Würde oder Willkür -  - E-Book

Würde oder Willkür E-Book

0,0

Beschreibung

Das Grundgesetz, die Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands, wurzelt nicht in der Unbestimmtheit von Moderne und Säkularisierung. Es schöpft aus der entscheidenden Quelle des christlichen Abendlandes: dem biblisch bezeugten Gott und den sich daraus für die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen in Staat und Gesellschaft ergebenden normativen Konsequenzen. Von daher ist es kein Zufall, dass der entscheidende sittlich-moralische Referenzpunkt am Beginn der Präambel nicht der Mensch ist, sondern Gott.  Dieser erste Satz variiert jenen Maßstab christlich grundierter Staatsformen und Gesellschaftsstrukturen, demzufolge der Mensch und Bürger sich im entscheidenden Moment, vor allem in Abwehr totalitärer Versuchungen, auf Gott und die fundamentale Weisheit der Bibel einlassen und verlassen kann. Im Zeitalter eines Säkularismus jedoch, der sich der totalen Dynamik von technischem Fortschritt und ökonomischer Globalisierung als Antriebsmittel und Endzeitperspektive gleichermaßen instrumentell bedient, ist der christliche Gottesbezug im Grundgesetz rechtsphilosophisch eine immer rabiater bestrittene, handlungspolitisch immer häufiger überlesene und multikulturell immer radikaler infrage gestellte Prämisse. Dem soll und muss widersprochen werden.  Mit Beiträgen von Udo Di Fabio, Thibaut de Champris, Wilfried Härle, Benjamin Hasselhorn, Heinrich Oberreuter, Friedemann Richert, Thomas A. Seidel, Ulrich Schacht +, Barbara Wenz sowie einem Grußwort von Hildigund Neubert und einem Nachruf auf Ulrich Schacht von Sebastian Kleinschmidt. [Dignity and Arbitrariness. Theological and Philosophical Premises of the Basic Law] The Basic Law, the constitution of reunited Germany, has its roots not in the indeterminacy of modernity and secularization. Instead, it draws from the decisive source of the Christian West: God as testified in the scriptures and the resulting normative framework for the design of interpersonal relationships in society and state. Therefore, it is no coincidence that at the beginning of the preamble the decisive ethical reference point is not mankind but God. This initial sentence refers to the criterion of any form of government or social structure that is basing itself on Christianity according to which human beings and citizens can rely in critical moments on God and the fundamental wisdom of the Bible. But in the age of secularism the Christian reference to God in the Basic Law has been increasingly challenged by philosophy of law, is often ignored by politics, and has become a multiculturally questioned premise. This has to be refuted.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 349

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



GEORGIANA

Neue theologische Perspektiven Bd. 3

Herausgegeben im Auftrag der

Ev. Bruderschaft St. Georgs-Orden (St.GO)

Würde oder Willkür

Theologische und philosophische Voraussetzungen des Grundgesetzes

Herausgegeben von Thomas A. Seidel und Ulrich Schacht [†]

Wir danken der Sparkasse Mittelthüringen für ihre freundliche Unterstützung

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gestaltung: FRUEHBEETGRAFIK, Thomas Puschmann · Leipzig

Coverbilder: Leonardo da Vinci/Proportionsschema der menschlichen

Gestalt nach Vitruv; Palma il Giovane/Johannes erblickt die vier apokalyptischen Reiter: akg-images / Cameraphoto

Foto Seite 16: © Stefanie Schacht

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-05609-5

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Wir schreiben das Jahr 2019 n. Chr., „nach Christus“, A.D., „Anno Domini“, im „Jahr des Herrn“. Und fragen absichtsvoll: Verweist diese Zählung und diese Schreibweise (noch) auf „unser Lebenselixier“, das der Leipziger Staatsrechtlicher Arnd Uhle benennt und betont: „das Christentum“?1 Werden zweitausendneunzehn Jahre christlicher Prägung heute, insbesondere und in erster Linie von maßgeblichen Verantwortungsträgern in Kirche und Kultur, in Staat und Politik (noch) als „Ursprung und Zukunft des freiheitlichen Verfassungsstaates“2 wahr und ernst genommen? Arnd Uhle stellt die alles andere als nebensächliche und direkt nach vorn gerichtete Frage in den deutschen Diskursraum, „[…] ob soziokulturelle Gelingensbedingungen moderner Staatlichkeit bestehen, zu deren Existenz und Erneuerung das Christentum Wesentliches beiträgt“. Seiner Meinung nach verlange diese Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Verfassungsstaat zweierlei: „historische Vergewisserung und zukunftsbezogene Versicherung“.3

Dieser Doppelaufgabe, dieser doppelten geistig-geistlichen Bewegung aus Retro- und Prospektive, hat sich die Evangelische Bruderschaft St. Georgs-Orden4 mit dem ihr angeschlossenen Bonhoeffer-Haus e.V. vom 14. bis 16. Oktober 2016 gestellt. Gemeinsam mit dem Politischen Forum der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), Erfurt, unter ihrer umsichtigen Leiterin Maja Eib, veranstaltete sie ihren nunmehr L. (offenen) Konvent, wiederum im Evangelischen Augustinerkloster zu Erfurt. Dass sich die vormalige „Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen und für die Aufarbeitung der SED-Diktatur“ und Europa-Staatssekretärin Hildigund Neubert in ihrer Eigenschaft als Vizevorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. mit einem Grußwort einbringen würde, war beinahe selbstverständlich und sehr willkommen. Die auf dem Einladungs-Faltblatt leuchtende Überschrift Würde und Willkür. Theologische und philosophische Voraussetzungen des Grundgesetzes hatte man grafisch sehr ansprechend und beziehungsvoll in das Faksimile der Urkunde des Parlamentarischen Rates zum Deutschen Grundgesetz vom 8. Mai 1949 gesetzt, mit der etwas hervorstechenden Unterschrift des damaligen Ratsvorsitzenden, des Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Die Erträge der Erfurter Tagung, ergänzt um weitere, gut zum Themenfeld passende, sind nun hiermit im dritten Band der Reihe GEORGIANA. Neue theologische Perspektiven versammelt.5 Auf unterschiedliche Weise fragen sie nach den theologischen und philosophischen Voraussetzungen der Verfassung der „alten“ Bundesrepublik und des wiedervereinten Deutschlands, im historischen Resonanzraum und Wertehorizont Europa.

Auch wenn einigen Mitgliedern des Parlamentarischen Rats (6 von 8 Abgeordneten der CSU) dieser Bezug 1949 nicht klar genug herausgestellt zu sein schien, so dürfen und wollen wir festhalten, dass das Grundgesetz erkennbar aus den entscheidenden Quellen des christlichen Abendlandes schöpft: dem Gott der Bibel und den sich daraus ergebenden normativen Konsequenzen für die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen in Politik und Gesellschaft. Insofern ist es kein Zufall, dass der entscheidende Referenzpunkt am Beginn der Präambel nicht der Mensch ist, sondern Gott. Das hier proklamierte politische Verantwortungsbewusstsein der Verfassungsväter und -mütter, und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen weltanschaulichen Sozialisation, hat einen geistig-kulturellen Haftpunkt: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen […]“. Dieser Vor-Satz intoniert jene liberal-antitotalitäre Einsicht, die aus einer jüdisch-christlichen oder einfach nur weltklugen Grundskepsis gegenüber einer vermeintlich perfekten menschlichen Handlungskraft erwächst. In Zeiten eines „moralischen Fundamentalismus“ (Thea Dorn), der sich in unheiliger Allianz mit einem habituellhippen Säkularismus einer totalen Dynamik von technischem Fortschritt und ökonomischer Globalisierung als Antriebsmittel und Endzeitperspektive gleichermaßen instrumentell bedient, scheint jener Haftpunkt seine Bindekraft zu verlieren. Und so ist es nicht verwunderlich, dass der Gottesbezug im Grundgesetz rechtsphilosophisch zu einer immer rabiater bestrittenen, handlungspolitisch immer häufiger überlesenen und multikulturell immer fanatischer relativierten Prämisse zu werden droht. Mit diesem Band soll theologisch, philosophisch und gesellschaftspolitisch nüchtern und leidenschaftlich widersprochen werden: durch kompetente Rekonstruktion und schöpferische Reflexion.

Wir schreiben das Jahr 2019 n. Chr., „nach Christus“, A.D., „Anno Domini”, im „Jahr des Herrn“. In diesem Jahr erinnern wir drei, für die deutsche Geschichte äußerst wichtige Jubiläen: 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 70 Jahre Grundgesetz und 30 Jahre Friedliche Revolution. Passender könnte der Bezug zu Titel und Themen dieses Bandes nicht sein. Darüber war ich mir mit meinem Co-Herausgeber noch im vorigen Sommer, als wir in Schweden die Arbeit an der Publikation überdachten, vollkommen einig. Dass Ulrich Schacht dieses neue (Jubiläums-)Jahr nicht mehr erleben würde, ahnten wir nicht. Viel zu früh, am 16. September 2018, ist er verstorben. Sebastian Kleinschmidt, der in der Nachfolge von Schacht mit mir gemeinsam die Herausgabe der GEORGIANA-Reihe fortsetzen wird, hat einen klugen und berührenden Nachruf für den Ordensgründer und Großkomtur (den Leiter) der Georgsbruderschaft beigesteuert. Wie bei den beiden Vorgängerbänden 1 und 2 sind auch dieses Mal wieder im Anhang ein Personenregister (für das wir erneut Matthias Katze Dank sagen), biografische und publizistische Angaben zu den Autoren sowie eine Kleine Geschichte der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden zu finden.

Zwei Beiträge der 2016er Tagung haben wir leider nicht in Schriftform erhalten: zum einen den fundierten Beitrag des Pariser „Korrespondenten« der KAS, Dr. Nino Galetti, zum Thema Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit – Religion und Laizismus in Frankreich heute. Hier dürfen wir uns über den Text von Thibaut de Champris, dem Schüler von Joseph Rovan und vormaligen Gesandten der Republik Frankreich in der Thüringer Staatskanzlei, freuen, den wir unter der Überschrift Radikaler Laizismus versus kooperative Trennung. Ein französischer Blick auf das deutsche Grundgesetz hier mit abgedruckt haben. Und auch einen Text des Putin-Biografen Hubert Seipel,6 den er unter die Überschrift Patriarch und Präsident. Zum Verhältnis von Staat und Kirche im nachtotalitären Russland gesetzt hatte und der zu einer heftigen Kontroverse im Tagungspublikum führte, können wir nicht vorlegen. Dafür gibt es gleich zweifachen Ersatz. Zum einen veröffentlichen wir posthum einen Reiseessay über die Wiederauferstehung der Russisch-Orthodoxen Kirche von Ulrich Schacht unter dem Titel Rückkehr zur Ikone und zwei bemerkenswerte theologisch-analytische Texte des russischen Theologen und Philosophen Alexander Kyrleschew: Die Kirche und die Welt in der Sozialkonzeption der Russisch-Orthodoxen Kirche. Eine notwendige Kritik und den Artikel Säkularisierung und die postsäkulare Gesellschaft. Eine folgenreiche Analyse. Die Texte Alexander Kyrleschews geben Einblicke in das Innenleben der russischen orthodoxen Welt, liefern Hintergrundinformationen zum postkommunistischen Staat-Kirche-Verhältnis und vermögen zu erklären, was die russische Orthodoxie zu dem machte, was sie heute ist. Sie sind gewissermaßen ein Dokument einer ganzen Epoche: von der Mitte der 1990er Jahre, als die russische Kirche neu entstand, bis 2010, als ihr Erstarken bisher ungeahnte Formen anzunehmen begann.7 Damit hat das Schlusskapitel des Bandes Vergleichende Perspektiven eine erkennbar „russische Schlagseite«. Doch dem geneigten Leser wird nicht entgehen, dass eine reflexive Komparation der Beiträge sich nicht allein auf die Russland- und Frankreich-Thematik intern und auf die deutschen Perspektiven beziehen lässt. Bemerkenswert ist auch die unterschiedliche, gelegentlich durchaus auch kontroverse Sicht auf Russland und die Russisch-Orthodoxe Kirche in den drei „Russland-Texten” selbst.8

Die vorangehenden Kapitel I und II sind unter folgende Themen gestellt: Politische und theologische Analyse (Kap. I) und Zeichen und Symbole von Kultur und Rechtsordnung (Kap. II). Der renommierte Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter setzt den Auftakt und steckt kenntnisreich und souverän den historiografischen Rahmen ab mit seinem Text: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Grundlinien einer abendländischen Verfassungsgeschichte, kongenial ergänzt und erweitert durch Wilfried Härle mit einer tief- und weitgreifenden theologisch-systematischen Fundierung unter dem Titel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Imago Dei und Rechtstaat. Friedemann Richert, der Weggefährte von Robert Spaemann, paraphrasiert mit aktuell(kirchen-)politischen Bezügen das Verhältnis von Vernunft, Politik und Religion und stimmt ein praxis-gesättigtes Lob auf das Grundgesetz an.

Kapitel II versammelt ebenfalls drei Beiträge. Hier eröffnet der namhafte und (in mehrfacher Hinsicht) urteilsstarke Verfassungsrechtler Udo Di Fabio das Reflexionsfeld mit einem scharfen Blick auf Globale Wirtschaft und politische Partikularität, unter der Überschrift Zur Lage der Demokratie. Der Historiker und dezidiert lutherische Theologe Benjamin Hasselhorn stellt angesichts aktueller „Grenzenlosigkeiten” und politromantischer Verklärungen hochproblematischer Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft unter dem Titel Die Grenzen der Nächstenliebe einige Überlegungen zu den politischen Implikationen des Christentums an. An dieser Stelle werden aktuelle und brisante Fragen aufgerufen, die während der Erfurter Tagung rege diskutiert wurden und die (auch) darum in einigen Beiträgen sozusagen als Subtext oder Subfrage mitlaufen: Was sind die Gründe und Hintergründe jener aktuell von Heinrich Bedford-Strohm und anderen führenden EKD-Theologen vertretenen „öffentlichen Theologie” und Kirchenpoitik?9 Und wie ist zu erklären und zu verstehen, dass die damit verbundenen Aporien und Blockaden nicht klar erkannt und benannt werden, obgleich sie tendenziell eine vernünftige und sachorientierte Politik in Deutschland und Europa gefährden?10 Das Kapitel schließt mit einem Aufsatz des Herausgebers Thomas A. Seidel, der ebenfalls Zeitkritik und Zeitansage sein will und sich, angesichts einiger jüngerer „Kreuzes-Debatten“, der Frage widmet, in welcher Weise das Zentralsymbol des Christentums in Vergangenheit und Gegenwart Skandalon und/ oder Siegeszeichen war, ist oder sein kann. Der Text trägt die Überschrift „In hoc signo vinces“. Kulturgeschichtliche und theologische Anmerkungen zur Bedeutung des Kreuzes.

Bei aller Unterschiedlichkeit im thematischen Zugriff und im sprachlichen Duktus sind die Beiträge dieses Bandes inspiriert und getragen von der festen Überzeugung, dass (mit Arnd Uhle gesprochen) „das Christentum dazu beiträgt, das Lebenselixier einer freiheitlichen Ordnung, [nämlich, d.V.] die tatsächliche und selbstverantwortete Freiheitswahrnehmung des Einzelnen, zu stärken.“11 Dieser Stärkung bedarf es im freiheitlichen Verfassungsstaat deshalb in besonderer Weise, „weil in ihm jene Leistungen, auf die das Gemeinwesen in geistiger, ökonomischer und sozialer Hinsicht angewiesen ist, dem freien Engagement seiner Bürger anvertraut sind. Das macht die Freiheitsbereitschaft und -fähigkeit des Individuums für den Staat zu einer unentbehrlichen Ressource eigener Vitalität.“12

Für unseren Mitautor an GEORGIANA 3, Udo Di Fabio, ist es theologisch, philosophisch und verfassungsrechtlich plausibel und politisch überaus folgenreich, dass die verfassungsgebende Gewalt ihre „Verantwortung vor Gott und den Menschen […]“ kraftvoll und nachhaltig betont und (hoffentlich) künftig auch betonen möge, denn:

Dies ist keineswegs hohles Pathos, sondern schöpft aus den tiefsten Quellen unserer Kultur. Mit dem Gottesbezug machen die Deutschen ihre christliche Identität deutlich: eine Identität, die andere Glaubensrichtungen weder ausschließt noch gar bekämpft, aber auch nicht gleichgültig gegenüber dem Verfall oder der Gefährdung der eigenen geistigen und religiösen Wurzeln ist.13

Mit diesen einführenden Verweisen auf die freundlich-kritische und informiert-empathische Grundierung der Beiträge sei Ihnen dieser Band zur lehrreichen Lektüre und zum streitbaren Gespräch anempfohlen.

Thomas A. Seidel

Am Ramsebo (Schweden) und Weimar, im Juni 2019

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Sebastian Kleinschmidt

Frei und furchtlosUlrich Schacht zum Gedenken

Hildigund Neubert

Grußwort

IPOLITISCHE UND THEOLOGISCHE ANALYSE

Heinrich Oberreuter

„In Verantwortung vor Gott und den Menschen“Grundlinien einer abendländischen Verfassungsgeschichte

Wilfried Härle

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“Imago Dei und Rechtsstaat

Friedemann Richert

Ein Lob auf das GrundgesetzZum Verhältnis von Vernunft, Politik und Religion

IIZEICHEN UND SYMBOLE VON KULTUR UND RECHTSORDNUNG

Udo Di Fabio

Zur Lage der DemokratieGlobale Wirtschaft und politische Partikularität

Benjamin Hasselhorn

Die Grenzen der NächstenliebeÜberlegungen zu den politischen Implikationen des Christentums

Thomas A. Seidel

In hoc signo vincesKulturgeschichtliche und theologische Anmerkungen zur Bedeutung des Kreuzes

IIIVERGLEICHENDE PERSPEKTIVEN

Thibaut de Champris

Radikaler Laizismus versus kooperative TrennungEin französischer Blick auf das deutsche Grundgesetz

Ulrich Schacht

Rückkehr zur IkoneEin Reiseessay über die Wiederauferstehung der Russisch-Orthodoxen Kirche

Alexander Kyrleschew

Die Kirche und die Welt in der Sozialkonzeption der Russisch-Orthodoxen KircheEine notwendige Kritik

Alexander Kyrleschew

Säkularisierung und die postsäkulare GesellschaftEine folgenreiche Analyse

ANHANG

Personenregister

Die Autoren

Kleine Geschichte der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden (StGO)

Weitere Bücher

Endnoten

Ulrich Schacht (1951–2018)

Sebastian Kleinschmidt

Frei und furchtlosUlrich Schacht zum Gedenken

Ich weiß nicht, wo und wann Ulrich Schacht diese Verse geschrieben hat, nun aber, da er nicht mehr unter uns ist, kommt es mir so vor, als seien sie wie eine erste Nachricht aus dem Jenseits. Einem Jenseits, das sich in unmittelbarer Nähe zu seinem bisherigen Diesseits befinden muss, im selbstgewählten Viarpshult bei Förslöv in der südschwedischen Provinz Schonen. Hier war der ideale Wohnort für ihn und seine Frau Stefanie. Sie hatten ein gemeinsames Haus zum Leben, er hatte ein zweites Haus zum Schreiben. Dazu ein weiträumiges Grundstück in Hanglage, im Süden von einer anmutigen Wiese mit freiem Blick aufs Kattegat umgeben, im Norden von einem gegen Kälte und Sturm schützenden Wald. Das schöne Foto, das seine Frau auf die Trauerkarte gesetzt hat, zeigt den poetischen Landjunker in seinem Wald. Wir sehen dieselben Bäume wie die, von denen im Gedicht „Neuvermessung des Raumes“ die Rede ist:

„Die Bäume im / Schnee / Schnee / auf den Bäumen. Bis / in die / Nacht reicht die / Diagonale des / Lichts.“

Warum es mir so vorkommt, als sei dies eine Nachricht aus dem Jenseits? Weil das Gedicht „Neuvermessung des Raumes“ heißt und mir die Verse Michelangelos durch den Sinn gehen: „Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume. / Ich leb in euch, ich geh in eure Träume.“

Ulrich Schacht besaß eine enorme Präsenz, physisch und geistig. So etwas geht nach dem Tod nicht einfach verloren. Wird so einer aus der Welt gerissen, erscheint sie uns plötzlich wie amputiert. Aber das ist nicht alles. Als mich die Botschaft von seinem Tod erreichte, fuhr ich ans Meer und ging in eine Kirche. Es war in Wustrow auf dem Fischland. Ich wollte für den toten Freund ein Gebet sprechen hinüber über die Ostsee nach Schweden. Als ich in dem stillen Gotteshaus saß und an ihn dachte, kam mir mit einem Mal der Gedanke: Seit du tot bist, ist für mich die Transzendenz bewohnt. Und genau so erscheint mir auch sein Gedicht „Neuvermessung des Raumes“, als bewohnte Transzendenz. Das letzte Wort in ihm heißt „Licht“.

Ulrich Schacht war nicht nur Dichter, er war auch Theologe. Er hat sogar einen protestantischen Orden gegründet, dem er als Großkomtur vorstand. Er wusste, dass das Licht etwas Göttliches ist. Meister Eckhart sagt in einer seiner deutschen Predigten, die erste Wirkung der Gnade des göttlichen Lichts ist, dass der Mensch die Angst verliert. Ulrich Schacht hatte die Angst verloren, einschließlich der Angst vor dem Tod, der verborgenen Quelle aller Ängste. Seine Furchtlosigkeit war das Geheimnis seiner Freiheit. Einer Freiheit, die er sich in extremer Unfreiheit erobert hatte. In seiner DDR-Biographie gibt es den besonderen Umstand, dass er in einem Frauengefängnis zur Welt kam und später als politischer Gefangener selber einige Jahre hinter Gittern verbringen musste. So hat er auf elementare Weise erfahren, was Dunkelheit ist und was Licht, nämlich wahres Licht, das Licht in sich. Schacht war ein Mann, der Kraft und Stärke besaß. Kraft als das Vermögen zu schaffen, Stärke als das Vermögen zu widerstehen. Das strahlte er auch als politischer Denker aus. Was er erfahren hat, das bezeugte er. Er war begabt zur geistesgeschichtlichen Analyse der Situation. Utopismus, Moralismus und Illusionismus sowie das durch sie bewirkte Verkennen der Lage erzürnten ihn regelrecht. Sein Mut zum Angriff auf diese medial bestens geschützte Festung war imponierend. Dass er auch übers Ziel hinausschießen konnte, gehört zu seinem Typus. Wichtig bleibt der Freiheitssinn. Wichtig bleibt der Anspruch auf geistige Erhellung. In einer Welt, in der der Mensch sich leicht und schnell von falschem Licht verführen lässt, verbreitet sich erst wahre Dunkelheit. Und mit ihr neuerlich die Angst. Schacht wusste das.

Hildigund Neubert

Grußwort

Mit dem Begriffspaar Würde und Willkür haben Sie sich für dieses Jahr ein uraltes Menschenthema gewählt. Kontradiktisch schließen die Anerkennung der Würde jedes Menschen und die Ausübung von Willkür einander aus.

Würdevoller Umgang setzt Respekt voraus, erkennt und anerkennt Unterschiede und kommuniziert in Augenhöhe. Ein jeder hat das gleiche Recht, Rechte zu haben. Wir Christen wissen, dass diese Würde ein Gottesgeschenk ist. Sie ist sozusagen die politische Gestalt der Gottesebenbildlichkeit.

Willkür dagegen entspringt aus Verachtung der einen für die anderen. Die Einen nehmen sich das Recht unbegründeter Entscheidungen über andere. Sie instrumentalisiert und verschärft Unterschiede, setzt sich über Rechte anderer hinweg und ist eine asymmetrische Kommunikation bzw. verweigert sie sogar völlig.

Die Verfassungen sind Grundsatztexte des Selbstverständnisses der Polis. Daher sind ihre Sprache und ihr Gehalt beispielhaft für deren geistiges Habit. Ganz naheliegend ist da der Blick in die DDR-Verfassung und unser Grundgesetz.

Art. 1 der Verfassung der DDR beginnt mit den Worten:

„Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.“

Personen kommen hier nur als Funktionsträger (Werktätige) oder als Masse (Arbeiterklasse, Partei) vor. Und wer das Sagen hat, wird auch gleich klargestellt: Es gibt Führer und Geführte, die organisiert werden, sozialistisch deutsch und national. Nach starken Verben, die etwas in Bewegung versetzen könnten, sucht man vergebens.

Irgendwann im Herbst 1989 las ich zum ersten Mal im Grundgesetz. Ich erinnere mich noch gut an ein warmes Gefühl der Begeisterung für den Text: Was für eine Sprache!

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“

Der Mensch im Subjekt des ersten Satzes. Alle drei Gewalten sind unmittelbar gebunden an die und durch die Menschenrechte. Auf dieser Grundlage haben sich alle in Deutschland zu bewegen, allen voran die politischen Akteure.

Aber dieser Konsens wird heute von verschiedenen Seiten in Frage gestellt.

Die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte verpflichtet Deutschland angesichts seiner wirtschaftlichen Potenz zur Hilfe für Menschen, die vor Krieg und Katastrophen fliehen. Niemand hat je behauptet, dass das ohne Anstrengung „aus der Portokasse“ zu machen sei.

Aber aus den Mühen dieser Anstrengung schlagen Populisten nun Kapital.

Sie profitieren dabei von einer tiefen Verunsicherung derer, die ihre eigene Kultur weithin verloren haben. Die Kinder und Enkel der in der DDR zum Kirchenaustritt Gedrängten sind abgeschnitten von ihren Wurzeln. Sie verkümmern und schwanken in jedem Windchen. Und auch die westdeutsche Wohlstands-Säkularisierung zum Steuersparen reduziert die geistige Landschaft. In dem Spannungsfeld von Bewahrung und Infragestellung der eigenen Kultur durch die Globalisierung und weltweite Wanderungsbewegungen siedeln sich Pseudo-Konservative an, die aus intellektuellem Dünkel, Machtgier und billigen Identitätsangeboten einen gefährlichen Cocktail mischen. Ihre politische Kraft in Deutschland ist die AfD. Zu ihren Wählern gehören vor allem hartnäckige postkommunistische Atheisten, die weder die christliche Tradition noch die ethischen Grundlagen eines durch die Aufklärung in die Welt gestellten Christentums vertreten, in der Regel nicht einmal kennen. Mit dem gleichen Rezept arbeiten aber auch die Populisten vom anderen Ende des politischen Spektrums.

Christliche Kultur muss gelebt werden. Das Erntedankfest war gerade wieder eine gute Gelegenheit, den Dank im Gottesdienst mit dem Dienst am Nächsten zu verbinden, wenn die Erntegaben an die Tafeln gespendet werden.

Das Weihnachtslieder-Singen der Pegida war kulturell-musikalisch ein Graus und verkehrte die Weihnachtsbotschaft zur Karikatur: Herberge für Notleidende sehen gerade diese Leute nicht vor.

Menschen, die ein religiöses Vakuum in Kopf und Herz haben, sind denen ähnlich, vor denen sie sich fürchten. Ich kenne Leute, die einerseits stolz erzählen, dass sie noch nie in einer Kirche waren, auch nicht zu Weihnachten, und die andererseits größte Sorge haben, dass es einmal mehr Moslems als Christen in unserem Land geben könne. Diese aus der Gottlosigkeit entstandene Verblendung sollten wir genauso fürchten wie Islamisten.

Diese Art „Konservativismus“ öffnet sich für Versatzstücke des primitiven Antikapitalismus und argumentiert mit nationalsozialistisch-völkischem Denken. Die Willkür beginnt schon in der Definition derer, die dazugehören, und derer, die zum Feind erklärt werden, denen Grund- und Freiheitsrechte nicht bedingungslos zuerkannt werden, deren Würde verletzt wird durch die Pegida-Demonstrationen, Hassparolen, Interneteinträge, Brandanschläge und Mord. Das hat Deutschland schon einmal in die Katastrophe geführt. Auch damals waren Intellektuelle führend dabei.

Die Europäische Kultur ist pluralistisch christlich und sie ist vereint in den Werten gegenseitiger Toleranz, der Gewährung von Freiheit des Denkens und der Achtung der Würde jedes Menschen. Das ist das Angebot, das wir den Menschen in unserem Land und der Welt zu machen haben. Und das ist so attraktiv, dass aus aller Welt, und natürlich zuvörderst aus den Krisenregionen, die Menschen nach Germany wollen.

Das ist aber auch der Anspruch, den wir allen Mitbürgern, den Eingeborenen aller Religionen und Nicht-Religionen und den Zugezogenen machen: Die Würde des Menschen ist unantastbar, unteilbar. Und nur die Achtung der Würde der Anderen kann mich hoffen lassen, dass meine eigene Würde respektiert wird. Verachtung wird Hass nach sich ziehen, und Hass Gewalt.

Dieser Anspruch bedeutet, dass seriöse Politiker die einfachen Lösungen nicht versprechen dürfen und nicht versuchen dürfen, die Parolen der Populisten zu überholen, weil doch ein wahrer Kern drinstecke. Die Fakten-Krümel, mit denen Populisten arbeiten, sind niemals der Kern der Sache, sondern allenfalls das Steinchen, das im Schuh drückt auf dem Weg der Problemlösung. Wenn man den Stein entfernt hat, muss man den Weg immer noch gehen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung sieht sich den Verfassungswerten und ihrer christlichen Grundierung verpflichtet.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung verfolgt das Ziel, die Menschen auf diese Wege zu schicken, sie zu beheimaten in der Kultur des Grundgesetzes mit all seinen ethischen, politischen und rechtlichen Dimensionen, damit sie standhalten in der Begegnung mit anderen Kulturen und daraus Bereicherung ziehen.

Kapitel I

Politische und theologische Analyse

Heinrich Oberreuter

„In Verantwortung vor Gott und den Menschen“Grundlinien einer abendländischen Verfassungsgeschichte

Schon nach Sokrates leiten Verfassungen ihren Ursprung nicht „wer weiß woher, von Eiche oder Fels“, sondern „von den im Staat herrschenden sittlichen Anschauungen her“. Für Platon folgte die weltliche Ordnung der göttlichen. Sie war transzendental gedacht und menschlicher Gestaltung entzogen. Das änderte sich allmählich um 500 v.Chr.

So sind Verfassungen seit je, fast immer, mit der Hoffnung auf eine gute und gerechte politische Ordnung verbunden. Da auch für uns deren Ursprünge und Bezugspunkte dort liegen, hat Theodor Heuss, einer der Stimmführer im Prozess der Grundgesetzbildung und erster Bundespräsident, auf drei geschichtsträchtige Hügel als Ideenspender aufmerksam gemacht: Golgatha, die Akropolis und das Capitol, „Aus allem ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muß sie als Einheit sehen.“1 Die Botschaft richtete sich 1950 bei einer Schuleinweihungsfeier in Heilbronn gezielt an die junge Generation. Grundlinien gehen in der Tat von diesen historischen Stätten aus – aber sicher nicht im Sinne von Einbahnstraßen. Auch unterlag der gesellschaftliche Kontext erheblichem Wandel.

Verfassung als Ordnung des Gemeinwesens: Vorläufer

Aber die Idee der Verfassung als Ordnung des Gemeinwesens, als Rahmen menschlicher Entfaltung, als Institutionalisierung und Begrenzung von Herrschaft sowie als Gewährleistung von Funktionalität und Stabilität2 findet sich bereits in diesen frühen Ansätzen. Das heißt nicht, dass diesen Ideen schon jenes Menschenbild zugrunde lag, das uns heute geläufig ist – wenn z. B. zwischen Herren und Sklaven unterschieden worden ist, wie in der Antike, oder wenn viel später so wesentliche Marksteine bürgerlicher Freiheiten wie Magna Carta (1215), Petition of Rights (1628) oder Habeas Corpus (1679) eher Abkommen zwischen feudaler Aristokratie und Landesherren zur Absicherung exklusiver Privilegien führender Stände gewesen sind. Doch wiesen ihre Intentionen in eine zu ihrer Zeit nicht absehbare Zukunft der Gleichheit aller Menschen in Bezug auf ihre politischen Rechte. Verfassung, das war auch nicht immer eine ein politisches System konstituierende Urkunde – wie z. B. 1776 in Nordamerika oder 1791 in Frankreich. Es konnte auch ein Ensemble von Gesetzen, Institutionen und Gewohnheiten darunter verstanden werden, das Tradition und Vernünftigkeit von Regeln und Gewohnheiten gewährleistete – wie in England ehedem und bis heute, wo man ohne geschriebene Verfassung auskommt. Aber ganz gleich ob mit Vernunft gesetzlich konstruiert oder historisch evolutionär verstanden: die normative Kraft von Verfassungen, ihre faktische Legitimität, resultiert aus der Zustimmung und Anerkennung, die sie über die Zeit – in der Zeit – genießt. Die Akzeptanz wiederum hängt im Wesentlichen von ihrer Gestaltungskraft, ihrer Funktionserfüllung ab.

In dieser Hinsicht sind die Erwartungshaltungen in der entsprechenden abendländischen Geschichte erstaunlich stabil. Seit Aristoteles3 drehen sie sich um Funktionalität und Normativität: Einerseits sollen Verfassungen durch ihre Ämterordnung Führung und Lenkung im Staat strukturieren – andererseits sollen sie eine gute und gerechte Ordnung für die Gemeinschaft der Bürger etablieren. Wohlgeordnet ist diese, wenn sie es dem Bürger ermöglicht, ein Leben nach den Grundsätzen und Anforderungen philosophischer Ethik („Eudaimonie“) zu führen: Bürger und Polis gehen eine Symbiose ein. Idealistisch blind ist dieser Ansatz nicht, weil er eben nicht ausnahmslos auf die Tugend der Herrscher und der Beherrschten ausgerichtet ist. Den realistisch unterstellten Tugenddefekten beider begegnet er mit institutionellen Konstruktionen, welche die Stärke guter Staatsformen maximieren, die Schwächen schlechter Staatsformen aber minimieren sollen:4 ein, würden wir heute sagen, optimierendes Mischmodell, wie es später auch von Polybios – „ein Grieche in Rom“5 – aufgegriffen und erweitert worden ist: erweitert um den Gedanken von checks and balances, also der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung, mit dem Ziel, Kontrolle, aber auch funktionales Regieren zu ermöglichen. Ganz ähnlich, wie sich das später bei Montesquieu wiederfindet.

Aristoteles’ elaborierte Verfassungslehre handelt bereits über gleiche Bürgerrechte (für jene freilich nur, die als Bürger galten!) bei abgestufter Beteiligung an der Macht. Denn an die Stelle der Versammlungsdemokratie trat eine Ordnung wählbarer Ämter – also ein Element der Repräsentation, die aus der Aktivbürgerschaft herauswächst. Diese Lehre handelt aber auch schon von der Notwendigkeit, Herrschaft zu beschränken und zu mäßigen, sobald sie im Interesse des Gemeinwesens ausgeübt sein soll. Solche Limitierung war dann auch eine nachhaltige Forderung der liberalen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts – und sie ist ein entscheidendes und unterscheidendes Kriterium bis heute und für alle Zukunft.

Um Rom nicht zu kurz kommen zu lassen: Zur idealen Ordnung, die Cicero im Kern auch in einem Optimierungsmodell sieht, gehören für ihn caritas (Wohltätigkeit), libertas (Freiheit) sowie consilium (Weisheit der Beratung). Durch Cicero, den „Vater des römischen Humanismus“6, begegnet uns auch im ersten Jahrhundert vor Christus schon der Begriff dignitas humana7 (Menschenwürde), der wohl schon eine Vorgeschichte im Judentum (so ist in der Genesis vom Menschen als Bild Gottes die Rede) und bei den Stoikern hat. Im Christentum taucht er explizit im 4. Jahrhundert auf.8 Für uns besitzt er vor allem hohe Aktualität und gewiss auch höhere Geltungskraft als in der älteren Zeit.

Eine Zwischenbilanz zeigt, dass in dieser frühen Zeit bereits das verfassungspolitische Denken um ein angemessenes Verhältnis von Mensch und Ordnung, um adäquate Etablierung von Herrschaft, ihre Begrenzung und Kontrolle kreiste. Was noch hervorzuheben ist: Es kreiste auch nicht nur um Stabilität der Verfassungskonstruktion, sondern auch um soziale Stabilität im weiteren Sinn. Eine Verfassung der Mitte und des Maßes ist im Kern eine des Mittelstandes, der die Differenzen der sozialen Schichten arm und reich ausbalanciert. Mit sozialstaatlichem Denken hat das noch nichts zu tun. Aber begrifflich hat es Strahlkraft, wenn etwa der Präsident des Bundesverfassungsgerichts 2016 eine Schrift zum Grundgesetz unter dem Titel „Die Verfassung der Mitte“ vorlegt.9 Geschichtlich hat der Gedanke sozial abgestützter Stabilität allerdings mehr und mehr erhebliche Bedeutung gewonnen – vom aufgeklärten Absolutismus, der sich um „die Privatglückseligkeit“ seiner Untertanen kümmern wollte, bis zum Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.

Und der Beitrag des Christentums, dessen Denker durchaus auf den geschilderten Fundamenten stehen? Gleichwohl haben sie diese erheblich verändert. Platons Politik als göttliche Ordnung hatte Aristoteles schon überwunden. Er hatte die Hochschätzung der Politik verweltlicht – das Glück des Bürgers und Menschen ist irdisch. Christlich ist das bekanntlich nicht. Christlich ist eine Zweiweltenlehre, die das irdische dem jenseitigen Glück und Heil nachordnet, und auch zur Frühzeit schon das Prinzip bürgerlicher Selbstregierung nicht mehr versteht. Die einflussreiche Lehre des Thomas von Aquin hielt aber um des inneren Friedens und der Stabilität willen doch eine Beteiligung an der Wahl des Monarchen und der Gesetzgebung für wünschenswert. Und: Auch hier gibt es eine normative Ordnungsvorstellung von einer Gesellschaft der Freien und einer strikten Orientierung am Gemeinwohl. Denn König ist nur, „wer das Volk des Gemeinwohls wegen lenkt“10 – im Sinne der Sicherung des philosophisch „guten Lebens“, das alle Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen umgreift – Entfaltungsmöglichkeiten, die durch das Gemeinwesen auch unterstützt werden sollen. Eudaimonie – und auch schon eine Vorform von Solidarität?

Der bedeutendste in die Moderne weisende Beitrag ist aber die dauerhafte Entgöttlichung von Staat und Politik, also die Auflösung der spätantiken Symbiose von Kaiser, Reich und Gottesverehrung.11 Die Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Gewalt kann als Keimzelle der späteren elaborierteren Gewaltenteilungskonzepte gesehen werden12; auch als Keimzelle des modernen Staates, den Ernst-Wolfgang Böckenförde bekanntlich als eine Emanzipation von weltanschaulichen Deutungssystemen, als „säkulare Freiheitsordnung“ definiert hat.13 Neben diesem Ordnungsprinzip ist zum zweiten der Beitrag zur natürlichen vorstaatlichen Personwürde eines jeden, auch des Ausgestoßenen, Armen, Sklaven oder Sünders zu nennen14 – ein wesentlicher Bruch mit der Antike und eine Voraussetzung für die Ableitung und Begründung moderner Individualrechte, mit denen sich die Kirche allzu lange schwer tat. Dabei ging sie doch von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen aus, und leitete aus ihr die Würde der Person ab. Darin, dass diese Würde im modernen Staat allen Menschen gleichermaßen und unbedingt zu achten zukommt, sieht Jürgen Habermas eine „rettende Übersetzung“ der „Gottesbildlichkeit“ in die Aktualität.15 Die Entgöttlichung der Welt, die Unverfügbarkeit der Personwürde, Gleichheit und Freiheit waren eigentlich Vorläufer der Aufklärung, mit der es nicht geringe Vereinbarkeiten gibt. Jedenfalls haben sie deren Intentionen gewiss nicht geschadet, auch wenn die Aussöhnung der Kirche mit ihr auf sich warten ließ und eine diesen Grundlagen angemessene Praxis auch.

Gleichwohl gibt es eine Gemeinsamkeit im Bekenntnis zu einem der politischen Ordnung vorausliegenden Recht, das dem Menschen grundsätzlich zukommt, gleich wie es in der abendländischen Geschichte begründet wurde und heute im Reflexionshorizont der Aufklärung zu verstehen ist, wie Böckenförde jüngst gesagt und sich damit nicht von seinem klassischen Diktum entfernt hat, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.16 Was er damit aber meint, ist eine Aufforderung an das derart freigesetzte Individuum, sich dieser Voraussetzungen zu erinnern, in ihre Tradition zu treten und für ihren Erhalt einzusetzen – ein hoher Anspruch, der sich natürlich auch an die politischen Repräsentanten richtet.

Moderner Konstitutionalismus und deutscher Sonderweg

Der moderne, in den Revolutionen des 18. Jahrhunderts durchgesetzte Konstitutionalismus ist eine Kombination eines Grundrechtskatalogs mit einer gewaltenteiligen, machthemmenden Staatskonstruktion. Die Verfassung wird auf die Volkssouveränität zurückgeführt, diese selbst aber ethisch gebunden. Vorrang der Konstitution vor dem einfachen Gesetz, dessen Unterwerfung unter verfassungsgerichtliche Kontrolle im Sinne der Rückbindung an die Leitideen, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 als „selfevident“ bezeichnet worden sind: dass nämlich „alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten“. Damit knüpfte auch der moderne Konstitutionalismus an die Herrschaft unveräußerlicher (aus der Natur oder aus der Gottesebenbildlichkeit begründeter) Rechte des Einzelnen an, denen eben vorpolitische und vorstaatliche Geltung zukam. Die Verfassung schafft sie nicht, sie hat sie zu gewährleisten. Ähnlich wie die (amerikanische) Bill of Rights von 1791 untersagt das Grundgesetz von 1949 dem Gesetzgeber, in den Kern, in den Wesensgehalt von Grundrechten einzugreifen, die das menschliche Individuum und sein Selbstentfaltungsrecht schützen. Ebenso wenig darf er die grundlegenden Verfassungsprinzipien zur Disposition stellen.

Das klingt so selbstverständlich, ist es aber nicht. Es ist eher nachgeholt. Denn anders als in den westlichen Demokratien stand an der Wiege des Konstitutionalismus in Deutschland nicht die demokratische Revolution. Die demokratische Bewegung des 19. Jahrhunderts vermochte noch nicht einmal an genossenschaftliche, mit Vorsicht vielleicht als altdemokratisch zu bezeichnende Traditionen anzuknüpfen; denn dazwischen lag der moderne Verwaltungs- und Obrigkeitsstaat.17 So entsteht die konstitutionelle Monarchie aus einer monarchischen Reform, die nicht nur vom Willen, sondern auch von der realen Macht der alten Gewalten zur Selbstbehauptung ihre prägenden und bis an die Schwelle der Weimarer Republik reichenden Züge erhielt. Auch wenn die kryptoabsolutistische Qualität mehr und mehr zurücktrat, erscheint es euphemistisch, das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Prinzip, die die Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts prägte, als Kompromiss zu charakterisieren. In Wahrheit verblieb die Macht, so wie es das monarchische Prinzip verlangte, durch ein abgestuftes System rechtlicher und existentieller Vorbehalte abgesichert, in der Hand des „Souveräns“ vereinigt. Dieser konnte sich im Notfall stets auf die Staatsgewalt „zurückziehen“.

Ob eine Konstitution, die sich als Selbstbindung originärer Souveränität verstand, diese Staatsgewalt im Zweifelsfalle wirklich zu binden vermochte, war in der Tat, wie Ferdinand Lassalle unter dem Eindruck des preußischen Verfassungskonflikts scharf erkannte, eine Machtfrage.18 Dem monarchischen Konstitutionalismus erschien es opportun, wenigstens jene soziale Schicht, die ihm als beachtenswert galt, durch Beteiligung an Teilbereichen staatlicher Machtentfaltung – insbesondere der Gesetzgebung – in den Staat zu integrieren, ohne Macht und Leitungsfunktion wirklich mit ihr zu teilen. An der konkreten Macht zerschellte das naturrechtliche Pathos der demokratischkonstitutionellen Bewegung. So entstand keine Verfassung, die den Staat insgesamt umschloss und nach den uns heute geläufigen politischen und ethischen Maßstäben formte. Der reale Konstitutionalismus in Deutschland, ausdrücklich als monarchischer deklariert, bewegte sich funktionell und soziologisch auf beengtem Terrain. In der Tat ein Sonderweg.

Erst mit der von außen erzwungenen Parlamentarisierung im Herbst 1918 dankte das monarchische Prinzip als verfassungsleitende Idee endgültig ab – kampflos und verspätet. Gleichsam in die Lücke tritt nun mit dem Verfassungswerk von Weimar Volkssouveränität als Legitimationsprinzip – ein fast glanzloses Ende einer intensiven historischen Auseinandersetzung. Diese Verfassung stellt zum ersten Mal auf deutschem Boden den Versuch dar, eine „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit und Ordnung”19 verfassungsgesetzlich festzuhalten und dadurch eine alte Forderung des Konstitutionalismus einzulösen: den Staat der Verfassung zu unterwerfen.20 Wenn die Macht der Verfassung gilt, sind Verfassungsfragen nicht mehr Machtfragen, sondern Rechtsfragen. Die Zeitgebundenheit der Analyse Lassalles wird hier offenbar. Die Macht der Verfassung galt aber damals nicht, auch weil sie die klassischen Funktionen nicht erfüllte: nämlich durchsetzungsstarke, allgemein geteilte normative Orientierung der Bürger und Etablierung einer funktionsfähigen Ordnung des Staates. Zumal den Grundrechten kam keine unausweichlich gestaltende Kraft zu.

„Kopernikanische Wende“ zur wertgebundenen Ordnung

Die „kopernikanische Wende“21 geschieht 1949 mit der Konstruktion einer wertgebundenen Ordnung. Dieser Schritt bedingte eine für deutsche Traditionen entschieden neue Definition des Verhältnisses von Staat und Bürgern, das nun nicht mehr von der Priorität des Staates und der Gemeinschaft, sondern von der Freiheit und den unveräußerlichen, vorstaatlichen Rechten des Individuums her bestimmt wurde. Die einen leiteten den Vorrang der Person vor dem Staat aus dem christlichen Naturrecht her. Andere kamen aus humanistischen oder rationalen Traditionen zu den gleichen Schlussfolgerungen. In einem der diskutierten richtungsweisenden Texte hieß es: „Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten.“22 Deshalb sollte den Grundrechten nun unmittelbare rechtliche Bindungskraft zukommen und eine wertgebundene Ordnung geschaffen werden: eine Antwort auf die Vernichtung aller Werte durch den Nationalsozialismus, aber auch eine auf den Wertrelativismus der Weimarer Verfassung.

Diese historische Antwort sicherte beide, Freiheit und humanitätsstiftende Werte, umfassend. Das Ergebnis war eine überraschend deutliche Wiederherstellung des naturrechtlichen wie auch des freiheitlich-individualistischen Gehalts der Grundrechte, welche Staat und Politik strukturieren sollten. Demgemäß liegt die Würde des Menschen aller staatlichen Rechtsschöpfung voraus: Das macht die Wertbindung unseres politischen Systems aus. Die Grundrechte begrenzen darüber hinaus die Staatsgewalt: Das ist die Basis der freiheitlichen Qualität unseres Gemeinwesens. Also besitzen wir eine inhaltliche Bestimmung der beiden klassischen, seit Aristoteles bekannten Verfassungsfunktionen. Dies war nun allgemeiner Konsens bei den Verfassungsberatungen: Eine wertgebundene Ordnung, die bewusst ethische Maximen in sich aufnimmt und vorstaatliche, also unverlierbar und unentziehbar zustehende Rechte ausdrücklich anerkennt. Dabei gab es keinen Gegensatz zwischen naturrechtlichen und pragmatischen Annäherungen. Für die als unabdingbar begriffene Achtung der Menschenwürde und der Freiheitsrechte war vielmehr die Erkenntnis maßgebend, dass sie dem Staat vorausliegen, er sie keineswegs erst schafft: Naturrecht also.

Diese Motive waren im Parlamentarischen Rat lediglich, je nach politischem Standort, neothomistisch oder rational begründet: also entweder als „von Gott gegebene“23 und angeborene oder als naturgegebene und unveräußerliche Rechte der Person. Ein explizites Bekenntnis zum christlichen Naturrecht ließ sich zwar nicht durchsetzen. Doch die Idee von Rechten, die dem Menschen inhärent sind, konnte auch von einer aufklärerisch-säkularen Position vertreten werden. So bestand in der Hauptsache eine tragfähige gemeinsame Basis.

Darin liegt eine Umkehrung der Tradition. Nicht die Staatsordnung, sondern die Würde und Freiheit des Einzelnen – und damit bestimmte Werte – sind zum Maßstab gewählt und bewusst (auch in formaler Hinsicht) an die Spitze der Verfassungsordnung gestellt worden. Die totalitäre Erfahrung staatlicher Durchdringung und Erfassung aller gesellschaftlichen Bereiche führte zur betonten Einrichtung einer vor Staatseingriffen geschützten Individualsphäre und zur Formulierung der primären Staatsaufgabe, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates konnten sich dazu nicht nur durch die Vergangenheit (und die gleichzeitig heraufziehende totalitäre Gegenwart im anderen Teil Deutschlands), sondern auch durch die internationale Entwicklung legitimiert sehen; denn in die Zeit ihrer Beratungen fiel die Proklamation der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, die zwar weltweit unterzeichnet, aber kaum irgendwo so konsequent verwirklicht worden ist wie in der Bundesrepublik.

All das hat erhebliche Bedeutung in der Praxis gewonnen. Denn Theorie und Rechtsprechung haben die Persönlichkeitsrechte weit ausgedehnt und damit auf neue Fragen klassische Antworten gefunden. Besonders die Rechtsprechung über die Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Freiheit der Meinungsäußerung und den Schutz des Eigentums war bemüht, den unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit abzusichern. Das gilt besonders auch für neue Herausforderungen durch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt, denen der Mensch nicht schutzlos ausgeliefert sein soll. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht in den achtziger Jahren aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in einem bemerkenswerten Gedankengang das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ abgeleitet. 2008 hat es in Abwägung von Freiheit und Sicherheit auch zum „Computer-Grundrecht“ gefunden.

Zur Aktualität wertgebundener Ordnung

Die Orientierung politischen Handelns ist damit klar. Ist sie es wirklich? Sehen wir uns in Europa um, bestehen noch am wenigsten Probleme in der Konstruktion der Staatsordnungen, der politischen Systeme. Die Praxis zeigt uns aber durchaus Funktionsdefizite und in dem einen oder anderen Fall auch die Tendenz, die Verfassungsordnung machtpolitisch-opportunistisch zur Disposition zu stellen und ihren Geltungsanspruch zu untergraben, sogar in empfindlichen Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit und Kommunikationsfreiheit. Auch normativ gibt es zweifellos Prozesse des Wertewandels, welche selbst die vorpositiven Fundamente des Rechts tangieren. Hillgruber diagnostiziert begleitend zur Stabilisierung der Rechtsordnung seit den 1960er Jahren das Verschwinden des Naturrechts. Es verschwinde „hinter dem Vorhang des positiven Rechts“24. Ist es so, heißt es nichts anderes, als dass es seine strukturierende Kraft zu verlieren droht. Es wäre jedenfalls so, wenn der Staat der aus hohen politischen Ämtern geäußerten These verfiele, nicht zurückholen zu können, was in der Gesellschaft an Wertbewusstsein verfallen sei, und wenn er diese Aufgabe an die moralischen Instanzen, die Kirchen z. B., delegierte.25 Der Staat als „sittlicher Staat“26 würde dadurch verkannt – als ob Amtsinhaber nicht die Pflicht hätten, ihren Beitrag zur Bewahrung des Verfassungskonsenses zu leisten.

Auch bestehen in Europa durchaus unterschiedliche normative Sensibilitäten in ziemlich empfindlichen Bereichen. Der wissenschaftliche Fortschritt hat, weit jenseits des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, herausfordernde humanitäre Fragen auf die Agenda der Öffentlichkeit und der Institutionen gehoben, etwa zur Erhaltung, Herstellbarkeit und Zerstörung menschlichen Lebens. Wo liegt die Orientierung? Liegt sie in der Preisgabe der vorstaatlichen Begründung des Würdeschutzes? Sie wäre eine Durchbrechung des Grundgesetzes. Eine neuere Interpretation des Art. 1 GG in einem der führenden Kommentare weist dieser naturrechtlichen Begründung nur noch Suggestivkraft, aber keine Gestaltungsrelevanz mehr zu. Sie erlaubt auch – bisher ein Tabu – die Würde des einen gegen die des anderen abzuwägen. Damit wird auch der Anspruch auf unbedingte Achtung hinfällig. Dieser prominente Kommentar27 unterwirft die Menschenwürde positivem Recht und damit potentiell auch dem Zeitgeist, ganz im Gegensatz zu seinem Vorläufer im gleichen Werk, der vom Geist der naturrechtlichen Wiederbesinnung der Gründerzeit getragen war. Widerspruch aus der Rechtswissenschaft wie von einem Kreis evangelischer und katholischer Sozialethiker blieb nicht aus.28

Andererseits führten diese Herausforderungen aber auch zu einer Wiederbelebung des Normativen und sogar des Religiösen als Orientierungsgröße im öffentlichen Diskurs. Der Agnostiker Jürgen Habermas schreibt dazu: “Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt. Sie halten die Sensibilität für Versagtes wach. Sie bewahren die Dimensionen unseres persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens, in denen noch die Fortschritte der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung abgründige Zerstörung angerichtet haben, vor dem Vergessen.“29 Nicht Missionierung ist natürlich das Ziel solcher Bemerkungen, sondern eine Partnerschaft in der Verteidigung ethischer Positionen, um Resonanz für sie in der Gesellschaft und im politischen Entscheidungsprozess zu gewinnen. Dies geht schon über die Verfassung hinaus und zielt auf eine Praxis, die ihren Wertvorgaben entspricht.

Es geht um eine Ordnung „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Man kann sie so pragmatisch begründen und verteidigen, wie es 1949 geschehen ist und zuvor schon in einigen Länderverfassungen. Eine Nennung Gottes (nominatio dei) geschah auch später noch, z. B. nach der deutschen Vereinigung in Sachsen-Anhalt und Thüringen. In Niedersachsen sammelten Juden und Christen 1994 100.000 Unterschriften für die Aufnahme eines Gottesbezuges in die Verfassung – mit Erfolg. In Schleswig-Holstein erzielte eine bemerkenswerte überparteiliche Initiative 2016 eine Mehrheit im Landtag – aber nicht das notwendige Quorum von zwei Dritteln der Stimmen. Einige Verfassungen in Europa tun sogar den nächsten Schritt zur invocatio dei und stellen sich ausdrücklich unter den Namen Gottes, obgleich der sittliche Konsens, der dadurch untermauert werden soll, „seit Beginn der Neuzeit nicht mehr allein oder unangefochten aus Gott hergeleitet wird“, wie di Fabio feststellt und im Gottesbezug eine Demuts- und Reflexionsformel angesichts menschlicher Hybris, Irrtumsanfälligkeit und Unvollkommenheit sieht.30 Auch wenn in der Gesellschaft Gott verblasst, gilt es zu begründen und zu verteidigen, dass die Menschenwürde nicht als gesellschaftliche Konvention in der Verfassung gründet, sondern ihr voraus liegt. Die Argumentationsstärke jener ist gefragt, die das ethische, rechtliche und politische Eintreten für sie als das Wertvollste des jüdischen, griechischen und christlichen Ethos und als dauerhafte Pflicht erkannt haben.

Die Einsicht in menschliche Veränderungen ist wohl auch die Begründung für solch eine nominatio oder sogar invocatio dei in der säkularen Jetztzeit. Selbst im unvollendeten Europäischen Verfassungsprojekt fanden intensive Diskussionen dazu statt. Wenn sie auch scheiterten, sind sie doch bemerkenswert. Gleichwohl scheint dieser Gott der Verfassungen für viele nicht der gleiche wie der Gott der Theologie und des Glaubens zu sein, sondern eine Art numinoses limitatives Prinzip gegen die eben apostrophierte menschliche Hybris. Darin lässt sich erneut eine Erinnerung an die Konsensfindung – „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ – 1949 sehen, vor allem aber an die Pluralität in den europäischen Gesellschaften, die als Konsequenz individueller Freiheit selbst ein Ausfluss der Menschenwürde ist.