Wortlos - Stefan Fritz - E-Book

Wortlos E-Book

Stefan Fritz

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Beschreibung

Über 40 Jahre meines Lebens habe ich mich anders gefühlt. Falsch, nicht dazu gehörig, fremd, unsicher, dunkel, manches mal ängstlich, depressiv. Oft Wortlos und zurückgezogen, nur oberflächlich am Leben teilnehmend. Ohne wirklich zu wissen warum. Ich dachte immer, das sei normal und ginge allen Menschen so. Alkohol und Essstörungen, ständige Dramen, Krankheiten und Unfälle. Nach fast 20 Jahren Ehe folgt ein Zusammenbruch und Ausstieg aus dem gewohnten, alten Leben. Jobwechsel, Trennung und komplettes Umfeld geändert. Eine neue Liebe entsteht und plötzlich kommen Gefühle hoch, die noch nie da waren - jedoch nicht nur Gute.

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Wortlos

Stefan Fritz

Inhalt

Ziel des Buches

Vorwort

Einleitung

Meine Ursprungsfamilie

Noch ein Fresser mehr am Tisch

Kindheit und Jugend – Erinnerungen

Leben ohne Ziel

Beziehungen

Angepasst

Spiel des Lebens

Kinder, Kinder …

Auf und Ab

Seelenschreiben

Nachwort

Zeit für ein Dankeschön

Haftungsausschluss

Impressum

Ziel des Buches

Ziel dieses Buches ist es:

• einen Dialog zu ermöglichen,

• Wege aufzuzeigen,

• deutlich zu machen, dass es Lösungen gibt,

• Neugier zu wecken,

• Fragen aufzuwerfen,

• Ideen vorzuschlagen,

• Gefühle aus dem Keller zu locken,

• nachdenklich zu machen,

• Menschen zusammenzuführen,

• Licht und Liebe ins Dunkel zu bringen und

• in Kontakt zu kommen – mit anderen, aber auch und vor allem mit sich selbst.

Dieses Buch ist weder eine Bewertung noch ein Urteil, es ist kein Fingerzeig auf andere, sondern ein Blick in meinen eigenen Spiegel.

Ich erhebe damit weder Anspruch auf Wahrheit noch auf Vollständigkeit. Es ist lediglich meine Sicht auf die Ereignisse in meinem Leben. Chaotisch und unsortiert, so wie mein Leben eben verlaufen ist.

Alle Namen sind frei erfunden und entspringen meiner Fantasie, eventuelle Ähnlichkeiten oder Überschneidungen sind rein zufällig.

Geschrieben zu meinem höchsten Wohle und zum Wohle so vieler Menschen wie möglich!

Stefan Fritz

Vorwort

Mit Offenheit, Mut und bedingungsloser Liebe zum Detail bringt Stefan Fritz uns voller Präsenz mitten hinein in seine Lebensgeschichte. Er öffnet damit den Raum für eigene Erinnerungen und schmerzhafte Momente, die auf diese Weise ins Bewusstsein gerufen und verarbeitet werden können. Danke Stefan, für dieses wundervolle Werk, das mich während des Lesens phasenweise „wortlos“ machte. Meine Verarbeitung erfolgte ganz spontan in dem folgenden Gedicht, das Deine Geschichte beschreibt. Möge dieses Buch vielen Leserinnen und Lesern einen Weg zu Liebe und Heilung aufzeigen.

Isabelle Dobmann

Wortlos

Ohne Worte, einfach stumm …

Wehrlos, klein, vielleicht auch dumm?

Ließ den Schmerz über mich ergehen,

konnte einfach nicht widerstehen.

Wortlos

Konnte oft nichts sagen,

schmerzvolles Tun nicht hinterfragen!

Angst und Scham hielten mich gefangen,

gefügig machte mich mein Verlangen.

Wortlos

Verletzt, in mir selbst gefangen,

sind schmerzvolle Jahre über mich ergangen.

Mit Schokolade und Alkohol meine Gefühle verdrängt,

um ein Haar mein Leben an den Nagel gehängt.

Wortlos

Liebloser Sex statt zarter Berührung,

immer wieder geile Verführung.

Kopf und Bauch im steten Streit,

für jenste „Schandtaten“ allzeit bereit.

Doch endlich hab´ ich Liebe erfahren!

Wurde auch Zeit nach all diesen Jahren.

Endlich kann ich meine Geschichte teilen,

damit mich und vielleicht auch andere heilen.

Isabelle Dobmann

Einleitung

Einige Wochen vor meinem 42. Geburtstag nimmt mein Leben eine drastische Wendung, ohne dass ich überhaupt die geringste Ahnung habe, was eigentlich mit mir passieren wird.

Zum Ende des Monats verabrede ich mich zum Abendessen mit einer Geschäftspartnerin, die ich seit etwa zehn Jahren kenne und zu der ich ein freundschaftliches Verhältnis habe. Sie ist selbstständig, viel beschäftigt und meiner Wahrnehmung nach glücklich verheiratet. Es ist das zweite Mal in all den Jahren, dass wir eine solche Verabredung über einen längeren Zeitraum geplant hatten, um unsere Geschäftsbeziehung und Freundschaft zu vertiefen.

Doch an diesem Abend ist alles anders. Der reservierte Tisch steht inmitten eines gemütlichen Weinlokals, einer alten Fachwerkscheune mit einem behaglichen Kachelofen und eingerichtet mit rustikalen Holzmöbeln, alten landwirtschaftlichen Geräten und Werkzeugen. Es ist bis auf den letzten Platz belegt. Wir unterhalten uns sehr angeregt über Gott und die Welt. Mir fällt überhaupt kein Unterschied zu anderen Terminen mit ihr auf. Doch dann steht plötzlich, wie aus dem Nichts die Kellnerin am Tisch und fragt ganz vorsichtig: „Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich bei Ihnen abkassieren? Ich würde gerne Feierabend machen.“ Erst jetzt wird mir bewusst, dass das ganze Restaurant offensichtlich schon seit längerer Zeit leer und dunkel ist und dass das einzige Licht nur an unserem Tisch noch brennt. Als wir am Auto ankommen, umarmen wir uns zum Abschied, gefühlt etwas länger und herzlicher und mit festerem Druck als sonst. Ich steige in mein Auto und mit jedem Meter, den ich von diesem Ort wegfahre, verstärkt sich in mir ein Gefühl, das ich so noch niemals in meinem Leben vorher hatte. Es fühlt sich an, als würde etwas in mir fehlen. Ich kann dieses Gefühl nur mit einer tiefen Einsamkeit und Traurigkeit beschreiben, da ich keinen Vergleich zu diesem Zeitpunkt habe. Wie aus dem Nichts fange ich während der Fahrt an zu weinen wie ein kleines Kind. Vor der Haustür angekommen, sitze ich völlig aufgelöst im Auto und habe das Bedürfnis, so weit wegzufahren, wie es dieses Auto zu leisten vermag. Seit Jahren verspüre ich jeden Abend auf dem Heimweg das Gefühl: Hier bin ich nicht zu Hause. In dieser ausgeprägten Intensität habe ich dieses Gefühl allerdings noch nie zuvor wahrgenommen. Ich ringe mich dazu durch, die Haustür aufzuschließen, und finde mich in einer surrealen Situation wieder. Diese Situation, die mir zwanzig Jahre lang vertraut und völlig normal erschien, fühlt sich jetzt plötzlich unwirklich und weit entfernt an: Es ist spät in der Nacht und im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Bärbel liegt mit Kopfhörern bewaffnet, schlafend und schnarchend auf der Couch. Ich lasse sie einfach liegen, wie ich es oft tue, und gehe ins Bett.

Am nächsten Morgen fühlt sich mein Leben auf eine merkwürdige Art seltsam fremd an. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist oder was sich verändert haben könnte.

Der Umgang mit den Menschen um mich herum, besonders mit Bärbel, ist distanziert und sachlich. Plötzlich nehme ich Gegebenheiten vollkommen anders wahr, die bis dahin für mich „normaler Alltag“ waren. Ich habe ihr jahrelang jeden Morgen einen kleinen Zettel geschrieben, selbst wenn nur „Guten Morgen Süße!“ darauf stand. Jetzt stehe ich vor dem Blatt Papier und lege es wieder weg. Nichts will aus dem Stift kommen. Mir fällt nichts ein, was ich schreiben könnte. Und von einem „Wollen“ kann hier schon gar keine Rede sein.

Stattdessen stehe ich mit meiner Geschäftspartnerin Thilda seit unserem Abendessen regelmäßig per WhatsApp in Kontakt. Ich schreibe ihr von meinem Gefühl in jener Nacht und frage sie, ob es ihr auch so geht und was ich nun damit anfangen soll. Ich erhalte keine Antwort und bin umso mehr überfragt.

In der zweiten Januarwoche fahre ich mit Bärbel und den Kindern für fünf Tage nach Holland in ein Familienresort.

Es fühlt sich für mich an wie im Knast. Und die Tatsache, dass Bärbel hier kein Sofa hat, auf dem sie vor dem Fernseher einschlafen kann, sondern stattdessen jeden Abend neben mir im Bett liegt, macht mich schier wahnsinnig. Irgendwie fühlt es sich falsch an, und mein Kopf versucht ununterbrochen, eine Lösung für die dauernde Frage zu finden: „Was ist hier eigentlich los???“

Das Gefühl, in meinem eigenen Haus „nicht dazuzugehören“, wird in mir zunehmend stärker. Allerdings kann ich es immer noch nicht einordnen.

Die Wochen vergehen. Der Kontakt mit Thilda wird nun häufiger als in den Jahren zuvor. 2011 ließ ich mich bei ihr zum Körpertherapeuten ausbilden, und neuerdings unterstütze ich sie bei Seminaren, helfe beim Auf- und Abbau und verstehe mich hervorragend mit ihrem Mann. Die beiden sind ein großartiges Team und ergänzen sich in vielerlei Hinsicht unglaublich gut.

Bärbel wird eifersüchtig. Das war immer schon so, aber aus meiner persönlichen Wahrnehmung heraus war es völlig unbegründet. Mitte März wirft sie mir in einem Gespräch eine Affäre mit Thilda vor. Ich bin stinksauer und merke stattdessen, dass sie permanent mit ihrem Handy beschäftigt ist. Das erste Mal in über zwanzig Jahren frage ich sie: „Was soll der Scheiß? Ich habe eher das Gefühl, Du hast selbst ein Ding am Laufen und willst von Dir ablenken …!“ Es ist ein Sonntag und an diesem Abend sitzen wir gemeinsam vor dem Fernseher. Wie so oft schläft sie und ihr Handy gibt einen lauten Signalton von sich. Als ich den Ton ausschalte, erscheint darunter eine offene WhatsApp-Nachricht mit einem Text, der eine Affäre erkennen lässt. Und in diesem Moment entscheide ich in Sekundenschnelle: „Es ist Zeit zu gehen.“ Nach einer Nacht Bedenkzeit steht mein Entschluss fest. Es ist eine der größten Entscheidungen in meinem gesamten Leben, denn ich lasse meine geliebten drei Kinder Hanna, Jan und Lena bei ihr zurück. Nach außen sind wir eine Bilderbuchfamilie: eine eigene Firma, ein kleines Haus gebaut, die Finanzierung bei der Bank, in die Dorfgemeinschaft integriert, aktiv im Vereinsleben … Klingt nach normalem Durchschnitt.

Aber irgendetwas ist in mir anders. Das spüre ich seit vielen Jahren. Wenn ich ganz ehrlich bin, schon immer. Es ist nicht greifbar, nicht begreifbar, nicht bewusst. In einem Gespräch über mein früheres Leben mit meiner inzwischen neuen und wundervollen Partnerin Thilda sage ich einen Satz, der alles verändert. Ich erzähle ihr: „Ich hatte überhaupt keine Gemeinsamkeiten mit Bärbel, aber wir hatten immer guten Sex.“ Thilda schaut mich entgeistert an und fragt: „Fällt Dir denn gar nicht auf, dass Du zwei Dinge in einen Satz packst, die eigentlich nicht zusammenpassen? Die so gegensätzlich sind, dass sie in keiner Weise miteinander in Einklang stehen? Irgendetwas stimmt in Deinem Leben nicht." Gemeinsam begeben wir uns auf die Suche und ich tauche immer tiefer in Fakten ein, die plötzlich in einem völlig neuen Licht stehen.

Bis ich eines Tages auf einer Website mit der Überschrift lande:

Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit

Es ist eine lange Liste von kleinen und großen Dingen, die im Leben auftauchen können, wenn man als Kind sexuellen Missbrauch erleben musste. Ich beginne, mich durch etwa hundert Stichpunkte durchzuarbeiten. Mit jeder Zeile werden meine Augen größer. Ich habe eine Gänsehaut am ganzen Körper, in meinem Kopf dreht sich ein Gedankenkarussell, das nicht mehr zu stoppen ist. Bis auf wenige Ausnahmen passt wirklich alles zusammen. Ich habe das Gefühl, dass diese Liste mein eigenes Leben beschreibt. In meinem Inneren ist alles leer und taub wie Stein, und gleichzeitig breitet sich eine unvorstellbare Erleichterung in mir aus.

Endlich nach mehr als vierzig Jahren eine Erklärung für das zu finden, was ich mein ganzes Leben lang schon tief in meinem Innern gespürt habe. Ich beginne, reihenweise Bücher zu lesen und das Internet zu durchsuchen, führe unzählige Telefonate und frage meiner Verwandtschaft Löcher in den Bauch. Wieder zeichnet sich ein gefühlter Graben ab. Einerseits finde ich in allen Schriften endlich eine Bestätigung dafür, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein auf dieser Welt bin. Demgegenüber steht die überwiegende Mehrheit meines direkten Umfelds mit der folgenden Kernaussage: So etwas gibt es bei uns nicht! Nicht in unserer Familie. Wir haben uns doch alle lieb. So etwas machen wir nicht. Das gibt es nur im Fernsehen!

Darum habe ich beschlossen, ein paar Erlebnisse und Fakten aus meinem Leben zu Papier zu bringen, die zeigen, wie viele einzelne kleine Dinge zu einem so großen Ganzen führen.

Solltest Du, liebe Leserin und lieber Leser, Dich in einigen Passagen dieses Buches wiedererkennen, dann sei gewiss, es gibt einen Weg aus dem Drama und in die Freiheit. Ja, das eine oder andere Tal muss vielleicht noch durchschritten werden, um aufzuräumen. Aber am Ende des dunklen Tunnels wartet das Licht auf Dich. Aus dem Tal der Tränen geht es in alle Richtungen nur bergauf. Ich habe mich in den letzten Jahren zum Bergführer für Menschen, die jetzt noch in einem solchen Tal sind, ausbilden lassen. Wenn ich es geschafft habe, kannst Du es auch schaffen. Habe Mut, Zuversicht und den starken Willen, etwas in Deinem Leben massiv verändern zu wollen, dann wird auch für Dich der Weg Deiner Erfahrungen zum größten Geschenk in Deinem Leben.

Kapitel 1

Meine Ursprungsfamilie

Ich bin das Kind einer hochgradig traumatisierten Mutter und eines hochgradig traumatisierten Vaters. Mein Vater ist Jahrgang 1928 und entstammt einer Liaison zwischen einem britischen Besatzungssoldaten aus dem Ersten Weltkrieg und einer Frau aus einem kleinen katholischen Dorf in der Nähe von Göttingen. Ich weiß nicht, ob sie vergewaltigt wird oder nicht. Ziemlich sicher ist, dass sie dem moralischen Druck der Dorfgemeinschaft wegen eines Bastards nicht gewachsen ist und ihr Kind daher unmittelbar nach der Geburt in einem katholischen Schwesternheim in Göttingen zur Adoption freigibt. Ein Arbeiterehepaar aus Hannover adoptiert 1930 ein Mädchen. Nach wenigen Wochen wird die Adoption jedoch annulliert und das Mädchen an seine Mutter zurückgegeben. Frustriert kehren die Adoptiveltern zum Kinderheim zurück und adoptieren den kleinen Jungen sozusagen als zweite Wahl, weil er so süß dreinschaut. Unter welchen emotionalen und gesundheitlichen Umständen muss der kleine Bursche wohl aufgewachsen sein? Geboren in der Zeit bitterster Armut in Deutschland. Von der eigenen Mutter nicht „gewollt“ und daher weggegeben. Es ist beinahe unvorstellbar, was er während seiner zwei Jahre in diesem von Nonnen geführten Kinderheim erlebt haben mag! Ausgesucht wird er als Notlösung von einer fremden Frau, die selbst keine Kinder bekommen kann und sich eigentlich ein Mädchen wünscht.

In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs meldet sich mein Vater im Alter von sechzehn Jahren freiwillig zum Kriegseinsatz bei der Luftwaffe. Er wird jedoch für fluguntauglich erklärt und dem Bodenpersonal zugeteilt. Kurz vor Kriegsende wird er mit starken Schmerzen in ein Krankenhaus eingeliefert. Ihm muss eine Niere entnommen werden, die komplett versteinert ist. Als Konsequenz daraus wird er vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen.

Erst Jahrzehnte später habe ich in meiner langjährigen Arbeit mit Menschen die Erkenntnis gewonnen, dass die Blase, die Niere und die Schilddrüse sehr stark auf unterdrückte oder unbewusste Ängste reagieren.Was um alles in der Welt muss ein junger Mensch im Alter von siebzehn Jahren bereits erlebt haben, damit eine ganze Niere vor Schreck oder Angst erstarrt und buchstäblich zu Stein wird?

Meine Mutter wird 1929 als drittes Kind eines Lehrers und einer Hausfrau in einem Dorf im tiefsten Emsland geboren. Der ältere Bruder meldet sich in den letzten Kriegstagen gegen den Willen seiner Eltern freiwillig zum Dienst und wird kurze Zeit später von einer Splittergranate in der Luft zerfetzt. Meine Mutter spricht so gut wie nie darüber. Wenn das Gespräch einmal darauf kommt, spricht sie ohne jede Emotion und ohne eine Gefühlsregung über ihren Bruder, den sie nach eigenen Angaben über alles liebt. Das klingt für mich in der Intonation, wie wenn sie berichtet hätte, ihr sei beim Kaffeetrinken ein Stück Kuchen von der Gabel gerutscht.

Ihre ältere Schwester kenne ich nur mit dunkler Sonnenbrille und unter dem Einfluss von starken Beruhigungsmitteln bei der Oma auf dem Sofa liegend. Sie kommt nie aus dem Haus und steht nie auf eigenen Beinen. Voller Eifersucht und Hass meidet sie jahrelang meine Mutter, beleidigt und bedroht, verklagt, demütigte und beraubt sie um ihr Erbe. In meiner Erinnerung findet jegliche Kommunikation zwischen den beiden über die Polizei, den Anwalt oder das Gericht statt und ich selbst wechsle auch nie ein Wort mit meiner Tante.

Die Oma mütterlicherseits ist die einzige aus der großelterlichen Generation, die ich selbst noch kennenlerne. Die Oma väterlicherseits und die beiden Opas sind zum Zeitpunkt meiner Geburt bereits verstorben. Diese Oma habe ich vielleicht zehn Mal in meinem Leben gesehen. Auch zeigt in meiner Erinnerung nie eine Gefühlsregung. Kein einziges freundliches und wohlwollendes Lächeln. Sie ist steif und unnahbar für mich. Meine letzte Erinnerung an sie ist aus meiner heutigen Sicht völlig grotesk. Im Februar 1981 schaue ich in Hannover durch eine Glasscheibe auf einen schlichten Sarg, in dem meine Großmutter liegt und meine Mutter, die neben mir steht, bricht vor dieser Scheibe zusammen. Ich vergieße keine einzige Träne und verziehe nicht eine Miene. Damals, als ich zehn Jahre alt bin, frage ich mich, warum meine Mutter so traurig ist. Erst vor wenigen Jahren, als ich auf der Suche nach mir selbst war, fand ich heraus, warum ich mich in dieser Situation so emotions- und regungslos verhielt.

Es ist eine Umkehrung des parentalen Prinzips. Als Kind übernehme ich unbewusst die Verantwortung dafür, dass es meiner Umgebung gut geht, vor allem aber meiner Mutter. Wenn ich als Kind dafür Sorge trage, dass es meiner Mutter gut geht, ist die Chance, dass sie für meine Sicherheit sorgt, wesentlich größer. Dann ist evolutionär gesehen, mein Leben und Fortbestand gesichert.

Mein ältester Bruder Alfred kommt 1955 durch eine Zangengeburt zur Welt.

Als meine Mutter eine schwere Brustentzündung bekommt, legt sie das schlafende Kind ins Bett, um in der Stadt den Arzt aufzusuchen. Der hat jedoch an diesem Tag keine Zeit für sie und so geht sie unverrichteter Dinge wieder zurück nach Hause. Dort findet sie ihren Sohn vollkommen blau angelaufen im Kissen eingewickelt. In völliger Panik reißt sie ihn an den Beinen aus dem Bett, schlägt ihm mehrmals auf den Hintern und holt ihn so ins Leben zurück. Alfred hat jedoch viele Jahre danach mit Asthma zu kämpfen.

Gut ein Jahr nach Alfreds Geburt wird meine Mutter erneut schwanger. Als sie mit starken Wehen ins Krankenhaus kommt und schon im Kreißsaal liegt, gibt der diensthabende Arzt ihr eine Morphiumspritze, um die Wehen zu unterdrücken. Der Arzt hat an diesem Tag Geburtstag und möchte lieber mit den Schwestern im Dienstzimmer ein Glas Sekt trinken. Mein Bruder Benno wird dann mit mehreren Stunden Verzögerung 1957 unter dem Einfluss von Morphium geboren.

Obwohl die wirtschaftlichen und wohnlichen Verhältnisse der jungen Familie sehr eingeschränkt sind, folgt schon bald die dritte Schwangerschaft meiner Mutter und 1960 wird mein Bruder Christoph geboren. Auch diese Geburt verläuft nicht ganz unproblematisch für Mutter und Kind ab, da der Junge bereits mehr als zehn Pfund wiegt und stolze sechzig Zentimeter lang ist.

Prinzipiell gibt das ungeborene Baby das Signal, um geboren zu werden. Die Aufgabe einer Mutter ist es, mit dem Baby in Verbindung zu treten und es zum gegebenen Zeitpunkt wieder loszulassen. Das Baby ist von Natur aus in der Lage, die Geburt alleine zu bewältigen. Eine Mutter, die gestresst ist, ängstlich, wütend oder traurig, ist evolutionär nicht auf eine Geburt vorbereitet und körperlich nicht in der Lage, entspannt loszulassen. Gefühle von Angst und Wut werden vom Stammhirn gesteuert. Das Stammhirn regelt alle autonomen Funktionen des Körpers, die für das Überleben zuständig sind. Zusammen mit anderen Hirnanteilen wie dem Kleinhirn und dem limbischen System regelt es das Kampf- und Fluchtverhalten, löst Erstarrung oder Entspannung aus und sorgt beispielsweise im ersten Lebensjahr für ein überlebenssicherndes Verhalten durch frühkindliche Reflexe. Eine Gebärende kann demnach weder körperlich noch geistig gut loslassen oder sich öffnen, wenn sich ihr Körper in einem angespannten Kampf- und Flucht- oder Erstarrungsmodus befindet. Zu den Vorgängen des Öffnens und Loslassens zählen vor allem die Atmung, die gesamte Muskulatur sowie die Prozesse der Verdauung und Ausscheidung (Urin und Stuhlgang) und der Geburtsprozess. Im angespannten, ängstlichen oder sorgenvollen Zustand hat der Körper im Wesentlichen lediglich zwei Möglichkeiten der Reaktion. Entweder lässt er abrupt alles los (Fluchtverhalten: sich vor Angst in die Hose machen). Das käme einer Sturzgeburt gleich. Oder der Körper ist vollkommen angespannt (Vorbereitung auf eine mögliche Kampf- oder Fluchtsituation: Der Körper will sich schützen, igelt sich lieber ein, zieht sich zurück und legt einen Schutzpanzer an wie eine Schildkröte). Diese unbewussten Körperreaktionen führen zu einer Geburt, die sich über Stunden hinziehen kann und wie im Fall meines ältesten Bruders im schlimmsten Fall mit einer Zangengeburt endet.

Da meine Mutter vor der ersten Geburt offensichtlich voller Angst war und während der zweiten Geburt mit Medikamenten ruhiggestellt wurde, hatte sie sicherlich große Angst vor der dritten Geburt. Aus den Erzählungen meiner Familie weiß ich, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sowohl die Hebamme als auch der Arzt meiner Mutter noch zusätzlich Angst gemacht haben, da dieses Kind einfach größer war als die beiden Jungs zuvor. Aber das absolut wichtigste, was eine Frau zur Vorbereitung auf die Geburt und während des Geburtsvorgangs braucht, ist das Gefühl der absoluten Ruhe und SICHERHEIT. In meiner Familie war der Raum haltende, Ruhe schenkende und Sicherheit gebende Mann allerdings als Handelsreisender unter der Woche NIE anwesend. Der Arzt, dem meine Mutter ursprünglich ihr Vertrauen geschenkt hatte, hat Selbiges mit einer Morphium-Spritze während der vorangegangenen Geburt zerstört. All diese Voraussetzungen können dazu führen, dass sich eine Frau nicht ausreichend sicher fühlt, nicht loslassen kann, sich nicht öffnet und daher nicht entspannt gebären kann.

Mein Vater arbeitet als Handelsvertreter und hat sein Verkaufsgebiet in Hessen. So entschließt er sich, mit seiner Familie im Winter 1962/63 von Hannover in eine Kleinstadt in Oberhessen zu ziehen. Doch einige Zeit nach diesem Umzug verlagert sich sein Einsatzgebiet von Hessen nach Baden-Württemberg und Bayern, und so muss er wieder genauso weit reisen wie vor seinem Umzug nach Hessen.

Die Familie lebt in großer Armut und immer am Rande des Existenzminimums. Vor allem meine Mutter hat einen unerschütterlichen Glauben an Gott, und beide, mein Vater und meine Mutter halten sich streng an die moralischen Normen der katholischen Kirche. So wird nicht im Geringsten über Empfängnisverhütung oder andere Möglichkeiten nachgedacht, dem ständig wachsenden finanziellen Engpass zu begegnen.

In der Folge wird meine Mutter ein weiteres Mal schwanger und 1964 kommt meine Schwester Deborah mit einem stark entstellten Gesicht zur Welt. Ich weiß nicht, ob es besondere Ereignisse während der Schwangerschaft oder der Geburt gegeben hatte, die einen solchen Umstand begünstigten. Ich vermute jedoch, dass die werdende Mutter nach drei für sie katastrophalen Geburten diese Schwangerschaft mit großer Unsicherheit und Angst erlebte, auch wenn sich diese Ängste und Sorgen größtenteils in ihrem Unterbewusstsein abgespielt haben mögen.

Unser Kopf vergisst und verdrängt überwältigende Erlebnisse gerne, der Körper und das Unterbewusstsein erinnern sich jedoch an jede einzelne Sekunde unseres Lebens!

Nach dem vierten Kind wird meiner Mutter dringend geraten, sich die Gebärmutter entfernen zu lassen, um das vermeintliche Risiko einer weiteren Schwangerschaft zu vermeiden. Nach Einschätzung der Mediziner besteht inzwischen erhöhte Gefahr für Leib und Leben der Mutter und eines weiteren Kindes. Gegen den Rat der Ärzte, aber im vollen Vertrauen auf Gott lehnt meine Mutter eine solche Operation ab.

Als sich 1966 eine weitere Schwangerschaft ankündigt, rät der Frauenarzt meiner Mutter zu einer Abtreibung. Soweit mir bekannt ist, gibt es bereits einen Termin und Vorbereitungen dafür. Nach reiflicher Überlegung lehnt sie jedoch den ärztlichen Rat im letzten Moment aus Gottesfurcht ab. So wird im Spätherbst 1966 meine Schwester Est-her geboren. Noch im Kreißsaal schlägt der Arzt meiner Mutter erneut vor, die Gebärmutter zu entfernen, um weitere Risiken auszuschließen. Doch meine Mutter weicht nicht von ihrem Weg und lehnt den Vorschlag abermals ab. Sie rechnet fest damit, dass die Natur ihr diese Entscheidung im Alter bis zum vierzigsten Lebensjahr abnehmen wird.

Kapitel 2

Noch ein Fresser mehr am Tisch

Doch weit gefehlt! Mit einundvierzig Jahren stellt sie fest, dass sie sich wieder in anderen Umständen befindet. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie der Arzt, die Hebamme und das sonstige Umfeld auf diese Nachricht reagiert haben. Von dem ältesten Sohn Alfred ist zumindest bekannt, dass er im Alter von sechzehn Jahren schwere Vorwürfe gegen seine Mutter erhebt. Zum einen, weil sie sich erneut den Risiken einer Schwangerschaft und Geburt aussetzt, und zum anderen, weil sie trotz der bitteren Armut mit fünf Kindern noch ein weiteres bekommen will.

Während ich unter diesen Anschuldigungen im Bauch meiner Mutter aufwachse, ist das Einzige, woran sie sich später noch erinnert, dass ihre Schwiegermutter im Februar 1971 ganz plötzlich und unvorbereitet stirbt. Diese Nachricht versetzt sie in eine tiefe Trauer. Darüber hinaus muss sie einen großen Haushalt mit fünf Kindern managen, von denen einige bereits die Pubertät erreicht haben, die anderen aber noch völlig von ihr abhängig und auf sie angewiesen sind. Ihr Bauch wächst zunehmend durch die Schwangerschaft und ihr engstes soziales Umfeld zeigt dafür eher kein Verständnis. Gleichzeitig muss sie im 250 Kilometer entfernten Baden-Baden einen kompletten Nachlass organisieren … Grenzenlose Überforderung!

Währenddessen geht ihr Mann weiter seiner Reisetätigkeit nach, um die Familie finanziell einigermaßen über Wasser zu halten.

Im Frühling 1971 werde ich geboren. Ich habe viele Jahre lang versucht, von meiner Mutter mehr Einzelheiten über ihre Schwangerschaft mit mir oder über meine Geburt zu erfahren. Sie berichtete mir immer: „Du bist ein gewolltes Kind, ein Wunschkind, und alles ist normal und reibungslos verlaufen.“

Irgendwie kann ich aber dieser Aussage nie trauen, denn auf meine näheren Nachfragen bekomme ich immer nur die Antwort: „Ich kann mich überhaupt nicht an die Schwangerschaft und an Deine Geburt erinnern. Ich weiß von all Deinen älteren Geschwistern noch haargenau, wie das war. Aber wie das bei Dir war, weiß ich nicht mehr.“ Üblicherweise beschrieb sie mir dann alle anderen Geburten bis ins Detail, nur meine eigene eben nicht.

Tatsächlich äußerte sie nach dem Genuss mehrerer Gläser Rotwein auf einer Geburtstagsfeier im Jahr 2015 gegenüber meiner Partnerin: „Ach, mit dem hat doch keiner mehr gerechnet … Und dann habe ich mich mit der Tatsache der Schwangerschaft arrangiert.“

Der feste Wunsch meiner Eltern war es, dass nach drei Jungen und zwei Mädchen nun ein drittes Mädchen das Bild harmonisch komplettieren sollte. Ich sollte eigentlich Regina heißen und die Tatsache, dass ich nun ein Junge geworden war, sorgte für kurzzeitige Enttäuschung und Hektik, denn jetzt musste schnell noch ein Jungenname gefunden werden.

Erst nach mehr als vierzig Jahren und umfangreicher Trauma- und Bewusstseinsarbeit habe ich einige Erklärungen dafür gefunden, warum sich Frauen nicht an solch bedeutsame Ereignisse erinnern können und welche Folgen daraus vor allem für die Kinder erwachsen können. Es ist mittlerweile gut erforscht, dass alle Gefühle der Mutter während der Schwangerschaft ungefiltert an das ungeborene Baby weitergegeben werden. Die vollkommene Ablehnung einer Schwangerschaft, ob bewusst oder völlig unbewusst erlebt, führt bereits in der psychischen Entwicklung des Ungeborenen zu einem Gefühl der Ablehnung.Ohne eine freudige Haltung gegenüber dem heranwachsenden Kind, verbunden mit positiven Gefühlen, kann sich keine stabile Mutter-Kind-Bindung entwickeln. Da eine freudige Einstellung dem heranwachsenden Kind gegenüber fehlt, gekoppelt mit