die Knie und grübelte sich in die Vergangenheit. >>Aus dem Rheinland, irgendwo bei Köln glaube ich. Er hat dort eine Firma. Aber frage mich nicht, was für eine. Maschinen oder so etwas. Er hat meine Waffensammlung bewundert. Aber mit auf die Jagd wollte er nicht. Er war auch so lange hier, bis der Mantel fertig war. Irgendwie ein komischer Mann. Ich bin nicht mit ihm warm geworden.<<

5 - Bahnhof Alexandrowka – Januar 1976 - II

Es war wie immer. Ich musste schon vor meiner Geburt Journalist gewesen sein. Eine einzige Aussage, beiläufig dahin geworfen von jemandem, den ich kaum kannte und wohl auch kaum jemals wieder treffen würde, und schon fuhren alle Sinne in mir hoch.

>>Hast du ihm auch von deinem Sohn erzählt und dass der in den Westen sollte?<< Wilhelm nickte. >>Das erzähle ich jedem Deutschen, der hier vorbeikommt. Aber das sind nicht viele. Probieren muss ich es.<<

>>Hast du mit ihm auch über die Pest gesprochen?<<

Warum fragte ich das? Ich konnte dafür keine logische Erklärung geben. Aber etwas zwang mich zu glauben, dass hier ein Problem entstand. Wir hatten zwischen den Blöcken Kalten Krieg. Niemand traute sich seine Atomwaffen zu nutzen. Dennoch rüstete jeder auf. Du hast eine Atombombe, ätsch, ich kann deiner vier entgegensetzen. Alle Mächte waren auf der Suche nach den schmutzigen Waffen. Die, die man nicht hörte und nicht sah.

Wilhelm nickte. >>Schon möglich. Weiß nicht mehr. Aber dann höchstens so, wie zu dir, dass wir hier damit kein Problem haben, wenn wir vorsichtig sind.<<

Lisa rührte in einem Bottich, der auf dem Herd dampfte. Auf dem Tisch lag Geld. Münzen und zerknitterte Scheine.

>>Einhundertneunzig Rubel, vierzig Kopeken und zwanzig Dollar<<, kommentierte sie Wilhelms fragenden Blick. >>Alles für ein paar Blinis.<< Wilhelm nickte mürrisch und steckte das Geld ein.

>>Wenn du das verspielst, ziehe ich dir das Fell über die Ohren<<, drohte sie mit dem dampfenden Holzrührstab und drehte weiter die Wäsche im Bottich.

Wilhelm legte die Hälfte des Geldes zurück und zog einen Biberpelz an. Dann verließ er grußlos den Bahnhof und stapfte in die Nacht hinaus.

>>Das ist zum Kotzen mit ihm<<, knurrte Lisa. >>Er ist wie alle Männer. Kaum haben sie mal etwas geleistet, brauchen sie Erholung beim Saufen und Spielen. Und ich? Ich backe und wasche die Kleider unter primitivsten Umständen. Ich weiß nicht, was das noch werden soll. Ist das bei euch im Westen auch so? Erzähl mal, damit ich wenigstens davon träumen kann, dass es noch eine bessere, einfacherer Welt für uns Frauen gibt. Die Flasche steht auf der Anrichte.<<

>>Vorsicht<<, dröhnte meine Logik. >>Überlege dir, was du jetzt erzählst. Wir waren seit zehn Jahren nicht mehr in Europa. Du schürst in dieser Frau nur den Wunsch, ihren Sohn wirklich in den Westen zu bringen. Und das geht nicht. Wir müssen selbst erst einmal dahin kommen.<<

>>Das sehe ich anders<<, beschwichtigte meine rechte Gehirnpartie. >>Peter ist gut im Geschichtenerzählen. Ich erfinde schon etwas. Dann ist Lisa mal einen Moment glücklich. Sie kann träumen. Mehr hat sie doch nicht.<<

Und ich erfand eine schöne heile Welt, von der ich nur wusste, dass in Köln ein Verlag auf mich wartete. Was sich seither an Positivem getan hatte? Ich wusste es nicht und erfand die Waschmaschine, den Elektroherd, den Staubsauger neu. Straßenbahnen, die regelmäßig fuhren. Fertigessen aus Dosen. Selbst das Backpulver erfand ich neu zusammen mit dem Bügeleisen.

Lisa lauschte und spannte die Wäsche quer durch den Raum. Sie war in einer anderen Welt und lächelte verträumt. Mein Bedenkenträger im Kopf schwieg.

6 - Köln August 1994 - 18 Jahre später

Inga klatschte den Ordner auf meinen Schreibtisch und grinste. >>Hast du dich schon wieder unbeliebt gemacht?<<

>>Nicht dass ich wüsste.<< Ich tippte weiter an meinem Bericht über zwei tote Stadtstreicher, die ich beim Radfahren unter der Deutzer Brücke gefunden hatte.

>>Du sollst zum Chef kommen. Und das subito.<<

>>Habe keine Zeit. Der Artikel muss raus<<, knurrte ich. Die Asche des Zigarillos krümelte in die Tastatur. Zum Chef kommen, und das sofort? Ich war seit meiner Rückkehr vor achtzehn Jahren nicht in der Karriereleiter aufgestiegen. Aber in der Achtung meiner Kollegen. Die Leiter hatte mich nicht interessiert. Und so duldete man mich im Verlag als eine Art Faktotum, das irgendwo in der Kölner Südstadt hauste und den seltsamsten Stories nachging. Ein Kollege, der einen klapprigen Golf fuhr, wenn der mal gerade nicht wieder irgendwo abgeschleppt herumstand, aber der meistens mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn unterwegs war. Die Vorgesetzten wussten um meinen Querkopf als ehemaliger Kriegsjournalist und duldeten meine Eigenheiten.

>>Treib es nicht zu weit<<, drohte Inga mit dem Finger. >>Da warten ein paar Leute auf dich. Der Boss scheint etwas in Erklärungsnot zu stecken. Also beweg deinen Arsch.<< Inga war die Sekretärin vom Chef und eine dralle Brünette. Wir führten unseren kleinen Privatkrieg, wenn es um die Positionsbestimmungen zwischen mir und der Verlagsleitung ging. Die da oben nervte es, ich hatte meinen Spaß. Ich brauchte sie nicht. Ich war zum Existenzialisten geworden, der mit dem, was er hatte, zufrieden war und hackte den Artikel zu Ende. Inga überflog ihn kurz und schüttelte den Kopf. >>Der bleibt wohl momentan besser hier. Nimm den Ordner und geh’ endlich zum Boss.<<

>>Und was ist in dem Ordner?<<

>>Besprechungsprotokolle mit dir seit 1976. Nur als Erinnerung.<<

Der Ordner wog schwer. Hatte ich so viel in den Konferenzen gesagt, die regelmäßig freitags stattfanden? >>Und auf was soll ich achten?<<

>>Auf den Anfang, du Idiot. Los, geh endlich. Du könntest hier schon längst der Chef sein, wenn du nicht so ein verdammter Einzelgänger wärst<<, maulte sie und zeigte mir einen Vogel. >>Glaubst du, dass ich sonst wegen dir Stunden im staubigen Archiv verbracht hätte, um den ganzen Kram zusammenzusuchen, wenn es nicht wichtig wäre?<<

Ich überflog die ersten Seiten und pfiff durch die Zähne. Die erste Konferenz hatte ich längst vergessen. Mein Vorschlag den Bericht auf die erste Seite zu setzen, war damals abgeschmettert worden und irgendwo in der Samstagsausgabe unter „Reisejournal“ verschwunden.

Das Büro des Chefs, an dessen Tür der Name Franz Stöpel Chefredakteur prangte, glich einer Räucherkammer mit Filterpapieren, die sich auf zwei Schreibtischen stapelten. Franz war schon fast so alt wie die Redaktion und zählte die Tage bis zur Rente. Dass er noch auf seinem Stuhl saß, verdankte er seiner Erfahrung und einem untrüglichen Gedächtnis, das schneller als jeder Computer auf ein Suchwort reagierte. Das bescherte ihm gewisse Freiheiten. Unter anderem, dass in seinem Büro jeder rauchen konnte, soviel er wollte. Und das taten die Anwesenden reichlich. >>Wer nicht säuft und raucht, der taugt in unserem Beruf nichts<<, knurrte er, wenn ihn einer der Nichtraucher auf diese „Belästigung“, wie sie es nannten, ansprach. >>Unsere Zeitung kann man in der Kneipe und an der frischen Luft lesen. Wie sie gemacht wird, ist unsere Sache.<<

Die Zigarre, seine geliebte Brasil, wippte zwischen den Lippen und krümelte die Asche auf seinen Bauch.

>>Ach Peter. Da bist du ja. Nimm Platz<<, winkte er mich auf einen Stuhl am Besprechungstisch. Vier Personen nickten mir huldvoller zu, als mir lieb war. Das sah nach einer Krisensitzung aus. Der zweite Bürgermeister von Köln, der Polizeipräsident von Köln. Die waren mir reichlich bekannt und bekamen in meinen Artikeln öfter ihr Fett weg, als ihnen lieb war. Die junge Frau und den Mann daneben kannte ich nicht. Franz lächelt über mein höfliches Kopfnicken als Begrüßung. >>Unsere beiden Stadtopfer kennt du ja. Die Dame neben dir ist Dr. Juliane Schmitt vom Robert-Koch-Institut.<< Die junge Frau mit dem blonden Zopf und dem dunkelblauen Kostüm roch gut. Sie lächelte verbindlich und nickte zurück.

>>Ja, und der Herr gegenüber …<<, er wog den Kopf hin und her und zögerte. >>Sagen wir es mal so, er ist stiller Beobachter der Regierung und kann zu diesem Zeitpunkt nicht in die Öffentlichkeit. Inga .<<, brüllte Franz ins Vorzimmer. >>Komm endlich mit dem Kaffee und dem Block. Wir wollen anfangen.<<

>>Für dich und Peter wie immer, besonders stark?<<, kam es zurück.

Besonders stark hieß, dass unser Kaffee mit Cognac verdünnt wurde.

>>Frau Doktor, fangen Sie bitte an, damit wir hier alle verstehen, um was es geht<<, prostete Franz den Anwesenden zu und setzte seine Tasse zurück. >>Zu spät<<, murmelte ich für mich. >>Wir sind hier nicht in einer Kneipe.<<

Doktor Schmitt hüstelte etwas und sortierte ihre Akte betont langsam. Sie lenkte von Franz’ Ausrutscher ab.

>>Bei den unter der Deutzer Brücke von Ihnen gefundenen toten Obdachlosen wurde bei der Obduktion Pest als Todesursache festgestellt<<, fing sie leise an.

Ich schluckte. Da war doch vor Jahren etwas gewesen. In Sibirien. Der Mantel, der bei mir im Schrank hing, da ich mich nicht mehr traute ihn zu tragen, ohne die Tierschützer der Gegend auf mich zu ziehen. Außerdem, wie sah ein Rad fahrender Wolf aus? Oder ein Zuhälter in einem rostigen Golf? Außerdem waren die sieben Felle einfach zu warm für unsere milden Winter. So strich ich nur noch gelegentlich durch das Fell und schwelgte in Erinnerungen an kalte Zeiten.

>>Es kann als gesichert gelten<<, riss mich Doktor Schmitt aus meinen Gedanken, >>dass die Pest von Flöhen über Nagetiere wie Ratten übertragen wird. In Europa dürfte sie nahezu ausgerottet sein. Doch in diesem Fall haben wir ein Problem.<< Sie zündete sich eine Zigarette an. >>Darf ich auch um einen stärkeren Kaffee bitten?<< Außer dem Namenlosen schlossen sich alle ihrem Wunsch an. Der ließ nur einen Rekorder mitlaufen und verzog keine Miene.

Inga brachte den Kaffee und stellte die Cognacflasche gleich dazu. Sie schloss die Tür, steckte sich auch eine Zigarette an und schrieb jedes Wort mit, das hier im Raum fiel.

>>Das Problem sind nicht die Ratten, mit denen diese Männer unter den Brücken in Berührung gekommen sein könnten. Das Problem ist ... sie hatten die Lungenpest. Die einzige, die wie ein Schnupfen von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Die Inkubationszeit beträgt maximal drei Tage und verläuft innerhalb von zehn Tagen tödlich. Die Sterblichkeitsrate liegt bei 95 Prozent, da sie viel zu spät diagnostiziert und wie eine Grippe mit den üblichen Mittelchen aus der eigenen Apotheke behandelt wird.<<

Der zweite Bürgermeister nickte sorgenvoll. Ich sah ihm an, was er dachte. Eine Epidemie in seiner Stadt mit einem dichten Transportnetz von öffentlichen Verkehrsmitteln. Sein Gehirn malte sich schon jedes mögliche Horrorszenario aus. Ein Pestverseuchter in jeder Straßenbahn, dann war die Hölle los. Daher saß auch dieser Unsympath von Polizeipräsident am Tisch.

>>Das ist ein Grund mehr, dass wir uns an die Öffentlichkeit wenden. Wir müssen sie warnen. Sie entschuldigen bitte. Ich muss den Artikel ändern<<, erhob ich mich.

>>Nichts werden Sie tun. Setzen Sie sich wieder<<, machte der Namenlose endlich den Mund auf. >>Wir können jetzt keine Panik gebrauchen.<<

Er sprach ein gutes akzentfreies Deutsch. Aber er war kein Deutscher. Seine Aussprache hatte die harte Intonation der Slawen. Sein grauer Anzug und die korrekt gebundene Krawatte zeugten von einer gewissen Kenntnis der Etikette. Die weißen Haare waren gescheitelt. Die Fingernägel waren manikürt.

>>Wollen Sie der Presse vorschreiben, was wir zu schreiben haben und was nicht?<<, wurde ich wütend.

Franz lächelte zufrieden und sagte nichts.

>>Sind wir hier bei einem zweiten Watergate? Nicht mit mir, wenn ich nicht sofort den Grund erfahre, warum ich hier bin, und wer Sie sind ... Herr Namenlos. Und machen Sie das Aufnahmegerät aus. Sonst fliegt es auf die Straße.<<

Der Namenlose schüttelte den Kopf. Meiner Drohung ließ ich sofort die Tat folgen. Ich griff über den Tisch, entnahm dem Gerät die Kassette, spulte sie auseinander, öffnete das Fenster und warf beides aus dem fünften Stock.

Der zweite Bürgermeister tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Der Polizeipräsident lockerte seinen obersten Hemdknopf und die Frau Doktor spielte nervös mit ihrem weißen Seidenschal.

>>Ich sagte doch, dass unser Redakteur Peter Stösser ein sehr impulsiver Mensch ist. Jahre als Kriegsreporter machen nun mal kein Lamm aus einem. Können wir dann mal zum Thema kommen?<<, griff Franz ein.

Inga stenografierte alles emsig mit.

Alle nickten. Ich versuchte mich mit einem Cognac wieder abzuregen. >>Also, was ist hier los? Was habe ich mit der Pest zu tun?<<

Der Namenlose reichte mir die Hand und nickte. >>Sie sind genauso, wie Sie mir geschildert wurden. Nennen Sie mich, wie sie wollen. Es muss so bleiben, wie es ist. Ich weiß alles über Sie. Sie werden nichts über mich erfahren. Können wir uns darauf verständigen? Danach gehen wir zusammen gerne einen unter meinem Spitznamen saufen.<<

>>Darf ich dann mal weitermachen?<<, meldete sich Dr. Schmitt wieder zu Wort.

7 - Peter Stösser und sein Freund, der Kommissar

>>Du machst ein Gesicht, als hätten die dich gerade vor die Tür gesetzt.<<

>>Kann man so sagen<<, knurrte ich, setzte mich und bestellte einen Espresso mit Amaretto und ein Kölsch. >>Was machst du überhaupt hier? Hat die Kripo nichts anderes zu tun, als hier in einem Café herumzulungern?<<

Rudolf Schibulski, genannt Rudi, grinste und bediente sich an meinen Zigarillos. >>Vielleicht bin ich hier nur stiller Beobachter. Under cover, wie es so schön heißt.<<

>>Du bist nicht mehr bei der STASI, sondern westdeutscher Polizeibeamter. Kannst du diese Spitzeleien nicht mal dran geben?<<

>>Ich war nie bei der STASI, sondern bei der Militärpolizei, der NVA, mein Lieber.<<

>>Ist da ein Unterschied?<<, knurrte ich. Ich war sauer auf mich, den Verlag und die ganze Welt.

Rudi nickte und schwieg. Wir waren fast Nachbarn und hatten eine gemeinsame Leidenschaft, unsere Samstagabende in unserer Stammkneipe „ERNA“. Hier redeten wir über Gott und die Welt oder wir pokerten, wenn wir genug Dumme fanden. Darin waren wir ein Team. Inzwischen wollte niemand mehr mit uns spielen und wir hatten uns dem Schach zugewandt.

>>Ich weiß, warum du dich ärgerst<<, deutete er auf die vor dem Verlag wartenden Fahrzeuge der gehobenen Mittelklasse. >>Stimmt´s? Die haben dir wegen der beiden toten Stadtstreicher einen Maulkorb verpasst.<<

Rudi lachte und krempelte sich die Ärmel seines karierten Hemdes hoch. Es wurde warm und er war wie immer unmöglich angezogen. Er war ein paar Jahre älter als ich und sein Aussehen war für einen fast 55jährigen nicht unbedingt vorteilhaft. Weder passte die ausgebeulte blaue Jeans zu den braunen Wanderschuhen, mit denen er ins Bett zu gehen schien, ich hatte jedenfalls noch nie gesehen, dass er andere anhatte, noch die Vorliebe für stark gemusterte Hemden, die nie mit seinem Militärparka korrespondierten. Der krönende Abschluss auf seinem dünn behaarten Kopf bildete eine Baseballkappe der Chicago-Bears.

Ich nickte. >>Du hast die Fahrzeuge schon überprüft?<<

Er nickte. >>Ja. Unser von dir so geliebter zweiter Bürgermeister. Ein Fahrzeug des Robert-Koch-Instituts und eines, das sich jeder Kontrolle entzieht. Die Nummer will der Computer nicht kennen. Das gibt mir zu denken. Was war da los?<<

Mir schien die Sonne auf den Bauch und das Kölsch schmeckte nach mehr. So ließ es sich aushalten. Aber ich musste in den Verlag zurück.

>>Kannst du mir nicht wenigstens einen Anhaltspunkt geben?<<, hielt mich Rudi zurück und bestellte noch zwei Bier.

>>Wozu? Zwei tote Stadtstreicher. Mehr ist nicht.<<

Rudi glaubte mir nicht und biss die Lippen zusammen. >>Verstehe, dass dich diese Phalanx von Obrigkeit zum Schweigen verurteilt hat. Aber kannst du mir nicht eine kleine Andeutung machen. Wenigstens eine klitzekleine? Ein Wort genügt mir und ich kümmere mich um diesen Wagen, der nicht zu identifizieren ist.<<

Rudi war ein guter Polizist. Auch wenn er von mir wegen seiner DDR-Vergangenheit oft gehänselt wurde. Er nahm es gelassen und hatte Methoden mitgebracht Fälle zu lösen, die man wohlwollend als „hart an der Grenze des Gesetzes“ bezeichnen konnte. Er war ein Einzelgänger wie ich.