Töchter der Triaden - Band2 - Hef Buthe - E-Book

Töchter der Triaden - Band2 E-Book

Hef Buthe

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Beschreibung

Der Anwalt Perkin, immer noch in den Fängen zweier verfeindeter Triaden, bekommt einen vermeintlich leichten Auftrag: die Asche eines verstorbenen Mitarbeiters ins Kloster KOYASAN, in den Bergen von OSAKA zu überführen. Doch der Auftrag nimmt gefährliche Dimensionen an. Perkin wird beschattet, von einem Doppelgänger verfolgt, das Kloster ist eingeschneit und wahrlich kein Ort der Besinnung... Es kommt zu einer Begegnung, die Perkin an seinem Verstand zweifeln lässt. Will ihn jemand in den Wahnsinn treiben?

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Töchter der Triaden

Teil 2

Abgezockt

Asien-Trilogie

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-028-2

MOBI ISBN 978-3-95865-029-9

 

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

Kurzinhalt

Der Anwalt Perkin, immer noch in den Fängen zweier verfeindeter Triaden, bekommt einen vermeintlich leichten Auftrag: die Asche eines verstorbenen Mitarbeiters ins Kloster KOYASAN, in den Bergen von OSAKA zu überführen. Doch der Auftrag nimmt gefährliche Dimensionen an. Perkin wird beschattet, von einem Doppelgänger verfolgt, das Kloster ist eingeschneit und wahrlich kein Ort der Besinnung …

Es kommt zu einer Begegnung, die Perkin an seinem Verstand zweifeln lässt. Will ihn jemand in den Wahnsinn treiben?

1 Aufbruch – Singapur

„Wie ist er gestorben?“

Siu setzte sich auf die Hollywoodschaukel.

„Außergewöhnlich. Ti Wu, deine Köchin, hat ihn gefunden. Er lag in seinem Kräuterbeet, ist einfach mit über achtzig Jahren eingeschlafen, was in deiner Familie eher selten zu sein scheint. Oder irre ich mich?“

Nein. Sie irrte sich nicht. In meiner Familie war seit zehn Jahren niemand eines natürlichen Todes gestorben. Alle waren einem Kampf zweier Triaden zum Opfer gefallen. Das Pikante daran war, dass ich inzwischen beiden Bruderschaften angehörte. Alpha, der Fürst der Triade „Grüner Drache“, war inzwischen verstorben. Seine Erbin Siu hatte mir ihr Milliardenvermögen zur Verwaltung überlassen. Sie war Ärztin im Central Hospital, Singapur. Etwas anderes interessierte sie nicht. Geld war für sie ein Störfaktor. Es war da, und damit hatte es sich. Die sich daraus ergebenden Probleme hatte sie mir aufgeladen.

„Der Mönch hat etwas hinterlassen.“ Siu reichte mir einen versiegelten Umschlag. „Mehr hatte er nicht. Seine Kleider haben wir verbrannt. Das war es. Wir sollten jetzt wissen, was er verfügt hat. Denn länger als 48 Stunden dürfen wir die Leiche nicht aufbewahren. Dann muss sie verbrannt werden und einen Ort haben, wo sie beigesetzt werden will -. ich meine wollte.“

Ich wog den Umschlag in der Hand, der mit einem Siegel verschlossen war. Siu zog die Beine auf die Schaukel und schwang leicht hin und her.

Der Abend draußen im Garten war warm und feucht, wie immer. In Singapur gab es keine Jahreszeiten. Hier mergelte einen die Luftfeuchtigkeit aus, die zwar für eine feuchte Haut sorgte und damit Cremes und Salben ersparte, aber durch die ständigen Warm-Kalt-Duschen des Drinnen-Draußen der Klimaanlagen den Körper in einen permanenten Stresszustand versetzte. Es war für einen Fremden ermüdend, hier zu leben. Und für mich war der Tod des Mönchs kein „einfach so Dahinscheiden“. Seit ich denken konnte, war er ein Bestandteil der Familie Perkin gewesen. Ein weiser und eigenwilliger Mensch, von dem ich viel gelernt hatte, was das Leben anbetraf, aber ich wusste sehr wenig von ihm. Er hatte selten über sich gesprochen, im Gewächshaus gelebt, seine Vögel geliebt, seine Kräuter und sonstige Pflanzen gezogen und alle auf dem Markt in Chinatown und an die Apotheken verkauft. Dabei war er nicht ganz ohne Tricks gewesen, was die Steigerung seines Tagesumsatzes anbetraf.

Der achtzig Zentimeter messende Clown ChiChi, ein Produkt des chinesischen Staatszirkus, Zauberer und Spieler der Extraklasse, kroch zu mir auf die Liege. Er war Sius Halbbruder. Beide hatten den verstorbenen Triadenboss Alpha als Vater. An Siu war für mich als Mann nicht heranzukommen. Sie mochte mich aus irgendeinem Grund nicht. Sie sah mich als ihren Vermögensverwalter, wohnte hier, aß mit uns und das war es. Dafür hatte mich der Clown als seinen Freund erkoren.

„Hab’ schon gehört“, murmelte er. „Der Mönch ist tot. Was machen wir jetzt mit den Vögeln?“

„Das, was man mit Vögeln macht. Freilassen“, seufzte Siu.

„Schwesterchen, du hast keine Ahnung vom Vögeln, ähm, ich meine von Vögeln. Der Mönch hat sie an Touristen für fünf Dollar verkauft, damit sie die Viecher freilassen können. Die Käufer hatten ein Erfolgserlebnis und nach fünf Minuten waren die Tiere wieder in ihren Käfigen, um sich noch ein paar Mal verkaufen zu lassen. Die kann man nicht einfach fliegen lassen. Die kommen immer wieder in ihren Käfig zurück. Und wer kümmert sich dann um sie? Sie sind Lebewesen.“

Siu winkte ab. „Dann kümmert sich die Küche darum. Ich habe einen Toten, den ich loswerden muss. Perkin, mach endlich den Umschlag auf. Ich bin müde.“

Ich riss das Siegel auf.

„Ihr seid doch alles Ignoranten“, knurrte der Clown. „Keine Tierliebe. Und wer keine hat, der kann auch keine Menschen lieben.“

Der Umschlag enthielt ein weiteres Couvert, das an den Abt des Klosters Koyasan adressiert war und ein offenes Schreiben an „die Familie Perkin“. Es war das Testament des Mönchs, in dem er alles genau festgelegt hatte. Bestätigt war sein Letzter Wille von meinem Vater, der vor zehn Jahren bei einem Anschlag ums Leben gekommen war. Siu las und atmete tief durch. „Dann kann ich seinen Leichnam morgen wenigstens zur Einäscherung freigeben. Er transportiert sich so auch leichter. Brüderchen“, sie reichte dem Clown das Testament, „Du organisierst den Transport der Urne, damit du hier nicht zu fett wirst und dich nur noch von Vögeln ernährst. Wie viele sind das eigentlich?“

ChiChi zuckte mit den Schultern. „Hundert. Vielleicht auch mehr. Aber sie kehren alle in ihren Käfig zurück.“

„Ja, wie wir alle irgendwohin zurückkehren müssen.“ Siu schüttelte den Kopf. „Wir sprechen beim Frühstück darüber. Aber die Idee mit den wiederkommenden Vögeln ist gut.“ Siu hauchte mir einen Kuss auf die Wange.

Es war das erste Mal, dass sie sich mir körperlich näherte. Meine bisherigen Annäherungsversuche hatte sie im Ansatz abgewürgt. Ich tat es damit ab, dass sie als ehemalige Leibärztin des in Südchina residierenden Triadenfürsten Dr. Stanley Ho die Sünden ihres Vaters Alpha aushalten musste, und momentan nicht das geringste Interesse am anderen Geschlecht hatte.

„Vielleicht ist mir dein Käfig noch nicht sympathisch genug.“ Sie fuhr mir durchs Haar. „Also streng dich an.“

„Ich fasse es nicht“, murmelte der Clown. „Meine Schwester scheint dich zu mögen. Ihr solltet heiraten. Dann seid ihr mit ihren Milliarden das reichste Paar in Singapur.“ Der Clown lutschte am Daumen und zog die Stirn in Falten. „Na ja, dann ist für mich vielleicht auch mal was drin. Familie und so. Ich hätte da schon eine Frau, die mir gefällt. Sie ist zwar zwanzig Zentimeter größer als ich, aber ... sie kommt auch aus dem Zirkus. Und letztendlich kommt es auf die inneren Werte an. Oder, was meinst du?“

„Ach ja“, lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Milliarden zu haben, bedeutet nicht, dass man sie hat. Das Geld ist irgendwo gebunden. Fest angelegt in Immobilien, Beteiligungen und was es sonst noch so gibt. Du kannst nur über das Geld verfügen, wenn du es beleihst. Und das kostet wieder Geld.“

Der Clown wog den Kopf hin und her. „Aber Helen und du habt doch eure Provision, um Sius Vermögen namhaft zu machen, von dreihundert Millionen in bar kassiert. Also habt ihr doch Bargeld. Oder?“

Ja, wir hatten von Siu 300 Millionen bekommen, die ich mit Helen geteilt hatte. Aber, das war nicht mein Problem. Das bestand darin, dass es mir nicht gelang, eine Familie zu gründen und ein normales Leben zu führen.

„Warum bringst du deine zwanzig Zentimeter größere Freundin nicht mal mit?“

ChiChi blies die Backen auf und ließ die Luft über vibrierende Lippen entweichen. „Mit was soll ich ihr denn imponieren? Dass ich in der Hütte eines verstorbenen Mönchs lebe, die in einem Gewächshaus steht? Oder, dass meine Halbschwester Milliardärin ist, die sich selbst nur verwalten lässt? Das klingt alles nicht sehr sexy. Ich dachte, dass du da mehr Erfahrung hast. Der Mönch war da besser.“

Ja, der Mönch, mit bürgerlichem Namen Cho Li, war in vielem besser gewesen. Und im Testament hatte er darauf bestanden, dass ihn ein Perkin in seiner Heimat beisetzen musste. Und die war das Kloster Koyasan, auf dem Berg Koya in Japan. Das Kloster, in dem auch Alpha seine letzte Ruhe gefunden hatte. Es war das Zentrum der Shingon Sekte.

„Die Wohnung meiner Eltern ist frei, nachdem du Xantia und meinen Fahrer in die Luft gesprengt hast. Reicht das als Imponiergehabe?“

Der Clown wedelte mit dem Finger. „Nein, nein. Es ist nie geklärt worden, wer die Explosion ausgelöst hat. July hatte auch ein Handy meiner Schwester Siu. Beide konnten die Explosion auslösen.“

Das stimmte. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren auch bald eingestellt. Wer Xantia letztendlich getötet hatte, interessierte niemand mehr. Nicht einmal ihr Vater Stanley Ho hatte irgendwelche Vorwürfe erhoben. Er schwieg einfach. Für ihn hatte sich ein Problem in Rauch aufgelöst.

„Du meinst ...?“, kam mir eine Idee.

„Ich meine überhaupt nichts“, wehrte der Clown ab. „Ich weiß, dass Ho an alle seine Leute solch ein Handy verteilt hat. Damit können mindestens tausend Leute Xantia angerufen und die Explosion ausgelöst haben. Also Schluss mit deinen Selbstvorwürfen. Ho hat das geschickt eingefädelt, und er wird sich auch weiterhin etwas einfallen lassen, um seine Gegner aus dem Feld zu räumen.“ ChiChi quälte sich mit seinen kurzen Beinen von der Liege. „Ho wird dich nicht aus seinen Klauen lassen. Jetzt, nachdem ihm Siu finanziell ebenbürtig ist, schon dreimal nicht.“ Der kleine Mann streckte sich und gähnte. „Du hast mir mal versprochen, einen Zirkus zu kaufen. Stehst du noch dazu?“

Ja, das hatte ich und ich nickte. Der Clown wackelte mit dem Kopf. „Dann habe ich ja etwas, mit dem ich meiner Freundin imponieren kann. Eine alte Wohnung kommt bei ihr nicht so gut an. Aber ein Zirkus auf Sentosa ... ich glaube, das würde ihr imponieren“, schnalzte er mit der Zunge.

Das war keine schlechte Idee. Auf der Singapur vorgelagerten Insel Sentosa, die über eine Seilbahn zu erreichen war, hatte die Verwaltung vor Jahren ein Vergnügungsviertel für Familien eingerichtet. Jedes Wochenende strömten hunderttausend Menschen in dieses künstliche Paradies, um ein paar Stunden Entspannung zu finden -. und einen Zirkus gab es dort noch nicht. „Wieviel soll er kosten?“

ChiChi grinste. Er hatte sich schon auf diese Frage vorbereitet. „Wenn wir die Vögel mitnehmen, die ja jeden Tag Geld bringen, einen Eis- und Popcornstand hinzunehmen, das Zelt, die Konzession, ein paar Tiere, und natürlich nur die besten Artisten.“ Er kratzte sich am Kopf und schwang mit dem Körper hin und her. „Fünf Millionen könnten reichen. Nur für den Anfang natürlich.“

„Für den Anfang, natürlich“, versuchte ich ein Grinsen. „Vergiss es. Wenn das nicht vom Staat subventioniert wird, brauchst du die gleiche Summe jedes Jahr als Zuschuss. Lass dir was anderes einfallen. Sieh zu, dass die Urne des Mönchs nach Osaka kommt. Das liegt dem Kloster am nächsten. Gute Nacht.“

Der Clown setzte sich wieder zu mir auf die Liege und kratzte sich am Kopf. „Alpha ist doch dort beigesetzt. Ich fliege mit. Ich möchte wissen, warum mein Erzeuger ausgerechnet in einem buddhistischen Kloster beigesetzt wurde.“

Der Zwerg fehlte mir noch. Das interessierte mich selbst und das, was in dem versiegelten Umschlag des Mönchs an den Abt war. Cho Li hatte viele Jahre viel im Haus mitbekommen. Warum dann ein verschlossener Umschlag?

„Das Kloster liegt über tausend Meter hoch und es liegen dort über fünfzig Zentimeter Schnee. Was willst du da mit deinen achtzig Zentimetern? Dir ständig die Eier im Schnee abfrieren?“, versuchte ich ihn davon abzuschrecken mitzukommen. „Das wird deiner Freundin nicht gefallen.“

ChiChi stand auf und knurrte etwas, das sich wie ein Fluch anhörte. „Na schön. Tiefgekühlte Eier sind wirklich nichts. Aber das ist auch nichts für dich.“ Er zog ein Papier aus der Jacke, das ich kurz überflog. „Woher kommt das?“ ChiChi zuckte mit den Schultern. „Hat Helen im Büro vorgefunden, und sie ist vorsichtshalber zu diesem deutschen Journalisten gezogen. Ich glaube Ho braucht dich ... und diesmal lässt er sich nicht wieder von dir aufs Kreuz legen.“

„In einer Woche ist Siu bei mir.“ Unterschrieben war es mit Blut. Es war nur ein blödes Blatt Papier, das keinerlei rechtliche Handhabe bot. Einfach nur ein Satz, eine Feststellung oder eine Einladung. Jeder Polizist oder Staatsanwalt würde das in die Kategorie der freundlichen Mitteilungen einordnen. Aber, es war mehr. Ho erklärte mir den Krieg, wenn Siu nicht zu ihm zurückkam.

„Wo willst du hin?“

„Das Geflügel des Mönchs füttern, bevor es im Topf landet“, knurrte der Clown, „Und mir etwas einfallen lassen, womit ich meiner Angebeteten noch imponieren kann, nachdem du so geizig bist. Vielleicht erregt es bei ihr Aufmerksamkeit, dass ich die Asche eines Mönchs verschwinden lassen kann. Oder ich zaubere ihr etwas. Einen zweiten Perkin, mit dem man reden kann. Oder eine weitere Leiche hier im Garten. Mal sehen. Mir fällt schon etwas ein.“ Der Clown trippelte Richtung Gewächshaus und drehte sich im Dunkel der Nacht kurz um. „Ich könnte ja auch mal wieder auf dich wetten. Fünf Millionen bist du mir wert. Lebend oder tot.“

„Und, auf was setzt du? Du sollst doch auf mich aufpassen“, rief ich ihm hinterher.

„Ich denke nicht mehr daran, mir wegen dir tief gefrorene Eier und einen kalten Arsch zu holen. Ich wette auf deinen Tod“, kam es zurück.

„Und, was macht dich da so sicher?“

Es folgte ein Lachen. Ein Lachen, das nur Künstler auf Kommando beherrschten, um das Publikum zu animieren. Es klang so abgrundtief echt und gleichzeitig doch so verschlagen, wie die Schönheit einer fleischfressenden Pflanze, wenn sie sich um ihre Beute schloss.

„Weil du dir mit Siu schon wieder eine Schlange angelacht hast. Wieder eine Shuairan, bei der du nie weißt, welches Ende giftiger ist. Gib Ho das, was er will und nimm dir, was du brauchst. Onkel Ho ist finanziell momentan nur etwas unpässlich. Die paar Milliarden meiner Schwester interessieren ihn nicht, und du kannst ihm damit auch nicht drohen. Er will dich und Siu. Überlege dir das.“

„Und wer setzt dagegen?“, rief ich ihm nach. Bekam aber keine Antwort.

Eine Woche später

„Wie siehst du denn wieder aus?“ Helen schüttelte den Kopf. „Wann merkst du dir mal, dass zu einem gestreiften Hemd keine karierte Krawatte passt? Zieh das Ding sofort aus. Das kann ich nicht ertragen, und sag mir nicht, dass du damit schon die ganze Zeit herumläufst.“

„Wie geht es dir? Ich wollte dir nur die Umschreibung des Mietvertrags für das Büro auf dich bringen“, lenkte ich ab. Die letzten Tage hatten mir gezeigt, welchen Schaden mir Ho zugefügt hatte. Alte Kunden boten mir einen Tee an und komplimentierten mich unter Vorgabe eines dringenden Termins hinaus. Ich war zwar reich, hatte aber in der Gesellschaft mein Gesicht verloren. So hatte ich mich anderweitig beschäftigt. Hatte an der Börse gepokert, und war somit nicht besser als mein Vater. Wenn schon kein Gesicht mehr, dann sollte es wenigstens der Neid der anderen sein, der mir Achtung verschaffte.

„Mir geht es gut“, versuchte Helen ein Lächeln. „Mir fehlt eine Lu, die alles im Griff hat. Aber danke, die Geschäfte laufen gut.“

„Und dein Zustand. Wie fühlst du dich?“

Helen faltete die Hände und beugt sich über den Schreibtisch, der mal meiner gewesen war. „Diese schwachsinnige Frage kann auch nur ein Mann stellen. Wie soll sich eine Frau fühlen, die nie wieder ein Kind bekommen kann? Würdest du jetzt bitte gehen? Ich habe zu tun. Kümmere dich um Sius Vermögen und dein eigenes Leben. Ho wird mir zu gefährlich. Und dich noch einmal zu betreuen, macht mir keinen Spaß mehr. Das wird mir zu heiß. Da bleibe ich lieber bei meinen kleinen Börsianern. Von denen hat jeder Hundescheiße durch Insidergeschäfte an den Schuhen.“

Ich verstand. „Schon gut. Ich belästige dich nicht mehr. Wenn du Hilfe brauchst ... du weißt ...“

Helen nickte. „Ich weiß, ich weiß. Danke für die Erinnerung. Hast du dir endlich eine Sicherheitsanlage einbauen lassen?“ Ich nickte stumm und schloss die Tür hinter mir. Harrys Bar, meine Stammkneipe, war auch kein Erfolg. Mein Stammplatz war besetzt und Jean, der Inhaber, nahm mich nicht zur Kenntnis. Die Gesellschaft war auf Distanz gegangen, hatte mich kollektiv schuldig gesprochen, mit den Triaden zusammenzuarbeiten. Ich war keiner mehr von irgendwem. Ein Anwalt, dem man nicht mehr trauen konnte, der draußen im Naturschutzgebiet lebte, und sich sein Gelände inzwischen zu einer Festung hatte ausbauen lassen. Drei Wachleute schoben vor den Monitoren Schichtdienst. Ich hatte einen neuen Fahrer, den mir der Commander als ehemaligen Polizisten empfohlen hatte. Und ich war diese Woche durch eben diese Insidergeschäfte und Sius Kapital um fünfzig Millionen reicher geworden. Nein, Siu war reicher geworden. Mein Anteil von zehn Prozent würde reichen, um ChiChi für seine Freundin sexy zu machen.

„Irgendwelche Vorkommnisse?“ Der Wachmann schloss das Tor hinter mir. „Nein, Sir. Wir sollten nur eine Liste haben, welche Lieferanten täglich kommen. Ihre Köchin weigert sich, uns die zu geben. Außerdem bekommen wir morgen Hunde, die nachts das Gelände zusätzlich sichern.“ Ich nickte. Langsam trieb mich Hos Sicherheits- und Überwachungswahn in die gleiche Richtung. Geld machte sicherer, aber nicht glücklich, wenn man es behalten wollte. Entweder gab man es für Ärzte, Anwälte oder für die eigene Sicherheit aus. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich es für alle Berufssparten brauchte.

„Wer ist momentan auf dem Gelände?“ Der Wachmann zückte seinen Block und leuchtete ihn mit der Lampe an. „Es fehlt niemand. Mrs. Siu ist im Pavillon. Mr. ChiChi im Glashaus und der Rest da, wohin er gehört. Fahren Sie heute noch einmal weg? Sonst kann ich das System scharf schalten.“

Das System scharf schalten. Wie sich das anhörte! Als befände ich mich mitten in einem Krieg. Hunde auf dem Gelände. Irgendwer kam bestimmt noch auf die Idee, meine Zäune zu verminen. Dann war es Zeit, dass ich mich mit einer Angel auf das Gelände nach Langkawi zurückzog.

Siu hatte das Handy auf der Brust liegen und schlief. Die Fackeln im Pavillon flackerten im Abendwind und beleuchteten sie wie eine Lotosblühte, die ihre Blätter für die Nacht geschlossen hatte. Ich zündete eine Zigarre an und streckte mich in meinem knarrenden Sessel aus.

Siu hob die Lider. „Hast du mal eine Zigarette für mich?“ Seit wann rauchte sie? Und eine Zigarette hatte ich auch nicht. „Schon gut“, winkte sie ab. „Ich habe heute in der Klinik gekündigt. Ich muss doch verrückt sein, noch Schichtdienst als Angestellte zu schieben. Ich habe gerade mit Helen telefoniert. Sie sagt, dass du nicht gut aussiehst. Und sie ist auch nicht damit glücklich, wie es ist.“ Sie richtete sich in der Liege auf. „Ich gehe zu Ho zurück. Dann ist wieder Ruhe. Helen und du könntet ja ein Kind adoptieren. Dann seid ihr doch noch eine Familie. Ihr gehört zusammen. Sie ist Europäerin, du bist kein ganzer Asiat und kein ganzer Europäer. Du musst dich entscheiden, wohin du gehörst. Mehr kann ich nicht für euch tun.“

Entscheiden, wohin ich gehörte. Die Entscheidungen hatten bisher immer andere für mich getroffen, ohne mich zu fragen. Und ich hatte es geschehen lassen. Jetzt musste Schluss damit sein.

„Was ist das?“, besah sich Siu den Umschlag. „Meine Entscheidung. Du besitzt jetzt zehn Prozent an der Stanley Ho Corporation. Du bist somit Mitteilhaberin an ihm und hast sofort fünfzig Millionen an seinem Börsengang verdient ... abzüglich meiner Provision. Wo ist ChiChi?“

Siu sah sich kopfschüttelnd den Aktiendepotstand an. „Wie hast du das gemacht, mal eben fünfzig Millionen zu verdienen?“

Das fragte man mich besser nicht. Es war weit außerhalb der Legalität und nur durch die Zusammenarbeit mit einem Börsenmakler zustande gekommen, der noch eine Rechnung bei mir offen hatte.

„Wozu gehöre ich beiden Bruderschaften an? Ich habe mit unseren beiden Vermögen gepokert und gewonnen. Wo ist ChiChi. Ich habe hier den Grundstein für seinen Zirkus.“

Siu schob die Augenbrauen zusammen. „Hat er dich auch für diesen Zirkus angepumpt?“ Ich nickte und spielte mit dem fünf Millionen Umschlag. „Vergiss es. Er hat mich gerade zu einer zwanzig Millionen Bürgschaft überredet. Und jetzt trainiert er die Vögel auf Hitchcock. Wenn sie fressen wollen, dann müssen sie es in seinen Kleidern und in seinem Mund finden. Der spinnt komplett. Das soll die Sensation werden. Oder steckt da eine Frau hinter?“

„Woher soll ich das wissen?“, schmunzelte ich. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie weit ist er mit der Überführung des Mönchs?“

Siu seufzte. „Du spielst in Zukunft nicht mehr mit meinem Vermögen, wenn das nicht vorher mit mir abgesprochen ist. Haben wir uns verstanden?“ Sie wartete meine Reaktion nicht ab. „Die Asche des Mönchs muss in den Zentralzoll nach Tokio. Da wird sie erst auf Seuchen untersucht. Und wenn sie freigegeben wird, dürfen wir sie dort abholen. Vorher geht bei den Japanern nichts. Die spinnen doch. Als würde Asche noch Viren oder Bakterien enthalten. Und, wie bringen wir die Urne nach Koyasan? Im Einkaufskorb? Wie sieht das denn aus? Das ist keine würdige Bestattung. Kannst du da nicht was machen?“ Siu schüttelte wieder den Kopf. „Männer spinnen doch alle. Trotzdem DANKE für ein paar Millionen mehr. Das lässt mich darüber nachdenken, ob ich Hos Aufforderung annehme. Hast du noch ein paar Tipps, wie ich ihn und seine Geschäfte übernehmen kann?“ Sie winkte mit dem Zeigefinger und ich verstand. Keine Geschäfte mehr ohne ihre Genehmigung.

Nein, ich hatte keine Tipps, wie man Ho überwinden konnte. Es war wie die Frage des Baches, wie viel Wasser er noch fließen lassen musste, um den Berg über ihm, der seinen Lauf zu Umwegen zwang, abzutragen. Es würde unendlich viel sein. Mehr, als eine Generation von Flüssigkeit imstande war zu transportieren.

„Wir werden Ho nur dadurch stoppen, indem er sich nicht und wir uns stattdessen vermehren. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht“, atmete ich tief durch. „Er kennt keine Grenzen. Und wenn es welche gibt, dann kauft er sich die Grenzposten, oder eliminiert sie. Ganz, wie es die Situation erfordert.“

Siu spielte mit den Lippen. „Du bist ja fast weise. Und was machen wir nun? Er will mich zurück, kann dich aber aus geschäftlichen Gründen nicht umlegen ... noch nicht.“

„Nein, das kann er noch nicht“, überlegte ich. „Es sind noch acht Monate, bis endgültig über die Spiellizenzen entschieden wird. Und du hältst dich da besser raus. Er wird eine andere Frau finden, der er zwischen die Beine greifen kann. Aber niemand in der Zeit, der ihm hilft, wenn es finanziell klemmt. Und es scheint bereits zu klemmen. Die Las-Vegas-Gruppe hat anscheinend mehr geboten, als er momentan flüssigmachen kann. Du bleibst hier. Ich fliege morgen nach Tokio, um den Mönch aus dem Zoll zu befreien, und ich muss July vor dem sicheren Tod bewahren.“

2 Ankunft in Tokio, Narita Airport 20.30 Uhr. Airport Hotel.

„Sie haben nicht vorgebucht, Sir!“ Der Mann am Empfang ging die Listen durch. „Tut mir leid, Sir, in Tokio ist Messe und wir sind ausgebucht. Wir haben kein Zimmer für eine Nacht mehr frei. Dürfte ich Ihnen ein Ausweichquartier in der Innenstadt empfehlen? Es ist einfach, aber mit Familienanschluss. Von dort haben Sie es nicht weit zum Anschluss nach Osaka mit dem Shinkansen.“

Siu zog die Stirn in Falten. „Woher wissen Sie, wohin wir wollen?“

Der junge Mann wurde nervös und winkte eine weibliche Ablösung herbei. „Doktor Siu, würden Sie mir bitte folgen. Ihr Begleiter darf ruhig mitkommen. Es ist mir alles so unendlich peinlich, aber wir hatten Sie nicht mehr erwartet.“

„Wer hat hier was nicht mehr erwartet?“, hieb Siu mit der flachen Hand auf die Planke des Empfangs. „Mr. Perkin fragt nach einem Zimmer. Gut, Sie haben keins mehr und leiten uns sofort um?“

Der Empfangsmann schüttelte den Kopf. „Nein, so ist das alles nicht. Das Hotel gehörte Ihnen, ich meine Ihrem Vater ... bis vor ein paar Wochen. Und da ist es schon peinlich für mich, Ihnen kein Zimmer anbieten zu können. Würden Sie bitte mitkommen? Dann erkläre ich Ihnen alles.“

„Hat der Mann gerade gesagt, dass mir das Hotel gehörte? Ich glaube, dass ich mal einen Arzt aufsuchen sollte. Ich habe schon Visionen.“

Wir wurden in kleines Büro, besser in einen Verschlag geleitet. Der Empfangschef entpuppte sich als der Hotelmanager. Er schloss einen Tresor auf, entnahm ihm eine Mappe, die mit einem schwarzen Band verschlossen war, zog den Knoten auf.

„Bitte. Lesen Sie. Es ist das Übernahmeprotokoll der Stanley Ho Corporation vor zwei Monaten.“

Siu schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Der Mistkerl eignet sich aber auch alles an, was meinem Vater gehört hat. Ich habe ihn zu gut gepflegt. Ich hätte ihn verrecken lassen sollen.“ Sie knetete die Hände, bis die Knöchel weiß hervortraten.

„Verstehe“, murmelte sie. Ich verstand nichts und wartete ab.

„Was ist das für ein Ausweichquartier?“

Der Hotelmanager schmunzelte und verschloss die Akte wieder.

„Eines, das Ihrem Vater noch gehört. Das Hauptquartier der „Grünen Drachen“, deren Chefin Sie jetzt sind. Man erwartet Sie in zwei Stunden.“

Zentrale „Grüner Drache“ – Dang Chu Foundation

„Kneif mich mal. Das träume ich doch hoffentlich nur!“ Siu lehnte den Kopf an das Fenster des Taxis. „Was zur Hölle soll ich mit der Triade meines Vaters anfangen? Der ist tot und wir wollen nur ein paar Aschekrümel eines völlig unbeteiligten Mönchs in seine Heimat zurückbringen. Ich möchte das Grab meines Vaters in einer unwirklichen Jahreszeit sehen. Und was erlebe ich?“

„Einmal Grüner Drache, immer Grüner Drache!“ Ich lehnte ich mich zurück und ließ meine Gedanken kreisen. Ho ließ weder Siu noch mich ziehen. Er kaufte Alphas Liegenschaften auf, wo immer er sie fand. Woher wusste er davon? Die standen nicht mal so eben in der Immobilienbörse der Zeitungen. Helen und ihr Tröster, dieser deutsche Journalist Peter Stösser? Ich schüttelte den Gedanken ab, schon wieder von Ho aus einer anderen Richtung infiltriert zu sein.

Siu suchte meine Hand und drückte sie. „Was machen wir jetzt? Ho ist uns allen überlegen und ich habe vom Geschäft keine Ahnung. Wohin fahren wir überhaupt?“

„Ins Hauptquartier einer chinesischen Triade in Japan“, murmelte ich und ahnte, dass hier eine Reihe von Problemen zwischengelagert waren, die auf eine Lösung warteten. Alpha war tot, aber er hatte wie ein Gärtner überall seine Saat hinterlassen, die jetzt zu keimen begann.

Die Ausfahrt der Schnellstraße kündete davon, dass wir uns in Yokohama befanden. Die ehemals selbstständige Stadt war inzwischen vom Moloch Tokio geschluckt und zum Randbezirk degradiert worden.

Der Fahrer hatte den Taxameter nicht eingeschaltet. Wir fuhren durch ein Drachentor, das mit roten Lampions geschmückt war. Kabel zogen sich von einer Straßenseite zur anderen. Sie verschwanden in einem Verteilerkasten an einer Hauswand, um sich mehrsträngig auf andere Gebäude zu verteilen. Hier besorgte sich jeder seinen Strom, wie er es brauchte. Wir waren in Chinatown und drängten uns im Schritttempo durch Menschenmassen, deren Leben erst nach der Arbeit und bei Dunkelheit begann. Oder die Dunkelheit war ihre Arbeit.

„Wie viel bekommen Sie?“ Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. „Das geht auf die Bruderschaft. Wir sind da. Sie müssen nur hineingehen. Ich fahre Sie morgen zum Zollamt. Ich bin Ihnen als Fahrer zugeteilt.“

Inmitten von mehrgeschossigen Wohn- und Geschäftshäusern duckte sich ein zweistöckiger, weiß geklinkerter Bau, mit einem kleinen Vorgarten und einer Balustrade, die einem Tempel nachempfunden war. Das Gebilde passte überhaupt nicht zum Baustil und sah wie der Beutel eines Kängurus aus. Das Messingschild am Eingang wies das Anwesen als „Dang Chu“ Foundation aus, was Alphas Familienname gewesen war.

„Mein Vater erstaunt mich immer mehr“, sagte Siu. „Welche Überraschungen hat er sich noch ausgedacht? Er kommt mir wie ein Krebsgeschwür vor, bei dem man auch nie weiß, wohin es schon seine Metastasen geschickt hat, bevor man es entdeckt. Bekämpft man die eine Stelle, kommt es woanders wieder zum Vorschein. Eigentlich ist das ein Kampf, der den Patienten nur sinnlos quält, damit wir Ärzte neue Erkenntnisse bekommen, die uns auch nicht wirklich weiterbringen. Krank sein heißt heute nichts anderes, als wie eine menschliche Laborratte benutzt zu werden.“ Siu sah sich um. „Chinesen sind wie ein Tumor. Uns gibt es überall. Scheußlich, wenn eine Rasse durch ihre Masse zu Herrenmenschen mutiert.“ Sie schüttelte missmutig den Kopf. „Was meinst du als halber Russe dazu? Das ist doch auch bei euch schief gegangen ... das mit den Massen und dem Proletariat. Oder?“

Dazu hatte ich meine Meinung, die eher der von Darwin entsprach und unabhängig von soziologischen Weltanschauungen war. Ich sagte nichts und drückte die Klingel am Eingang. Der Fahrer trug uns die Reisetaschen nach und verabschiedete sich mit einem Nicken.

„Kannst du mir erklären, wer ich bin und was ich hier soll? Ich will nur das Grab meines Vaters sehen und mich an dich gewöhnen. Mehr nicht. Und jetzt werde ich offensichtlich von einer Humanmedizinerin schon zur Triadenfürstin hoch stilisiert. Ich will das nicht.“

Die Frage war berechtigt. Aber beantworten konnte ich sie auch nicht, und ich kam mir reichlich hilflos vor. Wenn der Mönch mich nicht in seinem Testament als Überbringer seiner Asche und des verschlossenen Dokuments für das Kloster bestimmt hätte, wäre ich nicht hier. Hätte Siu nicht darauf bestanden mitzukommen ... hätte, hätte. Es war alles mit dem HÄTTE verbunden. Hätten mich meine Eltern nicht gezeugt, dann stünde ich jetzt nicht vor der Zentrale der „Grünen Drachen“ in Japan. Diese Triade war mal in Hongkong gewesen und mit der hatte aller Ärger angefangen.

„Nein, ich kann dir keine Antwort geben“, murmelte ich. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was hier vor sich geht.“

Mir war kalt. Den Dezember in Tokio hatte ich wärmer in Erinnerung. Weder Siu noch ich waren von der Kleidung auf Winter eingestellt. Hier war der Nieselregen eiskalt und drang wie spitze Nadeln durch die Kleidung. Auf das Klingeln tat sich nichts. Ein Nachbar hatte wohl den Strom gestohlen. Also betätigte ich einen Messingklopfer, der einen Drachen darstellte, der sich in den Schwanz biss. Schritte kamen näher, eine Klappe in der Tür öffnete sich, ein paar Augen musterten uns, der dazu gehörige Kopf nickte kurz und schloss sie wieder. Ein Riegel fuhr zurück, die Tür öffnete sich. „Miss Siu, schön Sie nach all den Jahren wieder zu sehen.“ Ein alter Mann mit auffallend buschigen, weißen Augenbrauen verbeugte sich kurz vor uns. „Nein, Sie können sich nicht mehr an mich erinnern“, winkte er ab. „Darf ich vorangehen? Es ist ihr Haus und Sie haben als Zweijährige schon auf meinen Knien geschaukelt. Ach, was rede ich für einen Blödsinn. Verzeihen Sie einem alten Mann. Haben Sie und ihr Begleiter schon gegessen? Ich lasse Ihnen sofort etwas zubereiten. Bitte gehen Sie die Treppe hinauf. Dort wartet man auf Sie. Ich kümmere mich um den Rest.“

Siu rollte mit den Augen. „Ich soll hier schon einmal gewesen sein? Im Alter von zwei Jahren kann man sich nie an etwas erinnern. Das Bewusstsein beginnt frühestens mit drei bis vier Jahren“, maulte Siu.

Die Eingangshalle glich dem, was um die Jahrhundertwende der Geschmack reicher Kaufleute gewesen war. Die Treppe und das Geländer waren aus Mahagoni, dem man einen roten Läufer verpasst hatte, der in den Stufenkniffen durch Messingstangen gehalten wurde. Auf den Absätzen reihten sich Vasen und Figuren aus feinstem Porzellan aneinander. Jede war ein Vermögen wert. Es roch nach einem unterschwelligen, aber betörenden Duft von Jasmin. Dafür fehlten die üblichen Fotos und Bilder der Vorfahren an den Wänden, die meistens seltsam unbeteiligt auf die Treppe blickten. So, als hätten sie genug damit zu tun, das Haus und die Treppe an ihrem Platz zu halten und die Besucher daran zu erinnern, welche Arbeit Generationen in diesen Besitz gesteckt hatten.

„Und das soll mir gehören?“ Siu sah sich ratlos um. „Warum weiß ich nichts davon? Das ist von Vater nie erwähnt worden.“

„Weil es wahrscheinlich mit einer Auflage belegt ist, die dir nicht gefallen wird“, meldete sich mein Instinkt. Aber, es war besser momentan nichts zu sagen. „Warte es ab. Wir werden sehen, was hier los ist. Gefallen tut mir das auch nicht. Aber bevor wir uns verrückt machen, sollten wir einfach warten, was passiert. Du kannst den Patienten nicht behandeln, wenn du nicht weißt, welche Krankheit er hat. Und dieses Haus hat eine Krankheit.“

Siu kniff mich in die Seite. „Bin ich hier die Ärztin oder du der Arzt?“

Ich versuchte ein Lächeln, das mir misslang. Mit jeder Stufe schien sich die Luft zu verdichten. Hier wartete etwas auf uns, das keinem von uns gefallen konnte.

„Du hast deine Erfahrungen, ich meine. Das Thema Grüner Drache ist noch nicht ausgestanden. Man hat uns direkt in die letzte Höhle des Drachen gelockt. Und der will Blut oder Geld. Wahrscheinlich beides. Also, lass mich reden“, flüsterte ich. Siu fauchte wie eine Wildkatze. „Jetzt sag’ nur noch, dass ich schuld bin, dass wir nicht einmal ein vernünftiges Hotelzimmer bekommen.“

„Genau. Was hast du hier zu suchen? Ich hätte dir ein Foto von Alphas Grab mitgebracht. Das stinkt doch zum Himmel. Woher wissen die überhaupt, dass wir hier sind? Da hat doch jemand in Singapur gequatscht. Wozu lasse ich eine Alarmanlage für Millionen installieren, damit keiner mehr rein kommt, aber sämtliche Informationen nach außen gehen?“

Siu hob kurz die Schultern. „Du hast recht. Das kann doch nur Helen oder ChiChi sein. Ich halte den Mund. Ich bin nur auf dem Weg zum Kloster. Die Bruderschaft geht mich nichts an, und du vertrittst mich in allen Belangen.“

Ich nickte halbwegs zufrieden. Aber meine Unruhe stieg mit jeder Stufe. Es war wie vor Gericht. Alle redeten Tage um den heißen Brei, schunden Zeit, ließen vertagen, um dann im entscheidenden Augenblick den Joker zu ziehen. Den Entlastungszeugen, der hieb- und stichfeste Beweise vorlegte, dass die Anklage so keinen Bestand haben konnte. Er schwor jeden bezahlten Meineid und alle waren zufrieden. Damit war das Gericht die undurchsichtigen Geschäftspraktiken der Finanzwelt los, die womöglich die eigenen Leute ins Kreuzfeuer brachten. Aus einem Mord wurde ein Betriebsunfall. Verfahren mangels Beweisen eingestellt. Man wollte seine Steuerzahler nicht unnötig vor den Kopf stoßen. Sie könnten ja auf die Idee kommen, die Arbeitsplätze nach China oder nach Bangladesch zu verlagern. Der nächste Fall bitte.

„Schön Siu, dich nach fast zwanzig Jahren einmal wieder zu sehen. Du bist ja richtig schön geworden. Und Ärztin sollst du auch sein“, kam es vom oberen Treppenabsatz.

„Wer ist das denn?“, flüsterte ich, ohne die Lippen zu bewegen.

„Und den Staranwalt unserer Bruderschaft, Mr. Perkin hast du auch gleich mitgebracht. Seid mir willkommen“, heuchelte der Mann über uns mit der Freundlichkeit einer Schlange, die im weißen Mao-Look keinen Hehl daraus machte, welcher politischen Richtung der Träger angehörte.

„Das ist Vaters jüngster Bruder“, flüsterte Siu. „Ein Stinktier ohne Grenzen. Ich dachte, den hätte man umgelegt. Sei vorsichtig.“ Siu lächelte und umarmte ihren Onkel. „Onkel So Chu, es freut mich, dass die Nachricht falsch war, dass du einem Anschlag erlegen bist. Wie geht es deiner Familie?“

So Chu nahm Siu in den Arm. „Danke der Nachfrage. Wir haben alle überlebt.“ Er reichte mir die Hand. „Willkommen Mr. Perkin. Es ist mir eine Ehre, den Feind meines Feindes bei mir begrüßen zu können. Darf ich euch zu einem kleinen Imbiss einladen und euch ein paar liebe Freunde vorstellen?“ Er ging voran und Sius Hand suchte meine. Sie drückte fest zu und schwieg. So Chu wusste demnach nichts oder noch nichts davon, dass ich die Fronten gewechselt hatte. Das nahm mir ein paar üble Gedanken ab. Denn ich war nicht mehr der Feind seines Feindes. Dass ich auch nicht Hos Freund war, war in diesen Kreisen keine Entschuldigung. Hier galt der Grundsatz: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

Das Gebäude war größer, als es von außen aussah. Diese Etage ließ niemand im Zweifel, wer hier residierte. Grüne Stofftapeten, mit in gelb abgesetzten grünen Drachen. Drachen aus Messing, Silber, Porzellan und Gold. Ein kleiner Altar mit Räucherkerzen und den Konterfeis der Vorsitzenden der Bruderschaft seit 1900. Mao, Chiang Kai-shek, die letzten Tennos, die mich nichts Gutes ahnen ließen. Was hatte eine chinesische Triade mit dem japanischen Kaiserhaus zu tun?

So Chu öffnete einen Teil einer mit Schildpatt besetzten Flügeltür und bat uns mit leichter Verbeugung in den Raum. Auch hier war alles grün, aber in Rot abgesetzt. Ein Tisch für eine Großfamilie, der auch als Besprechungstisch benutzt werden konnte. Ein offener Kamin, in dem Holzscheite loderten und davor eine Sitzgruppe mit den Schatten von vier Leuten. Siu ging einen halben Schritt hinter mir und hielt weiter meine Hand. Sie zitterte. Ihre Finger krallten sich in meine Handfläche. Über unsere nonverbale Kommunikation versuchte ich, mit meinem Daumen Ruhe auf ihre Haut zu übertragen.

„Bitte nehmt Platz. Es gibt gleich etwas zu essen.“ Unser Gastgeber deutete auf zwei freie Sessel, die nicht nebeneinander waren. Mein Platz war zwischen drei Männern und Siu bekam ihren zwischen dem Gastgeber und einer Frau, die direkt am Feuer saß und mich streng musterte. Im Flackern der Holzscheite wechselte sie ihr Alter zwischen sechzig und achtzig. Ihre feingliedrigen Hände zupften eine Decke über den Knien zurecht. Eine goldene Halskette wirkte an ihrem dürren Hals wie der Anker eines Überseeschiffes an einer Dschunke. „Schön, dass ich Sie auch einmal kennenlerne, Mr. Perkin“, deutete sie durch ein sanftes Kopfnicken einen Gruß an.“ Sie erwartete einen Gegengruß, ich nickte zurück. „Gehört haben Sie sicher schon von mir. Mein Name ist Winnie. Winnie Stanley. Das sagt Ihnen doch etwas. Oder?“

Scheiße, grollte es in mir. Die alte Frau war Onkel Hos Schwester, mit der er seit Jahren im Streit um eine Tantiemenzahlung eine Horde von Anwälten reich machte. Um was sich die beiden stritten, musste schon längst in Vergessenheit geraten sein. Hier ging es ums Prinzip. Die beiden bereicherten durch ihre Streitigkeiten zusätzlich die Presse, die bei jedem Prozess reichlich und genüsslich zugegen war. Jeder belauerte jeden, um ihm den finalen Todesbiss zu versetzen. Und da beide langsam über Kunstzähne verfügen durften, ließ man eben noch bissfeste Anwälte aufeinander los.

„Es ist mir eine Freude, Sie kennenlernen zu dürfen“, deutete ich eine Verbeugung an. “Was verschafft mir die Ehre?“

Winnie schüttelte kaum sichtbar den Kopf. Sie deutete ihre Zweifel an meiner vorgetäuschten Freude nur an.

Das Holz knackte und sprühte Funken wie ein wütender Drache.

„Die anwesenden Herren werde ich Ihnen bei Gelegenheit vorstellen.“ Sie deutete auf die Männer neben mir, die garantiert keine Chinesen waren. „Momentan tun Namen noch nichts zur Sache. Ich muss erst wissen, wo Sie stehen.“

Zwei Kellner unterbrachen uns mit den Snacks. Siu saß wie eine Statue neben der alten Dame und wagte kaum zu atmen.

„Was ist Kindchen? Sie müssen essen. Nur eine gesunde Frau hat auch gesunde Gedanken.“ Sie klopfte auf Sius Armlehne. „Sie sind Ärztin, wie ich erfahre und Sie haben meinen Bruder behandelt.“ Siu würgte ein „Ja“ hervor, weil es höflich war zu antworten, und nicht einfach zu nicken.

„Ausgezeichnet“, nickte Winnie. „Dann bleibt mir der alte Giftdrachen ja noch eine Weile erhalten und ich habe eine Chance, doch noch mein Geld zu bekommen.“

So Chu wurde der Kragen zu eng, und mir fehlten bei dieser Konstellation Informationen. Was hatte die Schwester der Ho’schen Bruderschaft bei den verfeindeten „Grünen Drachen“ zu suchen? Winnie benahm sich, als sei die Vorsitzende dieser verhassten und von ihrem Bruder bekämpften Bruderschaft. Und was machten alle zusammen in Japan? Winnie spielte mit der Ankerkette und wartete, bis alle gegessen hatten.

„Nun, Mr. Perkin, dann können wir, die hier versammelt sind, ja zur eigentlichen Angelegenheit des Abends kommen.“ Die Boys räumten das Geschirr fort und schlossen die Tür.

„Diese japanischen Gentlemen sind auch an der Spiellizenz in Macau interessiert. Wir hätten gerne Ihre Einschätzung der Sachlage. Wer bietet alles mit und wo steht momentan das Angebot?“

Siu verkroch sich in ihrem Sessel und rollte mit den Augen. „Hat jemand eine Zigarette für mich? Mir ist danach.“ Mit ihrer Frage verschaffte sie mir Luft zum Überlegen. Und die brauchte ich. Die Japaner waren potenzielle Investoren, die mein Wissen und meine Qualifikation überprüften. Winnie versuchte in Zusammenarbeit mit den Resten der „Grünen Drachen“ und den Japanern ihrem Bruder eine Schlappe im Kampf um die Spiellizenzen beizubringen. Mir musste eine Antwort einfallen, die logisch klang, aber mich und Siu mit ihrem Vermögen nicht mit hineinzog. Siu musste solange wie möglich die ausgebeutete Ärztin von Ho bleiben, denn von Alphas Testament, das Siu zur Alleinerbin gemacht hatte, schien hier niemand zu wissen, und für sie war ich immer noch ein „Grüner Drache“. Wenn das nur gut ging! Was wussten die Japaner bereits über die Gebote der Amerikaner? Wer spielte noch mit? Ich konnte mir die Russenmafia oder die Ölscheichs vorstellen. Aber das waren nur Vorstellungen und kein Wissen. Ich musste pokern, denn die Japaner testeten mich und würden sich von mir nicht testen lassen. Sie wussten, wer ich war, ich aber nicht, aus welchem Stall sie kamen. Namen taten momentan nichts zur Sache. Es war ein Spiel mit vielen Unbekannten ... wie vor Gericht. Hier half nur, meine Unsicherheit durch einen Bluff zu überspielen.

„Meines Wissens nach sind momentan fünf Milliarden geboten. Ich habe aber für das ZK (Zentralkomitee der kommunistischen Partei Chinas mit Sitz in Peking) eine andere Schätzung vorgenommen.“

Vater, ich verzeihe dir, dass du mich zum Erlernen so vieler Sprachen gezwungen hast, murmelte ich für mich. Die Japaner schnatterten aufeinander los. Sie waren sich in ihrer üblichen Hochnäsigkeit sicher, dass sie niemand verstand.

„Mr. Perkin“, ließ sich einer der drei Anwesenden herab, Mandarin zu sprechen. „Was verlangen Sie für weitere Informationen?“

Meine Blicke trafen sich mit Sius.

„Ich bin hier, um einem japanischen Mönch und einem langjährigen Mitglied meiner Familie die letzte Ehre zu erweisen. Da möchte ich momentan nicht über Geschäfte sprechen. Das verstehen Sie doch?“

Der Sprecher der Gruppe übersetzte und alle nickten. „Selbstverständlich geht die Ehre des Verstorbenen vor jedem Geschäft. Können wir Ihnen bei der Überführung behilflich sein? Es würde uns eine Ehre sein.“ Mein Herz machte vor Freude einen Satz. Sie wussten alle nichts, gar nichts. Ich hatte alle Asse. Wir mussten nur noch den Mönch loswerden und in warme Gefilde verschwinden, um dann abzuwarten. Denn der Tanz um das Goldene Kalb „Konzession“ begann jetzt erst.

„Warum bin ich nicht in Singapur geblieben?“, quengelte Siu aus der Dusche. „Ich bin an daran schuld, dass wir kein Hotel, sondern nur dieses alte Gebäude ohne Heizung haben. Wenigstens gibt es heißes Wasser. Ich schlafe in der Dusche, bis ich aufgeweicht bin ... und du schläfst auf dem Sofa. Glaube ja nicht, dass du die Kälte ausnutzen kannst, um zu mir ins Bett zu kriechen. Außerdem bist du mir zu gefährlich. Du bist noch raffinierter als die Stanleys. Jetzt holen uns schon die japanischen Mafiosi den Mönch aus dem Zoll und wir fahren erster Klasse nach Osaka. Und alles auf ihre Kosten. Aber diese Winnie ... nein, die gefällt mir nicht. Wie die alle fixiert! Als wären alle nur Opfer, die sie nach Nährwerten taxiert. Brrr ... mit der alten Krähe möchte ich nichts zu tun haben.“

Mit dem Sofa hatte ich mich schon längst angefreundet. Es war nicht so weich, wie das Doppelbett und ich hörte Siu zu. Rauchte und schmunzelte.

Das Rauschen des Wassers hörte auf. Nun war wieder eine normale Kommunikation möglich. Sie hatte sich in einen Bademantel gehüllt und schlüpfte unter die Bettdecke.

„Was machst du da?“, kommentierte sie meine Suche hinter Bildern, in Vasen und Vorhängen.

„Dein Onkel ist schlau. Die Bruderschaft der „grünen Drachen“ ist pleite und muss sich einen Geldgeber suchen. Da hat sich dein Onkel ausgerechnet die Schwester von Onkel Ho ausgesucht. Die Idee ist nicht schlecht. Verbünde dich mit dem Feind deines Feindes. Aber die Stanleys sind schlauer. Winnie sieht ihre Chance mithilfe der Yakuza, ihrem Bruder im Kampf um die Spiellizenzen eins auszuwischen. Erinnerst du dich an die Überwachungen bei Onkel Ho? Bei ihm ist kein Raum ohne Mikro oder Kameras. Warum soll das hier anders sein?“ Und ich wurde fündig. Es waren vier Mikros, die so stümperhaft platziert waren, dass jeder, der sie suchte, sie finden musste. Also gab es noch mehr Überwachungsmöglichkeiten, die nur ein Profi entdecken konnte. Und der war ich nicht.

„Scheiße“, murmelte Siu und hielt sich die Hand vor den Mund und die Bettdecke hoch.

Wie zwei Kinder, denen die Eltern Nachtruhe verordnet hatten, zogen wir die Decke über uns, bis wir uns wie in einem Zelt fühlten, um unerlaubt mit der Taschenlampe weiter lesen zu können. „Glaub’ ja nicht, dass das eine Aufforderung von mir ist. Das ist nur eine Schutzmaßnahme gegen abgehört werden“, murmelte Siu. Ich suchte die Löffelposition und schlang meinen Arm um sich. Sie zitterte.

„Auf was habe ich mich da eingelassen? Ich muss doch komplett verrückt sein.“

„Du fliegst morgen nach Singapur zurück. Ich bringe den Mönch zum Kloster und komme dann nach. Es ist mir nicht recht, dass du mitkommst. Es ist zu gefährlich, zwischen den chinesischen und japanischen Bruderschaften zu stehen. Und danach sieht es aus. Frauen haben in dem Spiel nichts verloren. Euer Geschlecht ist in dieser Männergesellschaft nichts wert.“

„So, so, nichts wert“, murmelte sie wie jemand, der sich an der Grenze zwischen Wachsein und Schlaf befand. „Wenn ich nichts wert bin, kann mir auch nichts passieren. Ich bleibe und fliege mit dir zurück. Ich mache es wie diese Winnie. Die scheint als Frau auch etwas wert zu sein. Das kann ich auch.“ Ihr Körper kuschelte sich an mich. „Warum frieren Frauen mehr als Männer? Du bist ja besser als jede Heizung?“

„Bist du Arzt, oder ich?“ Ich bekam keine Antwort. Siu hatte ins Reich der Träume gewechselt, die sich bei mir nicht einstellen wollten. Was hatte diese Winnie hier zu suchen? Und was war dieser Onkel für ein Typ, der sich mit den Todfeinden seiner Familie verband? Den Stanleys und der japanischen Mafia. Das stank gewaltig nach Ärger zwischen allen Beteiligten, und ich war einer davon, der zwischen diesen Allen steckte. Und nur wegen der Asche eines Mönchs, der an einem Ort beigesetzt werden wollte, den er seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr besucht hatte. Ich konnte nur hoffen, dass der versiegelte Umschlag, der mit seinen Resten persönlich dem Abt zu übergeben war, eine Klärung brachte.

„O-háyo gozáimasu“, empfing uns der alte Mann, der uns gestern die Tür geöffnet hatte. „Frühstück gibt es in der Küche. Es lohnt sich nicht, bei so wenigen Gästen, andere Räume zu nutzen“, entschuldigte er sich für die Kälte im Haus. „Es lohnt sich überhaupt nichts mehr, seit die Mitglieder der Bruderschaft in alle Winde zerstreut sind.“ Der Mann litt darunter, dass seine große Familie, der er Jahrzehnte treu gedient, und die ihm ein Zuhause, eine Aufgabe und Sicherheit geboten hatte, nicht mehr existierte. Er war nur noch der Verwalter seiner Erinnerungen und restlichen Tage. Mehr gab es für ihn nicht mehr zu tun.

In der Küche war es warm. Der alte Mann, dem Siu endlich seinen Namen entlockt hatte, briet und brutzelte über vier Gasflammen, als gelte es eine Großfamilie satt zu bekommen. „Konsu, hast du eine Familie?“ mümmelte Siu mit vollem Mund. Konsu schüttelte den Kopf. „Nein, meine Lotosblühte. Dazu war keine Zeit. Als dein Vater noch lebte, war das Haus immer voll. Ständig kamen Brüder und Geschäftsleute. Ich musste dafür sorgen, dass hier alles funktionierte.“ Behutsam füllte er alles in Schüsseln ab und verteilte sie gerecht zwischen uns. „Tut mir leid, dass es nicht mehr viel ist, was das Haus zu bieten hat. Ich musste beim Händler schon anschreiben lassen, um das Dinner letzte Nacht zubereiten zu können.“

„Und das Personal? Woher kam das?“, hakte ich ein.

„Das hat diese Frau mitgebracht. Wir hätten es nicht bezahlen können.“

Die „Grünen Drachen“ gab es nicht mehr, stellte ich mit einer gewissen Zufriedenheit fest, um gleich wieder unruhig zu werden. Ein Feind, den es nicht mehr gab, ließ Lücken für neue Feinde, die es erst zu erkunden galt. Entweder man verschwand aus diesem Spiel, oder man musste die Karten neu mischen.

„Wo ist Onkel So Chu?“ Konsu zuckte die Schultern. „Er kommt nur, wenn er repräsentieren will. Sonst sehe ich ihn Monate nicht.“ Siu nickte nachdenklich. „Das heißt, du lebst hier ganz alleine in diesem kalten Gebäude? Und wer zahlt dir das? Du musst doch für dich einkaufen? Strom und Wasser müssen bezahlt werden.“

Konsu nickte versonnen und begann das Geschirr abzuspülen.

„Dein Vater hat mir eine kleine Rente und zwanzigtausend Dollar hinterlassen. Damit muss ich auskommen.“ Er nickte, als kramte er in seinen Erinnerungen. „Ich weiß nicht, aber das Anwesen scheint inzwischen jemand anderem zu gehören, der sich noch nicht vorgestellt hat. Aber, das ist egal, das schaffe ich schon. Meine Eltern sind vor ein paar Jahren an den Spätfolgen der Atombombe auf Nagasaki gestorben.“ Er räumte unentwegt weiter auf, als triebe ihn die Zeit. „Seither ist für mich alles schwer geworden.“ Er setzte sich endlich und suchte Sius Hände. „Du bist doch Ärztin. Kannst du dir nicht einmal meine Hände ansehen? Sie wollen nicht mehr, so wie ich das will. Sie tun ständig weh und bei diesem Wetter versagen sie den Dienst.“

Siu war sofort ganz Ärztin. Sie prüfte die Beweglichkeit der Gelenke, tastete die Knöchel ab, schüttelte den Kopf. „Hast du das auch in den Beinen?“ Konsu nickte und ich ahnte, was der Befund und das Rezept sein würde.

„Du packst sofort deine nötigsten Sachen und kommst mit ins wärmere Singapur. Dort gibt es keine Winter und mehr Möglichkeiten dein Rheuma erträglicher zu machen. Ich werde mich als deine Leibärztin um dich kümmern. Bist du einverstanden?“ Siu war in dem Element, das sie glücklich machte. Und auf einen mehr kam es in meinem Haus nicht an. Wenn ich schon keine eigene Familie zustande bringen sollte, waren wenigstens Menschen um mich, die sich mochten.

„Ich kann das Haus nicht verlassen. Wer soll sich darum kümmern?“, wagte Konsu einen schwachen Protest.

„Hast du einen gültigen Pass?“, versuchte ich den von Siu gefassten Entschluss, den alten Mann mitzunehmen, in einen transfertechnisch machbaren Ablauf zu bringen.

Konsu nickte. „Ja, darauf hat Alpha bestanden, dass wir jederzeit das Land verlassen können.“

„Dann packst du jetzt drei Sachen.“ Ich hielt drei Finger hoch. „Etwas für Koyasan, da liegt Schnee, etwas für die Reise dorthin und leichte Sachen für den Flug nach Singapur ... und deinen Pass. Mehr benötigst du nicht. Wer sich um das Haus kümmert, lass mein Problem sein.“

Konsu rang mit sich. Seine sonst zurückhaltenden Gesichtsmuskeln, die stets bemüht waren, keine Regung seiner Seele und seiner Gedanken zu zeigen, arbeiteten, zuckten und gaben endlich den Tränen freien Lauf. Wie lange hatte dieser Mann nicht mehr geweint? Er nahm Sius Hand und drückte sie an seine Stirn. Eine Danksagung der besonderen Art hatte das lang zerrissene Band der Beiden wieder geknüpft. Beide hatten, jeder für sich, ihre Jugend wieder und eine gemeinsame Basis des Vertrauens gefunden.

„Komm, Konsu, wir beiden gehen packen. Perkin wird den Rest hier wegräumen.“ Siu wischte sich die Tränen ab. „Keiner soll sagen, dass du Unordnung hinterlassen hast. Stimmt’s, Perkin?“

„Ja, ja,“ nickte ich um des lieben Friedens willen und fegte Krümel zusammen, wischte den Tisch und den Fußboden. Scheuerte das Waschbecken. Alles Arbeiten, die ich nur vom Zusehen kannte. Aber, sie machten richtig Spaß. Ich musste nur Chemikalien in einen Eimer Wasser gießen, den Wischmopp hineintauchen und loslegen. Selbst die Reihenfolge stimmte mit dem täglichen Leben überein: Immer von oben nach unten putzen. Nur hatte der Vergleich einen kleinen Haken ... das Ergebnis in der Küche war schneller sichtbar als im Leben.

„Na, dann habe ich eben auch mal ein Erfolgserlebnis“, murmelte ich zufrieden. Ich konnte ja auch niedrige Arbeiten verrichten. Vielleicht lernte ich auch noch bügeln. Ich stellte es mir entspannend vor, etwas sofort und sichtbar platt zu machen, wozu man im Job Monate und Jahre benötigte. Bügeln als Entspannung. Das konnte eine gute Idee werden: Stellen Sie sich vor, Ihren Feind mit dem Bügeleisen platt zu machen. Danach lässt er sich besser zusammenfalten und stapeln. Kaufen Sie unser ... So ein Schwachsinn schüttelte ich die Vision ab und überlegte, wohin ich mit dem Schmutzwasser sollte. In die geputzte Spüle kam es auf keinen Fall. In die Toilette? Die war eine Etage höher. Und wenn ich da mit dem Eimer schwappte? Nein, nein. Ich fing nicht noch einmal an, hinter mir selbst herzuputzen. Es bot sich nur die Straße an.

An der Haustür traf ich mit dem Mann zusammen, der sich gerade anschickte den Drachenklopfer zu benutzen. „Tut mir leid, Mr. Perkin. Die Klingel scheint nicht zu funktionieren. Und zu klopfen ist doch etwas unhöflich.“ Es war der Mann, der gestern Abend unser Gespräch vom Mandarin ins Japanische übersetzt hatte.

„Ich halte mein Versprechen. Darf ich hereinkommen? Hier ist das verblichene Mitglied Ihrer Gesellschaft mit allen nötigen Papiere.“ Der Mann reichte mir einen Behälter aus Edelstahl, der wie eine Thermoskanne aussah, die in ein ledernes Umhängefutteral transportfähig verpackt war. „Sie beseitigen alle Spuren, sehr gut“, musterte er den Eimer mit Schmutzwasser zu meinen Füßen und nickte. „Das mag ich an Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Darf ich Sie und Ihre reizende Frau nun zum Bahnhof bringen? Der Zug fährt in einer Stunde und hat nur zwei Minuten Aufenthalt. Er wartet nicht. Mein Wagen steht bereit.“ Er wies den wartenden Fahrer an, den Inhalt des Eimers zu entsorgen und lächelte hintergründig.