World Wide Wunderkammer - Holger Noltze - E-Book

World Wide Wunderkammer E-Book

Holger Noltze

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Beschreibung

Digitalisierung war für Opernhäuser und Konzertsäle, Theater und Museen lange allenfalls ein Marketingthema. Dass sich für die Zauberorte des Analogen auch digitale Wunderkammern öffnen könnten – kaum vorstellbar. Holger Noltze vermisst dieses neue Terrain und prüft seine Entdeckungen auf ihren Mehrwert für die ästhetische Erfahrung der Zukunft. Langsam erst – manchmal von der Not getrieben, manchmal von Abenteuerlust – entdecken Opern- und Konzerthäuser die eigenständigen Qualitäten des Streaming, entwickeln Museen digitale Sammlungen, die Schaulust und Kunstverstand ansprechen. Es ist höchste Zeit, dass die Kulturinstitutionen sich auf ihre Kernkompetenzen der Kuratierung und qualitativen Unterscheidung besinnen. Dann können sie die Möglichkeiten des Web zur Vertiefung und Differenzierung nutzen, um den Hunger auf ästhetische Entdeckungen jenseits des Erwarteten und Erwartbaren zu wecken. Dafür braucht es neben überzeugenden Erlösmodellen vor allem kluge Lenkung, Fantasie, Komplexitätstoleranz – und die Bereitschaft, ins Unbekannte aufzubrechen.

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Holger Noltze

WORLD WIDE WUNDERKAMMER

Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution

Inhalt

Vorwort

Katzenkinderbilder. Was noch? • Immer weiter: Leichtigkeitslügen • Die Lage. Der Wandel des Wandels. Dynamit • Dämmerung • Digitale Kabinette

Teil I: Kritik der digitalen Dummheit

Für Kinder: nicht! • Bedenken second: Politik • Ballern. Rasen. Ballern • Aspekte der Digitalität • Gut gemacht und gut gemeint • Ein Bild für jeden Tag • Fehler-Unkultur • Doch nicht umsonst • Städels Reichtümer • Spricht doch • Weltkunst per Street View: Google Arts & Culture • Europa endlos: Europeana • Am anderen Ende der Welt: Kenneth Goldsmiths »UbuWeb« • Original digital: In der »Biblioteca Ambrosiana« in Mailand • How to Opera. Anna Stumpf erklärt Beethoven • Für fortgeschrittene Anfänger: Online komponieren • Schubert minus one two three: Quartett-Spielen im virtuellen Konzerthaus • Zukunftsmusik: Effektorium, Virtual Reality • Das könnte Sie interessieren: Beethovens »Zehnte«, zu Ende gerechnet • Das Podcast-Universum • Unterwasser-Gluck: Aria Code • Levits Beethoven in 32 Folgen • Three on the Aisle • Hier spricht Ihr Dirigent: Sticky Notes • Zwischenbefund • Ist das noch Journalismus? Blogs, Blabla und neue Fragen • Von wegen fun: Das E-Zine »van« • Dreimal noch

Teil II: Neulandvermessung: Transformationen

Alles, überall, gleichzeitig: I Have A Stream • Tempora mutantur, nos et mutamur in illis • Der Wert von Musik • Fülle des Wohllauts • Me at the Zoo • YouTubes bildende Wirkungen • Weltabschirmung • Verloren im All • Browse! Playlists und Mood Management • Musik für Menschen, denen Musik nichts bedeutet • Digital Concert Halls: Videostreaming • Jenseits der Lagerfeuer

Teil III: Was geht? Aussichten ins Freie

Pandoras letztes Geschenk • Plötzlich diese Übersicht • Kuratieren! im Netz • Götterdämmerung für Gatekeeper? • Zukunftsmusik • Für ein paar Pixel mehr • Pipelines am Ende • Wunderkammern. Kirchers Traum • Sinnliche Ungewissheit

Vorwort

Der Gegenstand gebietet Bescheidenheit. Noch die Reklamation von Bescheidenheit kann prätentiös erscheinen: »Digitalisierung« ist das Signalwort einer Umwälzung, die wir leichthin eine Revolution nennen. Machen wir uns noch klar, was das ist, eine Revolution? Die Französische, die industrielle: alles mit sich reißend, gewaltsam, auf fast alle Lebensbereiche wirkend, unumkehrbar. Danach war immer alles anders.1

Mir scheint das Wort nicht zu groß gewählt, sondern unbedingt angemessen. Es gibt Gründe, anzunehmen, dass die Folgen der Digitalisierung noch wirksamer sind als etwa die der Industrialisierung. Diese Folgen sind komplex, wie die technischen Grundlagen komplex sind. Da ist Bescheidenheit angeraten, auch angesichts einer Diskurslage, in der sich eine breite, schweigend ratlose Mehrheit einem Expertenheer von Bescheidwissern gegenübersieht, Gurus, Warnern und Propheten. Ihr Geschäft ist die Reduktion von Komplexität, gleich ob es um das Internet als kürzeste Verbindung zu den letzten Tagen der Menschheit oder die Stimulation von Euphorien wegen baldiger Lösung aller Weltprobleme geht. Das Internet ist auch eine Maschine zur Hervorbringung und Verbreitung von Glücksversprechen und Untergangsprospekten jeder Art. Wer aber weiß wirklich Bescheid? – Wir, im Zuschauerraum, jedenfalls nicht, nie.

Der Gegenstand der folgenden Überlegungen ist nicht »die« Digitalisierung, aber das macht die Sache nicht übersichtlicher, das Unternehmen kaum weniger tollkühn. Denn auch die Eingrenzung auf die Frage, wie diese ungeheure Transformationsdynamik auf das ohnehin weite Feld der Hochkultur wirke, auf das, was wir im weiteren Sinn »ästhetische Erfahrung«2 nennen wollen, macht das Unterfangen nur etwas weniger hoffnungslos. Es scheint dem Verfasser aber wichtig. Er begibt sich ein wenig in Deckung vor allen Spezialisten, die ihm leicht spezialistische Unzuständigkeit vorwerfen können; er ist der Meinung, dass es, wenn die Verhältnisse nun einmal so liegen, wie sie liegen, des riskanten Blicks über die eigenen, immer zu engen Zuständigkeiten hinaus bedarf, um besser zu verstehen, was vor sich geht. Es ist so viel.

Ich mag den Titel einer sehr knappen Einführung in die Philosophie, die der Amerikaner Thomas Nagel verfasst hat, What Does It All Mean; auf Deutsch wurde die Frage zum Motto einer kurzen Schriftenreihe mit kurzen Texten über große Fragen: Was bedeutet das alles?.3 Vermutlich jede Autorin, jeder Autor dieser Reihe, ich habe es nicht geprüft, beginnt die offensichtliche Kühnheit, auf eine große Frage mit einem kleinen Buch zu reagieren, mit einer ehrenwerten Entschuldigung. Vielleicht leihe ich mir da eine aus für dieses latent hybride Unterfangen.

Und das beginnen wir nun mit einer kleinen unerhörten Begebenheit.

Katzenkinderbilder. Was noch?

Zu den wichtigen Pflichten von Führungspersönlichkeiten gehört das Vorausschauen. Damit haben zumal die Direktorinnen und Direktoren der großen Medienunternehmen reichlich zu tun, und auch ihre Überforderung liegt in der Natur der Sache, da der Veränderungsdruck gerade auf die Medien so mächtig ist. Wirklich schwer zu sehen, was da kommt und auf sie zukommt. Kein Zeichen von Schwäche, nicht weiterzuwissen. Deshalb war es eine gute Idee, dass der Direktor eines großen deutschen öffentlich-rechtlichen Senders, für allerhand Radioprogramme verantwortlich, sich und ebenso seinen immer noch zahlreichen Kulturredakteurinnen und -redakteuren Rat holte. Eingeladen wurde handverlesen eine heterogene Schar von, so oder so, Expertinnen und Experten auf einem wohl besonders schwer übersichtlichen Teil des ohnehin vernebelten Feldes: Praktikerinnen und Pragmatiker, von anderen Medien, die zumindest das Narrativ, digital »gut aufgestellt« zu sein, gut platziert hatten, vom Reichweitenhimalaya von Spiegel Online bis zum schon wegen seines Schweizertums auf Distinktion gepolten Schweizer Radio und Fernsehen SRF.

Der Verfasser dieser Zeilen war eingeladen, um über die redaktionellen Möglichkeiten einer Online-Plattform für klassische Musik zu berichten.4 Wegen eines Problems mit dem senderinternen WLAN im Konferenzraum konnte er seine Überlegungen nicht irgendwie digital präsentieren, sondern nur zusammenfassend davon sprechen. Der Eindruck wird wenig nachhaltig gewesen sein, die Redakteurinnen und Redakteure nahmen es hin, wer will es ihnen verdenken. Bei den Beiträgen der anderen Referentinnen und Referenten wurde mehr mitgeschrieben, wenn auch nicht viel gefragt. Diese berichteten von ihren Erfolgen in der Umsetzung digitaler Strategien. Eigentlich war nur von Erfolgen die Rede, etwa davon, dass, wie und warum man mit der konsequenten Anwendung von Regeln, die sich aus ehernen Gesetzen und notwendigen Zusammenhängen der Medienwirkungsforschung ableiten lassen, deutlich mehr Klicks, längere Verweildauer, mehr Follower und Likes erreichen konnte als jedenfalls die Kollegen vom Schwesterprogramm und so weiter. Und wie habe man das geschafft? – Es wurde still im Raum, die Redakteurinnen und Redakteure hielten sich bereit zum Mitschreiben. Aha: Man muss ein Top-Team zusammenbringen. Man muss von der Zielgruppe her denken. Vor allem: Man muss sich von der eitlen Idee verabschieden, was offline, als Printartikel oder lineares Radio oder Fernsehen, als wertvoller redaktioneller Inhalt gelte, sei deshalb auch geeignet, ein Online-Erfolg zu werden. Man habe hier erstens strikt zu trennen. Kill your darlings, kill kill.5 Zweitens, sich an das Grundmuster von Erfolg im Netz zu halten, und das geht etwa so: Orientiere dich an dem, was funktioniert.

Es mag ein Trugbild der Erinnerung sein: Ich meine mich zu erinnern, an dieser Stelle sei das Bild eines süßen Katzenbabys gezeigt worden. Folgte ein Ironiesignal? Kam es zum Aufstand der öffentlich-rechtlichen Kulturzuständigen? Weder – noch. Das Katzenbaby, nun gut, eine Zuspitzung um der Deutlichkeit willen, blieb als Erinnerungsbild für die Teleologie einer Medienarbeit auf der Höhe der Zeit stehen. Dem Beobachter schien es als Menetekel, teuflisch-süß. Die Vorträge wurden aufmerksam verfolgt, ohne Begeisterung, eher ratlos. Auch der Beitrag, in dem ein Entscheider eines (anderen) Landesrundfunkunternehmens seine Entscheidung begründete, eine beträchtliche Zahl von Planstellen im linearen Programm zugunsten der Online-Verstärkung zu verschieben. Wo die Haushaltsmittel begrenzt sind, kann eine solche Maßnahme unausweichlich sein. Dem Beobachter fehlten vielleicht Anzeichen des Bedauerns, es ging dem Kollegen wohl eher um die Ausstellung einer gewissen zeitgemäßen Rabiatheit. Man muss sich auch mal vom Alten trennen. Kann weg. Die Frauen und Männer im Raum mochten kurz innehalten: Meint er etwa auch uns? – Ein mit Blick auf die zumindest eigene Unkündbarkeit zu verscheuchender Gedanke.

Doch das Unbehagen lässt sich nicht verscheuchen. Es liegt tiefer begründet in der Furcht davor, dass die digitale Revolution ein Angriff auf die Raison d’Être des öffentlich-rechtlichen Systems ist, für den man nicht gut gerüstet ist. Es ist vertrackter als alle Anfechtungen der Vergangenheit, wie die Infragestellung durch das Privatfernsehen seit den 1980er Jahren. Mit Politik und Populismus, auch mit dem europäischen Wettbewerbsrecht wusste und weiß man im Sinne des Existenzerhalts umzugehen, irgendwie. Aber das hier ist toxisch. Denn es erweist sich, und an diesem Tag im Konferenzraum des großen Senders dämmerte es auch den Verdrängungsexperten: Auf das Dilemma zwischen, überspitzt gesagt, Kulturauftrag und Katzenbild sind »ins Netz gestellte« Berichte über Kulturereignisse welcher Art auch immer selbst dann keine Antwort, wenn sie mit einem Katzenkinderbildchen angeteast werden.

Abb. 1: Viel hilft viel

Es ist komplizierter. Über das Unbehagen in den Redaktionsfluren der öffentlich-rechtlichen Sender darf man sich sorgen, auch ein wenig mit Blick auf die Arbeitshaltung seiner Angestellten, die von der Gesellschaft dafür unterhalten werden, eine informationelle und kulturelle »Grundversorgung« zu gewährleisten, die nicht den Konvergenzgesetzen des Marktes unterworfen sein sollte. Wie, auf ihrem Feld, die Universitäten. Wie einmal die Kirchen. Es zeigt sich, dass die Anpassung an den so diffusen wie mächtigen Markt – bestens begründet mit der Notwendigkeit, ein Publikum erreichen zu müssen, das sich an grellere Reize der privaten Konkurrenz, an immer noch mehr Sport und Quiz gewöhnt hat – zu einer Ent-Schärfung des öffentlich-rechtlichen Profils geführt hat, was wiederum eine empfindliche Legitimationsproblematik zur Folge hat. Und das gerade zu einer Zeit, in der die eigenen Kernprodukte: lineare Radio- und Fernsehprogramme, sich das Aufmerksamkeitsbudget des Publikums mit Online- und On-Demand-Angeboten aller Art teilen müssen.

Die Krise der Institutionen, keineswegs nur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, als Teilphänomen der neuen »Kultur der Digitalität«6 wird noch ein Thema sein. Was hier folgt, sind Überlegungen zu einem speziellen Aspekt der Digitalisierung, nämlich: Was macht das Internet mit dem »guten Inhalt«, wie verändern Streaming, Gleichzeitigkeit, Verfügbarkeit, Verlinkung usw. die Modi ästhetischer Erfahrung? Dass dies eine sehr spezielle Themenstellung ist, scheint nur so. Das größere Bild zeigt hier ein gleich ganz großes, denn es zielt auf die Frage, ob der Logik des Katzenkinderbildes etwas entgegenzusetzen ist.

Die These: Wir haben das Internet als Ort und Medium ästhetischer Erfahrung noch nicht verstanden. Es wird alles und massenhaft online gestellt, aber im Grunde sind wir »digital doof«7. Und überlassen aus Überforderung, Bequemlichkeit und Ignoranz den Clickbait-Populisten und selbsternannten Web-Gurus das Feld, auf dem sich gerade entscheidet, was wir wo und wie in Zukunft zu sehen, hören, lesen bekommen. Auf jeden Fall Katzenkinder. Was noch?

Immer weiter: Leichtigkeitslügen

Das Buch schließt, was seine Perspektive und sein Vorgehen betrifft, an Die Leichtigkeitslüge an.8 Untersucht wurden die Felder Bildung, Medien, Kulturbetrieb. Diesen drei Systemen ist gemeinsam, dass sie mit der Weitergabe und Distribution von Inhalten beschäftigt sind. Was den Inhalt »Kultur« (Kunst, Literatur, Musik vor allem) angeht, war die Idee, vergleichend zu beschreiben, was (aus meiner Sicht) in diesen Systemen vor sich geht, die sich, erste Überlegung, sehr viel stärker denn je aufeinander beziehen und sich beeinflussen; zweitens: in denen, was den Inhalt betrifft, eine Dynamik der Entdifferenzierung wirkt.

Festgestellt wurde eine gelegentlich schon hysterische Abwehrhaltung in Medien, Kulturjournalismus, Universität dagegen, komplexe Phänomene als solche zu begreifen, ihre Analyse zur Grundlage einer auf Differenzierung zielenden Kritik zu machen. Damit kam auch in den Blick, was doch, wenn wir es mit schwierigen Gegenständen und Fragen zu tun haben, nötig wie nie wäre: Vermittlung nämlich – an deren (uninspirierter) Beschaffenheit und (mutlosem) Anspruch sich meine Kritik vor allem festmachte.

Das Buch hat seinen Weg als Diskussionsbeitrag in einem schwierigen, von allerhand Ideologien und alten Gewissheiten und Verteidigungslinien umstellten Feld gemacht. Es hagelte Zustimmung wie Kritik, aber offenbar war die Frage wohl nicht falsch gestellt: wie wir unter neuen Bedingungen (Globalisierung, Ökonomisierung, Digitalisierung, Bildungskrise) mit solchen Gegenständen umgehen, die sich nicht einfach vermitteln oder vermitteln lassen, weil sie komplex sind, sich dem leichten Zugang verschließen, weil sie Zeit fordern, Bemühung, Ausdauer. Es gab auch ein paar Missverständnisse. So wurde Die Leichtigkeitslüge gelegentlich als eine grundsätzliche, das Kind mit dem Bade ausschüttende Vermittlungsverdammung gelesen; die Kritik zielte aber auf schlechte Vermittlung, auf die Beschwörung von Vermittlung als eine Art Legitimationsmantra, das in unguter Praxis regelmäßig nichts anderes meint als Vereinfachung. Meine Kritik: Die Bereitschaft, sich über das eigene Vermittlungsengagement zu begeistern, steht oft in keinem angemessenen Verhältnis zu dem, was denn inhaltlich zu vermitteln wäre. Beklagt wurde ein Mangel an Ambition, es besser zu machen, obwohl man es doch besser wissen kann.

Zweites Missverständnis: dass, wer kritisiert, immer auch sagen müsste, wie es denn besser ginge, wo denn die Rezepte für eine gute, dem Gegenstand nämlich angemessene Vermittlung blieben? – Nun finde ich die Verbindung von Kritik und Besserwissen keineswegs zwingend und dahingehende Erwartungen gar nicht unbedingt sinnvoll. Davon abgesehen hätte, wer das Buch womöglich nicht schon nach der Hälfte beleidigt zugeklappt hatte, am Ende sehr wohl ein paar Vorschläge für Wege aus der Leichtigkeitsfalle entdecken können, etwa den, festen und schlichten Rezepten zu misstrauen und die Kriterien und Methodik der Vermittlung aus der Einzigartigkeit des Gegenstands selbst zu entwickeln – Vermittlung mithin selbst als Kunst zu begreifen.

Drittes Missverständnis: dass die vorgeschlagene Komplexitätstoleranz, verstanden als der gelassenere Umgang mit dem, was sich nicht auf den ersten Blick erschließt, als das Eingeständnis der Möglichkeit, dass eine ästhetische Erfahrung (oder der Weg dahin) auch anstrengend sein, andersherum die Anstrengung als Kriterium wertvoller Kunst behaupten wolle. Da gab es auch Beifall von ungewünschter Seite. Mir schien allerdings sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass, wo alles zu seinem Recht kommen soll, es ein Recht von Kunst ist, anstrengend sein zu können, uns etwas abzuverlangen. Nicht: Je mehr wir schwitzen müssen, desto größer die Kunst. Interessanterweise aber wurde schon die schlichte Thematisierung einer Art von Vertikale, von Unterschieden im Sinne eines Mehr und Weniger, und dass nicht alles und jedes auf gleicher Bühne zu verhandeln sei, gelegentlich als Provokation gesehen.

Man mag dies also als »Der Leichtigkeitslüge zweiter Teil« lesen, zehn Jahre danach und jetzt mit dem Fokus auf die Digitalisierung, die damals natürlich schon vorkam, deren Dynamik auch kein Geheimnis war, deren Folgen fürs große Ganze wie für den uns interessierenden Aspekt der ästhetischen Erfahrung von heute aus gesehen aber neu betrachtet werden muss. Wieder ist der Ansatz eine Kritik: Kritik nämlich eines »doofen« Umgangs mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, auch an der nimmermüden Bereitschaft, sich auf vermeintliche Patentrezepte zu verlassen (Guru-Glaube, allmächtige Algorithmen und immer so weiter), zugleich mit Blick auf die Chancen, die hier vielleicht für die Vermittlung und Rezeption komplexerer Gegenstände schlummern. Denn die Botschaft lautet positiv: Lasst uns genauer herausfinden, was das kann. Genauigkeit heißt: nicht technik-euphorisch zu verblöden, sondern en détail schauen, was die neuen technischen Möglichkeiten für die ästhetische Erfahrung bedeuten. Beethovens Eroica hören im MP3-Format durch Miniohrstöpsel: Ist es ein Frevel, eine Unmöglichkeit? Eine Möglichkeit? – Also: »Was bedeutet das alles?«

Die Lage. Der Wandel des Wandels. Dynamit

Seit dem Jahr 2013 ist auf YouTube ein Drei-Minuten-Video9 zu sehen, dessen Brisanz sich mindestens auf den zweiten Blick erschließt. Es zeigt Andrew McAfee, einen Wirtschaftswissenschaftler am MIT, er spricht über die Entwicklungsdynamik des Internets. (Verrückterweise hat das Rechtschreibprogramm meines Notebooks gerade das Wort Dynamik in Dynamit geändert. Oder war es das Unterbewusste?) Die Feststellungen dieses Experten für Digitalwirtschaft enthalten eine gewaltige Sprengkraft. Dabei erzählt er eine sehr alte Geschichte. Es ist die von der Erfindung des Schachspiels, die den indischen König so erfreute, dass der Erfinder einen Wunsch frei hatte. Er wünschte sich, man wird sich vielleicht erinnern, etwas Reis, nämlich ein Korn auf dem ersten der 64Schachfelder, zwei auf dem zweiten, vier auf dem dritten und so weiter. McAfee erzählt, wie dem König von Indien das als eine bescheidende Bitte erschien; wie er aber erkennen musste, dass schon bei der Hälfte der Felder ein wahrer Mount Everest von Reis zusammenzubringen war. Der kluge, vielleicht allzu kluge Schacherfinder wurde geköpft, aber das ist hier nicht die Pointe. Sondern die Übertragung dieser Mengenrechnung auf die Entwicklung von digitalen Innovationen. McAfee bezieht sich dabei auf das 1965 aufgestellte Moore’sche Gesetz über die Leistungskurve von Computerchips. Die ist bekanntermaßen steil; Gordon Moore aber ging von einer Verdopplung der IT-Potenz in einem Zeitraum von anderthalb bis zwei Jahren aus. Was die Entwicklung bis heute angeht, lag Moore mit seiner Einschätzung ungefähr richtig, begleitet wurde sie von einem Preisverfall von Speicherkapazitäten. Um ein Gigabyte Daten zu speichern, musste man 1980 annähernd eine halbe Million Dollar aufwenden; 2010 waren es zehn Cent, heute nur noch ein Bruchteil davon.10 Ob die Geschichte nun immer genauso weitergeht, ist durchaus umstritten, doch das dämpft die Explosivität des Vergleichs nur ein wenig. Der Forscher, der in diesem Video im Auftrag eines großen IT-Beratungsunternehmens spricht, nennt als wichtige Landmarke das Jahr 2006, als den Moment, in dem wir die zweite Hälfte des Spielbretts erreicht haben. Seitdem haben wir die Einführung der mobilen Endgeräte Smartphone und Tablet erlebt, den Aufstieg der Social Media, gewaltige Fortschritte beim autonomen Fahren, bei automatisierten Produktionsverfahren und noch jede Menge mehr.

Selbst wenn man eine künftig deutlich abgeflachte Kurve der IT-Dynamik annimmt; selbst wenn der Puls der Innovation nur noch halb so schnell oder noch langsamer schlagen würde: Es kann einem dennoch schwindlig werden schon bei der Vorstellung, die heutigen technischen Kapazitäten würden sich in ein paar Jahren verdoppeln und dann noch einmal und weiter so. Rasante Rechengeschwindigkeit, mächtige Speicherkapazitäten als Basis von immer intelligenterer Künstlicher Intelligenz. Zugleich: die kaum mehr begrenzten und begrenzbaren Möglichkeiten des Tracking von jedem und allem, der immer genaueren Kombination und Analyse von Daten, der Überwachung, Kontrolle, Steuerung. Darauf geht der MIT-Entwickler gar nicht ein, er fasst das Ganze ganz einfach zusammen: »We haven’t seen anything yet.«

Wir haben noch nichts gesehen – und doch schon so viel, dass Überforderung als eine Grundbefindlichkeit des frühen 21.Jahrhunderts gelten kann. Was bisher geschah: nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen wird und was wir noch erleben werden. Der Mann vom MIT wirkt nicht überfordert, nicht gestresst, aber auch nicht euphorisch. Gelassenheit mag kein Fehler sein im Umgang mit explosiven Gegenständen.

Dämmerung

Es dämmert einem: Das geht nicht mehr weg. Das Internet, Wurzelwerk und Allverknotungsstruktur der Digitalisierung, ist der gewaltigste, zugleich umfassendste Treiber von Wandel und Veränderung seit, sagen wir: der Erfindung der Dampfmaschine. Entschieden umfassender sogar. Es taktet unseren Alltag, formiert unsere Kommunikation, beruflich und privat. Es verändert alles und (annähernd) jeden. Medien. Ökonomie. Industrie. Bildung. Auch, schleichend, das Privatleben, das Zwischenmenschliche. Alles. Was wir schon auf den frühen Feldern der ersten Schachbretthälfte erlebt haben: das Versprechen auf eine universelle Kommunikationsgemeinschaft, auf allgemeine Informationsteilhabe. Das Versprechen auf schnellen Reichtum. Die Bildung neuer Monopolstrukturen. Daten als neue Weltwährung. Die Allverfügbarkeit von Inhalten, die zu content geworden sind.11

Und doch ist das alles immer noch sehr »Neuland«. Insofern war der Spott, der die deutsche Kanzlerin traf, als sie das Wort wagte,12 etwas ungerecht; er kam anzunehmenderweise von denen, deren Blick auf die neuen Medien ihnen selbst als Durchblick erscheint, wo sie doch über die von klugen Entwicklern für sie bestimmten Benutzeroberflächen kaum weiter zum Verständnis weder der Sache selbst noch der erheblichen Implikationen und weiteren Zusammenhänge gelangen. Wie gesagt: zu viel Pseudo-Checkertum, zu wenig Demut.

Wenigstens eine Ahnung von den Dimensionen und Folgen der Digitalisierung kann der Schweizer Medienwissenschaftler Felix Stalder vermitteln. Das größere Bild zeigt eine gesellschaftliche, medien-, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Entwicklung, die sich bis in das weit vordigitale 19. Jahrhundert zurückverfolgen und anhand der Erosion etablierter Institutionen und alter Gewissheiten beschreiben lässt.13 Sie begann langsam und erfuhr durch das Internet, dessen Geschichte als Massenphänomen um das Jahr 2000 einsetzt, eine exponentielle Beschleunigung: »[…] immer weitere Dimensionen der Existenz werden zu Feldern der kulturellen Auseinandersetzungen, und soziales Handeln wird in zunehmend komplexere Technologien eingebettet, ohne die diese Prozesse kaum zu denken und schon gar nicht zu bewerkstelligen wären. Die Anzahl konkurrierender kultureller Projekte, Werke, Referenzpunkte und -systeme steigt rasant an, was wiederum eine sich zuspitzende Krise der etablierten Formen und Institutionen der Kultur ausgelöst hat, die nicht darauf ausgerichtet sind, mit dieser Flut an Bedeutungsansprüchen umzugehen.«14 – Institutionen, deren Stabilität auf der Deutungsmacht und Setzungskraft dessen, was gelten soll, gründet, sahen und sehen sich immer mehr und lautstärker konkurrierenden Projekten und Ansprüchen ausgesetzt.

Ein Beispiel aus der hier besonders sinnfälligen Mediengeschichte. Deutsches Fernsehen, das war einmal ein Programm für alle, dem 1963 ein Zweites Deutsches Fernsehen an die Seite gestellt wurde, bevor das alte »Erste« dann die »Dritten« gebar, zuständig fürs Regionale und die Kultur, die im Kampf der populäreren Rivalen Erstes und Zweites nicht mehr im Weg stehen sollte. Deutsches Fernsehen, das war einmal das Lagerfeuer der großen Samstagabendunterhaltung, in der ein Charmeur der alten Schule anzügliche Bemerkungen zu jungen Damen machte und unzensiert Goethe-Zitate und allerhand bildungsbürgerliche Referenzen austeilte.15 In Quizshows wurden Detailkenntnisse aus Shakespeare oder den Wissensgebieten Operette, Geografie, römische Geschichte oder griechische Mythologie abgefragt, und hinter aller heiteren Form und Fassade waren das res severa, ernste, unhinterfragte, weil seinerzeit unhinterfragbare Angelegenheiten. An diese Burg fester Gewissheiten legte 1982 die Öffnung des Mediums Fernsehen für privat-kommerzielle Konkurrenz einen aus Sicht der etablierten Öffentlich-Rechtlichen verheerend wirkenden Sprengsatz. Was geschah: Die Privaten sendeten, was bis dahin ausgeblendet war. Sie entdeckten, nach ein paar Jahren des Biedersinns,16 den Tabubruch (nackte Brüste, sinnfreie Albernheit, Einblicke in die Seelen- und basale Bedürfnislage sozialprekärer Menschen, Käferessen, Verletzung von Intimität und Würde, öffentliche Demontage von »Stars«, die Liste ist bekanntermaßen weit länger) als Erfolgsprinzip und scharfe Waffe gegen das alte System. Dieses reagierte zunächst arrogant, bald aber verunsichert, und es reagierte nicht durch Schärfung und Reform seines, des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags im Sinne einer klaren Unterscheidbarkeit, sondern begegnete dem anderen mit vielerlei Choreografien der Konvergenz. Man näherte sich an, probierte sich im Populären und konnte doch weniger wagen. Die Resultate fielen meist, wenig verwunderlich, eher lauwarm aus. Künftig musste man sich einen Markt teilen und konnte, etwa im Milliardenpoker um die Rechte am wertvollsten Gut des linearen Fernsehens, dem Fußball, noch mitspielen, weil die Kriegskassen aus Gebühreneinnahmen berechenbarer sind als Werbeetats, die bald zu einem erheblichen Teil ins Internet wanderten.

Die Zeitrafferperspektive zeigt beispielhaft die Erosion institutioneller Macht. Die Geschichte ließe sich so ähnlich auch über die alten Parteien oder die Post erzählen. Sie ist, noch in der Verkürzung, lehrreich, weil sie zeigt, wie der Transformationsdruck auf die alte Welt schon weit vor dem Durchbruch des Internets zu wachsen begann, mit der Jahrtausendwende und durch das neue Medium aber förmlich explodierte. Das WWW war eben nicht ein neuer Konkurrent auf dem Markt, den man so oder so bekämpfen kann. Das Internet hat eine vollkommen neue Umgebung geschaffen, in der die großen Institutionen (alle: Staat, Medien, Konzerne, Kirchen, Parteien, Verbände) sich herausgefordert sehen, mit einem Medium umzugehen, das mehr als alle früheren Medieninnovationen selbst zum zentralen Akteur geworden ist. In fast jeden Bereich greift dieser mächtige Mitspieler verändernd ein, privat und nichtprivat, durch die großen Plattformen und durch eine massive ökonomische Verschiebungsdynamik: Es gibt neue Kuchen (Geschäftsmodelle), und die bestehenden werden anders verteilt.

Abb. 2: Gewinner in der Aufmerksamkeitsökonomie, Rezo, 2019

Auch die Torte politischer Macht: Im Europawahlkampf 2019 sorgte ein annähernd einstündiger kritischer Monolog des Youtubers Rezo über die CDU für eine empfindliche Ohnmachtserfahrung nicht nur der C-Parteien in Deutschland. Denn das mit quasi null Aufwand, viel Wut und einiger Cleverness produzierte Video17 erreichte in kürzester Zeit ein Publikum, das erstens mehrere Millionen zählte, zweitens jung war und drittens zu einem erstaunlichen Anteil offenbar länger als drei Minuten Aufmerksamkeit für parteipolitische Fragen aufzubringen bereit und in der Lage war. Die Behauptung sei gewagt: Eine vergleichbare Wirkung hätte von keiner PR-Agentur mit beliebigem Budget erzielt werden können. Der Moment des Schocks beleuchtete blitzartig die Schwäche der alten Akteure: Man schenkt seine Aufmerksamkeit lieber einem 27-jährigen Webblogger als Politikern, die immer neu um Vertrauen auf eine Problemlösungskompetenz werben, die sie in der Vergangenheit schon reichlich hätten nachweisen können, aber nicht nachgewiesen haben. Da hatte Rezo einen Punkt. Wie die junge Umweltaktivistin Greta Thunberg, die in kürzester Zeit die Fridays for Future-Bewegung angestoßen hat und schnell zu einer Stimme wurde, der man auf Klimakonferenzen und Wirtschaftsgipfeln sehr genau zuhört. Rezo und Greta sind Personifizierungen des dramatischen Strukturwandels der kommunikativen Machtverhältnisse, den das Internet bewirkt. Darin steckt der Aspekt der Selbstermächtigung, hier: der Kritik einer jungen Generation am desaströsen Zukunftsmanagement der Alten. Gehört werden wollen aber auch alle anderen, und nicht alle sind so sympathisch wie die freitäglichen Unterrichtsboykotteure im Namen von Umwelt und Klima.

Nehmen wir als weiteres Beispiel den besonders komplizierten Genderdiskurs. An der Geschichte des Feminismus und der Gay-Pride-Bewegung lassen sich die Dynamiken der Selbstermächtigung noch recht übersichtlich studieren. Was aber ist mit den Interessen und Implikationen derer, die sich, jenseits der Heteronormativität, anderen oder gar keinen Gruppen zugeordnet fühlen?18 Die Frage, wie man sichtbar wird mit dem eigenen So-Sein, ist älter, uralt, doch erst die Möglichkeiten des Internets, jeder Nische ihren kommunikativen Raum der Verständigung und zugleich ein Potenzial auf Massenwirksamkeit zu geben, haben das Spiel fundamental verändert – zuungunsten der alten Spieler, ein wenig zugunsten der neuen Akteure, die ihren Raum finden, bekanntermaßen aber vor allem sehr zugunsten der neuen Monopolisten: den Plattformen und Entscheidern über die Algorithmen, die eine Ordnung in die Unübersichtlichkeit der totalen Gleichzeitigkeit von allem bringen. Es ist eine fundamental neue Ordnung. »Die alten Ordnungen, in denen kulturelles Material bisher gefiltert, organisiert und zugänglich gemacht wurde – Kulturindustrien, Massenmedien, Bibliotheken, Museen, Archive usw. –, können diesen Strom weder im Kleinen noch im Großen kanalisieren. Sie fungieren kaum mehr als Gatekeeper zwischen den Bereichen, die einst mit ihrer Hilfe als ›privat‹ und ›öffentlich‹ definiert wurden. Immer weniger entscheiden sie darüber, was als wichtig zu gelten hat und was nicht. Ihre über lange Zeiträume relativ verbindlichen und prägenden Ordnungen verlieren in der Praxis rapide an Bedeutung, nachdem ihre Legitimation bereits durch jahrzehntelange Kritik infrage gestellt worden war«, fasst der Kultur- und Medienwissenschaftler Stalder zusammen.19 Angesichts dieser tatsächlich revolutionären Transformationsdynamik kann einem die Beharrlichkeit, mit der viele der großen Spieler der alten Welt an den real zerbröselnden Gewissheiten und zunehmend sinnlos erscheinenden Handlungs-Choreografien festhalten, schon bemerkenswert traumtänzerisch vorkommen. Vielleicht ist es mit der erwähnten Überforderung zu erklären: Man weiß es nicht anders, und wo der Veränderungsdruck die eigenen Fundamente erfasst, hält man sich ans Gewohnte, Gelernte, irgendwann einmal richtig Gewesene.

Schauen wir uns um im digitalen Raum, mit dem Fokus auf den uns interessierenden Sonderbereich der ästhetischen Erfahrung. Damit soll hier die Möglichkeit gemeint sein, Kunst, den Künsten – den bildend-materiellen, den literarischen, den musikalisch-performativen vor allem – im WWW zu begegnen. Es soll nach der qualitativen Dimension dieser quantitativ bereits alles bis dahin Vorstellbare sprengenden Möglichkeiten gefragt werden. Ausgegangen werden soll von der Annahme, dass der Horizont dessen, was in den neuen Erfahrungsräumen des Digitalen möglich wäre, immer noch erst schemenhaft erkennbar ist. Das weltweite Netz kann, dies die Vermutung, so viel mehr, als uns auf den ersten und zweiten Blick geboten wird. Warum wir (noch) so kurzsichtig sind, lässt sich aus den zuvor skizzierten strukturellen Beobachtungen ableiten: Wir befinden uns immer noch in der digitalen Frühzeit. Und die alten Akteure auf neuländischen Plattformen handeln unter den beschriebenen Druck- und Begrenzungsbedingungen: Es fehlt oft an Budgets, sehr oft an technischem Verständnis, fast immer an Mut und Einfallsreichtum, das Neue wirklich zuzulassen. Die digitale Welt nicht nur als Bedrohung des Bestehenden wahrzunehmen. Sondern als das, was sie auch ist oder sein könnte: eine Wunderkammer.

Digitale Kabinette

Am Bild der Wunderkammer gefällt mir wohl die Vorstellung einer gescheiterten Ordnung. Die Kunst- und Naturalienkabinette des 14. und der folgenden Jahrhunderte trugen ja zusammen, was immer des Staunens und der Bewunderung wert war, gleich ob Artefakt oder Naturwunder. Straußeneier neben Elfenbeinschnitzerei, Prunkpokalen, Schrumpfköpfen. Unter der Decke von Goethes Naturalien-Sammlungszimmer hing ein Krokodil, Objekt leisen Grusels, Teil seines bis heute faszinierenden Versuchs, sich von irgendwie allem in der Welt ein Bild zu machen. Die gut erhaltene Wunderkammer der Francke’schen Stiftungen in Halle gibt einen Eindruck des geordneten Durcheinanders, einer für unsere aufgeklärten Augen rührend vergeblichen Bemühung, die Dinge der Welt in einen sinnvollen Zusammenhang zu setzen. Was, wenn wir aufhörten, das grandios ungeordnete Nebeneinander der Verfügbarkeit von ALLEM, wie es das World Wide Web bietet, als Bedrohung wahrzunehmen, als einen letztlich aggressiven Appell, bitteschön auch alles zur Kenntnis zu nehmen? Sondern, da wir vor der Überfülle ohnehin kapitulieren müssen, die beängstigende Vorstellung einer permanent uns anschreienden grenzenlosen Welt der Angebote und Wahlzwänge (womit beschäftige ich mich, was nehme ich zur Kenntnis, was nicht) zu ersetzen durch die unseren rezeptiven Kapazitäten zuträglichere Idee der Wunderkammer, in der wir die Fülle des Verschiedensten nebeneinander zulassen, ertragen, womöglich genießen können, eben weil sie freundlich begrenzt erscheint: als Kammer?

Abb. 3: Wunderkammer mit Krokodil: Die Studierstube von Petrosilius Zwackelmann, links der Räuber Hotzenplotz

»Wunderkammer« ist ein essentiell unheroisches, dem Alles! Immer! Jetzt! widerstehendes Konzept einer Balance zweier sich im Grunde ausschließender Aspekte. Denn »Wunder« sind ja gerade das, was über die Wände jeder »Kammer« hinausgeht, »erden wunsches überwal«,20 wie es Wolfram von Eschenbach zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Parzival-Roman über das obskure Wunsch-Objekt des Grals formuliert: das, was alles Wünsch- und überhaupt Vorstellbare überschreitet. Darin steckt einerseits Verlockung, andererseits etwas Furchtbares, denn permanente Überwältigung strapaziert die Fähigkeit, mit dem umzugehen, was uns alles möglich erscheinen lässt. Das große Blockbuster-Kino kann uns mit den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung praktisch alles vor Augen stellen, die Überschreitung der physikalischen Gesetze, ja der Grenze zwischen Leben und Tod: Während des Drehs gestorbene Schauspieler können virtuell reproduziert ihre Rolle zu Ende spielen;21 die unwahrscheinlichsten Fantasien können visuell beglaubigt werden: erden wunsches überwal, im Schönen, vor allem im Schrecklichen. Der Effekt der extremen Special Effects ist deshalb, dass wir in Deckung gehen, wegschauen, -hören, -fühlen. Ein Vorgang der selbstschützenden Anästhesie.

So scheint die digitale Überforderung beides zu stimulieren: Überwältigung im Sinne einer latenten Ohnmachtserfahrung und anästhetische Abstumpfung, weil unsere rezeptiven Kapazitäten überschritten werden. Beides ungut. Die Vorstellung einer virtuellen Wunderkammer wäre ein bescheidener Vorschlag, sich auf die Wunder und Möglichkeiten der digitalen Welt einzulassen, indem wir sie auf im Maß einer selbst entworfenen »Kammer« einzuhegen lernen. Wir brauchen wohl auch »Wände« – und sollten uns zugleich die Option offenhalten, durch Wände gehen zu können. Um solche Kunststücke soll es am Ende gehen. Zuvor wollen wir uns umschauen, wo wir sind.

TEIL I