Wortlaut 10. ausgehen -  - E-Book

Wortlaut 10. ausgehen E-Book

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Beschreibung

Wortlaut, der jährliche Literaturwettbewerb des Radiosenders FM4, startet in die neunte Runde. Die besten Kurzgeschichten zum Thema "ausgehen" wurden gesucht und gefunden. Wahnsinniges, Tristes und Erheiterndes ist in diesem lesenswerten Band vereint. Seit 2002 gibt es den jährlichen FM4 Literaturwettbewerb Wortlaut. Knapp 1000 Einsendungen zeigen jedes Jahr wieder, dass FM4-HörerInnen durchaus Talent und Lust am Schreiben haben. Von der Qualität der Texte kann man sich in den Wortlaut-Büchern überzeugen. Da finden sich Namen, die man mittlerweile durchaus kennt: Doris Mitterbacher, Monique Schwitter, Lukas Meschik, Gabi Kreslehner oder Cornelia Travnicek. Für einige Gewinnerinnen war Wortlaut der Start für ihre weitere Schreibtätigkeit. Auch heuer werden wieder zehn Autorinnen und Autoren, die ihre Gedanken, Ideen und Assoziationen - zum diesjährigen Thema "ausgehen" - in eine Kurzgeschichte gefasst haben, für diese Anthologie ausgewählt. Die Jury: Fiva (Musikerin und Autorin), Daniel Glattauer (Schriftsteller und Journalist), Martin Fritz (Gewinner von Wortlaut 09), Barbi Markovic (Schriftstellerin) und Stefan Slupetzky (Schriftsteller).

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°luftschacht

WORTLAUT 10. AUSGEHEN

Der FM4 Literaturwettbewerb. Die besten Texte.

Herausgegeben vonZita Bereuter & Markus Zachbauer

Luftschacht Verlag

© Luftschacht Verlag – Wien 2010www.luftschacht.com

Einzelrechte © jeweils bei den AutorInnenHerausgegeben von Zita Bereuter und Markus Zachbauer

Umschlaggrafik: Thomas Kriebaumwww.derkriebaum.at

Satz: Florian AnratherE-Book: NakaDakewww.nakadake.at

Die Wahl der angewendeten Rechtschreibung obliegtdem/der jeweiligen AutorIn. Layout- und Formatvorgabender einzelnen Texte wurden in der Regel beibehalten.

ISBN: 978-3-902373-85-4

Digitale Ausgabe realisiert in Kooperation mit SONY AUSTRIA

Inhalt

Zita Bereuter, Markus Zachbauer - Zahlen und Danken

Stefan Slupetzky - Vorwort

Viktor Gallandi - Die Bewerbung

Nikola Schnell - Unterwegs mit den Stars

Valerie Katrin G. Fritsch - Die Geschichte des Auges

Klaus Hausbalk - Eine traurige Geschichte

Harald Jöllinger - Der Wickerl

Tanja Kerschbaumer - Marvin

Gerhard Veismann - On the Fritz

Emily Walton - Das wahre Leben ist lauter

Andreas Martin Widmann - Monochrome

Sarah Wipauer - Leben

Zita Bereuter, Markus Zachbauer

[7]Zahlen und Danken

140 Zeichen stehen für einen Twittereintrag zur Verfügung, 160 für ein normales SMS und immerhin 24.000 Zeichen für eine Kurzgeschichte bei Wortlaut, dem FM4 Literaturwettbewerb. In welchem Zusammenhang das steht? In Summe sind das 24.300 Zeichen, die Quersumme ergibt 9, aber das ist eigentlich gleichgültig.

Bedeutender ist, dass rund 1.000 Autorinnen und Autoren ihre Kurzgeschichten zum Thema „ausgehen“ an FM4 geschickt haben.

Bei allen möchten wir uns herzlich für ihre Teilnahme bedanken.

Jeder dieser rund 1.000 Texte ist von der redaktionellen Vorjury (Martina Bauer, Claudia Czesch, Elisabeth Gollackner, Johanna Jaufer, Maria Motter, Martin Pieper, Pia Reiser, Pamela Rußmann, Christian Stiegler und Jürgen Lagger vom Luftschacht Verlag sowie die Herausgeber Zita Bereuter und Markus Zachbauer) wieder und wieder gelesen worden. Was sich da in den Kurzgeschichten Leute fürs Wochenende aufgebrezelt haben, was da getrunken und auf Tanzflächen aufgeführt wurde, was da den Leuten anschließend schlecht war und was für böse Beziehungsdramen sich abgespielt haben. Jessas!

Während andere also ausgehen, hat die Vorjury grob geschätzte 328 Stunden gelesen, unter- und durchgestrichen, diskutiert, kritisiert und wieder gelesen. Um schließlich 20 Kurzgeschichten auszuwählen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Installateure, Fischverkäufer oder Deutschlehrer sind nur einige der Protagonisten, die verlassen, verliebt [8]oder verstört in Mexiko, Bochum oder Wien, in der Badewanne, einem Krankenhaus oder in den Dünen mehr oder weniger glücklich, gesund oder geduldig Dinge erleben und tun, die alle eines gemeinsam haben: „ausgehen“.

An dieser Stelle bedanken wir uns bei der Vorjury für ihre Arbeit.

20 Kurzgeschichten wurden also an die Jurymitglieder verschickt.

An Fiva (Musikerin und Autorin), Martin Fritz (Gewinner von Wortlaut 2009), Daniel Glattauer (Schriftsteller und Journalist), Barbi Markovic (Schriftstellerin) und Stefan Slupetzky (Schriftsteller und Musiker).

Diese haben sich auf die hier nun vertretenen zehn Texte geeinigt. Die Auswahl war nicht immer klar und eindeutig: Es wurde lange und intensiv diskutiert, kompetent und fair argumentiert, Kompromisse wurden geschlossen und schweren Herzens der eine oder andere Text weggelegt. Geschmäcker sind verschieden. Das hat sich auch die Ju-ry eingestanden und legt hier eine Sammlung vor, die durchaus polarisiert. Die hier gesammelten zehn Kurzgeschichten sind kein Mittelweg, der nirgends aneckt und daher schon irgendwie ganz gut ist. Vielmehr sind es Texte, die manche Jurymitglieder ganz großartig finden, andere vielleicht weniger. Besonders für die sympathische Fairness und den Mut ihrer Auswahl möchten wir uns bei der Jury bedanken, und eigens bei Stefan Slupetzky, der das Vorwort der Jury verfasst hat.

Allen zehn Gewinnerinnen und Gewinnern von Wortlaut 2010 gratulieren wir herzlich und wünschen ihnen noch viele Veröffentlichungen.

Sechs Wortlaut-Bücher sind bisher im Luftschacht Verlag erschienen. Dank auch an den Verlag. Für dieses siebte Wortlaut-Buch hat der Luftschacht Verlag ein neues Layout der AutorInnenseiten ausgearbeitet, [9]und gleichzeitig die Biografien etwas vereinheitlicht. Es handelt sich jetzt um Kurzbiografien mit maximal 500 Zeichen.

Aber, so ein Jungautor aufgebracht, er „bitte aber darum, zu beachten, dass eine Kurzbiografie als Mittel der Inszenierung und Profilierung der eigenen Person und des eigenen Textes gerade bei jungen Autoren anerkannt und meist äußerst bewusst und gezielt eingesetzt wird.“ Und weiter: „Es ist, als wolle man Nebensätze in der jungen Literatur verbieten, um die häufigen Grammatikfehler der jungen Autoren zu vermeiden.“ Das wollen wir keineswegs. Ausführliche Biografien der Gewinnerinnen und Gewinner finden sich auf fm4.orf.at/wortlaut.

Tausend Dank letztendlich euch, den Leserinnen und Lesern des Buches. Euch wünschen wir interessante, spannende, amüsante, verwirrende und vergnügliche Lesestunden.

4.032 Zeichen hat das Vorwort bis zu diesem Punkt.Die Quersumme ergibt 9, aber das ist eigentlich gleichgültig.Nur so viel: Wortlaut fand 2010 zum neunten Mal statt.Damit aber jetzt wirklich genug Zahlen.

HerzlichstZita Bereuter und Markus Zachbauer

[11]Vorwort

Der Schriftsteller – besonders der österreichische Schriftsteller – muss ja in erster Linie ein großer Selbstbehaupter sein. Im Gegensatz zur Bildnerei und zur Musik kann man die Dichtkunst nämlich hierzulande nicht studieren; diplomierten Geigern oder Malern stehen keine amtlich attestierten Literaten gegenüber. Dieses Fehlen einschlägiger Kaderschmieden und einer entsprechenden staatlich geschützten Berufsbezeichnung legt die Vermutung nahe, dass sich der Schriftsteller weder züchten noch beschützen lässt; er ist ein autogamer Outlaw, ein sich selbst befruchtender Sonderling.

Wie also wird man zum Schriftsteller? Indem man schreibt? Veröffentlicht? Indem man davon leben kann? Mitnichten. Ausschlaggebend ist allein der Wille, das Schaffen von Literatur in seinen Lebensmittelpunkt zu rücken; man wird Schriftsteller, indem man behauptet, einer zu sein. Das mag nun ziemlich billig klingen (und wohl auch ein wenig nach Hochstapelei, sozusagen nach einer Literaturblase), aber es ist nun einmal so, und es ist gut so. Denn es bewahrt einen bunten, chaotischen, alle Erfahrungs- und Vorstellungssphären durchdringenden Kosmos davor, beschränkt, normiert und systematisiert zu werden, es bewahrt den schreibenden Geist vor dem Zaumzeug der Standardisierung.

Stellt sich die Frage, ob ein Wettbewerb wie Wortlaut, ob die seltsame Idee des Schreibturniers an sich nicht just für dieses Zaumzeug steht. Der qualitativen Bewertung und Reihung verschiedener Texte muss ja der Versuch vorausgehen, normative Kriterien für diese Bewertung [12]zu finden. Nun, was die Arbeit der Endjury des Wortlaut-Wettbewerbs 2010 anbelangt, ist dieser Versuch gehörig gescheitert. Wohlgemerkt: Es war ein hitziges, staunendes, trotziges, fröhliches Scheitern, und es hat uns einmal mehr bewiesen, dass sich Schreiberseelen und Leserherzen nicht berechnen lassen.

Stundenlang sind wir zusammen gesessen, um unserem Entzücken über diese, unserer Abwehr gegen jene Kurzgeschichte Ausdruck zu verleihen, und siehe da: Kein einziger der 20 Texte wurde einhellig beurteilt. Stimmten zwei von uns ganz vehement für die Geschichte A, so waren die drei anderen (mit unterschiedlicher Beharrlichkeit) dagegen, hielten vier von uns Text B für sprachlich manieriert und inhaltlich belanglos, konterte der Fünfte mit einer flammenden Lobrede auf ebendieses Manuskript. Dass wir am Ende doch zu einem Resultat gelangten, liegt an einem Diskussions- und Abstimmungsprozedere, bei dem sich Überzeugungskraft und Einsicht ebenso die Waage hielten wie Verhandlungsgeschick und Leidenschaft.

Man mag uns vorwerfen, dass unsere Wertung einen Kompromiss darstellt. Das tut sie auch, und doch ist sie kein fauler oder lauer Kompromiss. Denn die Bereitschaft, sich mit ganzer Kraft für seinen Favoriten einzusetzen, wurde ebenso berücksichtigt, wie eine mehrmals durchgeführte kollektive Punktvergabe. Die Gewinner sind also beileibe nicht die braven, mutlosen Geschichten (die ja zuweilen den kleinsten gemeinsamen Nenner bilden, nur weil sie niemandem wehtun).

Von besonders dummen Leuten kann man hin und wieder die Bemerkung hören, jemand sei gut – oder nicht gut – im Bett. Man ist aber immer nur so gut im Bett wie die Person, mit der man im Bett liegt. Oder, präziser gesagt, wie die Feinstofflichkeit, die sich zwischen den Liegenden aufbaut. Nicht anders verhält es sich auch mit Texten und ihren Lesern: Ein Wort, ein Geruch, eine Geste kann hier Verzückung, [13]dort Ernüchterung bewirken. So gesehen ließe sich das Ergebnis des heurigen Wortlaut-Wettbewerbs als Momentaufnahme einer literarischen Swingerparty bezeichnen: 20 Texte, fünf Juroren und ein Hexenkessel voller wechselhafter Sympathien und Aversionen. Dessen sollten sich vor allem jene Teilnehmer bewusst sein, die es nicht in dieses Buch geschafft haben. Momentaufnahmen sind das eine, Kontinuität das andere. Ganz richtig, Kontinuität: Der Schriftsteller muss ja in erster Linie ein großer Selbstbehaupter sein.

Stefan Slupetzky

Stefan Slupetzky, geb. 1962 in Wien, Studium an der Akademie der bildenden Künste in Wien, arbeitet als Illustrator, Kinderbuchautor, Krimiautor (Der Fall des Lemming, Lemmings Himmelfahrt, Das Schweigen des Lemming und Lemmings Zorn) und Musiker (Texte, Gesang, Säge im „Trio Lepschi“ - 2010 erschien das Album mit links). Lebt in Wien.

Schreibt gegenwärtig vorwiegend für das Theater (Juli 2010 Uraufführung des Stückes Weg ins Freie bei den Festspielen Reichenau).

Zahlreiche Preise, etwa Friedrich-Glauser-Preis 2005 für Der Fall des Lemming, oder Radio Bremen Krimipreis 2009. Nominiert für den Leo-Perutz-Preis und den Glauserpreis 2010 mit Lemmings Zorn.

[15]Die Bewerbung

Viktor Gallandi

Foto: Bernd Gallandi

geb. 1989 in Berlin; von 2006 bis 2008 Schülerstudium der Philosophie an der HU und TU Berlin. Erste Veröffentlichung einer Kurzgeschichte in Macondo Nr. 21. Studiert seit 2009 Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Arbeitet als Mitherausgeber der Landpartie, der Jahresanthologie des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, die im Frühling 2011 erscheinen wird.

[17]„etlichen (...) gehet, wann sie also under den andern imgedreng auf dem wagen sitzen, die seel aus, ehe seindie andern gewahr werden. KIRCHHOF mil. disc. 118“

Grimmsches Wörterbuch

Das Bewerbungsverfahren läuft. Ich sitze auch nach Stunden noch mit geradem Rücken in dem Plastikschalenstuhl, der zwar ergonomisch gut entworfen, aber wohl für kleinere Leute gemacht ist. Die Beine habe ich, so weit wie es geht, angezogen. Die Füße sind unterhalb des Metallgestells übereinandergeschlagen. Haltung ist wichtig, denn ich darf auf keinen Fall den schmalen Durchgang zwischen den Sitzreihen durch meine Glieder einschränken.

Immer wieder kommen verschieden große Gruppen von Mitarbeitern in einem undurchschaubaren, aber sinnvollen Rhythmus an uns vorbei. Sie tragen oft große, schwer aussehende Kartons mit aufwendigen Beschriftungen darauf. Manche tragen auch nur einen Brief, natürlich noch geschlossen und ganz ohne Beschriftung. Das will nichts heißen. Doch es wäre katastrophal, sie auf ihren Botengängen durch Dummheit oder unseriöses Verhalten zu behindern. Niemand kennt die noch vor ihnen liegenden Wege, doch allen ist die Wichtigkeit der betriebsinternen Kommunikation [18]bewusst. Jedenfalls kann ich mir nicht leisten, die empfohlene Körperhaltung im bewerbergerechten Plastik-schalenstuhl zu variieren. Denn ich stehe noch ganz am Anfang und weiß nichts.

Mein Stuhlnachbar Max dagegen hat selbst einmal gesehen, wie ein Bewerber vor seinen Augen von der Personalabteilung eingestellt wurde. Die Bedeutung dieses Augenblicks ist ihm erst später klar geworden, damals war er ja noch ein Kind. Er hat mir schon oft erzählt, wie er dem Bewerber, der ja in diesem Augenblick auf unbegreifliche Weise schon ein Mitarbeiter war, hinterherrennen und gratulieren wollte. Leichtsinnig ist er auf die rote Linie, die den Wartebereich umgrenzt, zugelaufen, hätte sie, nicht auszudenken, einfach übertreten, wäre nicht seine Mutter, eine vo-rausschauende Frau, sofort bei ihm gewesen und hätte sie ihn nicht im Laufen noch vom Boden gehoben und zu den Warteplätzen zurückgetragen.

Heute ist mein Mitbewerber Max ein vielgeprüfter Mann, der schon oft weiter war als ich, der schon unvorstellbare Prüfungen geschrieben, unglaubliche Gespräche geführt hat. Und der jetzt trotz allem im selben Wartebereich sitzt wie ich. Oft lachen wir beide darüber, lachen minutenlang. Er ist stark, sagt meine Mutter. Er kann noch lachen, aber er lacht lautlos. Sein langer, gebeugter Rücken zuckt heftig bei jedem Lacher und sein großer Kopf mit den schon lichten, wirren Locken geht dabei auf und ab, als würde er ni-cken, wie um sich selbst von der Komik seiner Situation zu überzeugen.

[19]Heute ist ein guter Tag. Am frühen Morgen kam meine Mutter aus dem Fahrstuhl, ging vorsichtig in unseren Wartebereich und klopfte leise an meine Sitzschale, um mich zu wecken. Dann gab sie mir eilig ein kleines Päckchen, küsste mich auf die verschlafenen Augen und ging zurück zur Fahrstuhltür, um den Ab-wärtspfeil zu drücken.

Es war Münzgeld, sorgfältig eingewickelt in Toilettenpapier, genug für zwei, drei Tage. Ich wartete bis Max erwacht war und dann gingen wir, als Erste von unserem Wartebereich, zu den in der Nacht frisch bestückten Snackautomaten. Die bis in die letzte Windung vollgepackten Spiralen glänzten in der gelben Automatenbeleuchtung. Im stillen, morgendlichen Gang hörte ich Max’ Magen laut grummeln und weil alles so verlockend aussah und die vielen Münzen schwer in meiner Hand lagen, gönnten wir uns zwei Packungen Haselnusswaffeln, eine Zwischendurchtüte Chips und zwei Päckchen Vanillemilch. Münze für Münze schob ich in den Schlitz, bis auf dem Bildschirm jene Summe erschien, die Max vorher berechnet hatte, alle Preise unseres reichhaltigen Frühstücks addiert. Dann tippte ich langsam die 26 ein, wobei Max und ich unwillkürlich „zwei, sechs“ laut mitsprachen, und die erste Packung Haselnusswaffeln wurde von der sich drehenden Spirale freigegeben und fiel polternd in den Spalt. Max hielt die schwere Klappe auf und ich griff hinein um die eckige Packung herauszuziehen, denn war man allein, klemmte man sich in der Klappe regelmäßig das Handgelenk ein. Bei unseren Sitzschalen [20]wieder angekommen, aßen wir langsam die Waffeln und tranken die Milch und waren bemüht, nicht zu laut mit den Tüten zu knistern und die krossen Waffeln nicht zu lautstark zu kauen, denn der ganze Wartebereich schien noch in tiefem Schlaf.

Max schläft mittlerweile wieder. Das viele Schlafen hat er sich über die Jahre angewöhnt. Schlafen ist besser als warten, sagt er mir oft. Und wenn du aufgerufen wirst?, habe ich einmal gefragt. Bevor der Aufruf kommt, bin ich schon wach, irgendwann hat man das im Blut.

Ich traue mich noch nicht zu schlafen während der Wartezeit. Auch die meisten der Mitbewerber in unserem Bereich sitzen aufrecht da, schauen ständig den Gang rauf und runter, als könne man einen wirklichen Aufruf durch Beobachtung der Betriebsvorgänge vorhersehen. Viele sind erst seit ein paar Wochen hier und die Euphorie, die eine Verlegung in einen neuen Wartebereich auslöst, wirkt noch nach. Dabei heißt eine Verlegung erstmal gar nichts. Es kann auch ein Zurückstufen statt eines Hochstufens bedeuten. Es soll ja schon Bewerber gegeben haben, die in einen der letzten Wartebereiche versetzt wurden, nur um dann abgelehnt zu werden. Eine Geschichte, um Kindern Angst zu machen. In den letzten Wartebereichen soll es keine Sitzschalen mehr geben, ja nicht einmal Teppichboden, stattdessen dient der Körper des Bewerbers als Sitz- und Schreibunterlage für Mitarbeiter. Wir alle lachen über diese Fantasien alberner Mitbewerber. Aber obwohl es niemand sagt, kann man es doch hören: [21]Es ist ein Lachen gegen die Angst. Denn wer weiß schon von diesen fernen Bereichen, wer könnte schon all die skurrilen Geschichten mit kühlen Fakten entkräften, egal wie unwahrscheinlich sie klingen mögen.

Der Tag will wieder einmal nicht vergehen. Max schläft seelenruhig, meistens ist er innerhalb von 24 Stunden nur drei bis vier Stunden wach. Ich habe mich schon einmal bei ihm beschwert, dass ich mich ohne ihn langweile, aber er hat gelächelt und sagte, er könne keinesfalls länger wach bleiben, schon drei Stunden würden ihm wie eine Ewigkeit vorkommen.

Ich sitze auf dem Teppichboden und fahre mit dem Finger die Spuren nach, die frühere Mitbewerber hier hinterlassen haben. Den Vormittag habe ich mit einem Bild verbracht, das dem Anschein nach ein Kind mithilfe von halb eingetrocknetem Kakao auf den Teppich gemalt hat. Es zeigt einen Mitarbeiter, der einen Haufen kleiner Bewerber von seiner übergroßen Hand purzeln lässt. Darunter steht in dicken Lettern, aus der weichen Füllung von blauen Hustenbonbons (Automatennummer 13) geformt: „Die große Ablehnung“. Das Bild mit dem grotesken Schriftzug befindet sich direkt unter meiner Sitzschale. Ich versuche, beides mithilfe von Cola (es ist ein teurer Tag) zu lösen und herauszureiben. Die blaue Hustenbonbonmasse klebt zwar fest in den Teppichfasern, doch löst sie sich langsam ab, wenn man nur genug Cola dazureibt. Aber die Kakaospuren bleiben. Ich werde weiter über „der großen Ablehnung“ sitzen müssen. Ich versuche, nicht weiter darüber nachzudenken.

[22]