Wolfswille - Melanie Vogltanz - E-Book

Wolfswille E-Book

Melanie Vogltanz

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Beschreibung

London 1888 Alfio ist ein Hemykin, ein unsterblicher Wolfsmensch. Sein Leben ist gezeichnet von der Angst vor dem Kontrollverlust - der Angst, wieder zu zerstören, was er liebt. Nach Jahrzehnten des Exils verschlägt es ihn nach London, wo er sich als Schuldeintreiber verdingt und das Tier in sich mit Opium betäubt. Doch im Herzen Englands lauert eine Bedrohung, die selbst ihn in Bedrängnis bringt. Grausame Morde erschüttern Whitechapel. Die Opfer: Prostituierte, in deren Adern ebenso wie in Alfios das schwarze Blut der Unsterblichkeit fließt. Gegen seinen Willen versinkt Alfio in einem Sumpf der Gewalt und Intrigen. Er gerät nicht nur in den Fokus der Polizei, sondern zieht auch die Aufmerksamkeit weit mächtigerer Gegner auf sich. In der Hoffnung, den Mörder unschädlich zu machen und seine eigene Unschuld zu beweisen, setzt er den letzten Rest seiner Menschlichkeit aufs Spiel. Vollständig überarbeitete Neuauflage

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Über die Autorin

Melanie Vogltanz wurde 1992 in Wien geboren und hat ihren Magister in Deutscher Philologie, Anglistik und Lehrer*innenbildung an der Universität Wien gemacht. Sie hat als Lehrerin, Regaleinräumerin, Spielzeugverkäuferin und Hundefutterträgerin gearbeitet. Aktuell ist sie selbstständige Lektorin und macht gute Worte mit großartigen Menschen und Verlagen.

2007 veröffentlichte sie ihr Romandebüt; weitere Veröffentlichungen im Bereich der Dunklen Phantastik folgten. 2016 wurde sie mit dem »Encouragement Award« der European Science Fiction Society ausgezeichnet. Ihr Roman »Shape Me« wurde für den Deutschen Science Fiction-Preis und den Kurd Laßwitz-Preis nominiert. Mehr Informationen auf:

www.melanie-vogltanz.net und www.lektoratvogltanz.com

*** Eine Liste mit Content Notes (Inhaltswarnungen) befindet sich am Ende des Buchs***

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch: Frost

I. Kapitel

II. Kapitel: London, Vereinigtes Königreich, 1888 n. Chr

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

Zweites Buch: Glut

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

Drittes Buch: Inferno

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

Erstes Buch:

Frost

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Jenseits von Gut und Böse, Friedrich Nietzsche

I.

Hochgeschätzte Lady Jane Franklin,

am heutigen Tage, dem 5. Mai 1859, werden wir Cap Victoria verlassen und mit einem kleinen Schlittentrupp aus acht Mann und zehn Hunden die King Williams Insel auskundschaften. Basierend auf den Berichten des Forschers John Rae sind wir guter Dinge, hier auf neue Erkenntnisse zu stoßen, die Licht auf den Verbleib Ihres Gatten sowie der übrigen verschollenen Mannschaft der Erebus und der Terror werfen.

Ich werde weiterhin über die Ergebnisse unserer Expedition berichten.

Hochachtungsvoll, Ihr ergebenster

William R. Hobson, Lieut. RN

5. Mai 1859 Zwischen neun und zehn Uhr stießen wir auf einen großen Steinmann, der nicht von Einheimischen gebaut zu sein schien. Bei näherer Untersuchung entdeckten wir darin eingebettet ein Schriftstück. Unglücklicherweise war es den Witterungsverhältnissen ungeschützt ausgesetzt, sodass die Botschaft nicht mehr zu entziffern ist.

In unmittelbarer Nähe fanden wir Überreste eines Lagers: diverse Zeltbauten, Feuerstellen und Reste abgebrannten Brennholzes, Kleidung, Teleskope, einige Bärenfelldecken, etc. Einiges weist daraufhin, dass die Mannschaft der Erebus und der Terror hier eine Rast einlegte. Das Lager wirkt, als wäre es übereilt verlassen worden.

Zwei der Zelte scheinen von einem Sturm oder einer ähnlich heftigen Gewalt niedergerissen worden zu sein. Möglicherweise auch das Werk eines Polarbären.

Die Position unserer Funde ist 69° 63‘ Long., 98° Lat.

Ein Schneesturm erschwert das Fortkommen ungemein. Obgleich die Hunde nicht leicht zu ermüden sind, kommen wir nur langsam voran. Wir hoffen auf eine baldige Besserung des Wetters.

6. Mai 1859 Zwei Wegstunden von unserer gestrigen Fundstelle entfernt stießen wir auf eine weitere Wegmarkierung. Darin fand sich ein Messingzylinder unter einem losen Stein und darin geschützt eine Notiz, unterzeichnet von den Captains Crozier und Fitzjames. Das Dokument besagt, dass Sir John Franklin am 11. Juni 1847 verstarb. Damit ist auch die letzte Hoffnung seiner Gattin tot und begraben, dass Sir Franklin die Expedition vor zehn Jahren überlebt hat. Ich hoffe, dass sie zumindest in der Gewissheit um sein Schicksal ein wenig Trost finden kann.

Über die genauen Todesumstände von Sir John Franklin ist dem Dokument nichts zu entnehmen, ebenso wenig über den Verbleib seiner sterblichen Überreste.

Crozier und Fitzjames, die nächstranghöheren Mitglieder der hundertfünfköpfigen Mannschaft, übernahmen nach dem Tod von Sir Franklin das Kommando. Sie schreiben, dass sie im Packeis eingeschlossen wurden und, als ihre Vorräte auf dem Schiff zur Neige gingen, einen Versuch unternehmen wollten, zu Fuß nach Süden vorzudringen. Die zittrige Handschrift auf dem Schreiben zeugt davon, dass die beiden Männer in schlechter gesundheitlicher Verfassung gewesen sein müssen, als sie ihre Reise antraten.

Wir werden unsere Fahrt in Richtung der im Schreiben angegebenen Koordinaten fortsetzen.

Um den Steinmann herum fanden sich zahlreiche verstreute Ausrüstungsgegenstände, die scheinbar überstürzt zurückgelassen wurden. Offensichtlich hat sich die Mannschaft jedes unnötigen Ballastes entledigt, in der Hoffnung, den Klauen des Eises doch noch rechtzeitig entfliehen zu können.

Das Wetter verschlechtert sich weiter. Die Hunde wirken unruhig und reizbar.

15. Mai 1859

Als Edgars und Louis heute von der Robbenjagd zurückkamen, erzählten sie, dass sie auf eine Gruppe Einheimischer gestoßen seien. Diese berichteten von weißen Männern, die vor einigen Jahren in Richtung Süden gereist und dabei der Reihe nach gestorben seien. Einige Meilen entfernt soll es ein Massengrab mit um die dreißig Toten geben. Das Grab würde einen vierzehntägigen Umweg für unseren Trupp bedeuten, den wir mit unserem verbliebenen Proviant nicht bewältigen könnten, sodass wir darauf verzichten, es selbst in Augenschein zu nehmen.

Die Einheimischen warnten Edgars und Louis eindringlich davor, weiter nach Süden vorzudringen. Als Grund dafür nannten sie etwas namens »quallunqutuq taarunjuttuq«, was in ihrer Sprache wohl so viel wie »weißer Schatten« bedeutet. Sie sollen sehr verängstigt gewirkt haben.

Mich beunruhigt dieser Aberglaube nicht weiter. Primitive Stämme wie diese zeigen vor allem Möglichen Furcht und Schrecken.

Die Männer hingegen sind verunsichert. Die lange Reise, die Kälte, die eintönige Landschaft und der Schnee zermürben sie allmählich. Ich verstehe dies durchaus, denn mir geht es ähnlich. Ich sehne mir die langen, trüben Regentage Londons zurück. Niemals wieder werde ich über das nasskalte englische Wetter lamentieren.

19. Mai 1859

Ein schnelles Vorankommen wurde heute durch einen unerwarteten Zwischenfall unmöglich gemacht. Ein großes Raubtier, dessen Witterung die Hunde in den Wahnsinn trieb, hat unseren Schlitten mehrere Stunden lang verfolgt. Ich bin der festen Überzeugung, dass es sich um einen Wolf gehandelt hat, während Patricks der Ansicht ist, es sei ein Polarbär gewesen. Auf die große Entfernung war das nicht zweifelsfrei auszumachen. Das Tier hatte weißen Pelz, was es zusätzlich erschwerte, es im starken Schneetreiben zu identifizieren. Was es auch war, es war gewitzt genug, nicht in Reichweite unserer Harpunen und Gewehre zu kommen. Als wir unser Lager aufschlugen, war es nirgends mehr zu entdecken. Offenbar hatte es das Interesse an uns verloren.

Trotz meiner Erschöpfung bezweifle ich, dass ich in dieser Nacht ruhig schlafen werde. Die Hunde knurren und schnappen unablässig und sind noch gereizter als üblich. Ich hoffe nur, dass sie sich nicht gegenseitig anfallen. Wir sind auf sie angewiesen.

20. Mai 1859

Wir haben in dieser Nacht zwei Hunde verloren. Der Wolf oder Bär muss sie sich geholt haben. Der Schnee war mit gefrorenem Blut besprenkelt. Ein dritter Hund war schwer am Bein verletzt worden und dadurch nicht mehr in der Lage, den Schlitten zu ziehen. Wir mussten ihn töten. Patricks, der sich für die Tiere verantwortlich fühlt, hat das selbst in die Hand genommen. Seither ist er schweigsam und in sich gekehrt. Die Stimmung der Mannschaft ist gedrückt.

Wir haben Fußspuren im hart gefrorenen Boden gefunden, die ich keinem bekannten Tier zuordnen kann. Für einen Caniden wirken sie zu groß, allerdings scheint es sich bei dem Urheber um einen Zehen- und keinen Sohlengänger zu handeln, was wiederum einen Bären ausschließt. Vielleicht eine bis dato nicht klassifizierte Spezies? Ich habe die Bemerkung fallengelassen, dass es das Ansehen unserer Expedition erheblich steigern würde, ein Exemplar zu erlegen und in die Heimat zu bringen, aber die Männer sprachen sich heftig dagegen aus. Wir müssen sparsam mit unserem Proviant umgehen, und auch unsere körperlichen Kräfte sind nicht unerschöpflich. Vermutlich ist es tatsächlich vernünftiger, all unsere Konzentration auf den Auftrag zu verwenden, für den Lady Franklin uns die Mittel vorgestreckt hat. Eine pragmatische, vernünftige Einstellung, obgleich meine Neugierde sich durch rationale Gründe nur schwerlich beeindrucken lässt.

Um die Mittagszeit stießen wir auf mehrere Steinskulpturen, die wohl vor Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten von Einheimischen errichtet wurden. Ich vermute, dass es sich um rituelle Heiligenstätten handelt. Wir haben diverse Tierknochen im Schnee gefunden – skelettierte Füchse, Lemminge, Robben, sogar mehrere Karibus, einige davon noch recht frisch, andere dagegen schon sehr alt. Opfergaben an eine heidnische Gottheit? Möglicherweise an »quallunqutuq taarunjuttuq«, den weißen Schatten?

Durch den starken Rückenwind kommen wir nun schneller voran. Die verbliebenen Hunde rennen, als wäre der Teufel höchstselbst hinter ihnen her.

24. Mai 1859

Wir stießen heute an der Küste auf einen bahnbrechenden Fund: ein großes Boot, das zu einer Art Schlitten umgebaut worden war. Die schwersten Bestandteile aus Eisen und Holz wurden entfernt, um es besser über den Schnee ziehen zu können. An der Vorderseite des Bootes klaffte ein gewaltiges Loch, wahrscheinlich von einem Bärenangriff.

Um und in dem Boot fanden wir mehrere menschliche Skelette. Es gibt keinen Zweifel, dass sie zur Mannschaft der Terror und der Erebus gehörten. Die genaue Identität der Toten lässt sich nicht mehr feststellen. Zumindest einer von ihnen scheint, wie die Überreste seiner Kleidung verraten, ein Offizier gewesen zu sein.

Das Boot war randvoll mit Proviant und Ausrüstungsgegenständen gefüllt. Einige der Gegenstände waren kurios: ein mehrteiliger Satz Silberbesteck, diverse religiöse Bücher, etc. Ebenfalls im Boot waren zwei doppelläufige Pistolen, eine davon leergeschossen, eine vollständig geladen; mehrere Schachteln Munition; englischer Tee; Schokolade; einige Messer. Die Kleidung war so stark an den Leichen festgefroren, dass man sie nur entfernen konnte, indem man sie mit einem Eispickel zerschlug.

Einige der Skelette scheinen unvollständig zu sein. Die Knochen weisen Schaboder Bissspuren auf. Niemand von uns möchte es aussprechen, doch wir wissen, dass diese Spuren zweierlei bedeuten können: Raubtiere oder Kannibalismus. Doch ist das tatsächlich notgedrungen eine Entweder-oder-Frage?

Unsere Position ist 60°-09‘ Long., 99°-28‘ Lat. Morgen früh treten wir unsere Rückreise an. Gottlob.

26. Mai 1859

Am Morgen fanden wir in der Nähe unseres Lagers den ausgeweideten Kadaver eines Polarbären. Das Tier muss alt oder krank gewesen sein, andernfalls ist schwer vorstellbar, welcher natürliche Räuber einen solchen Koloss hätte niederstrecken können. Seine Bauchhöhle war vollständig zerfetzt, als hätte sich etwas in seinen Leib hineingefressen. Beunruhigend ist, dass der Bär weder alt noch krank aussieht.

So oder so, ich werde heilfroh sein, wenn wir wieder zum Rest der Mannschaft dazustoßen. Die Arktis ist nicht für zivilisierte Menschen gemacht.

27. Mai 1859

Etwas ganz und gar Groteskes ist mir widerfahren, das mich fragen lässt, ob die lange Reise nicht nur meinem Gemüt, sondern auch meinem Verstand zugesetzt hat. Ich werde dennoch versuchen, die Ereignisse so neutral und wirklichkeitsnah wiederzugeben wie möglich.

In der Nacht vom 26. auf den 27. Mai setzte unter den Hunden ein ohrenbetäubendes Gebell ein, das mich aus meinem unruhigen Schlaf riss. Da wir bereits drei unserer Tiere verloren hatten und wir keine weiteren Verluste verkraften konnten, entschied ich mich, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit einer geladenen Schrotflinte verließ ich das Zelt, hoffte und hoffte zugleich nicht, dem Tier zu begegnen, das wir bislang nur aus der Ferne gesehen hatten und das so wunderliche Spuren im Schnee hinterließ.

Der Nachthimmel war von Aurora borealis in ein kränklich-grünes Licht getaucht. Etwa hundert Fuß von unserer Lagerstelle entfernt stand eine schlanke, hochgewachsene Gestalt im Schnee.

Da ich ein Raubtier erwartet hatte, kam mir gar nicht in den Sinn, meine mitgebrachte Waffe auszurichten. Für einen Moment glaubte ich sogar an die Möglichkeit, einem Mannschaftsmitglied gegenüberzustehen, doch die Gestalt trug keine Fellmäntel, trug rein gar nichts. Ihre helle Haut schimmerte im grünen Schein des Polarlichts, ihr Haar war ebenfalls hell und lang gewachsen. Obwohl der Unbekannte nackt war, schien er nicht zu frieren. Völlig reglos stand er da und starrte zu mir herüber.

»Wer da?«, rief ich.

Ich hatte nicht wirklich erwartet, eine Antwort zu erhalten. Doch die Gestalt – es war zweifelsohne ein Mann – sagte: »Cosa volete qui?«

Ich verstehe so gut wie kein Italienisch, gerade genug, um die Sprache zu erkennen und mich über die Tatsache zu wundern, dass diese geisterhafte Erscheinung mich auf diese Weise adressierte.

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich. »Sind Sie mit einem Forschungsteam hierhergekommen? Wurden Sie von Ihrer Mannschaft getrennt?«

Der Unbekannte versuchte es mit einer anderen Sprache, die ich noch weniger verstand: »Mit akar itt?«

»Ich verstehe Sie nicht«, wiederholte ich. Noch immer kläfften die Hunde wie toll.

»Ön angol«, sagte er, und dann, in flüssigem Englisch, das nur durch seltsam platzierte Pausen und einen ungewöhnlichen Sprechrhythmus auffiel: »Was wollt ihr hier?«

Er hätte ein Einheimischer sein können, doch er sah nicht so aus, und nicht einmal diese waren so wahnwitzig, vollkommen unbekleidet durch den Schnee zu laufen.

Ich bin mir nicht sicher, warum ich dem Fremden überhaupt Rede und Antwort stand, aber ich schien nicht in der Lage zu sein, nicht zu antworten. »Wir sind auf der Suche nach einem Expeditionstrupp, der hier vor vielen Jahren verschollen ist.«

»Hier lebt niemand mehr, nessuno, hai capito? Verschwindet von hier, solange ihr noch könnt. A halál vár. Hier wartet nur der Tod auf euch.« Das grüne Nordlicht tanzte über seine Haut, warf zuckende Schatten auf sein Gesicht.

»Wer sind Sie?«, fragte ich erstickt. Ich war mir nicht sicher, ob es die Kälte oder meine wachsende Angst war, die meine Lippen betäubte.

»Nessuno«, sagte er nochmals. »Quallunqutuq taarunjuttuq. L’ombra bianca. Der weiße Schatten.«

»Was bedeutet das?«

»Verschwindet«, sagte er. »Andate. Bevor es zu spät ist.«

Da sah ich, dass seine Hände weniger hell wirkten als der Rest seines Körpers. Die Nordlichter machten es schwer, Farbunterschiede zu erkennen, aber es schien, als wären seine Arme bis zu den Ellenbogen von einer schwarzen, feucht glänzenden Haut überzogen.

Obwohl ich eigentlich nicht denke, dass es schwarz war.

Nein.

Ich denke, es war rot.

Blutrot.

Ich kann nicht rational erklären, was ich dann tat. Mein Gehirn hat sich augenscheinlich in eine Art Schutzmechanismus geflüchtet, einer instinktiven Reaktion. Ich drehte mich um und ging, ohne auch nur einen weiteren Blick zurückzuwerfen, zum Zelt zurück. Dann legte ich meine Schrotflinte neben mein Lager, wickelte mich in meine Bärenfelldecke und schloss die Augen. Mein Kopf war wie leergefegt.

Draußen bellten die Hunde. Es klang panisch. Hysterisch. Ich hielt mir die Ohren zu.

Am nächsten Morgen waren zwei weitere Hunde verschwunden. Ihr heißes Blut hatte Löcher in den zertrampelten Schnee geschmolzen. Ich fand Spuren – dieselben riesigen Pfotenabdrücke, die ich schon einmal gesehen hatte.

Zur übrigen Mannschaft sagte ich kein Wort. Sie hätten mein Erlebnis ohnehin nur für einen wirren Traum gehalten. Vielleicht war es auch nichts anderes als das – ein sehr lebhafter, verstörender Albtraum. Wäre nicht die geladene Schrotflinte neben meinem Lager gewesen, hätte ich fast daran geglaubt.

Wir sind noch eine Tagesreise davon entfernt, dieser gottverlassenen Insel für immer den Rücken zu kehren und uns wieder dem Rest unserer Crew anzuschließen. Da wir nur noch die Hälfte der Hunde haben, mit denen wir ursprünglich aufgebrochen sind, müssen wir einiges an Ausrüstung zurücklassen, um den Schlitten leichter zu machen.

Ich bete, dass wir es schaffen.

27. Mai 1859, Nachtrag

Patricks hat sich vom Trupp entfernt, um auszutreten, und ist nicht wiedergekommen. Wir sind seinen Fußspuren gefolgt und fanden Blut im Schnee. Er hatte sogar Zeit gehabt, seinen Revolver zu ziehen und zu schießen. Einsam und vergessen lag die Waffe auf dem zertrampelten Schnee.

Ein wildes Tier muss Patricks verschleppt haben. Zumindest war es das, was ich der Mannschaft sagte. Ich werde den Teufel tun und den Männern mitteilen, was ich wirklich darüber denke.

Die Hunde sind wahnsinnig vor Angst. Sie wollen nicht einmal fressen. Sie wissen, dass uns etwas auf den Fersen ist. Die Einheimischen nannten es den »weißen Schatten«. Eine unzulängliche Bezeichnung. Schatten sind harmlos – diese Kreatur ist es bei Gott nicht.

Ich will keine weitere Nacht auf dieser Insel verbringen. Ich habe das schreckliche Gefühl, dass dieses Wesen erst angefangen hat, seinen Hunger zu stillen.

Aber welche Wahl bleibt uns?

II.

London, Vereinigtes Königreich, 1888 n. Chr.

»Eine abenteuerliche Mär. Ist auch nur ein Wort davon wahr?«

Alfio sah nicht auf. Trotz des bitteren Qualms der Opiumpfeife, der seinen Kopf angenehm träge machte und seine messerscharfen Instinkte einlullte, hatte er die Frau in dem eng geschnürten Mieder und dem stark geschminkten Gesicht schon bemerkt, als sie eine halbe Stunde zuvor angefangen hatte, den kläglichen Inhalt seiner Rocktaschen zu durchwühlen. Er hatte sie schon einige Male in der Opiumhöhle gesehen, wie sie mit jenen Männern kokettierte, die noch nüchtern genug waren, um den ausladenden Busen in ihrem großzügigen Ausschnitt wahrzunehmen, und mit flinken Händen jene halb besinnungslosen Süchtigen um ihre Habseligkeiten erleichterte, die nicht einmal mehr ihre eigenen Körper wahrnahmen, geschweige denn irgendetwas um sich her. Er vermutete, dass sie eine delikate Abmachung mit Lin Chao, dem Betreiber der Opiumhöhle, getroffen hatte. Gelegentlich beobachtete Alfio, wie die beiden Arm in Arm in einem Hinterzimmer verschwanden – doch noch nie, wie Geld zwischen den beiden den Besitzer wechselte.

Vielleicht war es auch schlicht und ergreifend Liebe, wer vermochte das schon zu sagen? Alfio mit Sicherheit nicht. Soweit er das beurteilen konnte, war Chao bei der ansässigen Damenwelt kein ungern gesehener Gast, auch wenn er die meisten seiner Verehrerinnen nicht an seinen Arbeitsplatz einlud. Ambitionen, eine von ihnen um ihre Hand zu bitten, hatte der gebürtige Han-Chinese jedoch bislang nicht gezeigt, und Alfio bezweifelte auch, dass sich das jemals ändern würde. Zum einen hätte er sich dafür taufen lassen müssen, und der protestantische Glauben schien keinen sonderlichen Reiz auf ihn auszuüben. Zum anderen, und dieser Grund war wohl deutlich schwerwiegender, liebte der junge Unternehmer die Liebe, und diese beschränkte sich nicht auf einzelne Personen. Mit dieser Einstellung kamen die Prostituierten des Bezirks deutlich besser zurecht als die jungen Damen aus den Handwerker- oder Arbeiterfamilien, denen er gelegentlich den Hof machte.

Als die Hure in Alfios Taschen nichts gefunden hatte außer einigen Bögen alten, handbeschriebenen Papiers, war sie überraschenderweise nicht enttäuscht zum nächsten Süchtigen weitergezogen, sondern hatte sich neben Alfio an den Rand des abgewetzten Diwans gesetzt und zu lesen begonnen. Sie war nicht nur ein vorwitziges, sondern offenbar auch ein verdammt neugieriges Freudenmädchen. Alfio hingegen tat das, was er immer tat, wenn jemand mehr Interesse an ihm an den Tag legte, als ihm lieb war: Er ignorierte sie und wartete darauf, dass sie weiterziehen würde wie ein unangenehmer Regenschauer.

»Oy!«, sagte sie nun, als Alfio keine Anstalten machte, auf ihre Worte zu reagieren, und rüttelte ihn ungeduldig an der Schulter. »Ich hab dich was gefragt. Und glaub bloß nicht, dass du mich täuschen kannst. Ich sehe doch, wie mich deine Augen immer dann verfolgen, wenn du denkst, dass ich nicht hinsehe. Du bist längst nicht so weggetreten, wie du tust.«

Anstelle einer Antwort hielt Alfio den Tonkopf mit dem Chandu darin in das Flämmchen der Öllampe neben sich und führte das Mundstück der Pfeife an die Lippen, um tief zu inhalieren und den Rauch dann wieder aus seinem Mund entweichen zu lassen.

Die Frau wedelte mit dem Papier vor seiner Nase herum. »Also? Ist das wahr?«

»Glaubst du denn, dass es wahr ist?«

Sie blätterte durch die Aufzeichnungen, als wollte sie sich versichern, dass sie auch nichts darin falsch verstanden oder etwas Wichtiges übersehen hatte. Alfio kannte die Aufzeichnungen Wort für Wort auswendig. Von der Kleidung abgesehen, die er am Leibe trug, waren sie sein einziger persönlicher Besitz. Er hing mit einem für ihn ungewöhnlich starken Gefühl der Nostalgie daran, das er selbst nicht ganz verstand. Vielleicht lag es daran, dass es sich um das einzige schriftliche Zeugnis seines bisherigen Lebens handelte – wenn auch nur eines winzigen Bruchstücks davon.

»Die Expedition?«, sagte sie dann. »Ja, ich denke, der Teil stimmt. Aber dieses mysteriöse menschenfressende Ungeheuer? Der nackte Mann im Schnee, der spricht, als stamme er aus der Zeit vor dem Turmbau zu Babel? Das ist wohl die Ausgeburt eines wirren Geistes. Wahrscheinlich war dieser Leutnant krank. Hat gefiebert. Oder die Einsamkeit in dieser Eiswüste hat ihn den Verstand gekostet. Vielleicht hat er all das auch einfach erfunden, um sich interessant zu machen.«

Langsam drehte Alfio die Brennkammer der Pfeife in der Flamme. »Oh, er war ein äußerst praktisch veranlagter Mann. Von der Marine zu einem funktionalen Soldaten gemeißelt. Das Erfinden von Geschichten gehörte nicht zu seinen Stärken.«

»Dann war er verrückt«, beharrte die Hure.

»Am Ende, ja. Aber nicht von Beginn an. Rationale Menschen verlieren gelegentlich den Verstand, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, das ihren beschränkten Horizont übersteigt. Aber was er geschrieben hat, entspricht durchaus der Wahrheit. Jedes Wort.« Wieder nahm Alfio einen Zug von seiner Pfeife. Lehnte sich auf dem Diwan zurück.

All das war nun … wie lange her? Zehn Jahre? Zwanzig? Dreißig? Es hätten dreihundert sein können. Zeit war für Alfio nicht von Bedeutung. Sie war ein menschliches Konstrukt, und als Mensch fühlte er sich schon lange nicht mehr. An manchen Tagen war er menschlicher als an anderen, aber diese Phasen der Klarheit waren flüchtig und ohne Sinn.

Auch Sinn war ein menschliches Konstrukt. Als man ihm das in einem anderen Leben gesagt hatte, da hatte er es nicht glauben wollen, doch seither hatte sich so vieles verändert – vor allem er selbst. Er hatte jeden Rest Naivität abgelegt. In Wahrheit zählte nur eines: das Überleben. Fressen und nicht gefressen werden. Alles, was darüber hinausging, war nur schmückendes Beiwerk.

Wieder packte ihn die Hure an der Schulter, und da bemerkte er, dass sie ihm eine Frage gestellt haben musste.

»Wieso lässt du mich nicht einfach in Frieden?«, fragte er müde. »Ich habe kein Geld und ich bin nicht an deinen Reizen interessiert. Ich komme hierher, um zu vergessen, nicht um an Dinge erinnert zu werden, die schon lange vergangen sind. Geh und leere jemand anderem die Taschen. Bei mir ist nichts zu holen.«

Darauf antwortete sie nicht, sondern sah ihn nur mit fest zusammengepressten Lippen an.

Er schloss die Augen. Tat so, als wäre er eingeschlafen.

Als er bereits tatsächlich kurz davor war wegzudriften, rüttelte sie zum dritten Mal an seiner Schulter. Seine Augen flogen so ruckartig auf, dass sie erschrocken vor ihm zurückzuckte.

»Was. Willst. Du?« Seine Stimme war ein gutturales Knurren, das tief aus seinem Brustkorb stammte.

»Dieser Leutnant So-und-so Hobson«, sagte sie. »Das bist du – oder nicht?«

Seine Wut verrauchte ebenso schnell, wie sie in ihm hochgekocht war. Das Opium half nicht unwesentlich dabei. Außerdem kam er nicht umhin, die Hartnäckigkeit der jungen Frau zu bewundern. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er ihre Entschlossenheit, ihn weiter zu reizen, besonders mutig oder ausgesprochen leichtsinnig fand.

»Warum sonst solltest du seine Aufzeichnungen mit dir herumtragen?«, fuhr sie fort. »Du warst selbst dort, ein Teilnehmer dieser Expedition. So viel ist klar. Und dann ist da noch deine Kleidung. Du trägst Kleider, die einmal wertvoll gewesen sein müssen – goldene Manschettenknöpfe, weiße Hose, blauer Rock. Das sieht nach Militär aus, nach Marine. Aber der Wert der Kleider ist erst auf dem zweiten Blick zu erkennen, weil sie schon so abgetragen und alt sind, dass man Stoff und Farbe praktisch nicht mehr ausmachen kann.«

»Und weiter?«

Die Hure runzelte die Stirn. »Nun – entweder bist du Hobson, oder einer seiner Mannschaftskameraden.«

»Spielt das eine Rolle?« Seine Pfeife war ausgegangen. Vorsichtig drückte er einen neuen Krümel Chandu in die Brennkammer, hielt sie über die Flamme und sog mit gleichmäßigen Zügen am Mundstück.

»Was ist nach dem 27. Mai passiert?«, wollte sie wissen. »Hatte Hobson recht? Sind noch weitere Männer gestorben?«

Alfios Blick glitt an ihr vorbei in die Ferne, an die mit wurmstichigem Holz vertäfelte Wand, die sich von dem vielen Qualm dunkel verfärbt hatte. »Ja, viele starben. Nicht alle. Aber viele.«

»Du nicht«, stellte sie fest. »Bist du deswegen hier in diesem Loch und versuchst, dein Hirn zu betäuben? Weil dich die Erinnerungen quälen?«

»Zum Teil«, murmelte er und betrachtete das schmauchende Ende seiner Pfeife. »Aber die wirklich quälenden Erinnerungen habe ich schon lange verloren. Fast die Hälfte meines Lebens fehlt mir.«

»Das muss schwer sein«, antwortete sie überraschend einfühlsam.

»Es ist nicht schwer. Es ist notwendig.« In dem Moment merkte Alfio, was er da sagte – zu wem er es sagte. Unwillig schüttelte er den Kopf, als wollte er eine lästige Bremse vertreiben.

»Hobson …«, setzte die Hure an.

Alfio machte eine abgehackte Geste mit der Rechten, in der er die Pfeife hielt. Glimmende Glut wirbelte durch die Luft, als er dabei gegen die Öllampe stieß. »Das ist nicht mein Name. Der Mann, der ihn trug, ist seit vielen Jahren tot.«

»Aber ich dachte …«

»Du dachtest falsch.« Er nahm einen tiefen Zug. Hielt den bitteren Qualm so lange in seiner Lunge, bis es schmerzte. »Ich bin nicht der Mann. Ich bin die Bestie.«

Als Alfio die Opiumhöhle verließ, war es Nacht geworden. Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob die Hure noch weitere Fragen gestellt oder so eingeschüchtert von seiner Antwort gewesen war, dass sie das Weite gesucht hatte – das Opium hatte schließlich seine Wirkung getan und ihn in einen gnädigen, traumlosen Schlaf gleiten lassen. Einige Stunden später war er neben der heruntergebrannten Öllampe und mit einer erkalteten Pfeife im Schoß aufgewacht. Die Papierbögen steckten sorgfältig gefaltet in seiner Rocktasche und seine neugierige Gesprächspartnerin war verschwunden.

Nun wanderte er durch die nächtlichen Straßen, vorbei an warm glimmenden Gaslaternen und Stricherinnen in ausladenden Röcken, die ihm verheißungsvolle Versprechungen zuraunten.

Die Frau war fort, aber sie hatte einen Stein losgetreten, der eine ganze Gerölllawine in Bewegung setzte.

Wenn er genau darüber nachdachte, erinnerte Alfio sich kaum mehr an William R. Hobson, Leutnant RN. Fast alles, was er von ihrer Begegnung wusste, stammte aus eben diesen Aufzeichnungen, die er in seiner Rocktasche mit sich herumtrug. Wie die meisten seiner Erinnerungen war auch diese verschüttet. Alfio wusste nicht mehr, dass er den Marine-Leutnant eines Nachts aufgesucht und in einer Mischung aus den ihm vertrauten Sprachen vor seinem nahenden Ende gewarnt hatte. Es war auch nur schwer vorstellbar. Alfios Zeit in der Arktis war dunkel gewesen, und nicht bloß wegen der niemals enden wollenden Polarnächte in den Wintermonaten. Die dort lebenden Inuit hatten ihn zu Recht gefürchtet.

Als er nach vielen rastlosen Jahren, in denen er als einsamer Jäger durch die Welt gezogen und ein Dorf nach dem anderen geplündert hatte, auf einen Walfangschoner geraten war – vielleicht aus Zufall, vielleicht in einem seiner damals so raren Momente der geistigen Klarheit –, da hatte er geglaubt, dass Gott doch noch so etwas wie Erbarmen mit ihm gezeigt hätte. Er war gestrandet an einem beinahe menschenleeren Ort, abgeschnitten von der restlichen Welt, ohne Nahrung für die unersättliche Gier, die ihn angetrieben hatte, immer weiter zu fressen und zu töten und zu vernichten. Die Kälte der Arktis, der Mangel an Beute und die Einsamkeit hatten ihm dabei geholfen, wieder mehr Kontrolle über sich und das Tier zu bekommen, das unter seiner Haut lauerte. Selbst wenn die Bestie die Oberhand gewann, musste er sie nicht fürchten, denn es gab nur wenige Menschen an diesem lebensfeindlichen Ort, denen er hätte schaden können. Nachdem die Ersten von ihnen den Tod gefunden hatten, waren die Inuit so umsichtig gewesen, am äußeren Rand ihrer Siedlungen Heiligenstätten zu errichten und regelmäßige Opfergaben darzubringen, um ihn davon abzuhalten, in ihren Dörfern einzufallen. Niemand war erstaunter als Alfio darüber gewesen, als der Wolf ihre Gaben bereitwillig annahm und ihre Leben – meist – verschonte. Tatsächlich hatten sie den Wolf besser unter Kontrolle gehabt, als es Alfio jemals gelungen war, und dafür hatte er sie gleichsam beneidet und bewundert.

Die Forscher waren gänzlich anderer Natur: unwissend und leichtsinnig, erfüllt von einer himmelschreienden Hybris, die sich als ihr Todesurteil entpuppte. Sie waren laut, unvorsichtig und schwach, hatten Alfios unersättlichem Hunger und seinen messerscharfen Fängen nicht das Geringste entgegenzusetzen. Die Warnungen der Inuit, die das Land und seine Gefahren so viel besser kannten als diese Fremden, schlugen sie spöttisch aus, taten sie als Aberglauben ab.

Alfio erinnerte sich daran, dass die Forscher nach Heimat geschmeckt hatten – nach der Sonne und Wärme des Festlandes. Jedes Mal, wenn Alfios kräftige Kiefer ihre Knochen zermalmt hatten, überkam ihn ein seltsam ziehendes Sehnen. Heimweh. Der Wolf hatte Heimweh. Und das, obwohl der Wolf praktisch keine Gefühle kannte, abgesehen von Hunger.

Die St. Botolph’s Aldgate Church, von den Londonern auch »Hurenkirche« genannt, da die hiesigen Prostituierten sich dort gerne ihre Freier angelten, sandte acht tiefklingende, tönende Glockenschläge in die kühle Nachtluft. Eine Weile lauschte Alfio dem vertrauten Klang.

Wie anders war im Vergleich sein Leben hier in London … In dieser Stadt waren Geräusche, Gerüche und Bewegung allgegenwärtig. Die ganze Metropole atmete wie ein eigenständiges Wesen. Der Smog, der zu jeder Tages- und Nachtzeit aus den Schornsteinen der großen Fabriken quoll, ließ die Luft bitter und metallisch schmecken und verdunkelte an manchen Tagen sogar die Sonne. Nicht einmal vor seiner Zeit im Exil im Eis konnte er sich entsinnen, je etwas Vergleichbares erlebt zu haben – so viele Menschen, zusammengepfercht auf engstem Raum wie die Hühner, deren Mist sich so hoch stapelte, dass sie darin zu ersticken drohten. Seit seinem Verschwinden hatte sich die Welt weitergedreht, war zu einem Schmelztiegel des Lärms, des Gestanks und des Schmutzes verkommen.

Es war betäubend und übelkeitserregend, erschlagend und berauschend, und es war wundervoll. Hier konnte Alfio in der Menge untertauchen, konnte unter Menschen einsam sein. Er konnte all diesen Leben lauschen, sie an sich vorüberziehen lassen und ihre Gegenwart genießen, ohne mit ihnen in Berührung zu kommen und sie dadurch womöglich zu zerstören.

Vielleicht hätte Alfio noch viele weitere Jahrhunderte in der Arktis verbracht, wären die Forscher nicht gewesen. Vor ihrem Auftauchen war es leicht gewesen, dem Tier die Zügel zu überlassen und einfach auf dem Strom der Zeit mitzutreiben – zu jagen, zu fressen, zu schlafen und dann wieder zu jagen, Jahr für Jahr für Jahr.

Wenn sie nicht gewesen wären, hätte er vielleicht ewig verdrängen können, dass das nicht genug war – niemals genug sein konnte.

Als blinder Passagier an Bord der Fox zu gelangen, die ihn zurück in die Zivilisation brachte, war ganz einfach gewesen. Alfio hatte nichts weiter tun müssen, als sich erschießen zu lassen.

An einer Brücke hielt Alfio inne und starrte auf das gemächlich dahinfließende Wasser eines schmalen Seitenarms der Themse. Seine übernatürlich scharfen Augen konnten sein gespiegeltes Konterfei auf der Wasseroberfläche erkennen – die langen, ungekämmten Haare unter dem zerknautschten Hut, die einmal weiß gewesen waren, nun aber vom Kohlestaub und Ruß der Stadt grau wirkten; der abgetragene und vielfach geflickte Gehrock, der für eine viel kleinere Person gefertigt worden war; der aschfarbene Inverness-Mantel über seinen Schultern; das ausgezehrte Gesicht. Er rieb sich mit einer Hand über den sichtbaren Bartschatten.

Vor zwanzig, vielleicht auch dreißig Jahren hatte er aufgegeben, die Welt vor seinem unersättlichen Hunger retten zu wollen, und war in den Schoß der Zivilisation zurückgekehrt. Als die Fox damals im Hafen von Plymouth eingelaufen war, hatte er sich von der Schusswunde längst erholt und menschliche Gestalt angenommen gehabt. Niemand hatte es für notwendig befunden, die vermeintlich tote Trophäe einzuschließen oder gar in Fesseln zu legen. Er hatte sich wahllos Kleidungsstücke gegriffen, sich angekleidet und war an Land gegangen. Erst viel später hatte er bemerkt, dass in den Taschen des Gehrocks ein Teil des Journals von Leutnant Hobson gesteckt hatte. Die Kleider mussten also ihm gehört haben.

Alfio wusste nicht, was aus dem Mann geworden war. Wahrscheinlich war er tot. Vielleicht hatte Alfio ihn getötet. Der Wolf hatte kein Gedächtnis für Namen oder Gesichter.

Seit jenem Tag lebte Alfio in England. Wochen-, manchmal sogar monatelang gelang es ihm, ohne Beute zu leben. Seit er den betäubenden Effekt jenes Krauts entdeckt hatte, von dem sich in London Hafenarbeiter, Schriftsteller und Bänker gleichermaßen berauschen ließen, gelang es ihm noch besser, die Kreatur in sich zu besänftigen und seine menschliche Maske für einige Zeit zu bewahren. Das Opium dämpfte nicht nur seine Sinne und verschaffte seinem Geist dadurch ein wenig Ruhe, es zügelte auch den Appetit – selbst den des Wolfes.

Doch früher oder später brach das Tier an die Oberfläche. Fraß. Und zog sich irgendwann wieder zurück – mal mehr und mal weniger freiwillig. Die längste Zeit, die Alfio im Vereinigten Königreich im Pelz des Wolfes zugebracht hatte, belief sich auf fünf Jahre, in denen er die weitläufigen Moore in Devon durchstreift und Schafe, Hirten und Wanderer zerrissen hatte. Er wusste, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem der Wolf nicht mehr weichen würde. Der Gedanke barg keinen Schrecken für Alfio.

Nicht mehr.

Die dröhnende Stimme der Aldgate Church erklang zweimal. Mittlerweile war sie weit entfernt, und es war nur Alfios übermenschlich scharfem Gehör zu verdanken, dass er sie überhaupt noch wahrnehmen konnte. Er riss sich von der Spiegelung des fremd scheinenden Mannes im Wasser los und ging weiter. Die Docks kamen in Sichtweite, und der vertraute Geruch nach stehendem Gewässer, Fisch und menschlichen Fäkalien stieg Alfio in die Nase. Schoner, Barkassen und Kutter ankerten im Hafen und dümpelten auf dem schwarzen Wasser vor sich hin. Es wäre ein friedlicher Anblick gewesen, wären da nicht die vereinzelten in grobe Decken gewickelten Gestalten gewesen, die unter freiem Himmel schliefen – Heimatlose, die darauf hofften, dass der nächste Morgen Arbeit oder eine Mahlzeit bringen würde. Manche von ihnen würden den Sonnenaufgang nicht mehr erleben. Alfio witterte die Krankheit und den Verfall an ihnen, sah den Tod, der drohend über ihren zusammengekauerten Körpern schwebte. Sie würden sterben, und es würde niemanden kümmern.

Im East End von London hatte Alfio seinen idealen Unterschlupf gefunden – ein Ort, an dem niemand Fragen stellte, niemand zweimal hinsah. Gesetzeshüter wagten sich nur in seltenen Ausnahmefällen in den östlichen Stadtteil, er war ein blinder Fleck der Rechtlichkeit.

Alfio steuerte auf einen der im Hafen liegenden Kutter zu und sprang mit einem genau berechneten Satz an Bord. Der Lack des Bootes war schon vor langer Zeit abgeblättert, der Name darauf nicht mehr zu entziffern, das Holz des Decks vom vielen Schrubben gewellt und aufgequollen. Wie von selbst glichen Alfios Beine das sachte Schwanken des Bootes unter seinen Füßen aus, während er sich auf die winzige Kajüte zubewegte.

Das Mondlicht, das durch das einzelne Bullauge fiel, riss einen grob gezimmerten Stuhl und einen Haufen zerschlissener Decken und Kissen aus der Dunkelheit, die Alfio über Jahre hinweg gesammelt hatte und die ihm als Schlafstatt dienten. Selbst wenn er Wert auf ein richtiges Bett gelegt hätte, hätte er auf diesem begrenzten Raum keines unterbringen können.

Bevor Alfio diesen Kutter gefunden hatte, hatte er die meisten seiner Nächte unter freiem Himmel verbracht. Zwei, drei Wochen lang hatte er das heruntergekommene Boot beobachtet, bevor er den Hafenmeister darauf ansprach. Dieser sagte ihm, dass der Besitzer wohl gestorben sei – auf jeden Fall sei er irgendwann nicht wiedergekommen und habe sein Boot einfach an seinem Anlegeplatz verrotten lassen. Der Kutter befand sich in einem so erbärmlichen Zustand, dass die Arbeit und die Materialien, die man gebraucht hätte, um ihn wieder seetüchtig zu machen, dem Hafenmeister die Mühe nicht wert waren, weshalb Alfio den Kutter für wenige Münzen übernehmen durfte. Auf dem kleinen, im Wellengang sacht schwankenden Gefährt fühlte er sich erstaunlich wohl.

Er zog die quietschende Kajütentür hinter sich zu, nahm den Hut ab, trat seine Stiefel von den Füßen, schälte sich aus seiner schmutzstarrenden Kleidung und kauerte sich auf seinem Schlafplatz zusammen. Das beruhigende Säuseln, mit dem die Wellen sanft gegen die Planken anliefen, machte ihn schläfrig.

Wie so oft, bevor er ohne die betäubende Wirkung von Opium in den Schlaf hinüberglitt, tauchte das Gesicht einer Frau vor seinem inneren Auge auf. In diesen Momenten sehnte er den Wolf herbei, denn nur in seiner Haut musste er sie für Monate oder sogar Jahre nicht sehen. Alfio wusste nur wenig über seine Vergangenheit, aber es reichte aus, um zu erkennen, dass der Ausdruck des blanken Entsetzens in ihren vertrauten Zügen keine Ausgeburt seiner Fantasie war. Es war eine Erinnerung. Die letzte, die Alfio von ihr besaß. Er wusste nicht, was sie bedeutete – wem das Grauen in ihrem Blick galt, das ihm noch Jahrhunderte später das Herz zu einem schmerzhaften Klumpen zusammenpresste. Die Unwissenheit war Fluch und Segen zugleich.

Denn eigentlich weißt du genau, was passiert sein muss. Nicht wahr?, fragte eine hämische Stimme in seinem Hinterkopf.

Sie war das letzte Wesen gewesen, das ihm auf dieser Welt jemals etwas bedeutet hatte, und Alfio würde sie niemals wiedersehen. Dass der Wolf seine Erinnerungen überschattet hatte, änderte nichts an dieser Gewissheit.

Bist du deswegen hier in diesem Loch und versuchst, dein Hirn zu betäuben? Weil dich die Erinnerungen quälen?

Er richtete sich halb auf seinem Lager auf, starrte aus dem Bullauge hinaus zum nächtlichen Firmament, wo der Mond zwischen Wolkenfetzen hing wie ein ausgebleichter Schädelknochen.

Wenn es doch nur funktionieren würde …

III.

Das Gekreisch hungriger Möwen weckte Alfio. An den Docks herrschte für diese Zeit ungewöhnliche Unruhe. Die Hafenarbeiter, Händler und Reeder wirkten angespannt und wechselten nur die nötigsten Worte miteinander. Nach abgeschlossenem Geschäft hatten sie es eilig, wieder auf ihre Schiffe oder auf ihre Wagen zu verschwinden. Die ansonsten allgegenwärtigen Hafendirnen ließen sich überhaupt nicht blicken. Etwas schien über Nacht vorgefallen zu sein – etwas, das den Bodensatz der Gesellschaft aufgewirbelt hatte.

Misstrauische Blicke folgten Alfio, während er sich über den Pier bewegte. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar, wie das elektrische Knistern vor einem drohenden Gewitter. Erst als der Hafen außer Sichtweite geriet und er sich durch verwinkelte leere Gassen bewegte, hatte er das Gefühl, wieder freier atmen zu können. Er glaubte nicht, dass diese Art von Unwetter sonderlich lange anhalten würde. Verbrechen, ganz gleich welcher Natur, waren im East End ebenso wenig Grund für anhaltenden Groll wie verschüttete Milch.

Alfios Geschäfte würde das nicht berühren. Nicht nur die Prostituierte, die er am Vorabend kennengelernt hatte, war mit dem Betreiber seiner Stammopiumhöhle eine Abmachung eingegangen. Da Alfio weder Geld besaß noch Wert darauf legte, welches anzusammeln, hatte er sich mit Lin Chao darauf geeinigt, sein Kraut mit gewissen Diensten abzubezahlen – wenn auch mit weniger intimen als die seiner neuen Bekannten.

Das Haus, das sich wie ein geprügelter Welpe in eine Ecke zwischen identisch aussehende Backsteinbauten presste, war selbst für die Verhältnisse von Whitechapel arg heruntergekommen. Ein Großteil der Schindeln hatte sich von seinem Halt gelöst. Die wenigen Scherben, die noch in den Fensterrahmen standen, waren blind und undurchsichtig, und als Alfio leicht gegen die Tür drückte, schwang sie an erbärmlich quietschenden Angeln nach innen. Ein intensiver Gestank nach billigem Schnaps, Schweiß und Schimmel schlug ihm entgegen.

Alfio seufzte. Er wusste, dass die Wohnstätte ein genaues Abbild der Person war, die darin hauste. Seine Ziele glichen sich meist wie ein fauliges Ei dem anderen.

Da er Manieren hatte, klopfte er gegen die offenstehende Tür. Wie erwartet erfolgte keine Antwort. Er trat ein.

»Vandish?«, rief er in die Schwärze des Hauses hinein. Staub flirrte in einem goldenen Sonnenstrahl, der durch ein Loch in der Decke fiel. »Robert Vandish?«

Er stieß die Tür mit dem Absatz zu. Sie fiel aus den Angeln und krachte draußen auf die Straße. Alfio verzog unwillig die Lippen.

Natürlich wusste Alfio, dass das Haus nicht leer war. Er hörte Herzschläge, Atmen, entferntes Kindergeschrei, sogar das Pumpen von Blut. Unglücklicherweise wussten seine Ziele das nicht, andernfalls hätten sie wohl kaum versucht, sich vor ihm zu verbergen.

Oder vielleicht doch – Menschen waren irrationale Kreaturen.

Mehrere Türen, die zu den einzelnen Wohnungen führten, zweigten vom im künstlichen Zwielicht daliegenden Flur ab, manche mit Nummern versehen, bei anderen waren die kleinen Schilder aus dem Holz gebrochen und nur geschwärzte Flecken zeugten davon, wo sie gewesen waren. Alfio folgte einer gefährlich altersschwachen Treppe in den ersten Stock, zur Nummer vier. Auch hier klopfte er an. Auch hier öffnete ihm niemand. Er drehte am Knauf und stellte fest, dass nicht abgeschlossen war.

»Hallo?«

Ein winziges Zimmer – Wohn-, Schlaf- und Waschraum in einem. Alfio vermutete, dass es sich um ein ehemaliges Gesindezimmer handelte, das der Besitzer des Hauses nun an mittellose Familien vermietete. Sein Blick fiel auf ein Kleiderbündel in der hinteren Ecke. Zumindest sah es aus wie ein Kleiderbündel, bis es anfing, sich zu bewegen. Unter Fetzen schmutzstarrenden Stoffes lugte ein bleiches, ausgezehrtes Gesicht hervor. Es gehörte einer Frau. Für Alfio war es unmöglich zu schätzen, wie alt sie war – vielleicht zwanzig, vielleicht sechzig. Die Unterernährung machte sie androgyn und alterslos. Die ursprüngliche Farbe ihres Haares war unter dem Schmutz nicht mehr auszumachen. Ihre Augen wirkten trübe, und sie starrte Alfio nicht direkt an, sondern geradewegs an ihm vorbei, auf einen leeren Punkt an der gegenüberliegenden Wand.

Als er einen Schritt auf sie zu machte, versteifte sie sich, und er sah, wie sie das Bündel in ihren Armen fester an ihre Brust presste. Auch das Bündel selbst hatte einen Herzschlag, doch er war sehr viel schwächer als jener der Frau, kaum mehr zu hören. Obwohl sie ihr Kind so fest an sich drückte, dass sie ihm unweigerlich wehtun musste, weinte es nicht. Alfio glaubte nicht, dass es das noch konnte. Weinen kostet Kraft.

Er ließ sich vor der Frau in die Hocke sinken. Ihre Augen wurden riesig. Ihre Angst stach Alfio in die Nase – ein saurer, scharfer Geruch, der den Wolf tief in seinem Inneren im Rachen kitzelte.

»Wo ist er?«, fragte Alfio geduldig.

Mehrere Minuten verstrichen, in denen sie ihn einfach nur ansah. Schließlich brachte sie hervor: »In der Fabrik.«

»Gut, ich verstehe.« Alfio sprach langsam. Geduldig. Wenn er etwas im Überfluss hatte, dann war es Zeit. »Das war ganz klar meine Schuld. Ich hätte mich etwas klarer ausdrücken sollen. Was ich meine, ist: Wo ist er wirklich?«

Die Frau weinte nicht. Manchmal taten sie das – schluchzten, bettelten und flehten, klammerten sich an die Schöße seines Rockes und rutschten auf Knien vor ihm im Staub. Sie tat nichts dergleichen.

Stattdessen sagte sie erstaunlich aufgeräumt: »Machen Sie mit ihm, was Sie wollen, aber rühren Sie mein Kind nicht an.«

»Das werde ich nicht«, antwortete Alfio. »Weder dich noch dein Kind werde ich anrühren, das verspreche ich. Ich bin nur wegen Robert Vandish hier.«

Sie deutete ein Nicken an.

»Wie ist dein Name?«, fragte Alfio, in der Hoffnung, auf diese Weise zu ihr durchdringen zu können.

Im ersten Moment reagierte sie auch darauf nicht. Dann brachte sie ein heiseres, flaches »Barbara« hervor.

»Ich werde dir nichts tun, Barbara«, versicherte Alfio erneut. »Ich entschuldige mich, dass ich uneingeladen in deine Wohnung eingedrungen bin. Ich werde auch gar nicht lange bleiben. Sag mir nur, wo ich Vandish finde, und dann musst du mich niemals wiedersehen.«

»Werden Sie ihn töten?«

»Nicht, wenn ich es nicht muss.«

Wieder nickte sie. »Die Fabrik hat ihn schon vor Wochen rausgeworfen. Er denkt, dass ich es nicht weiß, aber ich bin nicht dumm, wissen Sie? Ich bin nicht dumm.«

Alfio sagte nichts, wartete, dass sie von alleine weitersprach, was sie schließlich auch tat. Tief in ihrem Inneren wollten sie alle reden.

»Es war ein miserabler Job. Hat kaum genug Geld eingebracht, um täglich einen halben Laib Brot zu kaufen. Ich kann mein eigenes Kind nicht mehr stillen, hab keine Milch mehr. Wir sind mit der Miete im Rückstand, werden wohl bald vor die Tür gesetzt. Das Wenige, das wir hatten, hat er verprasst.«

»Und einiges, das er nicht hatte«, fügte Alfio hinzu. »Deswegen bin ich hier.«

Wieder ein Nicken. Es schien, als wären ihre Halswirbel zu schwach, um das Gewicht ihres Kopfes zu tragen. Eine Spur von Leben flackerte in ihren Augen auf, und ihre Lippen pressten sich entschlossen zusammen. »Er ist bei einem Freund. Ich weiß nicht, ob er ihn um Geld anpumpen will oder sich nur mit ihm besäuft, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er dort ist.«

»Wo?«, fragte Alfio sanft.

»Ein nichtsnutziger Dandy namens Lane.« Sie nannte ihm eine Adresse, die nur etwa eine halbe Stunde entfernt lag.

Alfio bedankte sich und ließ die Mutter mit ihrem stillen Säugling zurück. Auf dem Weg nach draußen lehnte er die kaputte Tür sorgsam gegen die Hausmauer.

Ein gusseiserner Türklopfer in Form eines Vogelkopfes starrte ihn herausfordernd an – ein höchst ungewöhnliches Motiv, wie Alfio fand. Er schloss die Hand um den Ring und klopfte mehrmals an. Im Vergleich zu Vandishs Rattenloch wirkte dieses Haus beinahe nobel: heile Fenster, unbeschädigte Fassade. Das Dach wies zwar einige verschiedenfarbige Schindeln auf, die zeigten, dass es mehrmals geflickt worden war, schien aber durchaus in der Lage zu sein, dem Regen zu trotzen.

Eine ältliche Frau mit von der Arbeit knotigen, geröteten Fingern öffnete. »Ja?«, fragte sie misstrauisch und reichlich unzeremoniell. Ihr Blick wanderte an seinem abgetragenen Havelock und dem geflickten Rock herab, zu den ehemals weißen, nun aber grauen Hosen und weiter zu den speckigen Stiefeln. Er konnte praktisch dabei zusehen, wie sie sich innerhalb eines Atemzuges ein Urteil über ihn bildete.

»Guten Tag, Ma’am«, sagte Alfio höflich. »Ich bin auf der Suche nach Robert Vandish.«

»Hier wohnt niemand mit diesem Namen.«

»Das ist mir durchaus bewusst, Ma’am«, gab Alfio zurück. »Seine Frau schickt mich. Sie hat mich darüber informiert, dass er hier dem Hausherrn einen Besuch abstattet.«

Die wässrigen Augen der Alten zogen sich zu Schlitzen zusammen, während sie darüber nachzudenken schien. »Moment, ich frage nach«, sagte sie schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit, schlug Alfio die Tür vor der Nase zu und verschwand ins Haus.

Mit einem Finger strich Alfio an den Konturen des Türklopfers entlang. Ein Vogel, zweifelsohne. Kein Adler – eher ein Rabe oder eine Krähe.

Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür wieder. »Sie haben sich in der Adresse geirrt«, sagte die Haushälterin. »Guten Tag.«

Wieder wollte sie die Tür zuziehen, aber Alfio war schneller und schob seinen Fuß in den Spalt.

»Das ist aber unangenehm«, sagte Alfio.

»Das kann ich mir denken«, schnaubte die Haushälterin. »Aber ich bin sicher, Sie werden fündig werden.«

»Sie missverstehen mich. Ich meinte, unangenehm für Sie. Ich werde ungehalten, wenn man mir Lügengeschichten auftischt, Ma’am. Darf ich eintreten? Danke.« Entschieden zog er die Tür – gegen den Widerstand der Haushälterin, die nun erregt schnaufte wie ein Dampfkessel – vollends auf und betrat das Haus. Ein enger Flur mit einem fleckigen roten Läufer empfing ihn. An den Wänden hingen gerahmte Bilder – ausgeblichene, sepiafarbene Photographien, die Menschen mit ernsten Gesichtern in Anzügen und langen, umständlichen Kleidern zeigten. Alfio hatte noch nie den Reiz dieser neumodischen Technologie verstanden. Die körnigen, farblosen Bilder konnten mit dem Können eines wahren Künstlers nicht mithalten.

»Ich muss – ich muss – ich muss doch sehr bitten!« Das Gesicht der kleinen, alten Dame hatte besorgniserregend schnell von käsig-weiß zu puterrot gewechselt. »Verlassen Sie sofort dieses Haus oder ich rufe die Polizei!«

»Natürlich, das sollten Sie unbedingt tun.« Alfio schob sich an ihr vorbei in einen Rauchersalon, aus dem er gedämpfte Stimmen hörte, die abrupt verstummten, als er eintrat.

Zwei Männer saßen an einem Tisch, auf dem sich Spielkarten, ein von Zigarrenstummeln überquellender Aschenbecher, zwei Gläser und eine halbvolle Flasche befanden. Sogar aus mehreren Yards Entfernung konnte Alfio den hochprozentigen Alkohol riechen, der allgegenwärtig in der Luft hing. Es verwunderte ihn fast, dass kein Unglück geschehen war, als sie ihre Zigarren entzündet hatten. Ebenfalls auf dem Tisch lagen einige Münzen sowie Papier, bei dem es sich vermutlich um Wechsel handelte. Auch hier wurde ein Vermögen verprasst, das gar nicht existierte.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen ihn wegschicken, Ms. Philipps?« Ein älterer Mann mit Schnurrbart erhob sich von seinem Platz und legte seine Karten beiseite.

»Das hat sie, doch ich halte es für besser, selbst zu entscheiden, was ich zu tun und zu lassen habe«, antwortete Alfio anstelle der Haushälterin. Sein Blick wanderte zu dem zweiten Mann, der ein paar Jahre jünger war, aber weit verbrauchter aussah. Seine Kleider waren ihm zu weit, und obwohl er einen voluminösen Ranzen vor sich hertrug, waren seine Glieder unverhältnismäßig dürr.

Während der Schnauzbart deutlich empört wirkte, war Schmerbauch starr vor Angst.

»Robert Vandish?«, fragte Alfio.

Der Mann zuckte zusammen, als hätte Alfio eine Waffe auf ihn gerichtet.

»Ich verbitte mir diese Unverschämtheit!«, sagte der erste Mann. Er ging um den Tisch herum und baute sich vor Alfio auf. »Sie können doch nicht einfach hier reinplatzen und meine Gäste verschrecken! Verlassen Sie augenblicklich meinen Grund und Boden, sonst …«

Ruckartig wandte Alfio ihm den Kopf zu und bohrte seinen Blick in die von blutigen Äderchen durchzogenen Augen des Hausherrn. Er verstummte übergangslos.

»Überlegen Sie gut, wie Sie diesen Satz zu Ende bringen wollen«, riet Alfio. »Ich bin nicht Ihretwegen hier, sondern einzig und allein wegen ihm.« Er deutete auf Vandish. »Ist Ihnen diese Bekanntschaft wirklich so wichtig, dass Sie sich zwischen ihn und mich stellen wollen?«

Der Hausbesitzer musterte ihn von oben bis unten. Erst da schien ihm aufzufallen, dass Alfio ihn um fast zwei Köpfe überragte. Er konnte geradezu dabei zusehen, wie sein Mut verdampfte. Kein Wort kam über seine Lippen.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich nun gerne meine Angelegenheiten klären«, sagte Alfio ruhig. »Es sei denn, Sie haben etwas dagegen einzuwenden.«

Der andere schluckte sichtbar. »Nein, ganz und gar nicht. Nur zu.«

»Dachte ich mir.« Alfio nickte Vandish zu. »Robert, wir haben etwas zu bereden.«

Vandishs eingefallene Wangen zitterten. »Sie können mich nicht zwingen, mit Ihnen zu gehen. Sie können mich nicht zwingen!«

»Gehen? Nicht doch. Warum sollten wir das tun? Ich finde es hier durchaus heimelig.« Alfio trat näher an ihn heran.

Vandish wimmerte. Er roch ebenso schlecht wie sein Haus – nach altem Schweiß und Moder und billigem, starkem Fusel. Aus den Augenwinkeln sah Alfio, wie sich der Hausbesitzer stillschweigend zurückzog. Die Haushälterin hatte schon lange davor das Weite gesucht. Nicht nur Katzen und Hunde vermochten Erdbeben wahrzunehmen, bevor sie eintraten – in manchen Situationen waren auch Menschen dazu in der Lage, eine herannahende Naturgewalt zu wittern und rechtzeitig Schutz zu suchen.

»Ich nehme an, du weißt, warum ich hier bin.«

»Ich habe es Lin Chao erst letzte Woche gesagt – ich kriege sein Geld bald zusammen!«, versicherte Vandish energisch. »Das heißt, ich habe es bereits. Es ist nur im Augenblick nicht zugänglich, verstehen Sie? Es ist … an einem sicheren Ort verwahrt. Nächste Woche kann ich ihn auszahlen, bestimmt.«

Alfio beugte sich vor und stützte sich auf dem Tisch ab, der unter seinem Gewicht bedrohlich knarrte. Vandish wich so weit zurück, wie es die Stuhllehne in seinem Rücken zuließ.

»Ist das so?«, fragte Alfio höflich interessiert.

»Natürlich! Ich würde niemals lügen, niemals!« Vandish knetete unruhig seine Finger.

»Dann ist es bestimmt nur Zufall, dass du Chao dieselbe Geschichte bereits letzte Woche aufgetischt hast. Und natürlich die Woche davor.«

»Ähm … ja, was das angeht … Eine unglückliche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass sich die Zahlung verzögert hat. Aber diesmal ist es anders. Das schwöre ich bei meinem Leben.« Vandish hob eine Hand, als wollte er einen Eid leisten.

»Bei deinem Leben«, wiederholte Alfio. »Interessante Formulierung. Denn genau das wirst du verlieren, wenn du mich für dumm verkaufst.« Ohne jede Vorwarnung schoss seine Hand vor und umklammerte Vandishs Handgelenk.

Obwohl Alfio nur einen Bruchteil der Kraft aufwandte, die ihm zur Verfügung stand, sog Vandish die Luft ein und kämpfte darum, seine Hand loszureißen. Ebenso gut hätte er versuchen können, eine Bärenfalle mit den Fingern aufzustemmen.

»Nur, um dein Erinnerungsvermögen aufzufrischen: Die Summe, die du Chao mittlerweile schuldest, beläuft sich auf sechsundachtzig Pfund.« Alfio ließ den Blick über den Tisch wandern, fasste nach den Münzen, die dort aufgehäuft lagen. »Wie viel ist das hier? Etwa vierzig Schilling?« Ohne Vandish loszulassen, wischte er die Münzen in eine bereitgelegte Börse. Auch die Wechsel steckte er ein, obgleich fraglich war, ob eine Bank ihm dafür Geld geben würde. »Ich nehme das hier als Anzahlung, um Chao deinen guten Willen unter Beweis zu stellen. Das ist mit Sicherheit auch in deinem Sinne.«

»Das Geld gehört mir aber nicht, es gehört Lane! Sie können ni–«

Alfio nahm seine zweite Hand hinzu und bog den kleinen Finger von Vandishs rechter Hand so weit zurück, dass er hörbar im Gelenk knackte. Vandishs Protest ging in ein unartikuliertes Wimmern über. »Ja«, winselte er dann.

Sofort nahm Alfio den Druck von seinem Finger. »Dachte ich mir doch, dass wir uns einig werden. Du hast sieben Tage Zeit, um die restliche Summe aufzutreiben. Sieben Tage, Robert. Keine Stunde länger. Wenn ich wiederkomme, erwarte ich, dass du mir das Geld auf den Penny genau aushändigst, andernfalls werde ich dich beim Wort nehmen.«

Vandishs Selbstbeherrschung war deutlich weniger ausgeprägt als die seiner Frau. Tränen und Rotz liefen an seinen Wangen und seinem Kinn herab. »Sieben Tage sind zu wenig«, schluchzte er. »Das wird niemals reichen.«

»Ein Jammer«, gab Alfio ungerührt zurück. »Dann nutz die Zeit besser, um einen fähigen Bestatter aufzutreiben.« Er ließ gänzlich los und wischte sich die Hand an seinem Havelock ab, als hätte er sich besudelt. Zweifelsohne fühlte er sich schmutzig.

»Wir sehen uns nächste Woche, Robert.«

Alfio hob die halbvolle Flasche an, die auf dem Tisch stand, roch daran – Absinth – und nahm einen Schluck, um den fauligen Geschmack auf seiner Zunge loszuwerden. Anschließend steckte er die gefüllte Börse in eine seiner weiten Rocktaschen.

Hätte Alfio keinen Penny vorgefunden, hätte er es Chao gegenüber nicht rechtfertigen können, seinen treuen, wenn auch nicht besonders zahlungswilligen Kunden am Leben zu lassen. Obgleich Vandish ihm das niemals glauben würde, wollte Alfio nicht töten – nicht einmal eine Kellerassel wie Vandish, der lieber zechte und Opium paffte, anstatt seine Frau und sein Kind zu ernähren. Es reichte, wenn der Wolf tötete. Alfio versuchte es zu vermeiden, wann immer er es konnte.

»Warum tun Sie das?«, jammerte Vandish, seine rechte Hand fest gegen die Brust gepresst. »Warum tun Sie mir das an? Haben Sie denn gar kein Gewissen, Sie Bestie?«

Alfio erstarrte mitten im Schritt. Anstelle einer Antwort sog er tief die Luft ein, schloss die Augen und suchte nach der Ruhe in sich, die ihm zu entgleiten drohte. Als er sie gefunden hatte, verließ er den Rauchersalon und trat wieder in den Korridor hinaus. Hinter einer Tür, die einen Fingerbreit offenstand, lugte ein neugieriges Augenpaar hervor. Hastig wurde sie geschlossen, als Alfio daran vorbeiging.

»Bestie!«, rief Vandish ihm nochmals mit sich überschlagender Stimme hinterher, bevor Alfio auf die Straße hinaustrat und die Tür hinter sich ins Schloss zog.

IV.

An diesem Abend wollte sich die Gemütsruhe und der Gleichmut, die das Opium für gewöhnlich mit sich brachten, einfach nicht einstellen. Alfio wusste nicht genau, woran es lag. An Vandish, dem er mit einigen schmutzigen Münzen sieben weitere Lebenstage erkauft hatte, verschwendete er kaum einen zweiten Gedanken – er war nur einer unter vielen. Auch seine Frau und ihr Kind beschäftigten ihn nicht weiter. Ihr Anblick war zwar traurig gewesen, aber in seinem langen Leben hatte Alfio bereits weit Schlimmeres gesehen. Warum also konnte er sich nicht einfach der betäubenden Schwere des Opiumrauches hingeben und in einen tiefen, traumlosen Schlaf versinken? Wieso suchten seine Augen stetig die Opiumhöhle ab, tasteten über die Süchtigen, die dort teils auf Diwanen und Strohmatratzen, teils auf dem blanken Boden saßen oder lagen, als erwartete er, irgendetwas zu sehen – oder irgendjemanden?

Er brauchte eine ganze Weile, bis ihm klarwurde, wonach er suchte. Die Hure war nicht da – jene vorwitzige Frau, die am Vorabend so auf seinen Nerven getanzt hatte. Im ersten Moment verwunderte ihn das, doch dann fiel ihm wieder die Aufregung bei den Docks an diesem Morgen ein. Wenn ein Gewaltverbrechen geschehen war, hatte ihr Zuhälter wahrscheinlich entschieden, seine Mädchen nicht auf die Straße zu schicken und abzuwarten, wie sich die Lage entwickelte. In Anbetracht der Umstände durchaus vernünftig, wie Alfio fand.

Unterwegs hatte er das eine oder andere über das Verbrechen aufgeschnappt. Er hatte nicht bewusst hingehört, doch wenn man so scharfe Ohren hatte wie er, war es schwer wegzuhören. Die einzelnen Berichte variierten stark, waren mit grausigen Details und wilden Spekulationen ausgeschmückt. Die Essenz des Ganzen war folgende: Im Bezirk Whitechapel hatte es einen brutalen Mord gegeben. Das Opfer war weiblich gewesen, und – zumindest erzählte man sich das – eine Prostituierte.

Alfio bemerkte, dass seine Lampe ausgegangen war, und schnaubte unwillig. Er legte seine Pfeife beiseite und benutzte das Rädchen an der Seite, um ein größeres Stück Docht aus dem Messingzylinder zu locken, dann hielt er ein Schwefelholz daran. Doch der Docht weigerte sich, wieder richtig Feuer zu fangen, sondern schwelte und qualmte nur. Eine schlechte Konstruktion, oder vielleicht war die Lampe im Inneren feucht geworden.

»Hallo, großer Mann.«

Alfio hob den Kopf und starrte direkt in ein großzügiges Dekolletee.

»Zündet es nicht?« Spott lag in der rauchigen Stimme.

Sein Blick wanderte an einem langen, bleichen Hals hinauf, zu süffisant verzogenen rubinroten Lippen und einem Paar schwarz umrandeter, dunkler Augen, die amüsiert blitzten.

Es war nicht die Frau, die gestern versucht hatte, ihn auszurauben – sie sah zwar nicht älter, aber definitiv reifer aus. Und es gab noch einen anderen, erheblichen Unterschied, der Alfio nicht einmal unter Einfluss des betäubenden Krauts entging, das den Raum in diffusen Nebel hüllte, ein Unterschied, der seinen Nacken kribbeln ließ.

Die Frau beugte sich über ihn, sodass ihre Brüste nur wenige Inch vor seinem Gesicht hingen, und hielt ein Schwefelholz an den Docht. Beinahe augenblicklich entzündete er sich. Wie selbstverständlich nahm sie seine Pfeife, hielt die Brennkammer in die Flamme und schloss ihre roten Lippen um das Mundstück. Dabei kam sie ihm so nahe, dass ihre Haare seine Wange streiften. Ihr Haar roch gut – nach Honig, Kernseife und herbem Rauch.

Alfio räusperte sich. »Kann ich irgendwas für dich tun?« Es hatte sarkastisch und ungeduldig klingen sollen, doch als Alfio seine eigenen Worte hörte, hatten sie eher etwas vom unterwürfigen Angebot eines Dienstes.

Die Frau schien es auch gehört zu haben, denn das Lächeln auf ihren Lippen wurde deutlich breiter. »Das wird sich zeigen.« Sie ließ sich uneingeladen neben ihn auf den Diwan gleiten, geschmeidig wie eine Katze, und begann, ihre Hand wie zufällig über seine Schulter und seinen Arm gleiten zu lassen. »Ganz allein hier, großer Mann?«

Alfio nahm einen Zug von seiner Opiumpfeife und hustete bellend, sagte aber nichts.

Ihre Hand wanderte tiefer, kam auf seinem Oberschenkel zum Ruhen. »Ich bin Clarence.«

Er packte ihre Hand und hielt sie davon ab, ihre Wanderschaft fortzusetzen. »Und ich bin nicht interessiert. Tut mir leid.«

»Oh, es wird dir noch leidtun, da bin ich sicher.«

Alfio wandte den Blick und sah ihr direkt in die Augen. »Das bezweifle ich stark. Deine Kunden bekommen nicht das, was du ihnen versprichst … Clarence.«

Abrupt entzog die Frau sich seinem Griff, aber nur, um ihre Finger durch sein langes Haar gleiten zu lassen. Dass er die Wahrheit über sie kannte, schien sie nicht weiter zu überraschen. »Bei dir würde ich eine Ausnahme machen, großer Mann. Oder zwei. Oder drei. Kommt ganz darauf an, wie lange du durchhältst.«

Alfio schob ihre Hand weg. »Du solltest lernen, deine Finger bei dir zu behalten. Was willst du von mir?«, fuhr er sie schroff an.

Clarences Lächeln verschwand übergangslos. »Nicht hier«, sagte sie. »Gehen wir nach draußen.«

Alfio blickte wehmütig auf die Opiumpfeife in seiner Hand herab. Da ging sie also hin, seine Chance auf ein paar Stunden traumlosen Schlafs. Er vermutete, der schnellste Weg, um diese aufdringliche Frau loszuwerden, war, ihr vorerst ihren Willen zu lassen, also löschte er die Lampe wieder und gab die Pfeife an Lin Chao zurück. Dieser grinste zweideutig, als er sah, wie sich die Schönheit mit den blutrot geschminkten Lippen und dem eng geschnürten Mieder an Alfio schmiegte.

»Viel Vergnügen«, kommentierte er. »Wird höchste Zeit, dass du dich auch mal amüsierst.«

Alfio ignorierte beide gleichermaßen und verließ kommentarlos die Opiumhöhle.

Sobald sie auf der Straße waren, übernahm Clarence die Führung. Dabei entging Alfio keineswegs, dass sie ihn immer tiefer in das Gassengewirr von London lotste und ihnen zunehmend weniger Menschen über den Weg liefen.

Als sie in einer Sackgasse angelangt waren, hielt Clarence an und drehte sich zu ihm um.

»Bringst du hier deine Freier her?«, wollte Alfio wissen, bevor sie etwas sagen konnte. »Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber der Ort könnte etwas mehr Romantik vertragen. Hast du es schon einmal mit Kerzen versucht?«

»Halt den Mund.« Clarence hatte jede Spur von Freundlichkeit oder Laszivität abgelegt. Nun, da sie unter sich waren, hatte sie es nicht mehr nötig, ihre Rolle zu spielen. »Ich weiß, was du bist. Ich kann es riechen. Du stinkst nach Tier.«

»Und was bin ich deiner Meinung nach?«

Sie schnaubte abfällig und trat näher an ihn heran. Alfio wich nicht zurück und hielt ihrem harten Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Das war nicht weiter schwierig – wie die meisten Menschen reichte sie ihm kaum bis zur Brust.

»Elizabeth hat mir von dir erzählt.«

»Das Mädchen von gestern? Ich dachte mir schon, dass ihr beiden euch kennt.«