Wunderkind - Karin Smirnoff - E-Book

Wunderkind E-Book

Karin Smirnoff

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Beschreibung

Karin Smirnoff erzählt die Geschichte eines Wunderkinds, dem es gelingt sich mit fantastischer Stärke und Galgenhumor aus einer Welt ohne Liebe zu befreien.

Dass sie auf ihre Mutter nicht zählen kann, kapiert Agnes sofort. Milch kriegt sie nur, wenn sie schreit, bis die Nachbarn klopfen. Wenn sie überleben will, muss sie der Bosheit ihrer Mutter immer einen Schritt voraus sein, die sich dafür rächt, dass Agnes ihre Karriere als Pianistin zerstört hat und die Frechheit besitzt, selbst ein Wunderkind zu sein. Als Agnes den Talentförderer Frank kennenlernt und mit seiner Gruppe auf Tournee geht, wendet sich nur scheinbar alles zum Besseren … Mit unverwechselbarer Lakonie erzählt Karin Smirnoff von Gewalt und Machtmissbrauch, doch sie überlässt diese Welt der Willkür nicht den Tätern. Die Kinder dieses Romans sind mit so viel fantastischer Stärke und Galgenhumor ausgestattet, dass es ihnen gelingt, sich zu befreien.

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Das ist das Cover des Buches »Wunder kind« von Karin Smirnoff

Über das Buch

Dass sie auf ihre Mutter nicht zählen kann, kapiert Agnes sofort. Milch kriegt sie nur, wenn sie schreit, bis die Nachbarn klopfen. Wenn sie überleben will, muss sie der Bosheit ihrer Mutter immer einen Schritt voraus sein, die sich dafür rächt, dass Agnes ihre Karriere als Pianistin zerstört hat und die Frechheit besitzt, selbst ein Wunderkind zu sein. Als Agnes den Talentförderer Frank kennenlernt und mit seiner Gruppe auf Tournee geht, wendet sich nur scheinbar alles zum Besseren … Mit unverwechselbarer Lakonie erzählt Karin Smirnoff von Gewalt und Machtmissbrauch, doch sie überlässt diese Welt der Willkür nicht den Tätern. Die Kinder dieses Romans sind mit so viel fantastischer Stärke und Galgenhumor ausgestattet, dass es ihnen gelingt, sich zu befreien.

Karin Smirnoff

Wunderkind

Roman

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

Hanser Berlin

Mama, Mama,

was heißt Mord

rufen meine ungeborenen Kinder

und ich antworte:

Mord heißt Kinder

in ein schon aufgefressenes Leben zu setzen.

Also lasst

mir meinen Körper

und ich werde den Hunger aufhalten

während er dahinfliegt

die Arme voller schwellbäuchiger

Kleinkinder am Osterhimmel.

Lied für Töchter Elsa Grave

Eins

Hallo ich bins. Wie gehts.

Kann nicht klagen. Hast du das Paket bekommen.

Na klar. Danke. Sie waren besser als ich es mir erträumt hätte.

Schönes Wetter übrigens für September.

Ja wirklich. Aber wir könnten ein bisschen Regen gebrauchen.

Nur Regen keine Sonne.

Nein momentan reicht uns Regen.

Ich werde sehen was ich tun kann. Ist ein bisschen kompliziert geworden mit dem Gewitter.

Wir zählen auf dich. Du weißt worauf es ankommt.

Natürlich. Natürlich.

Zwei

Niemand kann sich an seine eigene Geburt erinnern. Das hängt mit der Austreibungsphase zusammen. Diese Tunnelfahrt zwischen Wasser und Welt soll eine der schlimmsten Erfahrungen für einen Menschen sein. Das Gehirn sorgt dafür die Erinnerung auszulöschen. Wie manchmal auch Traumata.

Ich gleite im Jahr Neunzehnhundertneunundsiebzig in einer Januarnacht auf der Entbindungsstation Södertälje hinaus. Wir sind außergewöhnlich viele Kinder die genau diese Nacht wählen. Im Schlafsaal herrscht Gedränge. Manche schlafen andere schreien. Schreien ist gut sagt das Personal. Ein schreiendes Kind atmet.

Ein paar Tage später fahren wir mit dem Taxi nach Hause. Es fährt über die Klappbrücke. Vorher müssen wir ein Schiff abwarten.

Ich brülle von meinem Gitterbett aus weiter. Aber jemand anders brüllt lauter. Anitamama. Die ich anfangs vielleicht Mama nenne. Oder einfach nur Anita. Das ist ihr lieber.

Das Telefon klingelt. Sie geht ran. Dann weint sie. Mit einem solchen Weinen kann man nicht mithalten. Selbst wenn man neu geboren ist und friert.

Irgendwann sind ihre Tränen aufgebraucht. Türen schlagen. Flaschen klirren. Töne schwirren. Erst nur vereinzelte. Sie bahnen sich ihren Weg in das Zimmer mit dem Gitterbett und wollen mir etwas sagen. Sie sagen: Es gibt einen Zugang. Finde ihn wenn du überleben willst. Ich glaube ich höre zum ersten Mal Musik.

Jeden Morgen kommt Oma. Sie nimmt mich auf den Arm. Schält meine Windel herunter die gleichzeitig nass und trocken ist. Früher hat man Exkremente zum Zementieren benutzt.

Bitte Anita sagt sie. Du vernachlässigst das Kind. Jetzt musst du dich am Riemen reißen. Du machst uns noch Schande.

Ich hab nicht um das Mädchen gebeten erwidert sie jeden Tag. Er wollte das Kind. Und jetzt ist es da und er ist weg. Wenn sie überleben soll muss er zurückkommen. Das kannst du ihm ausrichten falls ihr euch seht. Entweder sie oder er.

Oma schüttelt den Kopf. Findet ihre Tochter hat selber Schuld. Damit müssen Frauen leben wenn sie die Beine nicht zusammenkneifen können sagt sie und verschwindet.

Zurück bleiben wir beide. Ein Tag und eine Nacht bis Oma wiederkommt. Manchmal fällt Anitamama ein dass ich etwas essen muss. Meine Schreie können die Grammophongeräusche und das Weinen nur in Pausen durchdringen. Etwa wenn die Nachbarn klingeln und sich beschweren.

Wir werden euch rausklagen sagen sie manchmal. Und dann landet ihr auf der Straße.

Ich habe keine Angst zu frieren. Oder in einem Korb auf einer Treppe abgestellt zu werden. Meine Angst ist so logisch wie das meiste in meinem kurzen Leben. Ohne Nahrung werde ich sterben.

Alle Menschen werden mit einem Wortschatz geboren. Das lässt sich nicht beweisen weil Säuglinge nicht sprechen können. Ich verstehe nicht alles. Neue Wörter müssen im Mund reifen. Ich male sie mit dem Finger auf eine weiche Matratze. Manche Wörter sind schwer zu durchschauen. Depression zum Beispiel.

Nach ein paar Wochen lebe ich noch. Mehr aber auch nicht. Mein Körper bereitet sich schon auf das Schlimmste vor. Bewegt sich kaum und schreit selten.

Oma ist zur Kur nach Varberg gefahren.

In Varberg kauft sie Süßigkeiten und ein neues Gebiss.

Als sie zurückkommt liegt ihre Tochter auf dem Sofa und starrt an die Decke.

Oma wickelt mich in eine Decke und trägt mich zu sich.

Soll sie hier wohnen fragt Opa.

Fürs Erste antwortet Oma.

Opa sagt nicht viel. Er brummelt wenn er etwas will.

Eine Sau folgt den Regeln der Natur. Manchmal wirft sie achtzehn Ferkel obwohl sie nur sechzehn Zitzen hat. Nach ein paar Tagen sind die beiden Schwächsten gestorben. Und sie selbst hat noch vier weitere zerquetscht. Jetzt gibt es genug zu fressen. Sorge und Fürsorge gehören zusammen.

Anitamama hat zwei Brüste und ein Kind. Trotzdem hätte sie mich fast umgebracht.

Oma sitzt eine Weile an meinem Bett. Damit mir nicht langweilig wird erzählt sie mir etwas. Sie kam mit dem Bus aus Deutschland nach Schweden.

Es herrschte Krieg. Ihre Eltern waren schon tot. In dem Bus saß auch ihre Schwester aber sie wurde krank und ging von ihr. Ich frage mich wohin doch reden ist schwierig.

Als die Wörter endlich meinen Mundmuskeln gehorchen bin ich elf Monate und einen Tag alt. Wir feiern Advent. Oma umwickelt einen Kranz mit Moos und zündet die erste Kerze an.

Hosianna Davids Sohn sage ich.

Hast du das gehört fragt sie.

Ich habe ein Brabbeln gehört antwortet Opa.

Sie hat Hosianna Davids Sohn gesagt. Am ersten Advent.

Dann gib ihr doch den Kulturteil erwidert er.

Große Hände halten große Zeitungen. Ich habe gerade verstanden was Buchstaben sind. Aber ich kann sie noch nicht zu Lauten verbinden. Die Laute die ich kenne kannte ich immer. Nur aussprechen kann ich sie noch nicht. Striche zu Lauten zusammenzusetzen ist etwas anderes. Etwas Wichtiges. Das habe ich verstanden seit ich hier bin.

Drei

Anitamama soll zu Besuch kommen. Das Adventsessen ist schon fertig. Fleisch mit Dillsoße Kartoffeln und eingelegter Gurke.

Das Wort. Depression. Ist immer noch nur ein Laut ohne Erklärung. Aber mit Essen kenne ich mich aus. Vor allem damit wie ich es zu mir nehme.

Bei meinen Großeltern wohnt noch eine Person. Susanna.

Susanna kocht das Essen. Susanna serviert das Essen. Susanna und ich sind die meiste Zeit in der Küche. Susanna und ich schlafen auch zusammen bis Oma mich ins Gitterbett verlegt.

Verwöhn sie nicht zu sehr sagt sie. Sie muss lernen allein klarzukommen.

Aber sie ist nicht mal ein Jahr alt sagt Susanna inzwischen nicht mehr.

Wenn Oma und das Haus still sind holt Susanna mich. Sie hält mich an ihrem Körper wie etwas Zerbrechliches. Sie legt mich nach innen. Wo man die Bewohner zwischen den Wänden am besten hört. Sie sind mit ihren Sachen beschäftigt. Wir mit unseren. Susanna zieht sich um. Bürstet ihre Haare. Schlüpft in ein Nachthemd mit einem Herzen drauf.

Ich stelle mich schlafend als sie zu mir kriecht. Sie legt mich auf ihren Arm.

Schlaf gut kleines Rabenjunges sagt sie. Ich passe auf dich auf.

Wörter können Momente zerstören darum antworte ich nicht. Ich lege meine Hand auf ihren Bauch. Jeder Tag ist ein bisschen anders. Erst spüre ich es kaum. Oder höchstens als Puls. Jetzt brauche ich nur die Fingerspitzen auf den Bauch zu legen um die Hand hinter der Haut zu spüren. Wäre Susannas Bauch ein Klavier könnten wir vierhändig spielen. Durch das Wasser zwischen uns können wir uns aber nur schwer unterhalten.

Wenn ich bloß hierbleiben dürfte. Hier einschlafen. Und aufwachen. Bei Susanna geboren werden und aufwachsen und lernen. Es spielt keine Rolle wo man herkommt oder wer ein Kind besitzt. Wer sich kümmert ist auch der Elternteil.

Schlaf sagt sie wenn ich es nicht kann. Morgen ist ein neuer Tag.

Eines neuen Tages klingelt es an der Tür. Susanna macht auf.

Schuhe klappern über das Parkett. Ich erkenne am Geruch wer es ist. Ihr Luciahaar ist anders. Die Stimme dieselbe. Das Weinen das Brüllen die Musik. So ist das mit Lauten. Sie verschwinden nicht. Sie werden sortiert und archiviert. Tauchen auf wenn man am wenigsten damit rechnet. Genau wie Gerüche.

Nur Susanna versteht wie sehr ich mich fürchte.

Anitamama hat ein Geschenk für mich.

Hier sagt sie. Das ist für dich.

Danke sage ich nicht.

Kann sie immer noch nicht sprechen fragt Anitamama. Das ist aber spät. Ich konnte doch schon mit einem halben Jahr sprechen sagt sie.

Sie hat gerade ihre ersten Wörter gesagt erwidert Oma ohne Hosiannadetails zu nennen.

Anitamama war verreist. Jetzt ist sie für immer wiedergekommen.

Wie geht es dir fragt Oma aber Anitamama möchte nicht antworten. Stattdessen steckt sie sich eine Zigarette an und bläst mir den Rauch ins Gesicht. Ich halte die Luft an.

Genauso unverschämt wie immer sagt Opa nachdem er die Zeitung beiseitegelegt und seine Serviette auf dem Schoß ausgebreitet hat.

Lass sie sagt Oma. Es ist doch immerhin schon viel besser. Die Puppe ist ja wirklich schön.

Ja doch sagt Opa. Hast du nicht gesagt sie hätte keine Bleibe. Meinst du dass sie beide hier wohnen sollen.

Das ist nicht Anitas Schuld erwidert Oma und klingt wütend. Anscheinend ahnt niemand wo er steckt. Vielleicht ist er gestorben was weiß man schon. Aber seine Familie hätte die Verantwortung übernehmen müssen. Sie nicht auf die Straße setzen dürfen wie einen Mülleimer.

Dann reden sie über Anitamama. An ihr vorbei. An mir vorbei. Ich wüsste gern wer gestorben ist.

Anita und Agnes könnten in Torkels Wohnung ziehen. Sie hat auch einen schönen Blick auf den Bahnhof.

Anitamamas Bruder Torkel arbeitet in einem anderen Land und kommt wahrscheinlich nie wieder zurück. Er ist gemordet. Was dasselbe bedeutet wie etwas worüber niemand sprechen will. Ich überlege ob gemordet auch dasselbe ist wie gestorben.

Wir ziehen in Torkels Einzimmerwohnung mit Küchenecke und Bettsofa. Ich schlafe auf einer Matratze hinter dem Sofa. In derselben Ecke wohnt auch eine Ratte und so bin ich nicht allein. Ich teile mein Essen mit ihr. Wenn kein Essen da ist begnügt sie sich auch mit Schaumgummistückchen.

Anitamama ist besser darin geworden an mich zu denken. Manchmal nimmt sie mich im Wagen mit wenn sie Zigaretten kaufen geht. Ich trage jetzt denselben roten Mantel wie sie als Kind und eine grüne Mütze. Fremde schauen mich an und lächeln. Ich lächle zurück wie eine wohlerzogene Erdbeere.

Zum Glück können meine Beine gehen. Abends verschwindet sie.

Jetzt sperre ich dich ein sagt sie. Ihr Blick liegt immer außerhalb von meinem.

Hätte sie nicht abgeschlossen wäre ich rausgegangen. Vielleicht hat sie das gespürt. Ich glaube mit Susanna ist etwas passiert weiß aber nicht was. Anitamama sagt ich solle nicht mehr nach ihr fragen. Susanna ist gestorben oder hat sich gemordet. Vielleicht gibt es da einen Unterschied. Ich muss sie finden um sie zu fragen.

Der Abend ist anstrengend. Erst muss ich einen Stuhl zur Abstellkammer ziehen. Aber ich komme trotzdem nicht heran. Ich drehe den Mülleimer um und stelle ihn auf den Stuhl um ans Essen zu gelangen.

Wenn ich nicht gestürzt wäre.

Sie war es die mich fand.

Momentan kann ich nur sie sagen. Aber eigentlich war nicht sie es sondern er.

Hast du das Kind allein zu Hause gelassen fragt er.

Das Mädchen hat geschlafen antwortet sie.

Sie ist noch klein sagt er. Kleine Kinder brauchen ihre Mutter.

Kleine Kinder brauchen auch einen Vater erwidert sie und bläst den Rauch aus.

Er trägt mich zum Auto. Ich sitze auf seinem Schoß. Wir warten. Die Schlange ist lang.

Wie ist das passiert fragt der Weißkittel.

Ich war kurz den Müll rausbringen sagt sie. Als ich wiederkam lag das Mädchen auf dem Boden.

Für meinen Namen ist kein Platz in ihrem Mund. Genau wie in meinem nicht für ihren.

Ihr könnt bei mir wohnen sagt Karl-Henrik. Wenn das Mädchen will darf es mich Papa nennen.

Apropos Papa sagt er dann.

Er ist gestorben sagt sie.

Jetzt weiß ich es also auch.

Gestorben nicht gemordet. Es scheint einen Unterschied zu geben.

Mein neuer Papa hat ein Haus. Ich bekomme ein Zimmer. Manchmal setzt er sich an mein Bett. Sie steht in der Tür und betrachtet uns.

Ihr seid euch ähnlich sagt sie. Wenn man es nicht besser wüsste könnte man glauben. Dasselbe Zigeunerhaar.

Zigeunerhaar wiederhole ich zur allgemeinen Erheiterung.

Kann sie wirklich schon sprechen fragt Papa.

Ach Quatsch antwortet sie. Höchstens sowas wie dadidu.

Jeden Abend denke ich an Ratte. Sie hatte auch gerade sprechen gelernt. Jetzt ist es einsamer geworden.

Vier

Ein Jahr vergeht. Ein neuer Advent kommt. Wir spazieren zur Kirche. Oma kommt auch mit. Obwohl ich laufen kann sitze ich im Wagen. So ist es am einfachsten. Hände brauchen nicht an Armen zu zerren damit Beine schneller gehen. Sie brauchen nur den Wagen vor sich herzuschubsen.

Wärst du nicht so schwer wären wir schneller.

Seit wir bei Papa eingezogen sind habe ich zugelegt. Anita hat ein neues Wort für mich. Speckrobbe.

Papa kneift mich auf andere Weise in den Knubbelarm. Seine Augen lächeln auch wenn der Mund gerade ist.

In der letzten Zeit habe ich gehamstert. Papa wird eine Zeitlang verreisen. Ich spüre dass mir etwas bevorsteht. Er sagt er komme zurück und ich glaube ihm. Sie ist das Problem. Ich wünschte er könnte es sehen doch er sieht nur Herzen.

Ich bin fast zwei. Kann reden und laufen. Deshalb sichere ich mein Überleben durch Essen verstecken.

In der Sankta-Ragnhild-Kirche wird Bach gespielt. Schnee bedeckt die Stadt. Es ist schön wie auf einer Weihnachtskarte. Ein Stapel davon liegt auf dem Tisch. Die möchte sie an Freunde verschicken. Welche Freunde frage ich und sie lacht wie die Affen im Skansenpark wenn sie nicht glücklich sind.

Wir waren gerade da. Komm Agnes sagte Papa. Wir fahren in den Skansen und sagen dem Elefanten Guten Tag.

Die Elefantin steht in einem Zementgrab. Um die Füße hat sie eine Kette. Die Kette ist in einem Ring am Boden befestigt. Ihr Körper schaukelt vor und zurück.

Ihr Körper schaukelt wie meiner wenn ich versuche mich selbst in den Schlaf zu wiegen.

Als Papa mit jemandem redet schlüpfe ich durch den Zaun.

Hallo sage ich. Bevor Anitamama Papa traf ging es mir so wie dir.

Warmer Rüsselwind bläst mir ins Gesicht. Es kitzelt ich lache. Mein Lachen macht sie glücklich. Ich sehe es in ihren Augen. Sie stellt sich auf die Hinterbeine und trompetet. Mit liebevollem Rüssel hebt sie mich hoch. Für einen Moment schwebe ich. Über den Menschen dort unten und über der Unwelt.

Als sich der Tumult gelegt hat und Papa und ich wieder nach Hause fahren ist er ein anderer Vater. Zum Beispiel raucht er im Auto obwohl er es sonst nicht tut.

Wer bist du fragt er und sieht mich an.

Agnes sage ich.

Nicht Mogli.

Wer ist das.

Wir erzählen Mama nicht was passiert ist sagt er. Sie würde sich nur Sorgen machen.

Die Kirche leuchtet im Schein der Kerzen die vor den weißen Wänden flackern.

Heute Abend spielt Frank Leides Ensemble sagt Anitamama zu Oma. Karl-Henrik ist nicht verkehrt aber Frankie Boy. Sie schmatzt mit ihrem Lippenstift. Der ist eine ganz andere Liga. Wir waren mal ne Weile ein Paar. Wusstest du das.

Red nicht solchen Unsinn sagt Oma. Sei dankbar dass dich überhaupt jemand haben wollte mit dem Kind.

Genau das wollte Frankie aber antwortet Anitamama. Er fand die Speckrobbe ganz reizend. War doch so sagt sie zu mir.

Ich denke dass ich ihm noch nie begegnet bin.

Wie auch immer sagt sie als ich nicht antworte. Attraktive Frauen finden immer Männer.

Ich betrachte sie. Das hochgesteckte Luciahaar. Die Stiefel. Die Lippenfarbe.

Sie ist nicht alt. Diesen Schluss ziehe ich als ich mich umsehe. Als Mutter ist man wahrscheinlich besser alt. Anstatt ein Kind das ein Kind aufzieht.

Ahhh sagt sie nachdem wir uns in eine Bank gesetzt und unsere Jacken ausgezogen haben. Sie nimmt einen Zug von der Luft der Kerzenkirche. Lehnt sich zurück und schließt die Augen. Ich sitze daneben und bin ein Vorzeigekind.

Meine Enkel können nichts anderes sein als A-Kinder sagt meine Oma.

Deshalb wurde ich auf den Namen Agnes getauft.

Dein Vater wollte dass du Beata heißt. Nicht zu fassen.

Bachs Oratorium. Anitamamas Mund kennt die Wörter. Ihre Hände kennen die Töne. Ich lege sie in meinem Gedächtnis ab. Verstärke die Erinnerung indem ich mit den Fingern auf den Beinen mitspiele. Oma sagt ich soll stillsitzen. Anitamamas Augen fließen über. Schwarz rinnt am Kinn entlang. Ich schiebe meine Hand in ihre Hand. Sie zieht sie zu sich. Wischt sich damit die Augen ab und steckt sie mit in die Tasche.

Es ist nicht die Schuld deiner Mutter sagt Oma. Es ist seine Schuld.

Anitamama und Oma bekommen Lob von einem Paar in der Nähe.

Was für ein Vorzeigekind das zwei Stunden still sitzt und nicht einschläft.

Wie hätte ich einschlafen können. Die Musik treibt umher wie Bazillen in einem Körper ohne Immunsystem. Ich will nicht weinen oder bockig sein. Ich will in der Musik sein. Ein Teil von ihr sein. In ihr eingeschlossen. Will sie atmen. Sie sein.

In diesem Moment verstehe ich die Bedeutung der beiden Welten. Welt und Unwelt. In der Unwelt gibt es das was ich um mich herum sehe. In der Welt den einzigen eigentlichen Sinn des Lebens. Musik.

O große Lieb o Lieb ohn alle Maße

Die dich gebracht auf diese Marterstraße

Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden

Und du musst leiden

Als das Konzert vorbei ist gehen wir zu Oma nach Hause um Tee zu trinken. Ich werde auf das Sofa gesetzt. Anitamama ist ein Genie. Wenn sie mir Milchsuppe zu trinken gibt muss sie nichts kochen. Ich sauge bis die Trinkflasche gurgelt. Sauge auch dann weiter wenn es sich ausgegurgelt hat.

Sie reden über Sachen die man nicht begreifen muss. Ich rutsche vom Sofa. Mache ein paar Wackelschritte auf das Klavier zu und kann mich auf den Hocker ziehen ohne dass er umfällt. Es ist mühsam klein zu sein. Alles Verbotene befindet sich zu weit oben.

Jemand hat den Deckel offen gelassen. Wenn ich die Augen schließe. Nach innen sehe statt nach außen kommen die Bazillen angeflogen wie ein Lauffeuer. Sie brennen in den Fingerspitzen. Ich lege sie auf die Tasten. Ohne die Lage der Töne zu kennen finden die Finger ihren Weg. Sie waren schon da und haben den Choral gespielt den Anitamama auf dem Heimweg gesummt hat. Es ist nur noch ungewohnt für sie. Nach ein paar Fehlschlägen treffen sie richtig.

Auf dem Sofa wird es still. Nicht mal Omas Gebiss klappert über den Zuckerwürfeln.

Sicherheitshalber spiele ich das Stück noch einmal. Es ist sehr kurz.

Sie ist erst zwei sagt Oma.

Ein Wunderkind sagt Anitamama.

Wunderkind klingt nicht gut. Dennoch verstehe ich dass ich vielleicht die kleine Öffnung im Herzen meiner Mutter gefunden habe die mein Überleben garantieren könnte.

Ein Wunderkind wiederholt sie. Das habe ich verdient.

Das Wunderkind und Anitamama gehen heim zum Haus auf der Anhöhe. Es ist kälter geworden. Der Sternenhimmel funkelt und der Mond ist voll. Ohne Mond keine Erde. Ohne Sonne kein Leben. Ohne Himmel kein Atmen. So könnte es sein denke ich.

Jetzt müssen wir die Süßigkeiten aber wirklich streichen sagt Anitamama. Ein Wunderkind darf nicht dick sein sagt sie und schält eine Orange. Verteilt die Spalten auf zwei Teller. Legt einen Hähnchenschenkel auf den einen.

Hier sagt sie und kneift mich in den Knubbelarm. Du magst doch Orangen.

Papa ist mit dem Taxi zum Flugzeug gefahren. Ich versuche mir auszurechnen wie lange mein verstecktes Essen reicht. Es könnte knapp werden.

Fünf

Am nächsten Tag klingelt es an der Tür. Mein Zimmer liegt über der Tür. Es dauert eine Weile aus dem Bett zu kommen. Ich ziehe einen Stuhl ans Fenster damit ich nach unten sehen kann.

Ein Lastwagen steht in der Auffahrt. Stimmen ertönen. Anitamamas und eine andere.

Die andere geht zum Lastwagen und eine weitere öffnet hinten die Klappe. Sie haben Gurte um den Bauch.

Als ich sehe was sie tragen mache ich mir ein bisschen in die Hose. Dabei bin ich sonst stubenrein.

Die Welt ist ins Haus gekommen. Zum zweiten Mal in kurzer Zeit fühle ich was das Wort Glück vielleicht bedeutet. Eine Art Stillstand.

Susanna muss da sein. Ich spüre dass sie noch in der Nähe ist. Weine nicht kleine Speckrobbe. Komm lass dich mal drücken sage ich und lege die Arme um mich.

Stimme ruft meinen Namen.

Stimme klingt glücklich.

Ich renne auf ihre Arme zu.

Igitt sagt sie als ich ihr zu nahe komme. Du stinkst ja. Das war doch wohl nicht nötig. Sie holt neue Anziehsachen. Die Pisseklamotten hält sie an einem Zipfel. Ich bekomme eine Nuckelflasche und lausche dem Gerumpel der Männer mit den Seilen um den Bauch.

Weiter nach links sagt Anitamama. Oder nein eigentlich soll es wohl besser an der anderen Wand stehen.

Entscheiden Sie sich doch mal.

Ich nuckle an der Flasche solange ich darf.

Vielleicht kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten sagt sie. Wenn Sie machen was ich sage und das Klavier umstellen. Es passt besser dorthin. Nehmen Sie Zucker oder Milch.

Eine Stunde später sitzen sie in der Küche und legen ihre Hände um Tassen mit Henkeln. Anitamama hat sie von Papa zum Geburtstag bekommen. Herzlichen Glückwunsch zum Einundzwanzigsten hat er gesagt. Anscheinend ist sie doch ziemlich alt.

Wie heißt denn das kleine Herzchen sagt der eine Klaviermann und zaust mir durch das Zigeunerhaar. Anitamama hat es nicht mehr geschafft es wie sonst zu flechten.

Er hat liebe Augen. Vielleicht hat er auch eine liebe Frau.

Ihr dürft mich gerne kaufen denke ich bereue es dann aber. Hier könnte ich verhungern. Aber jetzt gibt es ein Klavier.

Als ich nicht antworte verliert er das Interesse.

Geh ruhig spielen sagt Anitamama und ich krabble vom Stuhl herunter und hinaus ins Wohnzimmer. Das Klavier steht auf seinem Platz und der Hocker auch. Ich muss mit dem Deckel kämpfen.

In der letzten Zeit hat Anitamama wieder und wieder dieselbe Platte gespielt bis ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ich höre die Melodie in mir. Weiß wo ich treffen muss. Ich lege die Hände auf das Schwarzweiße und schließe die Augen. Lasse die Finger machen was sie wollen. Doch sie können sich nicht genug strecken. Es wird holperig. Nicht ganz so weich und irgendetwas anderes fehlt auch. Etwas Unbekanntes das ich nicht erreiche.

Als der letzte Ton verklungen ist öffne ich die Augen.

Die Klavierträger und Anitamama stehen direkt hinter mir.

Sie legt mir die Hand auf die Schulter. Ihre Nägel kratzen an meinem Schlüsselbein.

Ganz unglaublich sagt der eine. Sowas hat man noch nie gehört.

Sie ist ein Wunderkind sagt Anitamama.

Irgendetwas liegt in ihrer Stimme.

Ich habe Hunger sage ich.

Die Klaviermänner brechen auf.

Komm sagt sie. Wir gehen in die Küche.

Sie hebt mich auf einen Stuhl und schiebt ihn an den Tisch. Setzt sich gegenüber.

Du bekommst bald etwas zu essen sagt sie. Aber erst müssen wir reden. Du verstehst zwar nicht alles aber das ist egal. Wenn du eines Tages mehr Wörter gelernt hast wirst du dich daran erinnern was ich gesagt habe.

Dann steht sie auf. Geht zum Kühlschrank und nimmt eine Flasche. Dreht den Korken heraus und füllt ein Trinkglas bis zum Rand. Leert es in einem Zug und gießt sich ein weiteres ein.

Ich habe auch Durst sage ich.

Sie schenkt mir etwas aus derselben Flasche ein. Trägt unsere Gläser zum Tisch und setzt sich.

Ich nehme einen Schluck und noch ein paar mehr. Die Blasen kribbeln im Mund. Es ist als würden meine Arme ganz weich. Anitamama sieht jetzt auch weicher aus. Sie lächelt sogar.

Du warst nicht geplant sagt sie. Ich wollte dich nie haben. Wir hatten ein bisschen Spaß. Dann kam es wie es kommen musste. Wobei Spaß eigentlich nicht mal stimmt.

Sie verliert den Faden und denkt nach.

Genau wie sie sagt verstehe ich nicht alles. Wie es einen erst nicht gibt und dann gibt.

Ich stehe im Flur erzählt sie. Ein Brief ist gekommen. Ich öffne ihn. Ich wurde am Konservatorium in Mailand angenommen. Es ist der glücklichste Tag meines Lebens.

Ich stehe im Flur sagt sie. Ein Brief ist gekommen. Ich öffne ihn. Schwangerschaftstest positiv steht da. Es ist der traurigste Tag meines Lebens.

Eine Fliege läuft über den Tisch. Sie setzt sich beinahe auf meine Hand ehe ich sie fange. Ich schlucke sie als Anitamama wegsieht.

Alles stand mir offen sagt sie und dreht wieder eine Runde zum Kühlschrank. Genau wie du wurde ich früh entdeckt. Mit sieben habe ich das Solo in der Kirche gesungen. Ein paar Jahre später durfte ich eine Platte mit Gesang und Klavier aufnehmen.

Sie drückt ihre Zigarette auf einem Teller aus und steckt sich eine neue an.

Mama sage ich versuchshalber und glaube erst dass es funktioniert.

Mama sagt sie. Du hast Mama gesagt.

Mama sage ich erneut zu dem Rücken der eine neue Flasche öffnet. Sie schenkt sich einen Schluck ein. Trinkt ihn aus und füllt das Glas wieder.

Man kann dich nicht mit mir vergleichen sagt sie. Ich war ein Multitalent. Du scheinst das Talent zum Nachahmen zu haben.

Sie sieht mich an. Ich wollte dich wegmachen lassen aber Hans hat Nein gesagt.

Anscheinend hieß er Hans.

Mit anderen Worten bist du daran schuld dass ich alles verpasst habe.

Als ich dir das Leben schenkte hast du mir meins genommen.

Die Wörter kommen und gehen. Sie wirkt nicht besonders wütend. Trotzdem macht mir die Stimme Angst. Und die Augen. Ich sehe weg.

Klappe meine Ohren zu. Verzichte darauf Wörter im Mund zu wälzen oder in mir nachklingen zu lassen.

Sieh mich an und hör mir zu. Sie schlägt mit der Faust auf den Tisch. Du glaubst vielleicht ich hätte das Klavier für dich gekauft aber du täuschst dich. Ich verstehe dass du ein Wunderkind bist. Aber für zwei davon ist kein Platz.

Dann sagt sie das Schlimmste was man sich vorstellen kann.

Wenn ich dich je wieder spielen höre. Dann wirst auch du bereuen geboren zu sein.

Auch ich.

Hat die Speckrobbe das verstanden fragt sie.

Sechs

Jeden Tag höre ich sie spielen. Stunde für Stunde. Ab dem Moment wenn sie aufwacht bis sie wieder ins Bett geht.

Anfangs spiele ich auch. Mit den Fingern auf den Beinen. Aber sie verspielt sich oft und ermüdet mich.

Es ist als hätte ich alles schon gehört. Als wäre die Musik bereits vor meiner Geburt in mir gewesen. Ich begreife dass man auf irgendeine Weise entsteht. So wie man auf eine andere Weise wieder zunichtegemacht werden kann. Deshalb gehört die Musik jetzt nur ihr. Sie sieht glücklich aus. Ihre Wangen erröten. Ihre Bluse hat Flecken unter den Armen.

Sie vergisst mich mehr und mehr. Wenn ich in der Nähe sitze tritt sie mir manchmal im Vorübergehen gegen das Bein. Deshalb halte ich mich lieber fern.

Stattdessen verbringe ich die Tage mit dem Sammeln von Fliegen und anderen Proteinen. Solange Musik zu hören ist kann ich ungestört suchen. Das richtige Essen steht zu hoch. Der Komposteimer ist in Reichweite. Ich nage an Obstschalen und sauge an Teebeuteln.

Sie isst wenn ich schlafe. Öffnet Konserven und spült sie sorgfältig aus. Eines Tages übersieht sie eine zwischen dem Kühlschrank und der Speisekammer klemmende Käserinde. Ich teile sie in drei Teile. Dann kann ich mich doch nicht zurückhalten und esse alle auf einmal.

Die Musik in mir ist stumm. Ich höre nur den Käse die Melone und die Tomaten. Das Hackfleisch die Bohnen die Eier und die Speckschwarte.

Ich prüfe die Haustürklinke. Sie ist nicht abgeschlossen. Das Klavier dröhnt. Und da hat sie sich wieder verspielt. Ich ziehe mich so schnell wie möglich an.

Wenn wir zum Tabakladen gehen merke ich mir die Straßen. Ich habe noch nicht genau verstanden wie aus Strichen das entsteht was man sagen kann. Aber wenn ich die Wörter als Bilder sehe erinnere ich mich daran.

Der Weg zu Oma ist fast derselbe. Nach dem Kiosk geht es schräg durch den Park und dann ist man da.

Unser Haus liegt hoch über anderen Häusern. Wenn ich nach unten gehe schaffe ich es vielleicht nicht wieder hoch. Ich denke an Susanna und gehe los. Wie ich mir dachte finde ich zu Oma. Werde zusammen mit einer Katze hereingelassen. Wir fahren mit dem Aufzug und steigen im selben Stock aus.

Hier bin ich sage ich als Opa die Tür aufmacht und mich erst nicht sieht. Jetzt suchen seine Augen nach Anitamama.

Darf ich reinkommen frage ich.

Nein sagt er. Ab nach Hause mit dir. Kleine Kinder sollten nicht allein draußen herumrennen.

Ich will gerade kehrtmachen als ich den Duft wahrnehme.

Ich möchte mit Susanna sprechen sage ich und stelle einen Fuß in die Tür.

Sie ist nicht hier sagt er.

Anita und Opa ähneln sich. Nicht so wie Katzen sich ähneln. Eher wie Steine oder Autos.

Ich rufe so laut ich kann ihren Namen. Das hilft. Plötzlich steht sie da und scheint gerade erst aufgewacht. Richtig angezogen ist sie auch nicht. Ich strecke mich ihrem Bauch entgegen. Was in meinem eigenen Bauch wehtat verschwindet.

Agnes sagt sie. Was machst du hier allein.

Kannst du mich nach Hause bringen frage ich. Dann gehen wir. Ich greife ihre Hand mit meiner Hand. Sie ist warm. Sie hält mich auf den Beinen. Ich bin weit gelaufen. Sie hebt mich hoch. Den ganzen Hang hinauf bis zum Haus sitze ich auf ihrem Bauch. Er ist jetzt groß.

Ich möchte bei dir sein sage ich. Anitamama ist keine echte Mama. Sie spielt nur immerzu Klavier. Es klingt nicht gut und ich bekomme nichts zu essen.

Jetzt übertreibst du aber sagt sie und setzt mich ab um sich auszuruhen. Die letzten Meter laufe ich selbst. Von der Garageneinfahrt aus sehen wir Anitamama in der Tür.

Wir haben einen Spaziergang gemacht sagt Susanna. Wir wollten dich nicht stören. Damit du in Ruhe spielen kannst.

Ach wirklich sagt sie. Das ist eine Anmaßung. Andere würden es Kidnapping nennen. Ich wollte gerade die Polizei rufen.

Dürfen wir reinkommen fragt Susanna mit einer Stimme mit der Anitamama nicht umgehen kann. Sie schiebt die Tür auf. Ich atme.

Hast du vielleicht einen Schluck Kaffee übrig sagt Susanna. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Ich habe mich gefragt wie es euch geht.

Ohne den Kopf zu bewegen sieht sie sich um. Ich sehe mit denselben Augen. Die Mülltüten. Die Flaschen. Der Staub. Die Klamotten. Die Schallplatten. Die Spüle.

Du musst uns entschuldigen. Die Speckrobbe und ich hatten gestern ein kleines Fest sagt Anitamama und kneift in das was einmal Speck war. Oder Agnes. Wir hatten doch Spaß. Haben gekocht und Torte gebacken.

Ich hüte mich vor Worten.

Dann habt ihr vielleicht noch ein Stück Torte übrig fragt Susanna.

Leider ist sie schon alle. Agnes kann unendliche Mengen essen.

Ein Butterbrot würde mir auch reichen sagt Susanna und zieht ihren Mantel aus.

Sehe nur ich wie Anitamama die Faust ballt ehe sie den Kühlschrank öffnet und Wurst und Käse herausholt. Ich halte mir die Hand vor den Mund damit das Wasser nicht herausläuft.

Als wir uns setzen. Als ich das Butterbrot entgegennehme das Susanna mir reicht. Als ich den ersten Bissen nehme. Die Tränen tropfen auf den Schinken. Ich schiebe das Brot so weit wie möglich in den Mund. Versuche zu schlucken. Der Hals will nicht schlucken er will weinen.

Aber Agnes sagt Anitamama und nimmt mir das Butterbrot weg. Was für eine Sauerei.

Ist schon gut sagt Susanna. Du brauchst nicht zu weinen. Wir schmieren dir ein neues Brot.

Nicht nötig sagt Anitamama. Sie hat erst vor kurzem gegessen und bald gibt es Mittag.

Ich habe nicht die Kraft zu widersprechen.

Vielleicht brauchst du einen Mittagsschlaf sagt Susanna. Ich kann dich in dein Zimmer bringen.

Darf es noch ein Kaffee sein fragt Anitamama und der Mittagsschlaf gerät in Vergessenheit. Sie deutet mit dem Kopf auf Susannas Bauch und fragt wann es so weit ist.

Dauert noch eine Weile antwortet sie.

Ich wusste gar nicht dass du einen Begleiter hast.

Doch antwortet sie. Aber es kam ein bisschen plötzlich.

So machen sie das immer sagt Anitamama und sieht mich an. Sie sieht mich so an wie den Müllbeutel. Als würde sie überlegen ob sie mich wegwerfen soll.

Susanna bedankt sich und geht.

Jetzt sind nur wir beide übrig. Bevor der Putzlappen alle Essensspuren vernichtet erhasche ich ein paar Krümel. Ich verstecke sie in meiner Hand bis sie sich umdreht. Sie schmecken sogar noch ein bisschen nach Schinken.

Papa ist weiterhin weg. Ich warte darauf dass die Tür aufgeht. Er hat mich schon früher gerettet. Er würde verstehen wie es uns geht.

Stattdessen kommt Oma zu Besuch. Ich bleibe still. Ich kann nicht anders.

Was für ein ruhiges Kind sagt Oma und streicht mir über das Zigeunerhaar.

Wie geht es dir meine Kleine sagt sie. Du hast ja mit einem Jahr mehr gesprochen.

Weißt du noch wie sie Hosianna Davids Sohn gesagt hat. Das muss doch schon mehrere Jahre her sein. Jetzt klingt es mehr wie Dada und Gaga.

Du weißt doch wie das mit den Kindern ist sagt Anitamama. Mit der Entwicklung geht es vor und zurück. Momentan kann sie gut stillsitzen. Morgen kann sie vielleicht schon ein Rad schlagen.

Ich finde sie mager und blass sagt Oma und kramt eine Tüte mit Milchbrötchen aus der Tasche.

Anitamama schnappt sie sich. Nur ich sehe ihren Blick. Den Triumph ein Wunderkind zu besiegen.

Ich will nicht. Versuche mich zusammenzureißen. Aber jetzt geht es nicht mehr. Ich bin zu hungrig. Die Brötchen sind rund und noch warm im beschlagenen Plastikbeutel. Es passiert wieder. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Mein Hals geht gleich kaputt. Ich strecke mich nach der Tüte. Halte mich an ihrer Strumpfhose fest um zu den Brötchen hochzuklettern. Ritsch ratsch.

Klatsch.

Oma reißt mich von Anitamamas Bein weg. Klatsch. Klatsch. Sie beugt sich über mich und packt mich grob an den Armen.

Pfui Agnes schimpft sie. Wenn man etwas haben will sagt man höflich bitte.

Aber die Wörter. Bis auf Dada und Gaga. Die aus meinem Mund sprangen als ich ein glückliches Kind war sind weg. Irgendwo tief unten gibt es sie noch. Vielleicht da wo auch ich war bevor ich auf die Unwelt kam. Ich kann nicht mal laufen. Unaufgefordert robbe ich die Treppe zum Zimmer über dem Flur hinauf. Vierundzwanzig Stufen. Auf der dreiundzwanzigsten geht mir die Kraft aus.

Ich höre einen Schlüssel im Türschloss und lasse los.

Als ich aufwache bin ich ein normales Kind. Kein Wunderkind.

Sieben

Als ich ungefähr fünf bin kommt Anitamama zurück.

Papa und ich hatten es glaube ich gut. Das Klavier befindet sich noch an derselben Wand. Der Deckel ist heruntergeklappt. Auf dem Klavier stehen verschiedene Sachen. Ein paar Vasen. Eine Puppe mit Schlafaugen. Kerzenständer mit nicht entzündeten Kerzen. Der Hocker wurde neu bezogen.

Papa ist ein ordnungsliebender Mensch. Kindermädchen kommen und gehen mit mir in den Park. Ab und zu taucht Papas Kusine Isa auf. Staubsaugt eine Runde. Serviert mir Hagebuttensuppe mit Mandelkeksen. Dreht das Radio lauter wenn eine bestimmte Musik läuft und fordert mich zum Tanz auf.

Als ich kleiner war stand ich auf Isakusines Füßen. Jetzt machen meine eigenen Füße was ich will.

Wackel mit den Hüften Agnes ruft sie. Wie Balu.

Anschließend sitzen wir auf dem Sofa und trinken Kakao mit Schlagsahne. Sahne bekommt man höchstens samstags. Heute ist Dienstag.

Sie legt den Arm um mich.

Wir wurden zusammengeschweißt.

Ich stecke meine Hand in ihre Hand.

Sie ist so feucht wie meine.

Ich möchte dir etwas erzählen sagt sie. Dein Vater hätte das schon lange tun sollen aber er. Sie rückt an ein Kissen heran. Knöpft ihre Hose auf und gibt dem guten Essen die Schuld. Ich rücke näher an sie heran. Knöpfe meine Hose auf und gebe dem guten Essen die Schuld.

Erinnerst du dich an deine Mutter fragt sie.

Nein sage ich.

Bist du sicher.

Ja.

Eine Mutter ist etwas Besonderes.

Das glaube ich auch. Aber ich erinnere mich nicht.

Hat Karl-Henrik nichts erklärt fragt sie.

Worüber frage ich.

Deine Mutter sagt sie.

Wir schweigen eine Weile und knöpfen unsere Hosen wieder zu.

Ich erinnere mich an eine Ratte sage ich.

Eine Ratte.

Ja. Sie hat in der Ecke gewohnt wo ich meine Matratze hatte.

Du hattest ein eigenes Bett sagt sie.

Das war vor dem Bett. Ratte hat in der Ecke gewohnt. Wir haben uns Brotkrümel geteilt. Ich vermisse sie. Und hör auf mein Zigeunerhaar zu verwuscheln.

Zigeunerhaar sagt Isakusine. Wer hat dir solche Wörter beigebracht.

Sie antworte ich.

Anita fragt sie.

Wenn sie so heißt. Ja.

Wie auch immer sagt Isa. Deine Mutter war sehr krank aber jetzt ist sie wieder gesund.

Karl-Henrik hat sie mehrmals besucht. Sie hat in einem Erholungsheim gewohnt wenn du weißt was das ist.

Nein sage ich.

Eine Klinik in der man isst und sich ausruht.

Sie muss sehr müde gewesen sein sage ich.

Karl-Henrik und Anita haben eine Überraschung für dich.

Aha sage ich was denn.

Statt mir zu antworten kitzelt sie mich am Hals da wo es am meisten kitzelt und ich vergesse meine Frage wieder.

Anitamama kehrt am Luciafest zurück und irgendetwas ist mit ihrem Haar.

Papa und ich stehen im Flur bereit.

Er ist glücklich das sehe ich.

Sie ist glücklich das sehe ich.

Ich bin glücklich das bin ich. Trotzdem muss ich mich sofort übergeben als sie mir die Arme entgegenstreckt.

Eine weggewischte Ladung Kotze später sitzen wir am Esstisch. Normalerweise essen wir in der Küche. Heute hat Papa mit Blumen und Servietten im Esszimmer gedeckt.

Papa sieht sie so an wie ich den Sternenhimmel ansehe.

Isa hat mir beigebracht Servietten zu falten sage ich.

Nach dem Essen nimmt Papa ihre Hand und sieht mich an.

Jetzt fällt mir wieder ein dass sie eine Überraschung haben.

Du wirst große Schwester sagt er.

Habt ihr euch ein Kind gekauft frage ich und sie lachen unnötig.

Im Frühling wirst du große Schwester sagt Anitamama. Dann bekommst du einen Spielkameraden.

Den habe ich schon sage ich.

Sie löst ihre Hand aus Papas Hand und legt sie stattdessen auf meine. Ich versuche sie wegzuziehen aber sie packt erneut zu.

Ich weiß dass es schwer ist sagt sie und Entschuldigung.

Es war bestimmt nicht leicht für dich deine Mutter zu verlieren als du noch so klein warst. Ich war krank. Ich konnte nichts dafür. Manchmal machen Krankheiten sowas mit Menschen.

Papa und Isa haben mir gereicht sage ich frage aber trotzdem was für eine Krankheit sie hatte. Ausschlag oder Fieber oder beides.

Sie lachen erneut. Unsere Hände schwitzen. Beides und noch ein bisschen was anderes.

Ich versuche mich an ein Wort zu erinnern. Ein langes kompliziertes Wort das nicht herauswill.

Mama war sehr traurig sagt sie und ich frage mich wer ihre Mama ist.

Papa steht auf und räumt die Teller ab doch sie bleibt sitzen.

Erinnerst du dich wie wir immer zusammen Klavier gespielt haben sagt sie. Du warst so süß. Hast neben mir gesessen und ein bisschen mit dem Zeigefinger herumgeklimpert.

Dein Haar ist noch dicker geworden sagt sie und nimmt meinen Zopf in die Hand.

Diesmal wird alles anders sagt sie. So anders.

Acht

Ein Teil von Anitamamas Sachen hatte im Keller gestanden. Sie trägt einen Karton nach dem anderen hinauf. Räumt die Sachen nacheinander auf den Küchentisch. Schuhe für verschiedene Jahreszeiten. Kleider und Jacken. Das Meiste landet wieder in den Kartons. Anfangs versucht sie mit mir zu reden wird es aber bald leid als ich nichts zu antworten weiß. Jetzt redet sie stattdessen mit ihren Klamotten.

Stimmt ja sagt sie. Dich habe ich im NK gekauft. Du stinkst ein bisschen. Du kommst in die Altkleidersammlung.

Und ihr sagt sie zu einem Paar Stiefeln mit Fellrand. Wenn ich mich richtig erinnere wart ihr bequem. Doch dann entscheidet sie sich um und lässt sie in den Karton fallen.

Eine Kiste enthält Verschiedenes. Ein Tonbandgerät. Eine Tüte mit verschiedenen Nagellacken. Kassetten Bücher und ein samtbezogenes Kästchen.

Hier sagt sie und schiebt es zu mir herüber. Mach auf.