Wundersuche - Thomas Bruckner - E-Book

Wundersuche E-Book

Thomas Bruckner

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Beschreibung

Auf der Suche nach Heilung begibt sich der Reporter Thomas Bruckner auf den Weg durch den Dschungel der Alternativmedizin – als fragender, zweifelnder Beobachter. Unglaubliche, fantastische Erfahrungen macht Thomas Bruckner, nachdem ihm ein Hirntumor diagnostiziert wird: Obwohl die Schulmedizin empfiehlt, sofort operieren zu lassen, sucht er nach Alternativen. Er begegnet einer Vielzahl von Menschen, die behaupten, außergewöhnliche Fähigkeiten in sich zu tragen. Mit wachem Auge und journalistischem Gespür begibt er sich auf die Spuren der selbsternannten Heiler: Vom bodenständigen Heiler in seinem Nachbarort über Voodoo-Priester in Togo, von Wunderheilern auf den Philippinen, Schamanen in Bulgarien, Teufelsaustreibern in Ghana bis hin zum weltweit bekanntesten Medium, João de Deus in Brasilien, der später als Sexualstraftäter verurteilt wurde, führen ihn seine Reisen. In Thomas Bruckners lebendigen Reportagen tun sich gleichermaßen fesselnde wie irritierende Welten auf.

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Seitenzahl: 346

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Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, WienDruck und Verarbeitung:Christian Theiss GmbH, St. Stefan im LavanttalISBN 978-3-7117-2067-2eISBN 978-3-7117-5386-1

Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Thomas Bruckner, 1971 in St. Pölten geboren, ist ausgebildeter Sozialpädagoge. Er beginnt nach seiner Karriere als Snowboardprofi mit dem Testen neuester, kurioser Sportgeräte, um diese in Medien vorzustellen. Er publiziert daraufhin regelmäßig in zahlreichen Tageszeitungen und Magazinen. Über Jahre hinweg berichtet er monatlich Über seine Abenteuer in der Serie »Bruckner entdeckt die Welt« in österreichs Kultmagazin »Wiener«. Einige seiner Reportagen wurden auch in internationalen Medien wie »Al Jazeera«, »Stern« und »Playboy« veröffentlicht. Thomas Bruckner lebt in Wien und Herzogenburg und befindet sich mehrere Monate im Jahr auf Reisen.

THOMAS BRUCKNER

WUNDERSUCHE

VON HEILERN, GEBLENDETENUND SCHARLATANEN

PICUS VERLAG WIEN

INHALT

Vorwort

João de Deus

Whatever happens, happens for a good reason

Der Kartoffelbauer und sein sechster Sinn

Der göttliche Clown und seine Gefährtin

Philippinische Wunderheiler und Handarbeiter

Nachwirkungen der philippinischen Wunderheiler und erste Kontrolluntersuchung

Der erleuchtete Schamane

Der Pendler aus der Wohnbausiedlung

Tohuwabohu

João de Deus II

Nachwirkungen der Behandlungen bei João de Deus

Bodyscan und Röntgenblick

Die Handauflegerin

Katzenblut und Voodoo-Zauber

João de Deus III

Untersuchungsstress und Wunderbeweise

VORWORT

Die Behauptung, meine Tumordiagnose sei ein Geschenk des Himmels gewesen, wäre eine glatte Lüge. Die Entscheidung allerdings, deswegen alternative Heiler aufzusuchen, erwies sich als goldrichtig. Nie zuvor in meinem Leben konnte ich auch nur annähernd ebenso außergewöhnliche und intensive Erfahrungen machen wie in jenen zwei Jahren, in denen ich mich auf die Suche nach Menschen begab, denen unerklärbare heilende Kräfte nachgesagt werden.

Niemals hätte ich mich ohne Notsituation Phänomenen ausgesetzt, deren Existenz ich im Vorfeld schlicht und einfach als Hirngespinste realitätsferner Träumer abgetan hätte. Niemals hätte ich mich von philippinischen Wunderheilern, an deren Händen noch Blut von vorigen Operationen klebte, operieren lassen, niemals mich für einige Zeit in eine sektenhaft anmutende Gemeinschaft integriert, um Heilung von deren mit Geistern kommunizierendem Führer zu erhoffen, niemals Voodoo-Priester und Voodoo-Könige in Afrika aufgesucht und in Erwägung gezogen, für meine Gesundung Hühner, Hunde und Katzen zu opfern, niemals einen brasilianischen Geistheiler, nachdem er mir mittels lediglich angedeuteten Wischers über meine Stirn über Tage hinweg eine völlig neue Sinneswahrnehmung schenkte, ein weiteres Mal aufgesucht, niemals den Weg zu Aura- und Hellsichtigen, Pendlern, Kartenlegern und sonstigen Menschen, denen außergewöhnliche, unerklärliche Fähigkeiten nachgesagt wurden, gefunden. Niemals hätte ich den Willen, die Ausdauer und auch Courage besessen, mich auf diese befremdliche Welt ohne klare Konturen einzulassen.

Auf vier Kontinente führte mich meine Suche nach Heilung. Zig Menschen, denen allesamt außergewöhnliche heilende Fähigkeiten nachgesagt werden, begegnete ich dabei, und aufgrund meiner gesundheitlichen Ausnahmesituation ließ ich mich tiefer auf sie ein, als mir das als Gesunder je möglich gewesen wäre. Mit Respekt, Offenheit und der mir maximal möglichen Unvoreingenommenheit ließ ich die jeweiligen Heilungsmaßnahmen und Behandlungsmethoden über mich ergehen, doch neben Patient blieb ich immer auch nüchterner Beobachter, nie wollte ich meine Sinne durch blinden Glauben trüben lassen, nie den leichtgläubigen Chronisten mimen. Oft war daraufhin Mystisches schon nach kurzer Zeit entzaubert. Oft, aber nicht immer. Denn so manches blieb verwunderlich und mit rationalen Zugängen nur bedingt erklärbar. Einiges blieb, ich muss es eingestehen, unbegreiflich. Somit ist ein Buch entstanden, das mehr als bloß Produkt eines Aufdeckerjournalisten ist und mehr auch als die Niederschrift eines unkritischen, auf Gesundheit hoffenden Realitätsverweigerers. Vielmehr handelt es sich um Aufzeichnungen eines Menschen, der sich aus einer Notsituation heraus mit Herz und Hirn gleichermaßen an die Grenzen des Erklärbaren heranwagte, um neue Erkenntnisse und Gesundheit zu erlangen. Ob und wieweit dies gelungen ist, davon erzählt dieses Buch.

JOÃO DE DEUS

Abadiânia, Brasilien

Um mein Vorhaben, alternative Heiler aufzusuchen anstatt mich operieren zu lassen, nachvollziehen zu können, muss ich auf ein Erlebnis zurückgreifen, das Jahre zurückliegt, in eine Zeit, als die Sonne für mich noch vom leuchtend blauen Himmel strahlte und sämtliche Herausforderungen meines Lebens flauschigen weißen Wattewolken glichen und nicht dunklen, bedrohlichen Gewitterwolken, wie nach dieser Tumordiagnose. Damals bat mich ein Freund, der an einer unheilbaren Krankheit litt, ihn zum mächtigsten Heiler der Welt, zu João Teixeira de Faria nach Brasilien, zu begleiten. Zwar hatte ich zu dieser Zeit noch keinerlei Erfahrung mit Themen wie diesen, aber ich war interessiert, und nachdem ich mich ein wenig mit João und seinem Wirken auseinandergesetzt hatte, konnte ich kaum glauben, dass jemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, diese Theorien ernst nehmen könnte. Aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb spielte ich auch gleich mit dem Gedanken, ein Buch über diesen außergewöhnlichen Menschen zu schreiben, ein kritisches Buch, eines mit Besinnung auf den Hausverstand. Denn so etwas fand ich nirgends.

João Teixeira de Faria wird von seinen Anhängern João de Deus genannt, ins Englische übersetzt heißt das nicht weniger als John of God, Johann von Gott also. Der Mann aus Brasilien gehört zweifellos zu den großen Mysterien der Menschheit. So behandelt er nicht etwa drei, sieben oder dreißig Personen an einem einzigen Tag, sondern bis zu tausend Menschen. Tausend Menschen. Pro Patient nimmt er sich dabei oft nur Bruchteile einer Sekunde Zeit. Er begibt sich dabei in eine Art Trancezustand und überlässt sowohl seinen Körper als auch sein Bewusstsein Geistern von bereits Verstorbenen. Sein Erscheinungsbild verändert sich durch die Besitznahme der fremden Geister oft dramatisch. Mal tritt er rau und bestimmt auf, dann wieder dominieren gutmütige Gesichtszüge sein Antlitz, voller Fürsorglichkeit, manchmal ist er auch dermaßen gebrechlich, dass er gestützt werden muss. Er wirkt dann, als ob er selbst Hilfe bräuchte und nicht wie ein Mensch, der anderen Menschen helfen könnte.

Aber das sind bloß nichtssagende Äußerlichkeiten, denn unabhängig von seinem Erscheinungsbild stecken seltsame Kräfte in seinem Körper, sobald die Geistwesen Besitz von ihm ergriffen haben. Insider erkennen allein an Joãos Wesensveränderung, welcher verstorbene Geist gerade in ihm wohnt. König Salomon oder Dr. Augusto de Almeida, um nur zwei zu nennen. Insgesamt wirken über dreißig verschiedene Wesenheiten durch John of God, allesamt waren sie außergewöhnliche Menschen in ihrer letzten Inkarnation in der physischen Welt. Dr. Oswaldo Cruz zum Beispiel war zu Lebzeiten für die Ausrottung des Gelbfiebers in Brasilien verantwortlich und wirkte an einer Vielzahl von wissenschaftlichen medizinischen Experimenten mit. Angeblich war er ein Mensch mit hoher Selbstdisziplin. Wenn er heute mit João verbunden ist, kommt es nicht selten vor, dass er undisziplinierte Besucher mit Strenge maßregelt.

Nun könnte man all das als Hirngespinste eines Sonderlings abtun, und jeder vernünftige Mensch wird das wahrscheinlich auch reflexartig tun. Denn den Verdacht, dass da bei John of God etwas Pathologisches mit im Spiel sein könnte, kann man niemandem verdenken, und selbst Menschen mit lediglich laienhaftem medizinischem Wissen kommt wohl nur allzu leicht das Krankheitsbild multiple Persönlichkeitsstörung in den Sinn. Menschen dieses Schlages haben abwechselnde Vorstellungen von sich selbst. Sie ändern ihre Identitäten, sind einmal Lehrer, dann wieder Mechaniker, Polizist oder Hure. Und je nachdem benehmen, fühlen oder denken sie auch, je nach angenommener Identität, teils völlig unterschiedlich. Im Filmklassiker »Das geheime Fenster« mimt Johnny Depp eine derartige Person. Depp killt darin sein gesamtes nahes Umfeld, ist sich dessen aber nicht bewusst, sondern fürchtet sich selbst vor dem mysteriösen Mörder. Er weiß bis zuletzt nicht, dass er selbst der Mörder ist. Und tatsächlich können sich auch im echten Leben Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung oft nur schemenhaft oder eben gar nicht an das Handeln der jeweils anderen, ihnen innewohnenden Persönlichkeiten erinnern.

Allesamt Symptome, die durchwegs auch João de Deus nachgesagt werden. Auch er jongliert mit verschiedenen Wesen herum, die angeblich seinen Körper besetzen. Auch er kann sich, nachdem er wieder er selbst ist, an nichts erinnern, befindet sich in einer Art Schlummerschlaf und weiß nicht, was er in dieser Zeit getan hat. Handelt es sich also auch bei João bloß um einen Menschen mit massiven psychischen Auffälligkeiten?

Verlockend wäre dieser Ansatz. Weil diese Erklärung nicht nur die naheliegendste und logischste sondern zweifelsohne auch die angenehmste Antwort wäre. Wunderbar ließe sie sich in unser Denken integrieren, ließe sich einfügen in unser herkömmliches Weltbild wie ein Puzzleteil, das dem finalen Bild letztlich mehr Ordnung schenkt. Aber John of Gods Wirken wirkt wie ein Puzzleteil, das nirgendwo hineinpasst, es sprengt herkömmliche Vorstellungen über unsere Welt.

Nicht wegen der Tausenden Menschen, die mittlerweile seit Jahrzehnten wöchentlich zu ihm pilgern und um Hilfe bitten, nicht wegen der mittlerweile Millionen Patienten, von denen er vielen helfen konnte. Und auch nicht wegen der angeblichen sekundenschnellen, meditativen Heilungen. All das ist verwunderlich, aber keineswegs als ernsthafter Angriff auf die Parameter unseres weltlichen Selbstverständnisses zu werten. Massen können sich täuschen, Menschen können sich schier Unglaubliches einreden, und selbst die außergewöhnlichste Heilung versetzt heutzutage keinen Arzt mehr ins Staunen, auch weil die Wirkkraft des Placeboeffekts und der menschlichen Selbstheilungskräfte längst erwiesen ist und in Zweifelsfällen immerzu als mögliche Erklärung bereitsteht. Nein, all das ist es nicht. Es sind jene sichtbaren Operationen, die John of God dreimal in der Woche, in Brasilien in dem kleinen Örtchen Abadiânia, vor Hunderten Zeugen durchführt, die wirken wie nicht von dieser Welt.

Mit einem Skalpell schneidet er bei diesen Operationen tief ins Fleisch der Patienten und reißt mittels sonderbaren Haken gallertartige Geschwülste aus den Wunden, er schabt mittels Küchenmesser am Auge des Hilfesuchenden herum, oder, und das repräsentiert die vielleicht sonderbarste Darbietung, er rammt die Klingen einer Schere so weit in die Nasenlöcher der Patienten, bis nur noch die Griffe sichtbar sind, und dreht die Schere danach wie einen Kreisel mehrmals um sich selbst, bevor er sie wieder aus den Nasenlöchern des Betroffenen zieht. Blut tropft dann zumeist aus den Nasen der Behandelten, die seltsam verstört wirken. Aber angeblich sind all diese Behandlungen absolut schmerzfrei, obwohl João de Deus ohne Narkose arbeitet. João de Deus wirkt während dieser Tätigkeiten eigenartig abwesend, Mimik und Gestik erscheinen auf das Wesentliche reduziert, sein Gesichtsausdruck gleicht jenem eines Sedierten, eines Menschen, dessen bewusste Wahrnehmung so stark gedämpft ist, dass er fremdgesteuert scheint.

Aber es wird noch mysteriöser. Während João operiert, kommt es vor, dass sein Blick nicht seinen Händen folgt, sondern auf andere Menschen oder Dinge gerichtet ist. João schabt dann zum Beispiel mit dem Skalpell die Pupille eines Patienten ab und blickt währenddessen die ganze Zeit zu seinem Assistenten, um ihm bereits detaillierte Anweisungen für den nächsten Patienten zu geben. Und hin und wieder operiert er mit verbundenen Augen, als Beweis quasi, dass nicht er operiert, sondern fremde Wesenheiten durch ihn wirken.

Man kann sich all das ansehen. Auf YouTube gibt es eine Vielzahl von Videos davon. »Videos?«, ruft der Kritiker, »auf Videos kann man alles türken.« Stimmt. Wer so denkt, ist mir Bruder im Geiste. Auch ich habe so gedacht. Das war vor sieben Jahren. Mit der Klarheit eines Bodenständigen, dessen Glaube lediglich in weltlichen und beweisbaren Errungenschaften wurzelte, flog ich nach Brasilien, um Antworten zu finden. Anfangs spiegelte das Erlebte meine Vorstellungen wider. Ein Haufen esoterisch angehauchter Menschen, deren Streben Erleuchtung und nicht Wissen galt und Unerklärliches höherhielt als sämtliche beweisbare Realitäten. Die ersten Tage in dem brasilianischen Dörfchen Abadiânia verstrichen zäh wie dickflüssige Lava kurz vor der Erstarrung. Täglich stellte ich mich in die Hunderte Menschen zählende Schlange, die sich durch sakrale Gebäude schlängelte, um mich nach Stunden des Wartens ein Sekündchen vor John of God zu wissen. Der saß mit eigenartiger Körperhaltung und wirrem Blick in einem hölzernen Stuhl und winkte mich jedes Mal durch, ohne sichtbar von mir Notiz zu nehmen. Sechsmal trottete ich an ihm vorbei, und es hätte wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht, wenn anstelle von John of God mein Nachbar, mein Hund oder ein bunt bemalter Hydrant mir gegenüber gestanden wäre. Nichts Außergewöhnliches war zu spüren. Keine besondere Schwingung, keine besondere innere Rührung und auch keine spirituelle Erleuchtung, kein mattes Fünkchen davon. Ich spürte nichts. Gar nichts. Ich erinnere mich, dass ich nach einer solchen endlosen Prozession an meinen Freund die Worte verlor, dass die Massen, die hier auf Hilfe hoffen, die sichtbare Bankrotterkärung jeglicher menschlichen Intelligenz symbolisierten.

Ich war verärgert über so viel blinden Glauben. Und die Anschauungen so mancher Besucher trieben mir Zornesfalten auf die Stirn. Beispiel gefällig? Anna aus Wien, eine etwa sechzigjährige Frau, gepflegtes Äußeres, modisch funkelnde Markenhandtasche auf ihrem Schoß. Was macht sie hier? Braucht sie Hilfe? Nein, wo denke ich hin. Anna war hier, um Energie zu tanken. Sie ist selbst Heilerin und spirituell wie auch menschlich längst am Ziel, längst erleuchtet und somit angekommen im Nirwana, im ewigen Paradies. Wie sie meinte, hat sie sich aus freien Stücken und nur aus Menschenliebe zu einer weiteren Inkarnation auf Mutter Erde entschieden. Die Gute opferte sich quasi bloß für die dumpfe Allgemeinheit, für uns Minderentwickelte. Und weil sie das tat, brauchte sie sich nicht mehr an allgemeingültige Regeln und Moralvorstellungen zu halten. Bei Warteschlangen stellte sie sich nicht hinten an, sondern ordnete sich an einem für sie passenden Platz ein, das Essen in der Selbstbedienung ließ sie sich von »Freunden« bringen, und sie konnte ihren Mund nicht halten, gefragt oder nicht versorgte sie jeden mit Ratschlägen. Und wo war der Aufschrei? Nirgends. Niemand stieß sich an ihr. Man ließ sie gewähren, und so manche Hilfsbedürftige folgten ihr wie willenlose Schafe.

»Wo Licht ist, gibt es Schatten«, begründete mein Reisebegleiter seine Toleranz und demonstrierte Wertfreiheit in Reinkultur, die mir in diesen Tagen allerdings irgendwie aufgesetzt erschien, weil das Bestreben, ein guter, wertfreier Mensch zu sein, in Abadiânia förmlich durch die Luft schwirrte und gleichgesetzt wurde mit »auf dem richtigen Weg sein«, auf dem Weg nämlich zur Heilung. Und natürlich war Heilung das, was die meisten Menschen hier erhofften, manche auch ganz offensichtlich dringendst benötigten. Die meisten hier waren krank. Und auch wenn die Augen der meisten seltsam hoffnungsvoll strahlten, stand manchen das Leid bereits ins Gesicht geschrieben oder hatte sich in ihre Körperhaltung gefressen.

Aber ich war damals noch ein durch und durch gesunder Mann mit Hang zum Desperado, und nach sechs belanglosen Begegnungen mit John of God beschloss ich, den größten Heiler auf unserer Erde auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Es war Montag, der 13. Oktober 2010, dreizehn Uhr dreißig, als ich mich das siebente Mal in die Menschenschlange einreihte und einen Zettel in Händen hielt, auf dem folgende Worte standen: »Ich glaube, Sie sind ein Scharlatan, und bitte um einen Beweis für Ihre überirdischen Kräfte.« Ich war nervös, diese Zeilen waren nicht weniger als ein direkter Angriff auf seine Integrität. Eine Kriegserklärung an alles, wofür er stand. Was, wenn er wirklich mit der Geisterwelt in Verbindung stand und mich bestrafte für meine Unverschämtheit, mich verwünschte oder besetzte?

Fragen, die ich mir im Vorfeld natürlich stellte, letztlich aber verwarf, denn jeder, der ehrlich ausschließt, dass ein Mensch mit verstorbenen Seelen kommunizieren kann, oder dass Geister durch geliehene Körper Wunder wirken können, der konnte so ein Vorgehen nur gutheißen und jegliches Zögern vor diesem Schritt wäre Indiz für Nichtüberwindung abergläubischen Gedankenguts. Ich war kein Hasenfuß. Nur noch drei Menschen vor mir. In wenigen Sekunden würde João mit ihnen fertig sein. Dann stand ich vor ihm. Ein Mann Mitte sechzig. Schwarzes Haar. Wuchtiger Körper. In seinem Stuhl lag er mehr, als er saß. Seine Augen waren halb geschlossen und derart verdreht, dass nur noch das Weiße sichtbar war. Den Kopf hielt er schief, seine wenigen Bewegungen wirkten unkoordiniert und fremdgesteuert. Ich legte meine rechte Hand in seine. Die Helferin las meine zuvor ins Portugiesische übersetzte Frage vor. »Ich glaube, Sie sind ein Scharlatan, und bitte um einen Beweis für Ihre überirdischen Kräfte.« Die Sekunden verstrichen in Zeitlupe, und ich registrierte, dass ich ein entschuldigendes Gesicht aufsetzte. John of God blieb regungslos. Er kritzelte etwas auf einen Zettel und übergab diesen der Helferin. Sie sagte mir, dass ich in der ersten Reihe, praktisch direkt vor John of God, Platz nehmen, meine Augen schließen und meditieren solle. Anschließend würde ich bei einer sichtbaren Operation assistieren, hieß es noch. Und da saß ich nun, erste Reihe fußfrei, und versuchte zu meditieren. Aber es gelang nicht. Also öffnete ich, entgegen der Anweisung, meine Augen und beobachtete das Treiben um mich. Wahrlich Sonderbares spielte sich da ab.

Außer mir schienen nahezu alle in andere Sphären abgedriftet zu sein. Gleich neben João wirbelte eine junge Brasilianerin ihre Arme wild in der Luft herum, fiel unvermittelt völlig in sich zusammen, um neuerlich ihre Arme in Richtung Himmel zu schleudern. Die ganze Zeit ging das so. Aufbäumen und in sich Zusammenfallen, wieder und wieder. Dazu seufzte und grunzte und stöhnte sie rhythmisch. Ein anderes Mädchen warf seinen Kopf von einer zur anderen Seite, immer im Halbkreis, unentwegt. Die meisten aber schlummerten dahin, schienen in einer Art Zwischenwelt.

Wie ich später erfahren sollte, handelte es sich bei vielen dieser Menschen auch um Medien, die allesamt das Wirken von John of God unterstützten, indem sie für einen hohen Energielevel in der Casa de Dom Inácio, wie die Kirche genannt wird, sorgten. Rund um João saßen deshalb Menschen mit besonders starken medialen Kräften. Meine Blicke klebten an ihnen. Die zwei Aufforderungen der Helfer, meine Augen geschlossen zu halten, um den Energiekreislauf nicht zu unterbrechen, schoss ich einfach in den Wind. Verstohlen beobachtete ich das Treiben. Und dann kam, was kommen musste.

John of God erhob sich von seinem Stuhl und wankte, sichtlich in Trance, auf mich zu. Ich drückte mich fest in die Kirchenbank, schloss noch schnell, wie ursprünglich verlangt, meine Augen, und als ich schon glaubte, noch einmal ungeschoren davongekommen zu sein und durch meine halb geöffneten Lider blinzelte, sah ich seine flache Hand auf meinen Kopf zukommen. Ein leichter Wischer über meine Stirn, bloß so im Vorbeigehen. »Und was soll das?«, wollte ich noch fragen. Ging aber nicht. Ging gar nicht. Mein Oberkörper klappte energielos zusammen, bis er flach auf den Oberschenkeln zu liegen kam, meine Arme baumelten reglos von meinen Schultern, mein Kopf hing über meinen Knien. Ich versuchte, mich wieder aufzurichten, aber ich schaffte es nicht.

Panik. Was war passiert? Mein Herz schlug bis zum Hals, auf meiner Stirn stand kalter Schweiß. Ich atmete schwer, fürchtete zu kollabieren, Angst in mir, Angst, Angst, Angst. Ich glaubte, verrückt zu werden. Litaneiähnliches Gemurmel setzte ein, wurde lauter und lauter, füllte bald den ganzen Saal. Hunderte Menschen beteten in portugiesischer Sprache. Für mich? Ich verstand kein Wort. Eigentlich verstand ich überhaupt nichts mehr. Wollte bloß schreien vor Angst, aber auch das gelang nicht. Also versuchte ich ruhig zu atmen und meine Gedanken zu ordnen. Ruhig Thomas, ruhig.

Ich konnte zählen. Ich konnte rechnen. Ich wusste, wo ich war. Ich wusste, wer ich war. Fakten memorieren, ja, das ging. Aber ich hatte keine Macht über meinen Körper mehr, kauerte auf meinen Knien in Demutshaltung. Keine Ahnung wie lange schon. Längst haderte ich mit meiner Frage und meinem Ungehorsam. Da verstummte das Beten. Ich hörte, wie die ersten Menschen den Saal verließen. Der Raum schien sich zu leeren. Niemand kümmerte sich um mich. Irgendwann spürte ich wieder Kraft in meinen Körper fließen. Langsam konnte ich den Kopf wieder heben, dann den Oberkörper aufrichten, aufrecht sitzen. Auf schwachen Beinen stakste ich hinaus aus dem Saal. Ich brauchte Frischluft, wollte weg von hier, wieder einen klaren Kopf bekommen. Eine Helferin kam auf mich zu und sagte mir, dass ich am nächsten Tag bei einer sichtbaren Operation helfen sollte. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

Draußen empfing mich mein Freund. »Was war los da drinnen?«, fragte er. Und während wir im Garten auf einer Parkbank saßen, und ich zu erklären versuchte, was passiert war, hielt ich jäh inne. Da war es wieder. Da kroch schon wieder etwas in mich, etwas, das stärker war als mein eigener Wille. Mein Freund blickte mich entgeistert an, woraufhin ich mich vor ihn hinkniete und mich mit gefalteten Händen für seine Freundschaft bedankte. Peinlich berührt schaute er um sich, versuchte seine Irritation über mein Verhalten mit der Handvoll rundumstehender Beobachter zu teilen. Suchte Verbündete für sein Fremdschämen. Ich wäre ja selbst am liebsten im Boden versunken vor Scham, aber ich konnte nicht anders, ich hatte kein Kommando über mich. Mein Wille war wie gelähmt, beobachtete lediglich, was mit mir geschah, ohne Möglichkeit der Beeinflussung. Wie eine Kobra, die ihren Körper ferngesteuert Richtung Himmel schlängelt, sobald der Schlangenbeschwörer den ersten Ton anstimmt. In den nächsten Stunden kam und ging die fremde Kraft völlig willkürlich. Mal war mein Wille Herrscher über mich, dann wieder gab eine fremde Macht die Richtung vor. Mal war ich Subjekt, mal Objekt, mal Schlangenbeschwörer, dann wieder willensschwache, folgsame Schlange. Etwas bestimmte über mich, keine Ahnung wer oder was.

Aber es wurde noch schlimmer. Ich sah keine Menschen mehr, sondern nur noch schemenhaft deren Gestalten. Energien um mich, bloß noch Energien. Wie die aussahen? Keine Ahnung. Denn ich sah nicht mit meinen Augen, sondern mit meinem Körper. Oder meiner Seele? Da war kein Unterschied mehr zwischen sehen und spüren, die Grenze war aufgehoben, das eine war wie das andere. Sehen hieß spüren und spüren wiederum sehen. Alles war ganzheitlich, irgendwie. Nur noch Energiefelder um mich, gute und schlechte, und hin und wieder auch bedrohliche. Und während ich all das wahrnahm, beobachtete ich mich trotz alledem auch noch selbst. Staunend, aber vor allem ungläubig und mit einer gehörigen Portion Sorge.

Denn meine Wahrnehmungen wurden immer wilder und sprengten längst nicht mehr nur meine bisherigen Erfahrungswelten, sondern auch meine mutigsten Fantastereien. Alles schien mit allem verbunden. Die Vögel mit den Pflanzen und den Menschen und dem Wind, der durch die Blätter strich und die Wolken durch die Lüfte trug. Zwischen allem lag eine gewisse Spannung, die für diesen Zusammenhalt sorgte (wie unter einer Tauchglocke). Und auch ich war Teil des Ganzen, ein kleines Rädchen im komplexen System. Auch ich war mit allem verbunden, konnte alles um mich beeinflussen, bloß mittels Gedanken. Und da glaubte ich erstmals, die geistige Welt ansatzweise zu begreifen. Warum in ihr vieles so unkonkret erscheint, so schwammig und erratisch. Willkürlich fast, auf den ersten Blick. Das scheint an den Verbindungen zu liegen, die sind nicht starr wie ein unnachgiebiges Stahlseil, sondern eher weich, wie ein zartes, elastisches Gummibändchen, das mit allem verknüpft ist und so seine Umwelt sanft und kaum spürbar beeinflusst. Und so führte ich mein Umfeld wie ein Regisseur seine Schauspieler. Der Vogel, der unter dem Strauch saß, sollte aufs Dach hinauf, die Katze wieder aus meinem Blickfeld verschwinden, und der Mann, der mich schon seit Tagen nervte und gerade auf mich zukam, an mir vorbeiziehen ohne Worte. Und die Welt fügte sich meinen Vorstellungen wie von Geisterhand. Nicht direkt und eindeutig. Der Vogel hüpfte noch hierhin und dahin, pickte noch auf dem Boden herum, folgte nicht stur meinen Gedanken, dann aber entfaltete er seine Schwingen und landete genau da, wo ich ihn haben wollte, und so war es auch mit der Katze, die noch geraume Zeit unter einer Bank herumlungerte, sich dann aber streckte und gemütlich durch den Garten stolzierte und hinter einem Strauch aus meinem Blickfeld verschwand. Und der Mann? Der wurde von einem Bekannten abgefangen, übersah mich glatt, während er zweimal an mir vorbeiging. Und so prophezeite ich meinem Freund die unmittelbare Zukunft um uns, um dazwischen auch immer wieder einmal vor ihm niederzuknien aus Dankbarkeit für seine Freundschaft. Das meiste traf ein, wenn auch über Umwege. Denn auch in der geistigen Welt gibt es offensichtlich Grenzen, ist nicht alles möglich, gibt es Abhängigkeiten und undurchschaubare Entwicklungen, zumindest hatte ich damals diesen Eindruck.

Insgesamt fühlte ich mich in dieser Zeit tief verbunden mit jenem Menschen, den ich zuvor so vehement angezweifelt hatte. John of God war mir plötzlich eine Art Seelenbruder. Ich glaube tatsächlich, dass ich in dieser Zeit die Welt ähnlich erlebte wie er und spürte, welch enormen Belastungen und Strapazen die Besetzungen für den ganz normalen Menschen João Teixeira, für seinen Geist und Körper bedeuten mussten. Ich verstand seine seltsame Mimik und seine eigenartigen Bewegungen während der Behandlungen. Alles ergab Sinn, alles war verständlich, ergab ein rundes Bild, konnte gar nicht anders sein. Mir war, als hätte sich vor meinen Augen ein Schleier gehoben.

Aber längst wollte ich die Gardinen wieder zuziehen, den Film abschalten, den roten Notfallknopf drücken, der alles abrupt beenden würde. Denn die Nacht war ein einziges Desaster. Ich träumte, fantasierte, lief im Halbschlaf durch den Raum. Etwas zwang mich auf die Knie, wieder und wieder. Ich musste beten, beten, beten. »Vater unser, dein Reich komme, dein Wille geschehe …« Das half ein wenig. Am Morgen fühlte ich mich wie ein Wrack. Kraftlos, verzweifelt und nicht mehr ganz bei Sinnen. Es war nicht auszuhalten. Also lief ich wieder in die Casa, wartete endlos, trat wieder vor João und bat um Wiederherstellung meines ganz normalen Geisteszustands. Seinen Anweisungen folgte ich dieses Mal penibel. Wieder sollte ich auf dem gleichen Sitz wie tags zuvor Platz nehmen. Wieder sollte ich meditieren, beten, in mich gehen und meine Augen geschlossen halten. Und dieses Mal versuchte ich all das so intensiv wie mir nur möglich, ich flehte sogar um meinen alten Gemütszustand, und dann, nach rund zwei Stunden, entwich eine Art weißer Lichtstrahl meinem Kopf, und ich war wieder der Alte. Tränen rannen mir über die Wangen vor Erleichterung und aus Dankbarkeit für die Wiederauferstehung meines eigenen Willens und vielleicht auch aus Überforderung, natürlich konnte ich all das Erlebte nicht einordnen.

Doch die Lektion war damit noch nicht vorüber. Das tags zuvor von João de Deus angekündigte Assistieren bei einer Operation war noch ausständig. Mit einem Glas in der Hand stand ich neben John of God auf einer kleinen Bühne. Um uns Hunderte Menschen, viele mit Videokameras und Fotoapparaten. Vor uns drei Menschen, die sichtbar operiert werden sollten. João strich mit der flachen Hand über das Gesicht einer Person, die sackte sofort zusammen, zwei Helfer stützten den nun kraftlosen Körper. Mit dem Skalpell setzte João einen etwa drei Zentimeter langen Schnitt, quer über die Brust der Frau, danach riss er eine Art weißes Knorpelgewächs aus der kaum blutenden offenen Wunde. Dann nähte er die Wunde mit einer einzigen Schlinge wieder zusammen. Abschließend strich er noch mit der Hand über diese Stelle. Die Blutgerinnung stoppte sofort, der Schnitt schien fast verheilt, lediglich eine leichte Rötung war noch sichtbar. Zwei weitere Personen wurden noch direkt vor mir operiert. Ein Mann wurde am Rücken aufgeschnitten, einer Frau die Schere in die Nase gerammt. Im Wesentlichen sah ich, was ich zuvor schon auf zahlreichen YouTube-Videos gesehen hatte, nur eben live und aus nächster Nähe. Ich konnte den Angstschweiß riechen, die Anspannung spüren und selbst das angestrengte Schnaufen von João während der Operationen entging mir nicht. Wie nicht anders zu erwarten, konnte ich keinerlei Handlungen erkennen, die eine Erklärung geliefert hätten. Aber etwas verwunderte mich doch. Bei der zweiten Operation war mir ständig das Sichtfeld verstellt. Das irritierte mich. Denn wenn ich schon extra zwecks Beweisführung von den Geistern auf die Bühne geführt wurde, um einer sichtbaren Operation beiwohnen zu dürfen, warum sorgten sie nicht auch für ein freies Sichtfeld? Das wäre doch bloß logisch. Doch noch bevor ich die Frage in meinem Kopf richtig fassen konnte, stand auch schon die Antwort parat. Die Erfahrungen der letzten Nacht brachten mir die Erkenntnis: Wer in der geistigen Welt nachvollziehbare Logik erwartet, überschätzt den begrenzten menschlichen Geist gewaltig. Aber nichtsdestotrotz freute ich mich über meine Zweifel, bewiesen sie mir doch, dass ich tatsächlich wieder ein Stück weit der Alte war.

Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass nach all den seltsamen Vorfällen in Brasilien mein agnostisches Gedankengerüst für einige Zeit gehörig ins Wanken geriet. Wieder in Wien sprach ich deshalb mit ausgewählten Personen über meine Eindrücke in Brasilien. Psychologen, Geistliche, Ärzte und Hypnotiseure. Die Erklärungen waren jedoch allesamt unbefriedigend, spiegelten zumeist lediglich das jeweilige Weltbild meines Gegenübers wider. Niemand schaffte es, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Auch ich nicht. Meine psychischen Abwehrmechanismen erfüllten fast unmerklich ihre Funktion. Verdrängung, Verleugnung und Intellektualisierung retteten mein herkömmliches Weltbild und halfen mir über die schwierige Anfangszeit hinweg. Und den Rest erledigte die Zeit. Jahr für Jahr wurde die Erinnerung an die seltsamen Geschehnisse in Abadiânia ein wenig blasser, und letztlich blieb neben einer außergewöhnlichen Story, die mich innerlich kaum noch aufwühlte, lediglich eine einzige ernstzunehmende Erkenntnis übrig: Beweise führen nicht (zwangsläufig) zum Glauben. Zugegeben eine banale Erkenntnis in Anbetracht des Ausmaßes meiner Erlebnisse.

Aber eine, die mich über Jahre hinweg gut und ohne gravierende Veränderungen meines Lebensplans leben ließ, trotz dieser nicht einordenbaren Erfahrung. Nach diesem kurzen Ausreißer in eine Welt ohne klare Konturen verlagerte ich mein Interesse wieder auf die weltliche Ebene, dahin, wo Ordnung herrscht, eins und eins immer zwei ergibt und der Verstand die Zügel in Händen hält. Die Idee, ein kritisches Buch über den Wunderheiler John of God zu verfassen, war natürlich längst vom Tisch. Weder hatte ich das Verlangen, jemals wieder zu João zu fliegen, noch einen inneren Drang, die Grundfesten meines Denkens neuerlich einer bedrohlichen Erschütterung auszusetzen. Der Glaube fordert die »Kreuzigung des Verstandes«, bringt es der dänische Philosoph Søren Kierkegaard auf den Punkt. Warum hätte ich das tun sollen? Ich war gesund, ich war glücklich, mir war nicht langweilig und auch eine echte Lebenskrise war nicht auf meinem Radar. Ich hatte mein Leben im Griff, es gab keinen Grund für einen Schritt ins Ungewisse.

WHATEVER HAPPENS, HAPPENS FOR A GOOD REASON

Die Diagnose

»Herr Bruckner, Sie haben einen tischtennisballgroßen Tumor im Kopf, und bei Ihrem Blutbild deutet einiges auf Leukämie hin«, eröffnete mir der Arzt wenige Minuten nach der Erstuntersuchung. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass ich völlig ruhig blieb. Fast so, als ginge es nicht um mich, sondern um jemand anderen, einen Fremden, mit dem mich nichts verbindet. Das Gebläse des Computers surrte, im Hintergrund flüsterte eine Schwester mit einer Kollegin, es roch nach Desinfektionsmittel, meine Freundin blickte ins Leere. All das registrierte ich beiläufig, denn mein Hauptinteresse galt meinem Gegenüber, dem Arzt. Seine Augen klebten auf mir, und der zweite Satz, den er an mich richtete, erschien mir als einigermaßen verwunderlich. »Sie haben Glück, dass ich einen Blick auf Ihr Blutbild geworfen habe, ich bin Experte, manchmal passieren mir solche Glückstreffer«, sagte er. Zweimal das Wörtchen Glück beim Verkünden einer Krebsdiagnose, das hielt ich doch für eine recht sonderbare Wortwahl.

Noch in der gleichen Nacht wurde ich stationär aufgenommen. Ich teilte mein Zimmer mit drei übergewichtigen, von Krebsleiden gezeichneten Männern. Ich lag auf der Ersten Medizinischen Abteilung, der Onkologie. Mein Status: Krebspatient, Leukämie und Kopftumor. Schmerzmittel tropften in meine Venen, und meine gesamte Situation erschien mir unrealistisch oder irreal. Eine Woche vorher war ich noch voll im Leben gestanden. Ich hatte aus einem illegalen Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze berichtet, das zwangsgeräumt worden war. Es war abenteuerlich gewesen, und ich hatte Sinn in meiner Tätigkeit gesehen. Ich hatte mich wohl gefühlt. Und jetzt? Krebs? Tumor in meinem Kopf und Leukämie? Die Realität war inakzeptabel, aber in der Nacht schlich sich das Unannehmbare in mein Bewusstsein. Ich lag im Krankenbett, warf mich von einer zur anderen Seite, nickte irgendwann erschöpft ein, erwachte bald darauf wieder, völlig gerädert, ohne Bewusstsein über meine derzeitige Situation. Nur langsam kroch die Realität durch meine Gehirngänge und riss mich dann doch schlagartig aus meinen Träumen: »Leukämieverdacht und Tumor in meinem Kopf. Kein Albtraum, sondern Realität.« Wieder und wieder war ich konfrontiert mit dem Desaster, zigmal alleine in dieser einen Nacht. Im Nebel des Halbschlafs, zwischen Traum und Wirklichkeit kämpfte sich das Ungewollte in mein Bewusstsein.

Ich erinnere mich, wie ich mich um vier Uhr am Morgen aufraffte, mit schweren Schritten den langen, klinisch sauberen Gang, an dessen Ende eine Glasfront freie Sicht auf den wolkenlosen Sternenhimmel freigab, entlangschlurfte und in den Himmel starrte. Der Nordstern funkelte in der Ferne, der große Wagen stand über mir, die Sterne leuchteten hell, jeder an seinem Platz, wie seit Millionen Jahren. Bis dato hatten mich Gestirne nie berührt, aber in diesem Moment, der mir meine Vergänglichkeit so eindeutig spiegelte, bekam das Dauerhafte, vermeintlich Immerwährende eine für mich bislang ungeahnte Magie. Ich stand da vor der verglühenden Unendlichkeit und spürte Tränen über meine Wangen rollen.

Die nächsten zehn Tage musste ich im Krankenhaus verbringen und eine Reihe von unangenehmen Untersuchungen über mich ergehen lassen. Aber nach zwei Wochen der Ungewissheit gab es einen Grund zum Durchatmen. Nach einer Beckenkammbiopsie, dabei wird Knochenmark aus dem Beckenknochen gezogen, eine sehr schmerzvolle Untersuchung, war der Leukämieverdacht vom Tisch. Anscheinend hatte ich auf einer meiner Reisen einen seltsamen Virus eingefangen, der mein Blutbild derart desaströs zugerichtet hatte. Langsam kehrte meine Kraft wieder und das Fieber verging. Die Kopfschmerzen jedoch blieben. Und leider bestätigte sich der andere Teil der Erstdiagnose, der Hirntumor wurde zur Gewissheit. Aber auch da hätte es durchaus schlimmer kommen können. Keine Metastasen, mit großer Wahrscheinlichkeit gutartig. Fachbezeichnung Meningeom. Ein Tumor, der von der Außenhirnrinde ins Kopfinnere wächst und da in erster Linie Platzprobleme verursacht. Manche Menschen werden blind dadurch, andere bekommen epileptische Anfälle, bei manchen bleiben Folgen auch völlig aus. »Falxmeningeom hochparietal mit Infiltration des Sinus sagittalis superior« hieß die korrekte Bezeichnung in meinem Fall. Durchzuführende Maßnahme: Extraktion.

Dabei wird nach Hautschnitt und Aussägen des Schädelknochens die Hirnhaut geöffnet und anschließend der Tumor entfernt. Danach wird die vorher eröffnete, zum Teil entfernte Hirnhaut plastisch verschlossen. In manchen Fällen, so auch in meinem, ist eine vollständige Entfernung allerdings nicht möglich, weil der Tumor direkt an eine lebenswichtige Gefäßversorgung grenzt. Lediglich Teile des Tumors können entfernt werden. Das Aufklärungsgespräch passierte in imponierender Nüchternheit. Eine OP sei unumgänglich, besser heute als morgen, hieß es. Die eingeholte Zweitmeinung vom diesbezüglichen Spezialisten eines anderen Spitals bestätigte die durchzuführende OP, räumte mir aber bezüglich Dringlichkeit ein halbes Jahr ein. Erstmals kam mir die Idee, die Zeit für alternative Heilungswege zu nutzen. Ein Lichtblick!

Zu Hause versank ich trotzdem in eine depressive Stimmung. Ängste und Sorgen überlagerten meinen Optimismus, und mehr und mehr wurden mir meine nun eingeschränkten Möglichkeiten bewusst. An das bisherige Leben eines Reisenden, der den Globus nach Abenteuern absucht und darüber schreibt, war vorerst nicht mehr zu denken. Die Strapazen, Ungewissheiten und Unsicherheiten, die diese Art des Lebens zwangsläufig mit sich bringen, wurden mir in dieser Zeit erstmals bewusst. Die Person, die diesen Lebensweg beschritten hatte, war couragiert, selbstbewusst und trug ein gewisses Maß an Abgebrühtheit in sich. Nichts von dem fühlte ich noch in mir. Die Diagnose »Hirntumor« hatte mir mein Selbstbewusstsein geraubt. Und auch mein Selbstbild zerstört. Zudem hatte ich den Fehler gemacht, im ersten Schock mein Herz auf der Zunge zu tragen und jedem, der es wissen wollte, von meinem Dilemma zu erzählen. Lief ich jetzt durch meine Heimatstadt, so ähnelte das einem Spießrutenlauf. Ungewohnte Blicke lagen auf mir, Gespräche verliefen seltsam eintönig, und bei nahezu jeder Begegnung stand für mich die Frage im Raum: »Wissen die, dass ich einen Tumor habe?« Ich war vom Weltreisenden zum bedauerten Leidenden geworden, zumindest in meinen Gedanken. Und dann waren da ja auch noch die Kopfschmerzen. Ständig waren die da. Ein dumpfes Gefühl im Kopf, ausgehend von jener Stelle, an der sich der Tumor befand. Oft war mir schwindlig, ich fühlte mich unkonzentriert und hatte Gleichgewichtsprobleme. Oder bildete ich mir all das nur ein? Spielte mir die Psyche einen Streich? Ich entschied, dass meine Kopfschmerzen bloß Einbildung waren, oder zumindest versuchte ich das.

Nach einigen Wochen beschloss ich, sämtliche Projekte des Jahres abzusagen. Auch die geplante Reportage über den längsten Grenzzaun der Welt zwischen Indien und Bangladesch musste ich schweren Herzens canceln. Als Erklärung diente meine gesundheitliche Situation. Sekunden nach dem Versenden der Mails hatte ich Showkat Shafi am Ohr. Showkat Shafi, ein indischer Fotograf, mit dem mich eine lange Freundschaft verband und mit dem ich schon einige Reportagen für den internationalen Sender Al Jazeera gemacht hatte, informierte sich genau über meinen Zustand und schickte dann die richtigen Worte in meinen Gehörgang. Er erinnerte mich an meine innere Stärke und daran, dass ich schon die ganze Welt bereist, viel Leid gesehen und schlimme Schicksale beobachtet habe und dass ich deshalb ja wissen müsse, was das Leben einem abverlangt. »Alles Menschenmögliche versuchen, seinen Überzeugungen treu bleiben, und der Rest liegt in Gottes Hand«, lieferte er auch gleich die Antwort. Er beendete seinen Monolog mit den Worten: »Whatever happens, happens for a good reason.« Ein Spruch, der uns schon bei einigen gemeinsamen Erlebnissen begleitet und zum Herumalbern motiviert hatte.

Zu meiner eigenen Verwunderung krochen Showkats Worte, die man wohl auch in jedem Kalender finden könnte, ins Ohr, wie handwarmes Öl. Ich spürte in diesem Moment, dass ich etwas verstanden hatte, das zwischen den Zeilen stand und von den einzelnen simplen Bedeutungen der zusammengefügten Wörter losgelöst war. Wahrscheinlich fußte dieses neue Verständnis auf dem Umstand meiner völlig neuen Lebenssituation. Vielleicht lag der Reiz und Anstoß aber auch daran, dass Showkat Inder war und seine Worte auf Englisch zu mir rüberrasselten. Vielleicht hat mich diese Internationalität aus meiner klein gewordenen Welt bugsiert.

Jedenfalls war ich wieder befeuert. Es war, als wäre ich wieder angeknipst, motiviert. Ich wollte wieder Autor meines eigenen Lebens sein. Raus aus der Opferrolle, hin zum Gestalter oder zumindest Mitgestalter. Die Fragen, die beantwortet werden mussten, lagen auf der Hand. Wie kann ich wieder gesund werden? Welche Vorteile und Möglichkeiten verschafft mir die derzeitige Lebenssituation? Und zuallererst die wohl analytische Frage: Weshalb habe ich überhaupt diesen Tumor, warum ich?

Die Antwort insbesondere darauf bereitete mir Kopfzerbrechen. Meine erste Theorie war mutig, um nicht zu sagen selbstgefällig. Kann es sein, dass ich bloß meine eigene Theorie, nämlich dass Krankheit nichts mit falschem Denken zu tun haben muss, untermauern wollte? Dass man durchaus ein glücklicher, in sich ruhender, ausgeglichener Mensch sein kann und trotzdem todkrank werden? Wie oft habe ich mit Menschen insbesondere aus der Alternativszene darüber gestritten, wie oft habe ich mich über deren banale Sichtweise, dass jeder Krankheit ein persönliches Defizit zugrunde liegt, mokiert? Diese Stigmatisierung von Kranken war mir immer schon ein Graus. War ich tatsächlich Fleisch gewordener Beweis für meine Überzeugung? So nach dem Motto: He, herschauen ihr Klugscheißer, ich bin es, ich war glücklich, ich führte ein selbstbestimmtes Leben, es hat mir an nichts gefehlt, und was habe ich jetzt davon? Einen Hirntumor, ha, ha – ich hab’s euch doch gesagt, das ist möglich, ich bin der Beweis. War ich eine Art selbstloser Märtyrer, der seine Gesundheit für die Wahrheit verschenkte? Die Antwort darauf war eindeutig: Nein. So viel Pathos hielt selbst ich nicht aus. Also musste ich weitersuchen.

Mit der Zeit strömten neue Antworten in mich. Ich hatte weder Termine noch sonstige Verpflichtungen, ich hatte Zeit im Übermaß, und meine Gedanken kreisten zumeist um mich selbst und meinen Gesundheitszustand. Ich war auf mich zurückgeworfen. Mir wurde bewusst, dass ich vor meiner Diagnose ein Getriebener war. Ein Erlebnisjunkie, der, wenn er nicht auf Reisen war, trotzdem immer unterwegs sein musste und nie daheim sein konnte. Die Füße hochlagern und einen Tag blaumachen, niemals. Nach acht Uhr am Morgen aufstehen und bis Mittag brunchen – ohne mich. Menschen, die spazieren gingen oder auf einer Parkbank saßen, verursachten ein Mitleidsgefühl in mir. Aber ich war kein Sklave des kapitalistischen Systems. Nie jagte ich dem Geld hinterher, selten gesellschaftlichem Status. Niemand von außen diktierte meine Welt, der Peitschenjunge saß in meiner Seele und forderte ein sinnerfülltes Leben. Diese chronische Sinnsuche forderte mich unentwegt, hielt mich auf Trab und verursachte letztlich einen innerlichen Dauerstress und Unruhe. Und Stress, darüber herrscht in Fachkreisen Konsens, bietet den perfekten Nährboden für die Geißel der Menschheit, Krebs, und die Entstehung von Tumoren. Wie oft hatte ich das Gefühl, etwas zu versäumen und nicht die richtigen Erfahrungen zu machen? War ich eine Woche in Äthiopien, dachte ich, länger bleiben zu müssen, um etwas Echtes und Wahrhaftiges erkennen zu können. Verbrachte ich mehrere Monate an ein und demselben Platz, hielt ich die Eintönigkeit und das immer Gleiche nicht aus. Was auch immer ich unternahm, zumeist vermutete ich woanders intensivere und für meine persönliche Entwicklung wichtigere Erfahrungsmöglichkeiten. Ein Spießrutenlauf. So viele Möglichkeiten, so viele Freiheiten. Welcher ist der richtige Weg? Chronischer Entscheidungsstress.