Wunder & so - Falls ich dich küsse - Mara Andeck - E-Book

Wunder & so - Falls ich dich küsse E-Book

Mara Andeck

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Beschreibung

Vor der 15-jährigen Lou liegt eine Reise mit einem wahren Traumschiff. Die Galatea ist nämlich ähnlich eingerichtet wie einst die Titanic. Hier gibt es noch glitzernde Kronleuchter, Seide und Samt. Bedient wird man von Butlern, und beim Dinner trägt man Abendkleid und Frack. Doch kaum an Bord, spürt Lou eine seltsame Verbindung zu einem geheimnisvollen Jungen. Er kommt ihr vertraut vor, obwohl sie ihn gar nicht kennt. Kann es sein, dass zwischen den beiden eine uralte Verbindung besteht?

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Seitenzahl: 297

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Inhalt

CoverÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMondnachtKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Mondnacht

Über die Autorin

Mara Andeck ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin. Sie lebt mit Familie und Hund in einem kleinen Dorf bei Stuttgart. Ihr Debüt war 2013 das Jugendbuch Wen küss ich und wenn ja, wie viele?. Nach insgesamt drei Bänden dieser witzigen Tagebuchreihe rund um die 16-jährige Lilia folgten weitere Jugendbücher, Kinderbücher sowie Romane und Sachbücher für Erwachsene. Mit Wunder & so. Falls ich dich küsse erscheint nun wieder der erste Band einer Trilogie. Die Fortsetzung folgt im Frühjahr 2020.

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngenunter Verwendung einer Illustration von Eva Schöffmann-Davidov

Umschlagmotiv und Vignetten: Eva Schöffmann-Davidov

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7848-1

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Ein verlagsneues Buch kostet in Deutschland und Österreich jeweils überall dasselbe.

Damit die kulturelle Vielfalt erhalten und für die Leser bezahlbar bleibt, gibt es die gesetzliche Buchpreisbindung. Ob im Internet, in der Großbuchhandlung, beim lokalen Buchhändler, im Dorf oder in der Großstadt – überall bekommen Sie Ihre verlagsneuen Bücher zum selben Preis.

FürAlicia, Luisa, Emily, Josephine und Viola

Mondnacht

»Was ist dein Problem?«, fragte er, und seine Wut schlug mir entgegen wie die Wellen, die unter uns gegen die Schiffswand donnerten.

Ich wandte mich ab, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte, und trat an die Reling. »Na, was wohl?«, gab ich gespielt beiläufig zurück. »Ich habe mich mal wieder verlaufen. Wie du weißt, hab ich echt keinen guten Orientierungssinn.«

Ich hörte ihn spöttisch auflachen. Klar, dass er mir nicht glaubte. Die Musik aus dem Ballsaal war selbst hier oben an Deck gut zu hören. Ich hätte ihr leicht folgen können.

Aber was hätte ich sonst sagen sollen? Etwa was ich wirklich dachte? Ich verstehe mich selbst nicht mehr, zum Beispiel, und die ganze restliche Welt auch nicht. Oder: Hilfe, ich bin auf geheimnisvolle Weise mit einem Jungen verbunden, der ein Verbrechen plant, und dieser Junge bist zufälligerweise du. Oder vielleicht: Du gehst mir nicht mehr aus dem Herzen. Aber gleichzeitig habe ich gerade richtig Angst vor dir?

Nein. Das würde die Situation echt nicht entschärfen. Besser ich tat so, als wäre alles in bester Ordnung.

Was es definitiv nicht war. Jetzt hörte ich hinter mir, wie er mit leisen Schritten näher kam, und die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Am liebsten wäre ich weggerannt, doch vor mir waren nur die Reling und das nachtschwarze Meer.

Also drehte ich mich um und sah ihm direkt in die Augen.

Kapitel 1

Es heißt: Nur wer an Wunder glaubt, wird auch eins finden.Das stimmt aber nicht. Wundern ist es total egal, wer an sie glaubt. Sie klopfen auch nicht an die Tür, um zu fragen, ob es gerade passt. Und sie sind nicht immer wundervoll.

Das erste Mal passierte es am Londoner Flughafen. Menschengedränge. Lautsprecherstimmen. Rollkoffergerumpel. Unser Flugzeug hatte Verspätung, und wir schlugen gerade die Zeit bis zum Abflug tot. Ich war fünfzehn und hatte noch nie eine so genial tolle Reise vor mir gehabt. Deswegen war ich ziemlich aufgeregt und nahm das merkwürdig schwebende Schwindelgefühl, das sich in mir ausbreitete, zunächst gar nicht so ernst.

Na ja, genauer gesagt passierte mir so was wie auf dem Flughafen auch nicht wirklich zum ersten Mal. Vielleicht blieb ich deswegen so cool. Mein ganzes Leben lang hatte ich immer mal wieder Déjà-vus gehabt. Jeder hatte die doch, oder? Zumindest behauptete das meine beste Freundin Amy. Immer wenn es passiert war, sagte sie: »Reg dich nicht auf, Lou, das ist eine ganz normale Gehirntäuschung, du musst nur mehr schlafen, dann gibt sich das schon.«

Aber es gab sich nie. Manchmal spürte ich einfach ganz plötzlich dieses merkwürdig schwebende Gefühl. Die Situation, in der ich mich gerade befand, kam mir dann total bekannt vor, auch wenn ich definitiv noch nie etwas Ähnliches erlebt hatte. Und gleichzeitig schien mir die ganze Welt so unwirklich, als würde ich träumen. Das tat ich aber nicht. Im Gegenteil, ich war hellwach und wusste schlagartig, was gleich geschehen würde. Ich konnte quasi die nächsten paar Sekunden vorhersagen. Mit Hellsehen hatte das allerdings nichts zu tun. Ich wusste einfach, wie der Moment weitergehen würde, weil ich ihn ja schon kannte, woher auch immer. Wie vor ein paar Wochen in Luigis Eisladen, als ich mich aus einer Laune heraus für Karamelleis mit salzigen Erdnüssen entschied, und in dem Augenblick, als ich krachend eine Erdnuss zerbiss, genau wusste, dass mein Handy im nächsten Moment summen würde, weil mein Kumpel Ben meine Englischhausaufgaben haben wollte. Oder wie einmal in der Gärtnerei meiner Eltern, als ich plötzlich das Gefühl hatte, dass Papa gleich in einem karierten Hemd und mit einer Pizzaschachtel in der Hand um die Ecke biegen würde – und exakt das passierte dann. Solche Sachen halt. Sie konnten Zufall sein oder – mir gefiel jedenfalls der Gedanke – so etwas wie eine Vorahnung.

Aber das hier war anders. Es begann schleichend und endete ausgesprochen seltsam.

Amy und ich saßen mit meinen Großeltern am Gate und warteten auf unseren verspäteten Anschlussflug nach Belfast. Es war furchtbar voll, die Stühle waren superunbequem, die Klimaanlage verbreitete Frosttemperaturen, und mir war die ganze Zeit leicht schwindelig zumute. Aber das beachtete ich gar nicht groß und schob es auf die schlechte Luft. Wir versuchten, Opa mit Wortspielen von seiner schrecklichen Flugangst abzulenken, deswegen sammelten wir Wörter und Sätze, die man sowohl vorwärts- als auch rückwärtslesen konnte. Palindrome heißen die. Meine Großmutter, die ich seit meiner Kindheit Momo nenne, hatte damit angefangen, und irgendwie machte die Sache Spaß. Kein Wunder, wir hatten echt kreative Palindrome gefunden. Leben zum Beispiel hieß rückwärtsgelesen Nebel. Nette Rehe retten hieß Nette Rehe retten. Und aus Optimismus wurde Sumsi mit Po. Das Ganze war irgendwie herzerwärmend, harmlos und heimelig, und Opa, der vom Flug von Frankfurt hierher noch leichenblass war, schien sich dabei tatsächlich zu erholen. So langsam gingen uns aber die Ideen aus.

»Aua«, fiel mir noch ein.

»Kajak«, sagte Amy.

»Rentner.« Das kam von Momo.

»Und nu?«, fragte Opa.

»Nu bist du wieder dran«, forderte Momo ihn auf.

Opa grinste. »Und nu ist doch ein Palindrom.«

Momo lachte ihr typisches, raues Momolachen, und zwar so laut, dass das Mädchen neben ihr sich zu uns umdrehte und pikiert eine Augenbraue hob. Sie war etwas älter als Amy und ich, schätzungsweise sechzehn, hatte lange, kupferrote, eindeutig gefärbte Haare, die in Wellen über ihre Schultern flossen, und trug zu ihrem schwarzen Minirock ein weißes T-Shirt, auf dem in Blockbuchstaben der Name eines Designers stand. Alles an ihr sah teuer aus, und sie war ziemlich hübsch. Jetzt rümpfte sie ihr feines Näschen und musterte Momo langsam von oben bis unten.

Momo zog oft Blicke auf sich. Mit ihrer zierlichen Figur, ihren blauen Kinderkulleraugen, ihrem lebhaften Gesicht und ihren temperamentvollen Bewegungen wirkte sie trotz ihrer grauen Haare und ihrer fein zerknitterten Haut kein bisschen alt. Sie sprühte förmlich vor Energie.

Die Rothaarige sah meine Großmutter gerade allerdings nicht bewundernd an, sondern eher so, als wäre sie ein seltenes und ziemlich sonderbares Insekt. Und derselbe Blick traf dann auch meinen Opa.

»Habe ich dich erschreckt, meine Liebe?«, fragte Momo das Mädchen auf Englisch.

»Erschreckt? Ähm, nein. Irritiert trifft es eher.« Das kam kühl und schneidend.

Und plötzlich war hier nichts mehr herzerwärmend heimelig. Jetzt war das nur noch ein lauter, turbulenter, kalter und neonbeleuchteter Flughafen, auf dem meine geliebten Großeltern irgendwie ein bisschen gefährdet wirkten. Aber ich wollte nicht, dass jemand sie kränkte, weil sie das nur zusätzlich stressen würde.

Wobei im Moment höchstens mein Großvater gestresst wirkte. Momo konnte normalerweise nichts so leicht erschüttern. Mit ihren fast siebzig Jahren flog sie jedes Frühjahr für sechs Wochen als Ärztin in verschiedene Krisenregionen dieser Welt. Sie hatte Nerven wie Drahtseile. Trotzdem – ich hatte das Gefühl, die beiden verteidigen zu müssen.

Sonst bin ich ja eher friedlich, aber wenn’s um meine Familie geht, fletsche ich schnell die Zähne. Und dann war da auch noch dieser leichte Déjà-vu-Schwindel, der immer stärker wurde und mich zusätzlich reizbar machte. Ich drehte mich also zu der Rothaarigen um und funkelte sie an. »Alles okay?«, fragte ich mit einer leisen Drohung in der Stimme.

Das Mädchen wandte sich ab. Trotzdem konnte ich sehen, wie sie mit dem Kinn in unsere Richtung wies. Bestimmt zeigte sie ihrem Begleiter gerade mit Blicken, wie uncool sie uns fand.

Der blonde Junge neben ihr wirkte ein bisschen älter als sie. Und viel netter. Er lächelte mich entschuldigend an und zuckte fast unmerklich mit den Schultern. Seine Augen waren leuchtend blau und wirkten trotzdem kein bisschen kühl. Eher sonnig und hell wie ein Sommerhimmel.

Mein Opa lenkte mich ab. »Oh, seht mal, wie schön!«, rief er und zeigte auf die Anzeigetafel über dem Gate. Dort wurden gerade weitere zwanzig Minuten Verspätung angezeigt.

Um uns herum stöhnten alle kollektiv auf, nur Opa strahlte. Er wirkte, als wäre er dem sicheren Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen.

»Das gibt uns Zeit für eine Tasse Tee, Julius«, sagte Momo und zwinkerte ihm zu. »Jasmintee. Wie wäre das?«

Opa hob eine Augenbraue, und seine Augen blitzten. Momo schenkte ihm ein kleines, feines Lächeln, und jetzt hatte ich den Eindruck, dass Opa sogar ein bisschen rot wurde. Oha, da ging es eindeutig um mehr als nur um Tee.

Er räusperte sich. »Ob sie den hier haben?«, fragte er.

Momo lächelte wieder. Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein Teepäckchen heraus. »Wir brauchen nur heißes Wasser. Genau wie damals …«

Amy und ich sahen uns an. Die beiden benötigten bei ihrem Teeritual eindeutig keine Begleitung. »Und was machen wir?«, fragte meine beste Freundin mich ratlos.

Es war das erste Mal, dass Amy und ich zusammen verreisten, und wir freuten uns wie verrückt auf die kommenden Tage. Aber nicht nur, weil wir die Pfingstferien zusammen verbringen würden, sondern weil uns die Abenteuerreise unseres Lebens erwartete! Nur auf diese schnarchige Warterei am Flughafen hätten wir verzichten können.

»Wir könnten Bertie Bott’s Bohnen für Freddy kaufen«, schlug ich vor. Auf dem Weg zum Gate waren wir an einem Harry-Potter-Shop vorbeigekommen, wo es niedliche Pappschachteln mit bunten Jelly Beans gab. Laut Aufdruck hatten sie krasse Geschmacksnoten, und Amys kleiner Bruder würde bestimmt entzückt sein. Außerdem würde ein bisschen Bewegung dieses seltsame, schummrige Gefühl vielleicht vertreiben.

»Freddy wollte doch was ganz anderes«, meinte Amy.

Das stimmte allerdings. Ich dachte daran, wie Amy ihren vierjährigen Bruder vor drei Stunden am Frankfurter Flughafen zum letzten Mal auf den Arm genommen hatte.

Freddy hatte ganz runde Augen vor Kummer gehabt, aber er hatte sich wacker gehalten und fast gar nicht geweint. »Bringst du mir Geschmeude mit?«, hatte er leise gepiepst.

»Was ist das?«, hatte Amy gefragt.

Freddy rieb sich mit seinen Fäustchen die Augen. »Wie bei Prinzen«, sagte er und gähnte. Der Abschied war ein bisschen zu viel für ihn. »Wenn Prinzen verreisen, bringen sie immer Gold und Geschmeude mit. Und ihr werdet doch Prinzessinnen sein, oder?«

Ja, das konnte man so sagen. Zumindest würden wir uns so fühlen, da waren wir uns ganz sicher.

Freddy dachte kurz nach. »Gold ist zu teuer. Also nur Geschmeude. So bunte, glitzernde Steine. Uki?« Müde lehnte er den Kopf an Amys Schulter.

Amy drückte ihn ganz fest. »Ich bring dir alles Geschmeide mit, das ich finden kann«, sagte sie und gab ihm ein letztes Küsschen, bevor sie ihn an ihre Mutter zurückreichte.

»Er bekommt schon noch Edelsteine«, sagte ich jetzt. »Aber Jelly Beans in Geschmacksrichtungen wie Ohrenschmalz und Regenwurm findet er bestimmt auch toll.«

Momo hatte sich mittlerweile erhoben und bei Opa eingehakt. »Wir treffen uns in zwanzig Minuten wieder hier«, sagte sie und winkte uns vergnügt zu.

Opa legte sein liebes Gesicht in lustige Runzeln. »Seid aber rechtzeitig zurück«, mahnte er uns. »Ein Flugzeug wartet nicht!« Er sah immer noch so aus, als könne es nach seinem Geschmack auch gern ganz am Boden bleiben. Aber er hatte es tapfer bis hierher geschafft und würde weiter durchhalten, das wusste ich. Aus Liebe zu Momo.

Opa bewegte sich grundsätzlich so selten wie möglich von seinem geliebten Institut weg. Er war glücklich, wenn er dort vor sich hin forschen konnte. Deswegen war bisher immer ich Momos Reisepartnerin gewesen. Und was hatten wir zusammen schon alles erlebt! Wir waren zum Beispiel schon mal auf Kamelen durch die Wüste geritten. Und hatten ganz allein auf einer einsamen Insel in einer Hütte gewohnt. In Schweden waren wir mit einem Kanu einen Fluss entlanggepaddelt. Und letztes Jahr hatten wir in Amerika Gold geschürft und sogar ein bisschen was gefunden.

Aber das, was wir jetzt vorhatten, würde alles toppen. Und es war schön, dass Opa dabei war und ich Amy an meiner Seite hatte.

Wir winkten meinen Großeltern noch einmal zu und liefen los.

Der Harry-Potter-Shop fiel schon von Weitem auf. Vor seiner weit offenen Eingangsfront diente ein riesiger Stapel uralter Koffer als Blickfang, hinter dem eine Dobby-Figur hervorlugte. Wir stürzten uns ins Gewühl und fanden uns plötzlich in einer anderen Welt wieder. Laternen an der Decke sorgten für samtiges Licht. Zwischen ihnen schienen aufgeklappte Zauberbücher, Vogelkäfige, altmodische Weltkugeln und Landkarten zu schweben. Aus einem versteckten Lautsprecher perlten die Töne der Harry-Potter-Filmmusik und ließen einen vergessen, dass wir eigentlich auf einem Flughafen waren.

»Lou, guck mal, meinst du, der steht mir?«, rief Amy. Ich war so vertieft in die Betrachtung einer Zeitumkehrer-Halskette gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie Amy ans andere Ende des Ladens gelangt war. Dort drehte sie sich gerade vor einem Spiegel hin und her, um einen besseren Blick auf das seltsame Kleidungsstück werfen zu können, in das sie sich gehüllt hatte: einen schwarzen Bademantel, der weit wie ein Zauberumhang geschnitten war. Er sah toll aus zu ihren langen, blonden Haaren und den blauen Augen.

Ich ging rüber zu ihr, legte mein Kinn auf ihre Schulter und stellte fest, dass der schwarze Mantel auch zu braunen Haaren und schokobraunen Augen gut aussah. »Ziemlich cool«, stellte ich fest. »Aber für unser Abenteuer vielleicht doch nicht ganz das passende Outfit.«

Amy lachte, schlüpfte aus dem Mantel und hängte ihn wieder an seinen Platz zurück. »Der ist sowieso zu teuer«, seufzte sie.

Leider galt das auch für die süße weiße Plüscheule, in die ich mich ein bisschen verguckt hatte. Aber dafür entschieden wir uns, nicht nur eine, sondern zwei der kleinen lila Schachteln mit den berüchtigten Bohnen zu kaufen. Eine für Freddy und die andere als Mutprobe für uns. Neben Regenwurm und Ohrenschmalz gab es laut Packungsaufschrift sogar die Geschmacksrichtungen faule Eier, Erbrochenes und Dreck. Brrr.

»Guck mal, die Zauberstäbe«, quietschte Amy, als wir von der Kasse zurückkamen. In einem verschlossenen Glasschrank waren verschiedene Modelle ausgestellt. »Welchen hättest du am liebsten?« Sie beugte sich vor und betrachtete den Zauberstab von Lord Voldemort, der aussah wie ein bleicher Knochen.

»Weißt du doch. Ich war immer schon Team Hermine«, sagte ich.

Und – wusch. In diesem Moment spürte ich es voll und ganz. Das merkwürdige Déjà-vu-Schweben. Allerdings viel intensiver als jemals zuvor. Mir wurde richtig schwindelig davon, und in meinen Ohren rauschte es. Ich hatte das Gefühl, schon einmal in diesem Potter-Laden gewesen zu sein und Lord Voldemorts Zauberstab betrachtet zu haben, und zwar erst vor Kurzem, dabei war ich definitiv noch niemals hier gewesen.

Außerdem spürte ich, dass jemand ganz in der Nähe war, der irgendwie von Bedeutung war. Und auch dieses Gefühl war ganz neu.

Ich drehte mich um und musterte die Umstehenden. Wer konnte das sein? Niemand beachtete mich, und niemand sah irgendwie ungewöhnlich aus.

Plötzlich bemerkte ich im Gedränge einen Jungen, den ich sehr gut kannte. Er stand ein Stück entfernt vor einem Regal, in dem ebenfalls Zauberstäbe ausgestellt waren. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seine dunklen Haare, seine breiten Schultern und sogar sein blaues Kapuzenshirt waren mir so vertraut, als würde ich ihn täglich treffen. Nur wo? Keine Ahnung. Und wie hieß er? Krampfhaft versuchte ich, mich an seinen Namen zu erinnern, aber in meinem Kopf war nur ein riesiges schwarzes Loch. Dafür wusste ich, was er gleich tun würde: Er würde sich mit der Hand durch die Haare fahren, sich dann nach rechts wenden, eine dieser zauberhaften weißen Plüscheulen vom Tisch nehmen und sie kaufen. Da war ich sicher, das sagte mir mein Déjà-vu-Gefühl, und das hatte sich noch nie getäuscht.

Der Junge hob die Hand und fuhr sich damit durch die Haare. Seine Geste kam mir so unendlich vertraut vor, als hätte ich sie schon hundert Mal an ihm beobachtet. Er wandte sich nach rechts und betrachtete den Tisch mit den Eulen. Aha, dachte ich, jetzt sucht er sich eine aus. Doch als er die Hand ausstreckte, hielt er auf einmal mitten in der Bewegung inne und legte den Kopf schräg. Fast als würde er etwas Ungewöhnliches hören. Und dann drehte er sich ganz langsam zu mir um.

Mein Atem stockte, und mein Magen plumpste ein Stockwerk tiefer. Schnell drehte ich mich um, bevor sein Blick mich traf.

Hatte er gespürt, dass ich ihn beobachtete? Was tat er jetzt? Ich hätte gern hingesehen, aber ich konnte förmlich spüren, wie sein Blick in meinem Nacken brannte. Zu peinlich, dass mir sein Name nicht einfiel. Und zu dumm, dass ich mich nicht traute, noch mal hinzugucken.

»Louuuuuu???«, drang auf einmal Amys Stimme zu mir durch, und ich fuhr auf. »Hast du meine Frage nicht gehört?« Sie musterte mich besorgt. »Hey, du bist ja leichenblass. Tut deine Stirnnarbe wieder weh? Hattest du eine Vision von Lord Voldemort?«, witzelte sie.

»So was in der Art«, murmelte ich. »Guck mal unauffällig da rüber, Richtung Eulen. Kennst du den Typ? Ich meine den mit dem blauen Kapuzenpulli?« Um nicht aufzufallen, nahm ich ein T-Shirt in den Farben Gryffindors von einer Stange und betrachtete es, als fände ich es unglaublich interessant.

Amy setzte die Sonnenbrille auf, die sie bis eben in den Haaren getragen hatte. Dann reckte sie den Hals und starrte in Richtung des Jungen.

»Nicht so auffällig«, zischte ich aufgeregt. »Der guckt doch sowieso schon zu uns rüber.«

»Tut er nicht«, sagte Amy ganz cool. »Bei den Eulen steht nämlich überhaupt kein Typ.«

Ich nickte. »Nee, stimmt, er geht gerade raus.« Und dann zuckte ich zusammen, denn mir fiel auf, dass ich das gar nicht wissen konnte. Ich stand mit dem Rücken zum Ausgang, und mein Blick war immer noch starr auf das Gryffindor-Shirt gerichtet. Außerdem musste der Junge die Eule eigentlich erst noch kaufen. Das konnte also gar nicht stimmen.

Tat es aber. »Ah ja, er rennt gerade aus dem Laden«, bestätigte Amy meine Behauptung, und mir wurde ganz flau vor Schreck. Woher hatte ich das gewusst?

Amy war gar nicht aufgefallen, dass ich nicht hingesehen hatte. Sie war voll und ganz damit beschäftigt, dem Jungen nachzublicken. »Er scheint es ziemlich eilig zu haben«, stellte sie fest.

Langsam drehte ich mich um. Der Junge drängelte sich durch die Passanten, und zwar ohne Eule in der Hand.

»Und?«, fragte ich aufgeregt. »Wer war das?«

Amy zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich hab den noch nie gesehen.«

»Sicher?«

Sie nickte. »Ganz sicher.«

»Ich aber. Und zwar oft.« Ich blickte dem Jungen nach, der sich mit großen Schritten entfernte.

Amy sah mich nachdenklich an. »Vielleicht warst du ja früher mal mit ihm im Kindergarten. Du hast doch in England gewohnt, als du klein warst.«

Das stimmte. Mama, Papa und ich waren erst nach Deutschland gekommen, als ich sechs Jahre alt war. Vorher hatten wir in London gelebt. Aber daher konnte ich den Typ nicht kennen.

»Das passt nicht.« Ich sah dem Jungen immer noch nach. »Ich kenn sogar seinen Pulli. Und den kann er damals ja wohl noch nicht angehabt haben.«

»Vielleicht hast du ihn auf dem Flug von Frankfurt im Flieger oder am Gate gesehen?«, überlegte Amy. »Oder ist er ein Star? Kennst du ihn vielleicht aus einem Film? Oder von YouTube?«

Ich schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Nichts davon.«

Amy warf einen Blick auf ihr Handy und erschrak. »Oh shit, ich glaub, wir müssen los. Deine Großeltern vermissen uns bestimmt schon.« Sie wandte sich ab und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

Nachdenklich hängte ich das T-Shirt zurück und folgte ihr. Wer war der Junge? Kannte ich ihn wirklich? Oder war das alles nur wieder ein etwas seltsames Déjà-vu gewesen?

Komisch, meine Vorahnung, die sonst eigentlich immer zuverlässig funktionierte, hatte mich heute getäuscht. Der Junge hatte die Eule gar nicht gekauft. Aber weshalb hatte ich später gewusst, was er tat, ohne hinzusehen? Das war merkwürdig. Außerdem war mir die Situation nicht wie sonst ganz unwirklich vorgekommen. Eher verblüffend real.

Andererseits – wenn ich ihn wirklich kannte, hätte Amy ihn ziemlich sicher auch schon mal gesehen. Wir wohnten in einer kleinen Stadt und unternahmen fast alles zusammen. Undenkbar, dass ich jemanden so gut kannte, wie sich das eben angefühlt hatte, ohne dass Amy ihn auch schon mal getroffen hatte.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen. Zu blöd, dass ich das Gesicht des Jungen nicht gesehen hatte. Und jetzt war er im Gedränge verschwunden.

Kapitel 2

Wenn mein Leben ein Film wäre,

würde man jetzt spannende Grummelmusik hören.

Momo und Opa saßen bereits wieder am Gate, als wir zurückkamen. Opa schien hin und her gerissen, als er uns sah. Er wirkte erleichtert, dass wir wieder da waren, aber vermutlich hätte er auch nichts dagegen gehabt, wenn wir den Flug vertrödelt hätten.

Doch da bestand keine Gefahr. Ein Lautsprecher knackte, und eine nuschelnde Stimme kündigte eine weitere Verspätung an. Wir sanken wieder auf die unbequemen Wartestühle.

Erst eine halbe Stunde später wurde das Boarding angezeigt. Opa sprang sofort nervös auf. »Jetzt geht’s los.« Er sah uns auffordernd an. »Kommt ihr?«

Die kupferrote Miss Perfect drehte sich aufreizend langsam zu uns um und bedachte Opa schon wieder mit einem gelangweilt-genervten Blick. Klar, nur Anfänger springen beim Boarding sofort auf. Checker wissen: Man muss sowieso noch ewig warten, bis man drankommt. Erst dürfen die Businessclass-Reisenden rein, dann passiert lange gar nichts, und ganz zum Schluss kommen Normalmenschen wie wir. Aber die Sitze sind ja sowieso nummeriert, die nimmt einem keiner weg, deswegen kann man auch in Ruhe abwarten, bis der Andrang vorbei ist. Und coole Leute tun das.

Mein Opa ist eigentlich sehr cool. Aber auf andere Weise. Er ist berühmt und hat einen IQ, von dem die meisten Menschen nur träumen können. Wissenschaftler auf der ganzen Welt holen regelmäßig seinen Rat ein. Auf dem Flughafen wirkte er mit seinen verstrubbelten weißen Haaren allerdings ganz anders. Trotzdem: Wenn so jemand Reiseangst hatte, dann war das verdammt noch mal kein Grund, ihn anzustarren!

Also starrte ich zurück, bis die Rothaarige sich abwandte.

»Julius, bleib ruhig noch sitzen, wir haben Zeit.« Momo griff nach Opas Hand und lächelte ihn beruhigend an. »Wer schneller drin ist, fliegt auch nicht eher los.«

Doch Opa schüttelte den Kopf. »Ich will es hinter mich bringen. Nicht dass ich es mir noch anders überlege.« Er griff nach Momos Handköfferchen und reihte sich in die Schlange der Economyclass ein. Seufzend erhob Momo sich und schloss sich ihm an.

Die Rothaarige lächelte jetzt spöttisch vor sich hin. Sie selbst blieb natürlich sitzen. Aber nur so lange, bis der letzte Businessclass-Reisende durch den Schalter mit der Aufschrift »Priority« verschwunden war. Dann erhob sie sich und schlenderte aufreizend langsam an der Warteschlange vorbei zu diesem Schalter.

Der blonde Junge folgte ihr. Als er sie eingeholt hatte, warf sie ihre langen, künstlich kupferglänzenden Haare nach hinten und blickte über die Schulter zu mir zurück. »Wetten, dass der Opa nachher bei der Landung auch noch klatscht?«, fragte sie so laut, dass ich es hören musste. So was taten ihrer Meinung nach natürlich auch nur peinliche Anfänger ohne jede Welterfahrung.

Ich blähte die Nüstern und senkte schon meine nicht vorhandenen Hörner zum Angriff, da zupfte Amy an meinem T-Shirt. »Hey«, sagte sie. »Nicht aufregen. Das ist die doch gar nicht wert.«

Und natürlich hatte sie recht. Also atmete ich tief durch, statt etwas zu erwidern, und stellte mich hinter Momo und Opa in die Schlange. Um ihnen Gesellschaft zu leisten. Und irgendwie auch, um sie zu beschützen, obwohl das natürlich Quatsch war. Trotzdem, Amy schien mich zu verstehen, auch sie schloss sich uns an.

Opa griff in die Brusttasche seines Hemdes und reichte uns unsere Bordkarten. »Ihr sitzt in der Reihe hinter uns«, sagte er.

Ich warf einen Blick auf meine Platznummer. Reihe zwei. Ganz schön weit vorn, das war ja super. Also saßen Momo und Opa sogar in der ersten Reihe und hatten mehr Beinfreiheit, wie schön. Und dann kapierte ich, was das hieß.

»Opa?« Ich tippte ihm mit dem Finger auf die Schulter.

»Hm?« Er drehte sich um.

»Du, hast du das gesehen? Wir sitzen ganz vorn, also fliegen wir Businessclass. Wir stehen hier falsch. Wir können jetzt schon da drüben einsteigen.« Ich wies auf die unbeschäftigte Stewardess am Priority-Schalter.

Opa warf einen raschen Blick auf den geöffneten Schalter. Dann schüttelte er den Kopf. »Businessclass? Na und? Das ist doch kein Grund, sich vorzudrängeln.« Er zwinkerte mir zu. »Wer schneller drin ist, fliegt schließlich auch nicht eher los.« Dann richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf einen kleinen Jungen, der hinter ihm stand und seinem Vater etwas zuflüsterte.

Und da stand Opa nun in der Schlange. Obwohl er da gar nicht hingehörte. Klein, dünn, weißhaarig, in seiner ausgebeulten Opa-Hose und mit Momos Handköfferchen in der Hand. Niemand wäre darauf gekommen, dass das Professor Julius Lemm war, der den Lemm-Antrieb erfunden und damit die moderne Schifffahrt revolutioniert hatte. Und jetzt ließ er sogar noch die Familie mit dem kleinen Jungen vor. Weil der sich so auf das Flugzeug freute. Am liebsten hätte ich Opa geknuddelt.

In diesem Moment ertönte eine Frauenstimme hinter uns.

»Professor Lemm? Julius Lemm?«

Opa fuhr herum und nickte. »Ja, bitte?«

Die Frau trug eine weiße Uniformjacke zu einem engen weißen Rock. Sie lächelte meinen Opa an. »Mein Name ist Meyer. Lara Meyer von der Reederei White Star.« Noch breiter lächelnd entblößte sie Zähne, die so weiß waren wie ihre Uniform. »Herzlich willkommen in London. Endlich entdecke ich Sie hier. Wir hatten Sie und Ihre Familie in der VIP-Lounge erwartet, dort war ein Imbiss für Sie vorbereitet. Eigentlich müssten Sie mit den Flugtickets eine Einladung erhalten haben.«

»Oh.« Opa wirkte ein bisschen verlegen. »Tut mir leid. Das haben wir wohl irgendwie übersehen.«

Das bezweifelte ich. Momo übersah so etwas nicht, aber sie wusste, wie sehr Opa es hasste, wenn Aufheben um ihn gemacht wurde. Und das hatte sie ihm wohl ersparen wollen.

Lara Meyer lächelte wieder. »Gar kein Problem, Mr Lemm. Darf ich Sie jetzt zu Ihren Plätzen begleiten? Wir haben für unsere von London kommenden Passagiere die Businessclass in diesem Flugzeug gebucht. Und Sie sind natürlich unser Ehrengast. Wenn Sie mir bitte folgen würden …«

»Äh, ja, natürlich, gern.« Opa nickte verwirrt, und im Gänsemarsch folgten wir Lara Meyer zum Priority-Schalter, wo wir nicht mal unsere Tickets vorzeigen mussten. Ein Kopfnicken von Lara Meyer reichte, und wir durften durch.

»Bitte hier entlang!« Unsere Begleiterin führte uns in einen langen, schmalen Gang, der an einer Treppe endete, dann weiter nach draußen, bis zu einem Bus, der am Rand des Rollfelds parkte. Ungefähr zehn Passagiere saßen darin und warteten auf die Abfahrt zum Flugzeug. Ganz vorne sah ich die Rothaarige neben dem blonden Jungen, sie starrte demonstrativ in eine andere Richtung. Der Junge allerdings lächelte mir zu.

Lara Meyer zeigte auf die Bustür. »Bitte nehmen Sie Platz.« Sie wandte sich an den Fahrer. »Es kann jetzt losgehen. Unsere Gruppe ist vollzählig.«

»Oh no!«, sagte die Rothaarige laut und vernehmlich.

Und ich hatte gerade exakt dasselbe gedacht.

Vermutlich war uns beiden in diesem Moment klargeworden, was unsere Anwesenheit in diesem Bus bedeuten musste: Alle, die jetzt hier saßen, waren nicht einfach nur normale Businessclass-Passagiere eines Flugzeugs, sondern ziemlich sicher auch Mitglieder derselben Reisegruppe. Wir würden also in den nächsten Tagen viel Zeit miteinander verbringen. Na toll.

»Ob der Blonde wohl ihr Freund ist?«, murmelte ich, als ich neben Amy auf der hintersten Bank des Busses saß.

»Niemals.« Amy pustete sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die aus ihrem Pferdeschwanz entkommen war. »Dafür ist der viel zu nett. Und er mag sie auch überhaupt nicht, das sieht man ihm an. Vielleicht ist er ihr Bruder. Wobei, das glaub ich eigentlich auch nicht, die sehen sich kein bisschen ähnlich. Wer sie wohl ist?«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ich fürchte, wir werden es schon noch erfahren.«

Zum Glück saß Miss Perfect im Flugzeug drei Reihen hinter uns. So konnte ich sie vergessen, und ich hoffte, dass mir das auch auf der restlichen Reise gelingen würde.

Es dauerte dann noch weitere zwanzig Minuten, bis wir endlich abhoben und ich unter mir die Häuser und Straßen Londons sah. Bei ihrem Anblick musste ich an die Zeit zurückdenken, als ich dort mit meinen Eltern gewohnt hatte, und mir fielen plötzlich ganz viele Kleinigkeiten von früher wieder ein. Unser Blumenladen. Die knallroten Kindergummistiefel, mit denen ich vor diesem Geschäft leidenschaftlich gern durch Pfützen gepatscht war. Ich dachte an Mum und Dad und vermisste sie ein bisschen.

Als ich mich in meinem Sitz zurücklehnte, kam mir wieder der Junge aus dem Harry-Potter-Shop in den Sinn. Irgendwas war an der Sache seltsam. Ich konnte mich immer noch nicht an seinen Namen erinnern und auch an keine Gelegenheit, bei der ich ihn schon einmal gesehen hatte. Vermutlich war das wohl doch nur ein etwas untypisches Déjà-vu gewesen. Trotzdem alarmierte mich irgendetwas an der Sache, und ich konnte ihn einfach nicht vergessen. Wir hatten England schon längst hinter uns gelassen und flogen auf Irland zu, aber während ich aus dem kleinen runden Fenster auf die Mini-Welt unter mir starrte, in der riesige Schiffe aussahen wie weiße Punkte auf dem Meer, hatte ich sein Bild immer noch so deutlich wie ein Foto vor Augen. Und das, obwohl ich ihn nur von hinten gesehen hatte. Ich wusste, es war absurd, aber ich war sicher, dass er die weiße Eule nur meinetwegen weggelegt hatte. Bevor ich mich umgedreht hatte, hatte er nämlich den Kopf schräg gelegt, als hätte er irgendetwas wahrgenommen, und mir war es in genau dieser Sekunde ähnlich gegangen. Es war fast, als hätten wir uns gegenseitig gespürt. Aber warum war er weggelaufen? In so einem Moment würde sonst jeder stehen bleiben. Da war man doch neugierig. Ich hätte das wahnsinnig gern geklärt. Aber das ging nicht, denn er war quasi geflohen, und danach mussten wir nun mal zurück zu unserem Gate.

Ich seufzte und blickte zu Amy, die in eine Zeitschrift vertieft war. Am liebsten hätte ich ihr alles erzählt. Mit ihren großen blauen Augen wirkte sie ja immer ein bisschen, als hätte sie gerade ein Einhorn mit Feenstaub gefüttert, aber in Wahrheit war sie ausgesprochen realistisch. In stressigen Situationen war sie immer so was wie mein Fels in der Brandung. Im Moment jedoch konnte ich nicht mit ihr darüber reden, da hätten zu viele mitgehört.

Erst ein leises Ding-Dong riss mich aus meinen Gedanken. Das Gurtsymbol über unseren Sitzen kündigte die Landung an. Wir schnallten uns an, das Flugzeug senkte sich, flog eine Kurve, und ich sah unter uns glitzerndes Meer, dem wir uns in beeindruckender Geschwindigkeit näherten. Dann war zum Glück Land unter uns, und rumpelnd setzten die Räder unseres Fliegers auf.

Opa klatschte in diesem Moment übrigens nicht. Er konnte nicht, denn er hielt Momos Hand, und zwar ganz fest, das konnte ich durch die Lücke zwischen den Sitzen sehen. Und ich hörte auch, was er zu ihr sagte. »Keine Angst«, murmelte er, als sei es Momo, die beruhigt werden müsse. »Das macht der Pilot nicht zum ersten Mal. Der kann das. Und der bremst auch gleich. Du wirst sehen. Jeden Moment bremst er.«

Als unser Flugzeug stoppte, war er dann wie ausgewechselt. Er sprang auf, drehte sich zu uns um und strahlte uns an. »Wir sind angekommen. »Wir sind heil angekommen!«

Ich lächelte Opa an. »Ja, das sind wir.«

Aufgekratzt griff er nach dem Handgepäck. »Seid ihr bereit für unser Abenteuer?«, fragte er.

Amy und ich sahen uns an, und jetzt waren wir es, die sich die Hände drückten. Und ob wir bereit waren!

Kapitel 3

Das Leben ist wie eine Schachtel Bertie-Botts-Bohnen.

Man weiß nie, was man bekommt.

Die Galatea lag majestätisch im Wasser und sah inmitten der modernen Belfaster Hafenanlage aus wie aus der Zeit gefallen. Der altmodische Luxusdampfer hatte vier dicke Schornsteine, genau wie die Titanic, der er auch sonst ähnlich sah. Aber die Galatea war nicht schwarz und gelb wie die Titanic, sondern schneeweiß, von den Schornsteinspitzen bis zur Wasserlinie. Edel sah das aus. Und auf diesem ehrwürdigen Luxusschiff würden wir die nächsten zehn Tage über die Meere reisen, von Belfast gen Süden nach Porto, weiter über Barcelona bis nach Monaco.

Seit wir wussten, dass Momo und Opa uns beide auf eine Nostalgie-Kreuzfahrt eingeladen hatten, waren Amy und ich immer wieder im Internet gewesen. Wir hatten uns jedes Bild angesehen und alles gelesen, was da über die Galatea stand. Von schneeweißen Decks mit geschwungenen Liegestühlen aus Holz war da die Rede gewesen. Von Zimmern mit antiken Möbeln. Kissen aus Samt und Seide. Von Badezimmern mit Löwenfußwannen und goldenen Wasserhähnen. Von geschwungenen Treppen, verschnörkelten Geländern, bunten Glasscheiben mit Blumenmustern. Und natürlich von dem fast lautlosen Hybridantrieb, dem ersten, der in ein Kreuzfahrtschiff verbaut worden war und der auf eins von Professor Julius Lemms berühmten Patenten zurückging. (An dieser Stelle war ich ziemlich stolz auf Opa gewesen.)

Die Wirklichkeit allerdings übertraf alles. »Wow«, flüsterte ich, als ich aus dem Auto stieg, meinen Kopf in den Nacken legte und gegen die strahlende Sonne blinzelte.

Ein Fahrer hatte uns am Flughafen erwartet, um uns in einer Limousine zum Hafen zu bringen, was uns einen giftigen Blick der Rothaarigen eingebracht hatte, die ihrem blonden Begleiter in der Drehtür des Flughafens vor Wut das knallrote Köfferchen in die Hacken geknallt hatte. Sie stand da jetzt vermutlich immer noch und versuchte, ein Taxi zu ergattern, was heute wegen eines Megaevents in der City besonders schwer war, wie uns der Fahrer erzählt hatte. Sie würde bestimmt noch lange in der Hitze schmoren.

Da hatten wir es besser gehabt. Wir waren dank Opa auf dem schnellsten Weg direkt zur Galatea chauffiert worden. Jetzt standen wir vor der ebenfalls schneeweißen Gangway des Schiffs.

»Kneif mich mal«, wisperte Amy.

»Kann grad nicht«, flüsterte ich zurück. »Ich bin zu beschäftigt mit Staunen.«

Kein Wunder, das Schiff war echt groß. Schon der gewaltige Schiffsbauch umfasste mehrere Etagen, und darauf türmten sich dann noch drei Außendecks übereinander, auf dessen oberstem die schneeweißen Schornsteine in den blauen Himmel ragten. Die Gangway führte steil nach oben, und am Eingang zum Schiff sah ich zwei Mitglieder der Besatzung in weißen Uniformen.

»Wahnsinn«, flüsterte ich. »Welcher ist der Kapitän?«

»Vermutlich keiner«, meinte Opa. »Das sind Stewards, die die Passagiere begrüßen.«

Momo schirmte ihre Augen mit der Hand ab und sah nach oben. »Ich bin mir da nicht so sicher«, murmelte sie. Und dann gab sie Opa einen kleinen Stups. »Geh du mal besser vor.«

Tja. Momo behielt recht. »Herzlich willkommen, Professor Lemm!«, rief einer der Männer Opa schon von Weitem auf Englisch entgegen. »Ich bin Peter O’Sullivan, Kapitän der Galatea. Und das ist Harry Taylor, mein Erster Offizier. Es ist uns eine Ehre, Sie an Bord zu haben, Sir.«