Wutanfälle - Míriam Tirado Torras - E-Book

Wutanfälle E-Book

Míriam Tirado Torras

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Beschreibung

Es sind die berühmten Wutanfälle, die selbst die gewissenhaftesten und respektvollsten Mütter oder Väter unter uns aus dem Gleichgewicht bringen können. Denn Wutanfälle unserer Kinder bringen das Schlimmste in uns Eltern zum Vorschein. Dieses Buch erlaubt uns, Wutanfälle als eine großartige Gelegenheit zum persönlichen Lernen zu betrachten.Aus ihrer eigenen Erfahrung als Mutter zweier Töchter und Erziehungsberaterin leitet Míriam Tirado Eltern, damit sie ihre Kleinen gelassener und rücksichtsvoller erziehen können. Wir Eltern können lernen, besser mit Kindern zu interagieren und kommunizieren, indem wir unsere Vorstellungskraft einsetzen, Empathie entwickeln und Wutanfälle als grundlegenden Bestandteil des Erwachsenwerdens unserer Kinder akzeptieren. Zuerst ist es allerdings an uns, unsere Vorstellungen über die Kindheit, unsere Projektionen und Erwartungen zu überprüfen. All dies mit dem Ziel, in Mitgefühl, Respekt und Bewusstsein zu wachsen, damit wir unseren Kindern auf ihrem Lebensweg besser begleiten können.

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Meinen Töchtern Laia und Lua.Danke für eure Wutanfälle

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

eins

Als alles einfach war

Wo ist meine Tochter?

Die Aggression, die in mir steckt

Einen Tiefpunkt erreichen

zwei

Was ist ein Wutanfall?

Kann man Wutanfälle verhindern?

Normal oder unnormal – die Erschöpfung der Eltern

Wutausbrüche: ab wann und bis wann?

Warum toben sie dermaßen?

Was verbirgt sich hinter einem Wutanfall?

Angst – der Ursprung von fast allem

Der Wutanfall als Chance

drei

Wie sind Kinder?

Sie sind klein

Sie sind unreif

Sie sind egozentrisch

Ich denke nicht, was du denkst

Sie leben in der Gegenwart

Sie sind durch und durch emotional

Sie sind Spiel und Magie

Ihnen fehlt Sprache

Sie haben Bedürfnisse, die erfüllt werden wollen

Riesendrama

vier

Nicht du bist das Problem, sondern ich

Warum nur bei mir?

Warum wird es so wütend, obwohl wir es gut behandeln?

Neuland

Ein neuer Blick und ein neuer Preis dafür

Frustrierte Mütter und Väter, frustrierte Kinder

Die großen Unbekannten

Emotionen nicht bewerten

Mit Emotionen umgehen

fünf

Das Wichtigste bei der Begleitung eines Wutausbruchs

Das, was ist, zulassen

Wie bist du am Riesendrama beteiligt?

Emotion versus Verhalten

sechs

Grenzen

Unsere eigene Geschichte

Die persönlichen Grenzen

Grenzen verinnerlichen

Welche Grenzen?

Wie viele Grenzen?

Wie setze ich Grenzen?

Wenn Kinder nicht gehorchen

sieben

Was tun?

Machen wir unseren Job

Klare Grenzen

Wutanfälle vor Publikum

acht

Mangelnde Selbstkontrolle bei Eltern und Kindern

Wege zur elterlichen Selbstkontrolle

Wege zur kindlichen Selbstkontrolle

Dein Recht auf einen Wutanfall

Was du nicht tun solltest

neun

Auf dem Boden der Tatsachen

Zeitplanung und Routinen

Morgendliche Wutanfälle

Wutanfälle bei den Mahlzeiten

Wutanfälle und Medienkonsum

Wutanfälle auf dem Spielplatz

Ab ins Bad!

Schlafenszeit!

zehn

Liebe oder Abhängigkeit?

Alles beginnt in dir

Siehst du mich? Hörst du mich? Liebst du mich?

Lass los und bleib in Verbindung

Ein Berg mit tausend Gipfeln

Nachwort

Einleitung

Ich habe schon lange aufgehört, die Wutanfälle zu zählen, die ich bei meinen beiden Töchtern erlebt habe. Das sage ich gleich zu Anfang, damit du nicht denkst, ich wäre davon verschont geblieben. Ganz im Gegenteil. Wenn ich hier von Wutanfällen und vom Umgang damit spreche, dann gerade deshalb, weil ich etliche ertragen habe. Ich behaupte sogar, in einem Mütter-und-Väter-Wettbewerb, wer die meisten dieser Zornesausbrüche erlebt hat, hätte ich gute Chancen zu gewinnen! ;-)

Ich weiß, auch du glaubst, in einem solchen Wettbewerb gute Chancen auf den Sieg zu haben — und bestimmt ist das so. Niemand von uns ist verschont geblieben, wir alle bekämen einen Platz auf dem Podium. Oder fast alle. Aber keine Sorge, das hat auch sein Gutes, selbst wenn du es jetzt nicht glauben kannst und es dich nicht tröstet. In diesem Buch wirst du erfahren, warum.

Zu Beginn will ich allerdings eines klarstellen: Ich besitze keinen Zauberstab, mit dem man kindliche Wutausbrüche mal eben verschwinden lassen kann.

Besäße ich ihn, hätte ich nicht erlebt, was ich erlebt habe, und hätte auch dieses Buch niemals schreiben können. Daher mein Rat: Bleibe misstrauisch gegenüber allen, die dir sagen, du bräuchtest nur auf sie zu hören, damit die kindlichen Wutanfälle verschwinden. Meiner Meinung nach ist das nicht nur unmöglich, sondern es wäre auch nicht gut.

Ich will also mit diesem Buch gar nicht erreichen, dass du die Wutausbrüche deiner Kinder aus deinem Leben verbannst. Mir liegt vielmehr daran, dass du es schaffst, sie besser auszuhalten, sie zu verstehen und den größtmöglichen Nutzen aus ihnen zu ziehen. So kannst du gemeinsam mit deinen Kindern lernen und wachsen. Und vielleicht gelingt es dir sogar, die Wutanfälle mit Humor und Liebe zu betrachten.

Denn eigentlich ist es das, was mir persönlich am meisten geholfen hat: zu verstehen, was sich alles hinter einem Wutausbruch verbirgt. Ich habe gelernt, mich mit der Wut zu befassen, auch mit meiner eigenen; denn der Wutausbruch des eigenen Kindes löst häufig auch bei den Eltern Wut aus. Dieser negativen Emotion bin ich nachgegangen. Und nur indem ich mich ganz auf meine eigene Wut eingelassen habe, ist es mir gelungen, sie zu bewältigen. Ich habe die Angst vor ihr verloren und sogar angefangen, sie zu lieben. Und inzwischen gelingt es mir auch, meine Töchter zu lieben, wenn ein Wutanfall sie packt.

Ich weiß, dass der Umgang mit Wut nicht einfach ist. Und ich versichere dir, dass er auch für mich nicht einfach war. Manchmal habe ich geweint, wenn die Tobsuchtsanfälle meiner älteren Tochter mich völlig überforderten. Ich glaube, ich musste erst einen Tiefpunkt erreichen, um mich in die spannende Welt der Wutanfälle aufzumachen. Kein Witz: Diese Welt ist wirklich spannend, und in diesem Buch werde ich dir erzählen, warum.

Ich wünsche mir, dass du nach der Lektüre der kommenden Seiten die Wutausbrüche deines Sohnes oder deiner Tochter als eine Chance betrachtest, zu wachsen und dich zu verändern.

Im Moment sind Wutausbrüche für dich nur ein weiterer Konflikt in deinem Leben, der dich von deinen Kindern trennt. Ich wünsche mir, dass sich dein Blick verändert, dass du einen bewussteren, ganzheitlicheren und tieferen Blick auf dich selbst und deine Kinder gewinnst.

Mit Theorien ist es so eine Sache. Oft verstehen wir sie gut, tun uns aber schwer damit, sie im Alltag umzusetzen. Damit das bei diesem Buch nicht passiert, damit du meine Ausführungen verinnerlichen kannst und sich bei dir tatsächlich etwas verändert, findest du zwischen den Texten immer wieder praktische Übungen. Von Zeit zu Zeit werde ich dir vorschlagen, im Lesen innezuhalten und in dich hineinzuhorchen. So hast du die Möglichkeit, dem Gelesenen nachzuspüren und es mit einem neuen Verständnis und mit einem klareren Blick auf deine eigene Geschichte umzusetzen. Ich schlage dir vor, dir ein Heft zuzulegen, in das du nach Bedarf Dinge notieren kannst. Schwarz auf weiß festzuhalten, was wir fühlen, hilft uns manchmal, unsere Gedanken zu ordnen und uns bewusst zu machen, wie es uns geht. Wenn du magst, kannst du dir nach den Übungen, die ich dir unter „Moment mal …“ vorschlage, Notizen machen.

Ich möchte nicht, dass dieses Buch zwischen etlichen anderen in deinem Regal einstaubt. Oder dass du sagst: „Ich habe zu dem Thema viel gelesen, aber ich schaffe es trotzdem nicht, die Theorien praktisch umzusetzen.“ Dieses Buch soll dir eine wirkliche innere Veränderung ermöglichen. Es soll dir nicht nur zu einem anderen Blick, einem anderen Denken verhelfen, sondern auch zu anderen körperlichen und seelischen Erfahrungen. Es soll etwas in dir anstoßen und das, was du glaubst, tun zu müssen, mit dem, was du tatsächlich tust, in Einklang bringen.

Ich habe große Lust, dich mit auf diese Reise zu nehmen.

Begleitest du mich?

eins

Als alles einfach war

Nach einer überaus anstrengenden und komplizierten Geburt, die mich beinahe schachmatt gesetzt hätte, habe ich eine glückliche Stillzeit erlebt und die Anpassung an die neue Situation fiel mir leicht. Ich konnte meiner Tochter Laia problemlos geben, was sie wollte und brauchte: Berührung, Milch, Halt, Blickkontakt, Begleitung, Empathie, Zeit, Präsenz …

Es war eine ruhige Zeit. Vieles am Muttersein überraschte mich, manches nicht unbedingt positiv, zum Beispiel das Gefühl, für die Welt unsichtbar geworden zu sein. Aber ich muss zugeben, dass die beiden ersten Lebensjahre meiner Tochter, in denen ich nicht gearbeitet habe, sehr glückliche, angenehme Jahre waren.

Man hat ein Baby, das (fast) ausschließlich Augen für seine Mutter hat und dazu noch wunderschön ist. Es lächelt beim geringsten Anlass, jeder Ärger ist im Nu verflogen, und es ist noch zu klein, um einem zu widersprechen. Ich weiß, einige werden sagen, ihr Kind sei schon mit zwölf Monaten nicht mehr ganz so einfach gewesen, aber eigentlich ist das immer noch ein Alter, in dem Babys tun, was ihre Eltern sagen. Gelegentlich protestieren sie kurz, lassen sich aber leicht ablenken oder umstimmen und vergessen ihren Ärger im Handumdrehen.

Ein Baby in seiner Zartheit und Verletzlichkeit löst in uns den Wunsch aus, es zu umsorgen, ihm zu helfen, es liebevoll zu behandeln.

Unser Bedürfnis, sich seiner anzunehmen, steht im Einklang mit seinen elementaren Bedürfnissen — und das ebnet uns den Weg. Dieser Weg ist zwar neu und zuweilen anstrengend, aber wir gehen ihn ganz instinktiv.

In dieser Zeit oder auch, wenn wir keine Kinder haben, erlauben wir uns manchmal ein Urteil über Szenen wie die folgende: Auf dem Bürgersteig, beim Einkaufen oder im Restaurant sehen wir eine Familie mit einem Kind, das sich aufführt, als sei es vom Teufel besessen. Es tobt, ist vollkommen außer sich, und seine Eltern wirken restlos überfordert. „Wenn ich mal Kinder habe“, denken wir, „dann passiert mir so was nicht.“ Oder: „Meine süße Tochter würde sich nie so benehmen, wir sind uns doch so nah und lieben uns über alles.“

In diesen Momenten möchten wir um nichts in der Welt mit den hilflosen Eltern tauschen. Was wir sehen, schreckt uns ab, und wir glauben, so etwas werde uns nie passieren. Und falls doch, wüssten wir schon, was zu tun wäre und wie wir am besten mit der Situation fertigwürden.

Wie ahnungslos und naiv! Wie viele Eltern haben wohl schon beim Anblick eines vor Wut tobenden Kindes genau wie wir gedacht, dass es bei ihnen niemals so weit kommen würde. Und plötzlich sind sie selbst in einer ähnlichen oder noch schlimmeren Situation und denken: „Oh Gott, ich bin genau wie diese Eltern, über die ich so schnell geurteilt habe!“ Ich bin mir sicher, wir alle zusammen würden viele Fußballfelder füllen. Mutter bzw. Vater zu sein, ist eine wahre Übung in Demut und lehrt einen, nicht vorschnell zu urteilen.

Denn die Wirklichkeit sieht so aus: Egal ob wir noch keine Kinder haben oder bereits unser lächelndes Baby im Arm halten, wir können einfach nicht wissen, was wir empfinden werden, wenn unser Kind eines Tages mitten im Supermarkt wie besessen zu kreischen beginnt. Wir haben keine Ahnung, wie wir uns fühlen und uns verhalten werden. Was in uns zum Vorschein kommen wird.

Wenn wir uns in solche Situationen versetzen, gehen wir immer von dem Menschen aus, der wir gerade sind. Der hat aber vermutlich kaum etwas mit dem Menschen zu tun, in den wir uns verwandeln werden, wenn wir selbst Kinder haben. Was wir uns ausmalen, entspringt schlicht und einfach unserer Fantasie und unseren Erwartungen.

Wir glauben, die Zukunft werde so sein, wie wir sie uns vorstellen, und machen uns nicht klar, dass das, was wir uns jetzt ausmalen, das Produkt der Person ist, die wir gerade zu sein glauben.

Und das kann sich sehr schnell ändern. Unsere heutige Vorstellung davon, wie wir eines Tages mit unserem fünfzehnjährigen Kind umgehen werden, entspricht höchstwahrscheinlich nicht der späteren Realität. Denn wir wissen nicht, wie wir selbst und wie unsere Kinder dann sein werden.

Und niemand bereitet dich darauf vor! Auf diese Demutsübung, auf diesen Weg ins Unbekannte … Niemand. Doch selbst wenn jemand es tun wollte, es gelänge ihm nicht.

Um zu wissen, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten wird, muss man sie selbst erleben.

„Das erzählt einem ja keiner“, ist einer dieser Sätze, die man zuweilen hört. Ich glaube allerdings nicht, dass es einem niemand erzählt (viele Leute tun es und das Internet quillt über von Informationen). Vielmehr sind wir nicht bereit, es zu hören. Und es kommt auch nicht zum richtigen Zeitpunkt. Doch selbst wenn man es uns erzählen würde, könnten wir es nicht in seiner ganzen Tiefe begreifen.

Dann, eines Tages, plötzlich und ohne Vorwarnung, wird das, was einem so leicht und angenehm erschien — die Kindererziehung —, zu einer mühseligen Angelegenheit, von der man nicht weiß, wie man sie bewältigen soll.

Das ist der Moment, in dem man sich fragt: „Wer hat bloß mein Kind vertauscht? Es war doch vorher nicht so!“

Wo ist meine Tochter?

Ich erinnere mich noch, was ich empfunden habe, als meine erste Tochter in die sogenannte Trotzphase kam. Wann genau es mit den heftigen Wutanfällen losging, weiß ich nicht mehr, aber ich weiß noch gut, wie ich mich anfangs fühlte. Ich war völlig verwirrt, weil ich meine Tochter nicht wiedererkannte. Manchmal war sie wie immer und manchmal wie eine Fremde. Als hätte jemand meine Tochter vertauscht. „Wo ist sie?“, dachte ich mit mulmigen Gefühlen. „Ich vermisse das Kind, das sie mal war … Wie soll das weitergehen?“ Ich hatte das Gefühl, durch unruhige Gewässer zu navigieren, ohne den Kurs zu kennen. Ich war völlig verunsichert. Lange war es ganz anders gewesen. Ich hatte mich sicher gefühlt und gedacht, ich täte das Richtige, ich wüsste, was sie braucht, und hätte alles unter Kontrolle. Ich war entspannt und genoss das Gefühl von Glück und Gelingen. Alles ging mir leicht von der Hand, und ich fand, dass ich es „gut“ machte.

Ich erinnere mich noch, wie ich eines Abends zu Beginn dieser Phase meiner Tochter ihrem Vater, der gerade nach Hause gekommen war, erzählte: „Heute hatten wir hier zwei Mädchen und eines von beiden hat mir große Angst eingejagt!“ Anfangs konnte er es kaum glauben, wenn ich ihm beschrieb, wie sie getobt hatte. Er sah, wie seine Tochter wie immer lächelnd auf ihn zugelaufen kam, um ihm alles zu zeigen, was sie Neues gemacht und gelernt hatte, und konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Mädchen mich noch vor Kurzem wütend angebrüllt hatte. Was ich ihm erzählte, passte einfach nicht zu seinem bisherigen Bild von ihr.

Irgendwie war es ärgerlich, dass ich meistens allein mit den Wutanfällen unserer Tochter fertigwerden musste (darauf werde ich später noch zurückkommen). Ich wusste oft gar nicht genau, warum sie wütend wurde und plötzlich, ohne dass ich mich hätte darauf einstellen oder etwas tun können, wie am Spieß zu kreischen begann. So schrill, dass mir schier das Trommelfell platzte und ich völlig verrückt wurde. Ja, verrückt.

Bestimmt hast du auch schon gemerkt, dass kleine (und nicht mehr ganz so kleine) Kinder die natürliche Fähigkeit besitzen, genau das zu tun, was ihre Eltern am meisten ärgert. Dieses „Geschick“ haben sie nun mal. Nicht, weil sie nerven wollen. Sie machen es nicht mal bewusst, aber jedes Kind weiß, welche Knöpfe es drücken muss, damit der vernünftige, erwachsene Teil seiner Eltern sich verabschiedet. Und ich glaube sogar, dass Kinder uns damit einen Gefallen tun. Sie stoßen etwas an. Wir können nun nicht mehr anders, als uns mit unserer Reizbarkeit auseinanderzusetzen. Doch solange uns das nicht klar ist, glauben wir, unser Kind würde uns mit seinen Wutanfällen zugrunde richten.

Eines Tages habe ich mich also gefragt, ob jemand meine Tochter vertauscht hat. Zumindest dachte ich, dass irgendwas mit ihr nicht stimmt. Das alles war nicht normal. Ich gehörte auf einmal zu denen, die diesen naiven Satz sagen: „Das hat sie bisher noch nie gemacht!“ Als hieße das, sie werde es auch niemals machen. Jetzt, Jahre später, muss ich über mich und diesen Satz lachen. Natürlich hatte sie es noch nie gemacht. Sie war ja noch zu klein, um sich darüber im Klaren zu sein, was sie wollte und was nicht. Sie hatte es noch nie gemacht, weil sie erst jetzt das sogenannte Trotzalter erreicht hatte. Ich muss über mich lachen, weil ich, die so viel über Kindererziehung gelesen hatte, glaubte, schon alles zu wissen. Ich dachte damals, ich würde mit jeder Entwicklungsphase locker fertigwerden und mich nicht über meine Tochter ärgern, da ich ja wüsste, dass sie noch klein ist. Und schon musste ich mich wieder in Demut üben!

Liebe Eltern, manchmal habe ich den Eindruck, wir bemerken immer zu spät, dass unser Kind in einer neuen Entwicklungsphase steckt.

Erst nach Tagen oder Wochen oder sogar Monaten wird uns bewusst, dass es das sogenannte Trotzalter erreicht hat, dass es nun auf seiner Meinung, seinen Ideen und seinen Weigerungen beharrt.

Genauso ist es zum Beispiel mit der Vorpubertät. Erst nachdem sich bei einem Kind schon längst Veränderungen angekündigt haben, merken wir, dass es diese Phase erreicht hat. Während wir gedacht haben, es sei noch dasselbe Kind wie immer. Offenbar entspricht diese Verzögerung einer Gesetzmäßigkeit. Wie schön wäre es doch, wenn uns Veränderungen bewusst würden, während sie sich vollziehen, und nicht erst, wenn wir schon seit Wochen gestresst sind, weil wir nichts begriffen haben!

Wir lieben nun mal Beständigkeit. Wir glauben, es werde immer alles gleich bleiben, nichts werde sich im Leben ändern und der Tod werde nie eintreten. Dabei ist jeder Augenblick voller Leben und Tod. Jede Phase kommt, hält sich eine Weile und wird von der nächsten abgelöst. Wir glauben, das Leben verlaufe geradlinig, ohne unverhoffte Wendungen oder Rückschritte. Auch unsere Töchter und Söhne betrachten wir im Grunde als unveränderliche Wesen. Wie oft reden Eltern über ihre zwanzig-, dreißig- oder fünfundvierzigjährigen Kinder, als wären diese immer noch ihre kleinen Sechsjährigen!

Ich habe also damals versucht, mich von der Vorstellung der Beständigkeit zu verabschieden und zu begreifen, dass meine Tochter dabei war, sich zu verändern, und zwar stark. In schwierigen Zeiten wie diesen ist es gut, wenn man Freunde und Freundinnen mit gleichaltrigen Kindern hat, weil sie einem von ganz ähnlichen Erfahrungen berichten.

Dadurch wird einem klar, dass das, was mit dem eigenen Kind geschieht, nicht nur normal, sondern absolut keine Ausnahme ist. Falls eure Freundinnen oder Freunde das Gegenteil behaupten und sagen, so etwas hätten sie noch nie erlebt, tut euch den Gefallen und sucht euch neue. Es gibt Menschen, die einen, statt Empathie zu zeigen, noch stärker runterziehen: Ihre Kinder schlafen angeblich durch, weinen nie und essen alles.

Schließlich, nach mehreren Wutausbrüchen deines Kindes, nach Gesprächen mit Freunden, die nicht ehrlich sind, und nach Recherchen in Büchern und im Internet (wir wissen zwar, dass wir das in verzweifelten Momenten nicht tun sollten, erliegen aber alle der Versuchung, uns bei Google schlauzumachen), fällt es dir wie Schuppen von den Augen: Niemand hat dein Kind vertauscht. Dein Kind ist so. Dein Kind ist auch so.

Du bist entsetzt. Dir wird bewusst, dass du — nicht ungewöhnlich in solchen Momenten — dein Kind gar nicht magst. Das tut dir sehr weh, weil es noch nie passiert ist. Du mochtest alles an ihm, alles. Jetzt stellst du fest, dass dir dein Kind nicht gefällt, wenn es wütend wird. Und neben diesem schmerzlichen Gefühl taucht ein weiteres, genauso unangenehmes oder noch unangenehmeres auf: das Schuldgefühl.

Weil du nicht empfinden willst, was du empfindest, wenn dein eigenes Kind dir wie eine Teufelsbrut vorkommt. Weil du nicht erleben willst, dass du dieses Kind nicht magst. Du willst dieses Gefühl der Ablehnung nicht empfinden, das von irgendwoher aufgetaucht ist und mit dem du niemals gerechnet hättest.

Und zu dieser bedrückenden Erfahrung gesellt sich eine weitere. Nicht nur magst du nicht, wie dein Kind sich während eines Wutausbruchs verhält. Etwas anderes macht alles noch schlimmer: wie du dich selbst verhältst.

Dir wird bewusst, dass du vor allem dich selbst in dieser Situation nicht magst. Du magst nicht, was du fühlst, was du sagst, was du tust. Du erlebst eine doppelte Ablehnung: die deines Kindes und die deiner selbst. Weil du plötzlich entdeckst … wie viel Aggression in dir steckt.

Die Aggression, die in mir steckt

Wenn dein Kind weint, beunruhigt dich das zunächst nur ein bisschen. Weint es aber immer heftiger und hört gar nicht mehr auf — vor allem dann, wenn du gestresst bist und keine Zeit hast, auf seinen Kummer oder seine Wut einzugehen, oder wenn du nicht weißt, wie du es beruhigen sollst —, dann taucht DAS auf.

DAS ist ein unangenehmes Gefühl, das in dir rumort, das deinen Kiefer, deinen Nacken, deinen ganzen Körper verspannt. Möglicherweise hast du es vorher noch nie erlebt. Im Gegenteil, du hast dich für den friedlichsten Menschen auf der Welt gehalten, und plötzlich siehst du sie: die Aggression, die in dir steckt. Den Zorn, der in dir brennt und dich verzehrt. Diesen brodelnden Vulkan, der ein Ich zum Vorschein bringt, das du nicht wiedererkennst.

Du erschrickst.

DAS kann jederzeit auftauchen, sogar wenn du ein kleines Baby im Arm hältst, das dich mit seinem schrillen, nicht enden wollenden Weinen zur Verzweiflung bringt. In solchen Momenten steigt womöglich neben der unangenehmen Wut auf dein kleines Kind auch die Befürchtung in dir auf, dass du einen Fehler gemacht hast. Dass du mit so etwas nicht zurechtkommen wirst.

Vielleicht tauchen diese Gefühle und Gedanken aber auch erst später auf, wenn dein Kind schon älter ist und dir mit seinem Verhalten zu verstehen gibt, dass es absolut nicht vorhat, mit allem, was du sagst, einverstanden zu sein.

Ich habe diese Gefühle erlebt. Ich dachte zum Beispiel: „Jetzt geht sie mir so auf die Nerven, dass ich ihr am liebsten eine Ohrfeige geben würde.“ Oder: „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, damit sie endlich still ist. Am liebsten würde ich ihr diese Wasserflasche über den Kopf gießen.“ Ja, so etwas habe ich gedacht. Ich, die überzeugte Verfechterin einer achtsamen, liebevollen und bewussten Erziehung. Ich, die jede Menge Bücher über Elternschaft gelesen hatte. Ich, die immer dagegen gewesen war, Kinder zu ohrfeigen oder sie links liegen zu lassen, sie auszuschimpfen oder zu bestrafen, ich dachte plötzlich genauso wie die böse Hexe im Märchen.

Ich habe mich erschrocken. Dass ich mich in der geschilderten Situation absolut nicht mochte, hat mich an einen Tiefpunkt gebracht. „Warum habe ich diese Gefühle?“, habe ich gedacht. „Ich kenne doch die Bedürfnisse eines Kindes. Ich weiß doch, dass es das Recht hat, stets respektiert zu werden.“ Ich schwöre dir, so eine Erfahrung flößt einem größte Demut ein. Plötzlich steht man nackt da. Und man braucht Zeit und eine gute Portion Selbstmitleid, um nicht ganz abzusacken, sich nicht selbst zu hassen und fertigzumachen.

Mir wurde damals klar, dass ich Rat brauchte. Ich wusste, dass ich einen langen Weg vor mir hatte. „Ich muss mehr darüber lernen, was in so einem Moment in einem vorgeht“, dachte ich. „Ich muss Bücher lesen, diese Phase erforschen. Denn das, was gerade mit uns passiert ist, will ich nicht noch einmal erleben.“

Eigentlich ging es mir nicht so sehr darum, diese Situation nicht noch einmal zu erleben, sondern sie nicht wieder in dieser konkreten Weise zu erleben.

Ich habe meine Tochter nie geschlagen und auch ihre kleine Schwester nicht, die ebenfalls eine heftige Trotzphase durchgemacht hat. Weil ich es nicht wollte, weil ich strikt dagegen war, weil meine Vernunft in den entscheidenden Momenten gesiegt hat und ich zum Glück kurz Abstand nehmen und einen gewissen Weitblick wahren konnte.

Aber die Angst war entsetzlich. Wegen dieses schrecklichen Erlebnisses und weil ich an die Kinder dachte, deren Eltern sich nicht beherrschen können, sondern der in ihnen aufsteigenden Aggression nachgeben.

Wie immer, wenn etwas mich beunruhigt, habe ich noch am Abend nach diesem Erlebnis und der damit verbundenen Angst einen Blogartikel geschrieben:

Die Aggression, die in mir steckt (8.11.2011)

Wenn wir von Erziehung sprechen, wenn wir von Kindern (den eigenen oder anderen) sprechen, sprechen wir oft von „ihrer“ Gewaltbereitschaft, „ihrer“ Aggressivität. Davon, dass sie sich schubsen und prügeln, sich beißen oder an den Haaren ziehen, sich schlimme Sachen sagen.

Irgendwann möchte ich mal über diese kindliche Aggressivität sprechen. Was mich aber überrascht und mir zu schaffen macht, ist die Aggression in mir selbst. Die Aggression, die ich in bestimmten Momenten in mir spüre, tief drinnen, an einem fest verschlossenen Ort. Eine Aggression, eine Gewalt, die ausgelebt werden will.

Ich glaube, wir alle besitzen ein gewisses Gewaltpotenzial. Was uns unterscheidet, ist die Art, wie es sich äußert, und ob es überhaupt hervortritt. Manche Menschen haben sich nicht unter Kontrolle und üben mit Worten oder Taten Gewalt aus. Kindern gegenüber ist das sehr einfach, da sie verletzlicher und in einer schwächeren Position sind als wir Erwachsenen.

Ich halte mich absolut nicht für einen gewalttätigen Menschen. Gewalt ertrage ich in keiner Form, sie stört mich und ich bin immer entsetzt, wenn ich sie im Fernsehen, auf der Straße oder sonst wo erlebe.

Bis jetzt, als Mutter einer etwas über zwei Jahre alten Tochter, hatte ich nie bemerkt, dass auch ich nicht frei von dieser Aggression bin, die irgendwo in uns steckt und manchmal irrsinnige Lust hat, hochzukommen und Gestalt anzunehmen. Ich war überzeugt, frei von Aggressivität zu sein. Dabei hatte nur noch nie jemand meine Geduld massiv auf die Probe gestellt. Falls ihr euch jetzt fragt, ob ich meine Tochter geschlagen habe: Nein, ich habe sie nie geschlagen und hoffe, dass ich es nie tun werde. Ich habe die bewusste und feste Absicht, sie niemals zu schlagen. Weder sie noch jemand anders.

Aber es ist nicht einfach. Es gibt Tage, da merkst du plötzlich, dass Aggression in dir steckt, und musst dir Mühe geben, sie zu kontrollieren, dich zu sammeln, zu beruhigen. Du musst versuchen, die verlorene Geduld wiederzufinden und zu verstehen, dass du die Erwachsene bist und deine Tochter oder dein Sohn das Kind.

So sind die Rollen verteilt, und deshalb bist du diejenige, die alles daransetzen muss, die verlorene Kontrolle wiederzuerlangen, wieder zu sich zu kommen.

Die eigene Aggressivität zu erleben, hat mir einiges klargemacht. Ich habe mich besser kennengelernt. Ich habe etwas Wichtiges gelernt:

»Wenn meine Aggressionen mit aller Macht aufsteigen, muss ich für einen Moment auf Distanz gehen.

»Ich muss tief durchatmen, kurz die Augen schließen oder (falls noch jemand anders da ist) den Raum verlassen.

Es dauert nie lange, manchmal nur drei oder fünf Minuten, bis ich die nötige Ruhe wiedergefunden habe, damit die Konflikte sich in Luft auflösen, als hätte es sie nie gegeben. Doch danach bin ich traurig, erschöpft und erschrocken darüber, wie heftig meine Wut war, eine Wut, die oft mit Frust, Ohnmacht und meistens auch mit Müdigkeit verbunden ist.

Ich gebe wirklich nur ungern zu, dass ich, wenn meine Tochter mich auf die Palme bringt, tief durchatmen muss. Würde ich nämlich meinen aggressiven Impulsen nachgeben, würde ich ihr tatsächlich eine Ohrfeige verpassen, obwohl ich das auf keinen Fall will. Der Gedanke daran, wie sehr Kinder ausgeliefert sind, wenn ihre Eltern sich nicht unter Kontrolle haben, wenn die Aggressionen, die sie in sich tragen, zutage treten, ohne dass etwas oder jemand sie aufhalten könnte, macht mich sehr traurig. In den eigenen vier Wänden kann alles passieren und niemand bekommt es mit.

Ja, ich habe erlebt, dass auch in mir eine Aggressivität steckt. Und ich habe mir fest vorgenommen, niemals zuzulassen, dass sie mit mir durchgeht. Vor allem wegen meiner Tochter. Aber auch meinetwegen.

Diesen Post habe ich damals nicht ohne Scham verfasst. Als ich mich vor ein paar Jahren damit derart geoutet habe, fühlte ich mich unsicher, schutzlos und verletzlich. Gleichzeitig lag mir viel daran, das, was ich erlebt hatte, zu schildern und von meinem festen Entschluss zu sprechen, meine Tochter auch während ihrer Wutanfälle mit Respekt zu behandeln. Erst dachte ich, niemand werde den Text lesen. Doch dann war ich sehr überrascht, dass er immer häufiger aufgerufen wurde, dass sogar Kommentare kamen und vor allem viele private Mails.

Öffentlich über die eigenen Aggressionen zu sprechen, ist nicht angenehm.

Ich schätze, deshalb haben viele es vorgezogen, mir privat mitzuteilen, was mein Text bei ihnen ausgelöst hat. Einige Leute haben mir geschrieben, sie hätten ihre Kinder geschlagen, geschüttelt, mitten im Februar unter die kalte Dusche gestellt usw. Gewalt kann sich vermutlich in unendlich vielen Formen äußern.

Ihre Nachrichten haben mich erneut erschreckt. Denn wenn diese Menschen, die versicherten, es sei ihnen wichtig, ihre Kinder bewusst und respektvoll zu erziehen, derart die Nerven verloren und ihre Wut an ihnen ausgelassen hatten, was taten dann erst Eltern, die glaubten, Kinder, die nicht parieren, könne man ruhig schlagen, bestrafen, ausschimpfen?

Ich glaube, diese Mails gaben mir den Anstoß, mich eingehender mit Wutausbrüchen und Aggression zu befassen. Das war im Jahr 2011. Seither habe ich mich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Mein Anliegen ist es, Müttern und Vätern zu helfen, nicht die Nerven zu verlieren, sondern anders mit ihren wutentbrannten Kindern umzugehen: gelassener, respektvoller, liebevoller und bewusster.

Ich habe mich informiert, mich fortgebildet und es mir zur Aufgabe gemacht, öffentlich darüber zu sprechen, wie wichtig es ist, an sich selbst zu arbeiten, um die eigenen Aggressionen unter Kontrolle zu halten und sie nie an Kindern auszulassen. Ich habe in Schulen und Einrichtungen Vorträge über Wutausbrüche gehalten, habe Elternkurse zum Umgang mit kindlichen Gefühlen gegeben. Und in all meinen Posts und Videos versuche ich, etwas Grundsätzliches zu vermitteln: dass wir unsere Töchter und Söhne unbedingt mit Respekt behandeln sollten.

Sie verdienen es nicht nur, sie haben auch ein Recht darauf. Und unsere Kinder sind die Erwachsenen von morgen. Wir wissen alle, dass unsere Gesellschaft sich nicht eben durch ein Übermaß an Respekt, Selbstkontrolle, Selbsterkenntnis und bedingungsloser Liebe auszeichnet. Wenn wir etwas daran ändern und eine bessere, vernünftigere und liebevollere Welt schaffen wollen, müssen wir also an der Basis beginnen. Und das bedeutet: Um denen, die unsere Zukunft sind, ein gutes Beispiel zu geben, müssen wir unseren Blick ändern, übernommene Vorstellungen ablegen und neue Verhaltensformen, neue Arten der Kommunikation und der Konfliktbewältigung erlernen.

Das mag schwierig klingen und ist es womöglich auch. Aber für mich steht fest, dass es eine unverzichtbare Aufgabe ist.

Wir Erwachsenen müssen uns selbst helfen, auf der Basis von Mitgefühl, Respekt und bewusster Überlegung weiter zu wachsen, um so auch unseren Töchtern und Söhnen auf ihrem Lebensweg zu helfen.

Das erscheint mir unerlässlich und von größter Bedeutung. Nichts auf deinem Weg durch die Welt wird eine deutlichere Spur hinterlassen als die Tatsache, dass du dich weiterentwickelt und verändert hast, dass du gereift bist und deine Kinder in einem neuen, reiferen Bewusstsein erzogen hast.

Ich bin froh, den Post „Die Aggression, die in mir steckt“ geschrieben zu haben, und dankbar für alle Kommentare und alle Mails, die ich nach seiner Veröffentlichung bekommen habe. Ohne sie stünde ich heute nicht da, wo ich stehe.

Moment mal …

Ich möchte dir vorschlagen, die folgenden Sätze aufmerksam zu lesen. Schließe dann die Augen und horche in dich hinein. Versuche, bewusst zu atmen und dabei zu spüren, wie die Luft in deinen Körper dringt und wieder aus ihm herausströmt. Entspanne die Regionen deines Körpers, in denen du Anspannung verspürst, und achte weiter auf das Fließen deines Atems: ein und aus, ein und aus …

Nun richte deine Aufmerksamkeit auf das, was du empfindest, und versuche, folgende Fragen zu beantworten: Wie fühlst du dich jetzt? Hast du dich in dem soeben Gelesenen wiedergefunden? Was für ein Gefühl nimmst du in diesem Moment am stärksten in dir wahr? Falls du es erkennen kannst, versuche, ihm einen Namen zu geben. Nun atme dieses Gefühl ein und achte auf das, was es in dir auslöst. Atme bewusst und beobachte dabei, was du spürst. Atme mit diesem Gefühl, führe ihm Luft zu und stoße sie dann kräftig aus. Ist das angenehm oder löst es in deinem Körper eine unangenehme Empfindung aus? Wie auch immer es sich anfühlt, atme und spüre weiter. Gib deinen Empfindungen Raum, lasse sie zu. Versuche nicht, sie zu unterdrücken oder zu bewerten. Gib ihnen einfach Raum. Das, was du jetzt fühlst, muss erlebt und beachtet werden. Öffne dich ihm …

Solltest du irgendwann in dir Gewalt, Aggressivität, Zorn oder Wut auf deine Tochter oder deinen Sohn verspürt haben, kehre zurück zu diesem Moment. Atme weiter tief und bewusst und nimm Verbindung auf zu diesem Moment, zu dieser Wut, die Besitz von dir ergreift. Ich weiß, dass es dir möglicherweise schwerfällt. Es könnte aufwühlend sein, daran zu denken und die Wut noch einmal zu erleben. Aber selbst wenn die Erinnerung an jenen Moment unangenehm ist, frage dich: Was kann ich aus dieser Erfahrung lernen? Was von mir selbst kommt darin zum Ausdruck? Bleib in der Stille, öffne dich und lass die Antworten, die jetzt kommen, ihren Platz finden.

Wir müssen unserer Intuition Raum geben und auf sie hören, damit sie uns helfen kann.

Einen Tiefpunkt erreichen

Manchmal erlangt man an einem Tiefpunkt plötzlich Klarheit über wichtige Themen und erreicht einen Wendepunkt. Ich glaube, bei mir geschah das an einem Montag. Seit ein paar Tagen herrschte zu Hause Heavy-Metal-Stimmung — wenn du weißt, was ich meine. Ein Wutausbruch folgte auf den anderen, und ich wartete auf das Abziehen des Unwetters.

Ich war schwanger. Das erwähne ich hier nur kurz. Später werde ich näher darauf eingehen, wie man mit Wutanfällen umgehen kann, wenn man ein weiteres Kind erwartet. Ich war also schwanger, müde und gereizt. An diesem Tag trieb meine Tochter es auf die Spitze: Sie kreischte, schmiss Sachen zu Boden, versuchte, mich zu treten, und weinte lange. Ich war buchstäblich mit den Nerven am Ende.

Da merkte ich, wie DAS in mir aufstieg, eine Aggressivität, die ich mit aller Macht zurückhielt, bis ich schließlich restlos erschöpft war. Als alles vorbei war, war ich erledigt und versank in abgrundtiefer Traurigkeit. Ihr Vater kam von der Arbeit, sodass ich das Haus verlassen konnte. Ich brauchte einfach für eine Weile Abstand von diesem Ort. Eigentlich brauchte ich Abstand von meiner Tochter. Ich konnte nicht mehr, ich fühlte mich körperlich, geistig und emotional völlig ausgelaugt. Ich rief meine Mutter an und fragte, ob ich bei ihr und meinem Stiefvater vorbeikommen könne. „Komm“, sagte sie, als sie mein „Ich kann nicht mehr“ hörte.

Die beiden erwarteten mich in ihrem Wohnzimmer. Ich setzte mich aufs Sofa und brach in Tränen aus. Ich fühlte mich schrecklich ohnmächtig. Ich erzählte ihnen, was passiert war. Ich schilderte die vielen Wutausbrüche der Kleinen in den letzten Tagen und wie schlecht wir uns alle fühlten. Und dann kam ich zu dem Punkt, der mir wirklich wehtat, nämlich mir eingestehen zu müssen, dass ich in diesen Konfliktmomenten meine Tochter und mich selbst verabscheute.

Als ich es laut aussprach, klang es so entsetzlich, dass ich gleich wieder in Tränen ausbrach. Ich verabscheute meine Tochter für das, was sie tat, für das, was ich empfand, wenn sie ausrastete. Und weil sie einfach mit nichts zufrieden zu sein schien. Weil sie nicht verstand, dass ich schwanger und müde war, dass ich Ruhe und Entspannung brauchte. Und mich selbst verabscheute ich, weil ich ihr Verhalten so persönlich nahm. Weil ich glaubte, zu versagen und eine schreckliche Mutter zu sein, die ihre Tochter hasst. Weil ich nicht wusste, wie ich ihr helfen sollte. Weil ich spürte, dass nichts von dem, was ich gelesen hatte, mir etwas nützte. Weil ich in einer Sackgasse steckte.

„Weine ruhig“, hörte ich, während ich von Schluchzern geschüttelt wurde. Was die beiden außerdem noch sagten, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich gut an das Gefühl, verstanden und nicht verurteilt zu werden. Ich erinnere mich, dass sie mir erlaubten, überfordert zu sein, Sachen zu sagen, die ich nicht wirklich dachte, meine Tochter zu verabscheuen, mich selbst fertigzumachen. Sie gaben mir den emotionalen Raum, in dem ich allen Schmerz und alles Unbehagen loswerden konnte. Und sie taten es mit nur wenigen Worten und ohne zu werten. Sie waren nicht verletzt oder gekränkt, nicht mal beunruhigt, weil ich so von ihrer Enkelin sprach. Sie ließen mich einfach von meiner miserablen Verfassung erzählen. Eine Stunde lang saß ich bei ihnen und weinte die ganze Zeit. Danach lachten wir und ich ging zurück nach Hause, erschöpft, aber in sehr viel besserer Stimmung.

Dieser Abend war entscheidend. Mein Tiefpunkt war zugleich ein Wendepunkt. Erst nach einer Weile merkte ich, wie wichtig er gewesen war.

Und nun begann ich, die Dinge richtig einzuordnen und in allem Gesagten, Erlebten, Gelesenen einen Sinn zu entdecken. Endlich passte alles zusammen.

Das geschah nicht von jetzt auf gleich. Aber ich kann dir versichern: Dieser Abend hat sich mir als einer der wichtigsten in meinem Leben als Mutter eingeprägt. Mein Gott, wie sehr habe ich an diesem Tag gelitten! Und wie gut und wie wunderbar, dass meine Tochter mich an diesen düsteren, schrecklichen Ort geführt hat, in meine eigene Hölle.

Hätte sie es nicht getan, hätte es diese Stunde bei meinen Eltern nicht gegeben, ich wäre nicht zu dieser tiefen Einsicht gelangt und hätte meiner Tochter nicht helfen können. Weder ihr noch heute ihrer kleinen Schwester. Mit einem anderen Wissen, einer anderen Perspektive.

Ich weiß nicht, ob du schon in deine eigene Hölle hinabgestiegen bist. Ich hoffe, das wird gar nicht nötig sein und du kannst mithilfe meines Tiefpunkterlebnisses und dem, was ich dir erzählt habe und noch erzählen werde, dein Kind mit einer anderen Einstellung erziehen. Ich hoffe, du brauchst nicht so zu leiden wie ich, sondern kannst die kindlichen Wutausbrüche verstehen und gelassener, achtsamer und schmerzfrei mit ihnen umgehen.

Was ist an jenem Abend so Entscheidendes passiert? Im Grunde nur, dass meine Mutter und ihr Mann mir erlaubt haben, so zu sein, wie ich bin, zu fühlen, was ich fühlte. In keinem Moment habe ich bei ihnen die Absicht oder den Wunsch verspürt, die Situation, das Hier und Jetzt zu ändern. Sie haben auch keine Lösungen vorgeschlagen, haben mir keine Ratschläge gegeben oder Dinge wie „Kopf hoch!“ gesagt. Die hätten mir an dem Abend auch gar nicht geholfen.

Ich fühlte mich ganz einfach geliebt, sogar an meinem Tiefpunkt, in meinem Inferno, in meiner schlimmsten, schmerzlichsten Dunkelheit.

Ich fühlte mich akzeptiert, obwohl ich harte Sachen sagte, obwohl ich zugab, dass ich nicht die Mutter war, die ich sein wollte.

Sie hörten mir aufmerksam zu, mit Empathie, ohne über mich zu urteilen. Sie akzeptierten jedes meiner Worte und alle meine Tränen. Und genau das brachte die Wende, durch die sich alles änderte. Weil sie mich so behandelten, wie meine Tochter behandelt werden wollte. Das hatte ich aber in jenen Momenten nicht verstanden. Ich hatte nicht begriffen, dass es manchmal nicht reicht, nachzugeben oder Nein zu sagen. Manchmal braucht man nichts zu ändern und nichts zu sagen. Manchmal geht es nur darum, zu verstehen, zu akzeptieren und zu unterstützen. Darum, das Hier und Jetzt ganz und gar zu akzeptieren, und zwar nicht passiv, wie jemand, der das Handtuch wirft, sondern es bewusst und verständnisvoll anzunehmen und sich nicht länger gegen das zu wehren, was ist.

Meine Eltern wollten an jenem Abend das, was ich gerade durchmachte, nicht verändern oder abmildern. Sie wollten sich auch nicht einmischen, um mir in meinem Dilemma zu Hilfe zu kommen. Sie akzeptierten, was war, und ließen meine Emotionen ohne jeden Widerstand zu. Und genau das brauchen unsere Kinder. Dass wir erst einmal verstehen, was ein Wutanfall ist (darauf werde ich im Folgenden eingehen), und dass wir den Moment so annehmen, wie er ist, egal ob Wut im Spiel ist oder nicht.

Es fällt immer schwer, sich von rosaroten Erwartungen zu verabschieden und die Gegenwart zu akzeptieren. Das Bedürfnis, jede Situation zu kontrollieren, führt jedoch nur dazu, dass man im Moment eines Wutausbruchs das Leiden noch vergrößert.

Zurück zu jenem Abend: Genau wie meine Tochter war ich wutgeladen. Doch meine Eltern verhielten sich mir gegenüber völlig anders, als ich mich gegenüber meiner wutentbrannten Tochter verhielt. Ich konnte ihre Wut nicht akzeptieren. Ich wollte etwas an diesen Ausbrüchen ändern, ich ertrug sie nicht. Ich wollte nicht, dass meine Tochter Tobsuchtsanfälle bekam, ich wollte, dass sie meinen Standpunkt verstand und annahm, dass sie gehorchte. Das war der Unterschied. Wichtig war im Grunde nicht das, was sie tat, sondern dass ich mit einer falschen Einstellung damit umging. Und diese Einstellung vergrößerte nur unser beider Schmerz und die Distanz zwischen uns. Und das wiederum verstärkte Laias Unbehagen, und die Wutanfälle nahmen weiter zu.

Wir werden uns in diesem Buch detailliert mit all diesen Themen befassen und mit der Frage, wie wir mit den Wutanfällen unserer Kinder umgehen. Doch zuallererst müssen wir ein paar Dinge begreifen. Wir müssen wissen, worum es geht und worüber wir hier sprechen.

Moment mal …

Nach der Lektüre des vorangegangenen Teils schlage ich dir vor, eine kleine Pause einzulegen und in dich hineinzuhorchen. Nur so kannst du bestimmte Zusammenhänge erkennen, Verbindung mit dir selbst aufnehmen und Dinge begreifen. Achte erneut auf deine Atmung. Beobachte, wie der Atem fließt, wie Luft in deinen Körper hinein- und wieder aus ihm herausströmt. Versuche, verspannte Körperregionen zu lockern, lass mit jedem Ausatmen mehr los und entspanne dich.

Beobachte nun genau, wie du dich nach der Lektüre des Vorangegangenen fühlst. Ich habe von einem Tiefpunkt gesprochen. Vielleicht hast auch du irgendwann einen solchen Punkt erreicht. Mit deinen Kindern oder in einer anderen Situation, als du noch keine Kinder hattest. Hat sich während des Lesens ein bestimmtes Gefühl in dir geregt? Versuche, dich an die auslösende Situation zu erinnern. Hat es dir etwas gebracht, diesen Tiefpunkt zu erreichen? Ich weiß, es ist nicht angenehm, an einen Tiefpunkt zu gelangen. Es tut weh und ist schwer auszuhalten. Aber oft wachsen wir gerade durch Schmerzen, oft sind sie es, die Veränderungen anstoßen. Was nicht heißt, dass wir uns nicht auch in Zeiten des Glücks und der Zufriedenheit verändern und weiterentwickeln können. Aber Schmerz wirkt sehr viel intensiver und kann eine Art Pforte sein. Er kann einen starken Eindruck hinterlassen und dadurch in unserem Leben eine Wende einleiten.

Wenn wir einen Tiefpunkt als solchen erkennen und uns den Weg dorthin vor Augen führen, kann uns das enorm weiterhelfen. Nicht nur im Hinblick auf das, was uns noch zu tun bleibt, sondern weil uns dabei klar wird, was jener Moment für uns bedeutet hat. So können wir ihm sogar dankbar sein. Und so wird aus der schmerzlichen, leidvollen Energie eine Energie der Dankbarkeit, Freude und Annahme des aufschlussreichen Augenblicks. Suche in deinen Erinnerungen nach diesen Momenten und würdige sie so, wie sie es verdienen. Sie haben dich zu dem Menschen gemacht, der du heute bist, und ich bin sicher, dass sie dich vieles gelehrt haben. Atme ganz bewusst ein und aus und würdige sie. Diese Momente gehören zu dir.

zwei

Was ist ein Wutanfall?

Der Wutanfall (oder Wutausbruch oder Ausraster, nenne ihn, wie du willst) ist Ausdruck eines starken Unbehagens, das sich in Form einer Explosion Luft macht. Mal steckt Frustration dahinter, mal Zorn oder Eifersucht, aber auch Müdigkeit, Hunger usw. Man könnte annehmen, das Kind ärgert sich einfach nur, doch es ist mehr als das. Was einen Wutanfall von bloßem Ärger unterscheidet, ist die Art, wie sich die Gefühle manifestieren — das Verhalten des Kindes, das ganz und gar von diesem Ausbruch bestimmt ist.

Falls dein Kind noch nicht in der Phase ist, in der solche Anfälle auftreten, oder du keine Kinder hast, hast du vermutlich trotzdem schon mal irgendwo einen kindlichen Wutanfall miterlebt, eine dieser völlig verrückt erscheinenden Szenen, bei denen viele kinderlose Erwachsene denken: „Sollte ich mal Kinder haben, werde ich so etwas unter keinen Umständen durchgehen lassen.“ Oder: „Das kommt davon, wenn Eltern ihrem Kind keine Grenzen setzen.“

Kleiner Einschub: Wir alle wissen immer ganz genau, wie man mit Wutausbrüchen umgeht, solange wir noch mit keinem konfrontiert waren. Später sieht die Sache dann anders aus. Aber was genau macht ein Kind, das von einem Wutanfall gepackt wird? Alles Mögliche. Es kann sein, dass es sich hinwirft und mit den Beinen strampelt, dass es sogar versucht, sich selbst wehzutun.

Von außen betrachtet gleicht ein Wutanfall, salopp formuliert, einer Art Kurzschluss.

Plötzlich ist das Kind für nichts mehr zugänglich, weder für Worte noch für Gesten, und nimmt auch keine Hilfe an. Es scheint, als würde es sich von der Welt abkapseln und hätte Mühe, zu ihr zurückzufinden, wieder mit ihr in Kontakt zu treten. Es explodiert und macht dabei alles Mögliche, um die Energie, die es in sich hat und derentwegen es sich so schlecht fühlt, herauszulassen.

Die Erregung, die es empfindet, ist so stark und überwältigend, dass es, da es in seinem Alter noch nicht über Selbstkontrolle verfügt, einfach explodiert. Wenn Kinder vor Wut explodieren, leiden sie. Sie machen es nicht extra und wollen einen damit auch nicht ärgern. Sie leiden und fühlen sich sehr schlecht. Erwachsenen fällt es manchmal schwer zu verstehen, dass Kinder tatsächlich leiden, wenn sie sich derart aufführen. Denn manchmal lacht ein Kind nach relativ kurzer Zeit schon wieder. Da wir selbst, wären wir auf diese Weise explodiert, nicht so schnell wieder lachen würden, denken wir, sie würden uns womöglich mit ihrem Wutanfall, ihrem Kreischen und Heulen, auf den Arm nehmen.

Kinder erleben die Gegenwart intensiv, nicht wie wir Erwachsenen. Wenn sie explodieren, dann gewaltig, und dabei geht es ihnen gar nicht gut. Das heißt aber nicht, dass sie, wenn der Wutanfall vorbei ist, wenn sie geweint haben und getröstet wurden, nicht auch wieder lachen könnten. Im Grunde erleben unsere Kinder Emotionen auf eine viel gesündere Art als wir: Sie erlauben sich, sie auszuleben, und können, wenn alles vorbei ist, das Kapitel abschließen. Wie oft dagegen sind Erwachsene in einem Zorn gefangen, den sie tage-, wochen-, monate- oder sogar jahrelang nicht wirklich zu spüren wagen!

Wenn ich dir sage, dass Kinder leiden, dann nicht, damit du Mitleid mit ihnen hast, geschweige denn dich schuldig fühlst. Ich sage es dir, damit du dich im Bewusstsein ihres Erlebens und ihres Schmerzes mit ihnen verbinden kannst. Auch damit dir bewusst wird, dass Wutanfälle etwas Normales sind und Kinder darunter leiden. Kinder haben unbefriedigte Bedürfnisse und bringen dies zum Ausdruck, damit wir uns darum kümmern. Es ist wichtig, das zu verstehen, denn nur wenn uns klar ist, worum es bei Wutanfällen geht und was Kinder damit ausdrücken, nur wenn wir das, was sie fühlen, als gerechtfertigt anerkennen, werden wir sie, ohne sie zu verurteilen, liebevoll, mitfühlend und selbstbewusst begleiten können.

Kann man Wutanfälle verhindern?

Ja, einige zweifellos. Wenn dein Kind hungrig und müde ist, weil ihr gemeinsam unterwegs wart, du nicht gemerkt hast, dass es spät wurde, und jetzt weit und breit kein Restaurant in Sicht ist, wo ihr etwas essen könntet, ja, dann hätte der Wutanfall natürlich verhindert werden können. Nicht nur das, sondern er hätte verhindert werden müssen.

Manche kindlichen Wutanfälle sind vermeidbar, da sie die Folge eines unbefriedigten primären Bedürfnisses wie Hunger, Müdigkeit oder Erschöpfung usw. sind. Entsprechende Situationen kann man zweifellos im Voraus umgehen, indem man daran denkt, etwas zu unternehmen, bevor es zum Schlimmsten kommt (dem Kind zum Beispiel etwas zu essen gibt, bevor es allzu hungrig wird).

Aber es gibt auch Wutausbrüche, die sich nicht verhindern lassen und die man auch nicht verhindern muss. Manchmal ereignen sie sich, weil sich ein emotionales Unbehagen Luft machen muss. Zum Beispiel weil Kinder eifersüchtig sind, weil etwas nicht so wird, wie sie wollten, und sie enttäuscht sind, oder weil sie die Welt, die sie umgibt, nicht verstehen, weil sie nicht mehr weiterwissen und ihnen alles zu viel wird. Auch das ist in Ordnung. Sie müssen diese Emotionen erleben und mit ihnen zurechtkommen, das ist ein Gesetz des Lebens.

Zwischen zwei und sechs Jahre alt zu sein, ist bestimmt alles andere als einfach. Ein Kind in diesem Alter hat nur ein begrenztes Verständnis von der Welt, und unsere Welt ist nun mal ziemlich verrückt. Dass die eigenen Eltern so viele Stunden arbeiten gehen, dass man eigentlich mit ihnen zusammen sein will, es aber unmöglich ist, dass sie, wenn sie da sind, lauter Dinge im Haus erledigen müssen und nicht mit einem spielen, und wenn, dann viel zu kurz, dass man außerdem alle möglichen Anweisungen bekommt, zu essen, zu baden, schlafen zu gehen usw., all das auszuhalten, muss wirklich schwierig sein. Und nicht nur aus den genannten Gründen, sondern noch aus vielen anderen. Hast du dich mal in dein Kind und seinen Alltag hineinversetzt? Wirklich hineinversetzt? Denn wenn man das tut und versucht, die Welt aus der Perspektive der Kinder und mit ihrer Logik zu sehen, fühlt man sich sehr schnell genauso frustriert wie sie.

Aber nicht nur, dass sich die Außenwelt stark von dem unterscheidet, was sie innerlich erleben und fühlen. Ihr Innenleben begreifen sie ebenso wenig. Sie sind noch unreif, ihre Entwicklung schreitet in schwindelerregendem Tempo voran und dabei verändern sie sich alle naselang, müssen vieles verdauen und verarbeiten. Das ist, weiß Gott, aufregend, zugleich aber auch beängstigend. Oh nein, in ihrer Haut zu stecken, ist ganz sicher nicht einfach. Es wäre sehr nützlich, wenn wir uns daran erinnern könnten, wie wir uns in ihrem Alter gefühlt haben; dann könnten wir uns verbunden fühlen. Aber die meisten Menschen können sich an kaum etwas aus dieser Zeit erinnern, und was sie behalten haben, sind nur flüchtige Erinnerungen oder Geschichten, die auf die Erzählungen anderer oder auf Fotos zurückgehen.

Ich möchte dich dazu anregen, dich an deine Kindheit zu erinnern, damit du mehr Empathie für dein eigenes Kind aufbringen kannst.

Versuche, die Gefühle zurückzuholen, mit denen du zum Beispiel als fünfjähriges Kind zum Kindergarten gegangen bist. An manches können wir uns nicht erinnern, weil wir es unbewusst lieber vergessen wollten, eben weil es für uns so schwierig war. Das ist normal. Die frühe Kindheit ist nicht einfach, da etliche Veränderungen stattfinden und man mit viel Unreife, mit der Abhängigkeit von erwachsenen Bezugspersonen und zahlreichen Bedürfnissen konfrontiert ist. Das erklärt die Verletzlichkeit und das Ausgeliefertsein eines Kindes.

Moment mal …

Ich möchte dir anbieten, einen Moment innezuhalten und Verbindung zu deinem Körper aufzunehmen. Um unsere Kinder wirklich bewusst erziehen zu können, müssen unser Geist, unser Körper, unsere Seele und unser Herz Hand in Hand gehen. Deshalb schlage ich dir vor, dass du jetzt bewusst auf deine Atmung achtest: Beobachte, wie die Luft in deinen Körper hinein- und aus ihm herausströmt und wie sie innere Räume füllt. Konzentriere dich auf deinen Bauch, auf deine Brust, beobachte, wie sich durch das Ein- und Ausströmen der Luft diese Regionen weiten und wieder zusammenziehen.

Wenn du entspannt bist, schließe die Augen und versuche, dich mit jener Kindheitsphase zu verbinden, die auch du erlebt hast. Als du klein warst und du dich bestimmt auch verletzlich oder abhängig gefühlt hast und du die Welt, die dich umgab, einfach nicht verstanden hast. Ich möchte dich dazu anregen nachzuspüren, ob du dich an irgendetwas von damals erinnerst. Falls ja, was ist es? Welches Gefühl löst die Erinnerung in dir aus? Höre auf deinen Körper, hat sich etwas geregt? Falls ja, atme, lass es zu, erlaube ihm, sich zu manifestieren, und horche aufmerksam hin. Vielleicht entdeckst du dabei etwas, das beachtet werden möchte.

Begib dich auf eine Zeitreise, um besser mit dem Kind in Verbindung treten zu können, das du einmal warst, und dich so auch stärker mit dem zu verbinden, was dein Kind derzeit empfindet. Erinnerst du dich daran, wie du damals die Welt erlebt hast? Erinnerst du dich daran, ob du sie verstanden hast? Weißt du noch, wie du dich gefühlt hast?

Bleib in der Stille und nimm das Kind an, das du einmal warst, mitsamt all seinen Gefühlen und Empfindungen. Sie waren völlig in Ordnung und legitim.

Normal oder unnormal – die Erschöpfung der Eltern

Als meine Tochter zum ersten Mal einen Wutanfall bekam, war ich total baff. Noch nie hatte sie sich so verhalten. Ich wusste mir fast nicht zu helfen. Ich verstand nicht, warum sie wegen einer unbedeutenden Kleinigkeit (so kam es mir jedenfalls in dem Moment vor) derart tobte. Aber ich fand eine Erklärung dafür. Möglicherweise lag es daran, dass sie müde und hungrig war.

Vielleicht würde so etwas ja nie wieder vorkommen, dachte ich. Fehlanzeige. Natürlich kam es wieder vor. Natürlich haben Kinder mehr als ein- oder zweimal einen Wutanfall. Wenn sie aber oft derart ausrasten, fragen wir uns, ob das noch normal ist. Das Konzept der Normalität beschäftigt Eltern immer sehr: Ist das, was mein Kind macht, normal? Ist es normal für sein Alter? Ist mein Kind normal?

Natürlich kam mir der erste Wutanfall meiner Tochter nicht normal vor, ganz einfach, weil sie noch nie einen gehabt hatte und wir deshalb solche Ausbrüche überhaupt nicht gewohnt waren. Zum Glück wusste ich damals schon einiges über Kinder und mir war klar, dass viele Kinder sich in diesem Alter so verhalten wie meine Tochter in diesem Moment.

Tatsächlich ist es so, dass der Begriff Normalität uns entspannt.

Zu wissen, dass wir als Eltern nicht die einzigen Pechvögel sind, die versuchen (und es manchmal nicht schaffen), mit der gewaltigen Wut ihres Kindes zurechtzukommen, verleiht uns eine gewisse innere Ruhe. Und glaub mir, in solchen Fällen hilft einem alles, was beruhigt. Doch befassen wir uns für einen Moment etwas näher mit dem Konzept der Normalität, denn dahinter verbirgt sich noch etwas anderes: die Tatsache, dass wir uns sehr oft mit anderen vergleichen.

Vergleiche anzustellen ist allerdings gefährlich. Wenn Kinder anderer Leute etwas tun, was wir nicht in Ordnung finden, fällt unser Vergleich positiv aus. Wie gut wir doch sind, denken wir, und fühlen uns besser. Wenn aber das Gegenteil eintritt (dass Kinder anderer Leute Dinge tun, von denen wir uns wünschen, unser Kind täte sie, was aber nicht der Fall ist), kann uns das zur Verzweiflung bringen. Dann fühlen wir uns im Abseits und all unsere Ängste brechen über uns herein. Was die anderen Kinder tun, betrachten wir als normal, unser Kind dagegen als „sonderbar“ (weil wir das, was es tut, oft mit ihm selbst verwechseln).

Doch wer entscheidet, was normal ist und was nicht? Zwar gibt es Dinge, die üblicher sind als andere, aber vermutlich sind wir uns darin einig, dass normal oder unnormal eher abstrakte und schwer definierbare Begriffe sind, oder? Zudem hängen sie davon ab, welche Informationen wir zu einem bestimmten Thema haben und an welchem Modell wir uns orientieren. Wenn man zum Beispiel den Umgang mit Kindern nicht gewohnt ist und nicht weiß, dass sie in frühen Jahren eine sehr egozentrische Phase durchlaufen, denkt man womöglich, es sei nicht normal, dass sich das eigene Kind egozentrisch verhält. Dabei ist gar nichts Sonderbares daran.

Dass kleine Kinder Wutanfälle haben, ist durchaus üblich. Aber auch Kinder, bei denen das nur selten vorkommt, sind deshalb nicht unnormal.

Jedes Kind ist so, wie es gerade ist, vollständig, einzigartig und perfekt. Verbinden wir uns mit ihnen und hören wir auf, uns mit anderen zu vergleichen.

Denn hinter Vergleichen verbergen sich unbewusste Gefühle von Mangel und Fehlendem. Wir vergleichen uns, um uns besser zu fühlen oder besser zu sein — als wären wir so, wie wir sind, nicht gut genug, als würde uns etwas fehlen.

Man sagt, Vergleiche anzustellen, sei hässlich. Wahrscheinlich weil Vergleiche immer schmerzhaft sind. Weil sie uns in besser und schlechter unterteilen, in dich und mich. Im Grunde unterscheiden wir uns ja gar nicht so sehr voneinander. Schmerz resultiert fast immer aus Trennung. Wenn wir uns vergleichen, vollziehen wir eine Trennung: Wir trennen uns von denen, mit denen wir uns vergleichen. Und wenn wir unser Kind vergleichen, trennen wir uns auch von ihm, weil wir uns von dem Kind lösen, das es in seinem tiefsten Inneren ist. Dem Kind mit seinen Rhythmen, seiner Entwicklung, seinem Reifegrad, seinem Hier und Jetzt, seiner Geschichte, seinem Gepäck, seinen Erfahrungen und seinem Auf-der-Welt-Sein. Kinder miteinander zu vergleichen, ist aber durchaus üblich. Ich glaube, alle machen das. Wir leben seit ewigen Zeiten mit diesen Trennungen und Vergleichen, und vielleicht sollten wir langsam mal damit aufhören. Wir sollten Kinder so sehen, wie sie sind: besonders und einzigartig. Und auch uns selbst sollten wir so sehen. Vielleicht gibt es schon viel zu viel Trennung auf dieser Welt und es wird Zeit, dass wir anfangen, uns alle als Teil einer Einheit zu sehen.

Moment mal …

Schließe genau wie beim letzten Mal für einen Moment die Augen und spüre nach, wie sich Vergleiche für dich anfühlen. Achte zunächst auf eine bewusste Atmung und beobachte, wie die Luft in deinen Körper ein- und aus ihm herausströmt. Versuche, dich zu entspannen, während du dich tief und aufrichtig mit deinem Körper verbindest.

Jetzt schlage ich dir vor, deine Aufmerksamkeit auf dein Empfinden zu lenken. Haben sich bestimmte Emotionen in dir geregt, als du den Abschnitt über Vergleiche und über Normalität und Anomalie gelesen hast? Falls du mit Ja geantwortet hast, atme und spüre dabei das, was sich geregt hat. Akzeptiere, dass es sich gemeldet hat, und heiße es willkommen, denn vielleicht will es dir etwas sagen und will beachtet werden. Falls es ein angenehmes Gefühl ist, genieße es in vollen Zügen. Falls es unangenehm ist, atme tief ein und aus und erlaube diesem Augenblick so zu sein, wie er ist, ohne zu versuchen, das, was da hochgekommen ist, abzuwehren.

Nun versuche, folgende Fragen zu beantworten: Vergleichst du dich mit anderen? Vergleichst du dein Kind mit den Kindern anderer Leute? Warum sind diese Vergleiche für dich wichtig? Geben sie dir Sicherheit? Lass uns etwas tiefer bohren: Versuche, dich zu erinnern, ob dein Vater und deine Mutter dich mit anderen verglichen haben. Hattest du irgendwann das Gefühl, dass das, was du tust oder bist, bei dir zu Hause nicht als normal betrachtet wurde?

Die Antworten auf diese Fragen können dir helfen, dir über einiges klar zu werden und ein anderes Verhältnis zu Vergleichen und zum Begriff Normalität zu bekommen. Sicher wird dir das helfen, dich ehrlicher, bewusster und erfüllender mit deinem Kind zu verbinden.

Wutausbrüche: ab wann und bis wann?

Kommt darauf an. Für gewöhnlich erleben die meisten Kinder etwa im Alter von zwei Jahren ihre ersten Wutausbrüche. Aber es gibt auch Kinder, die schon mit achtzehn Monaten auf ähnliche Weise zornig werden, und wieder andere, die, bis sie drei oder vier Jahre alt sind, keinen einzigen Wutanfall hatten. Wie immer spielen verschiedene Umstände eine Rolle, doch in den meisten Fällen beginnen die Wutanfälle etwa im Alter von zwei Jahren.