Yallah Deutschland, wir müssen reden! - Souad Lamroubal - E-Book

Yallah Deutschland, wir müssen reden! E-Book

Souad Lamroubal

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Beschreibung

"Ich verrate Dir, wo ich herkomme, und vor allem, wo ich hinwill!" – So beginnt ein packendes, tiefgründiges, witzig-ernstes Zwiegespräch mit "ihrem" Deutschland, das Souad Lamroubal als "problematisches" Gastarbeiterkind kennengelernt hat und dem sie heute als Integrationsbeamtin dient. Ein unwiderstehlicher Dialog über Freiheit und Herkunft, Verbotenes und Erlaubtes, über Heimat, Zukunft und die Frage, wer wir Deutschen sind und wann wir Deutsche sind. Lamroubal deckt ungeklärte Widersprüche bei ihren deutschen Landsleuten auf, beim Umgang mit Migrant*innen und dem Umgang der Migrant*innen mit Deutschland. Dabei erzählt sie mal mit beinhartem, mal mit zärtlichem Humor ihre marokkanische Familiengeschichte und die ihrer früh verstorbenen Mutter, die zwar die deutsche Sprache nicht lesen und schreiben konnte, aber dennoch ein großes Vorbild für sie war. Wann ist Integration gelungen? Das kann Lamroubal besser beantworten als die meisten. Sie kennt beide Seiten: die Erwartungen der Ankommenden und die Ansprüche deutscher Behörden, Überforderung und Menschlichkeit, Freude und Bürokratenfrust. Sie erzählt die alte Geschichte über "die" und "wir" – "wir" und "die" so neu, dass wir sie endlich verstehen.

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Seitenzahl: 217

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SOUAD LAMROUBAL

Aus dem Leben einer deutsch-marokkanischen Beamtin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0636-9 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8012-7046-9 (E-Book)

Copyright © 2022 by

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Petra Bähner, Köln

Umschlagfoto: © Uwe Schmitz

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2022

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany 2022

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

DIETZ & DAS

Der Podcast zu Politik,

Gesellschaft und Geschichte

Abrufbar auf allen Podcast-Plattformen.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Yallah Deutschland, wir müssen reden!

Dank

Über die Autorin

Die, mit denen ich offen über die Situation, die Dich maßgeblich spaltet, sprechen möchte und an die ich so viele Fragen habe, auf die ich keine Antworten weiß, diese Personen sprechen leider nicht mit mir, und diejenigen, die mit mir sprechen, bringen in den meisten Fällen bereits ein gesundes Maß an Offenheit, Toleranz und Selbstreflexion mit. Vielleicht sprechen manche nicht mit mir, weil sie die direkte Konfrontation fürchten. Vielleicht, weil sie Angst haben. Angst vor dem Fremden, Angst vor mir also, Angst davor, dass die Gespräche mit mir etwas auslösen und der Beginn eines Prozesses sein könnten. »Prozess« ist ja eigentlich ein Wort, das Du liiiiebst, Deutschland. Ich meine aber einen Prozess, an dessen Ende eventuell eine Veränderung stehen könnte, eine, die die große Angst vor der Aufgabe eigener Privilegien zur Folge haben könnte. Eine Veränderung, gegen die mit viel Kraft gearbeitet wird und die wahrscheinlich einfach nicht gewünscht ist. Eine Veränderung, die Deine Normalität verändern könnte. Einfacher für Dich wäre natürlich die Dämonisierung des vermeintlich Fremden! Mach mich somit gerne zu dem Fremden und degradiere mich, gemessen daran, ob ich etwas leisten oder auch nicht leisten kann, und lass DAS unsere Normalität werden. Lass mich zu Dir gehören, wenn ich Leistung und Erfolge bringe, und grenz mich wieder aus, wenn ich anders zu sein scheine. Lass mich zu Dir gehören, wenn ich keinen Widerspruch leiste und ausreichend dankbar bin, wenn ich kaum fordere, wenn ich Dir in regelmäßigen Abständen grenzlose Dankbarkeit entgegenbringe, vor allem dafür, dass ich hier bei Dir sein darf. Lass mich zu Dir gehören, wenn ich Deiner Vorstellung von »deutsch sein« entspreche, und grenze mich wieder aus, wenn ich während der Weltmeisterschaft nicht für Dich jubele oder nicht Deine Nationalhymne mitträllere (wenn ich doch nur den Text wüsste). Lass mich zu Dir gehören, wenn ich meine kulturelle Identität vollständig ablege und Assimilation mein größtes Ziel ist. Lass mich zu Dir gehören, wenn ich Dir nicht auf der Tasche liege, aber auch nicht zu erfolgreich bin. Wir wollen doch die Machtverhältnisse nicht neu ordnen. Also, Füße stillhalten, bitte!

Hm, es scheint, als wäre Schweigen zwischen uns das geeignete Mittel der Kommunikation. Schweigen als wechselseitiger »Prozess« natürlich. Klingt das nicht hervorragend? Wie bei der Integration! Yes!!! Also, mein Part ist es, nicht zu viel von Dir zu fordern und darüber Schweigen zu »äußern«, und Du, Deutschland, schweigst, indem Du so tust, als gäbe es kein Problem mit dem »Fremden«. Alles soll doch bleiben, wie es ist!? Bitte keine Konfrontation mit der migrationsgesellschaftlichen Realität!

Puh, Schweigen war nur noch nie so wirklich meine Stärke, obwohl mich genau dies wahrscheinlich vor einigen brenzligen Situationen hätte schützen können, vor Gewalterfahrungen, vor Benachteiligung, Ausgrenzungen und auch arbeitsrechtlichen Nachteilen. Ich könnte es so viel einfacher haben, indem ich beispielsweise eingestehen würde: Weil es mit unserem wechselseitigen »Prozess« so gut läuft, könnte ich ja sagen, dass ich deutsch bin, ja, so wie die richtigen, echten Bio-Deutschen. Ein gleichwertiger Teil der Gesellschaft, mit allen Rechten und Pflichten, wirklich ALLEN! Von Alltagsrassismus, Racial Profiling und Diskriminierung habe ich nie etwas gehört, geschweige denn sowas erlebt, und es nervt mich sowieso extrem, wenn ständig die Rassismuskeule rausgeholt wird, so ein Schwachsinn, dieses Rassismusmärchen! Menschen, die von Alltagsrassismus sprechen, sind einfach viel zu empfindlich! Sie suchen nur einen Grund, um ihr Scheitern und ihre Misserfolge zu legitimieren, und da eignet sich Rassismus als Grund hervorragend!!

Wahrscheinlich wollen sie auch einfach nur Aufmerksamkeit! Rassismus und Diskriminierung sind ein Ding aus der Vergangenheit, das ist läääääääängst vorbei. Nicht wahr? »Wir« sind Einwanderungsland! Integration funktioniert doch besser denn je! Wirklich!!!!! Egal welche Herkunft, Hautfarbe oder sonstigen Unterschiede: Es wirkt nur so, als gäbe es ein Problem mit der Integration, aber das täuscht. Glaub mir!! Es ist nur lauter geworden, weil so ein paar Schwarze Menschen, ein paar People of Color und Menschen mit Migrationshintergrund plötzlich höhere Ansprüche stellen, sich nicht mehr mit Hilfsjobs zufriedengeben und jetzt auch noch Deutsch sprechen. Sprechen ist nun mal lauter als Schweigen: »Neuzugewanderte«, »Zugewanderte«, »Geflüchtete«, »Flüchtlinge«, »Asylbewerber«, »Asylanten«, »Geflohene«, »Migranten«, »Immigranten«, »Aussiedler«, »Ausländer«, »Einwanderer« usw. Du bist sooooo kreativ, Deutschland! Ich meine sie wirklich ALLE!! Das Problem ist halt nur, dass die Frau mit Kopftuch plötzlich Lehrerin werden will und nicht mehr Toilettentieftaucherin. Solche Ansprüche lösen schon mal Konflikte aus. Hallo? Das ist ein hoher Anspruch, über den wir sprechen müssen! DIESE MENSCHEN BEGINNEN ZU SPRECHEN, UND DAS IST EIN SEHR GUTES ZEICHEN! Integration funktioniert!!! Plötzlich sprechen sie nämlich Deutsch, können sich artikulieren. Sie möchten mitentscheiden, ach was, das tun sie oft schon. Es spielt doch längst keine große Rolle mehr, ob man nun aussieht wie »biodeutsch-Erste-Ernte« oder nicht, ob man eine Migrationsgeschichte hat oder nicht. Alles ist wirklich ziemlich cool, und Du, Deutschland, Du tust einfach so, als würdest Du es glauben, also wechselseitig, Du verstehst? Wahrscheinlich würde Dir das sogar gelingen, richtig?

Es würde nicht funktionieren. Ich weiß das, denn da gibt es doch diesen Dialog, der schon sehr lange Zeit fester Bestandteil meines Lebens ist. Mal lache ich darüber, mal kriege ich die Krise. (In den allermeisten Fällen kriege ich natürlich die Krise.) Ich sage doch, dass ich ein Schweigedefizit habe… Komm schon, das kennst Du sicher, also nicht das Schweigedefizit, das habe ich frei erfunden. Ich meine diesen Dialog, diesen hier:

»Wo kommen Sie denn her?«

»Ich komme aus Düsseldorf.«

»Nein, ich meine ursprünglich!«

»Ach, das meinen Sie: aus Dormagen.«

»Aha, interessant. Und wo sind Sie geboren?«

»In Deutschland.«

»Nein, jetzt mal ehrlich!«

»Okay: aus dem tiefsten Busch überhaupt. Kein Wasser, kein Essen, kein Strom, keine Frauenrechte und endlich Aufenthaltserlaubnis.«

Sou!!!!!!!!! SCHWEIGEN!!!!!!!!!!!!

Diese Art von Dialog ist für mich und viele andere Menschen Alltag, und er ist verdammt noch mal ermüdend. Der Lernprozess ist so zäh, und Dein chronischer Überraschungszustand im Umgang mit Migration und vermeintlicher Andersartigkeit schon peinlich. Manchmal denke ich, dass es besser wäre, wenn Du mir glaubst, dass ich Deutsche bin, oder einfach nicht mehr danach fragst, denn eigentlich könnte ich auf Deine Frage nach meiner Herkunft ganz anders antworten. Aber wäre das tatsächlich besser für Dich? Ich glaube nicht, und da ich nie den Weg des geringsten Widerstandes wähle… Wieso eigentlich nicht? Ich sage Dir gerne, wo ich herkomme, und vor allem, wo ich hinwill, und Du sagst mir dann, wo ich hin soll. Abgemacht?

»Da, wo Du hergekommen bist!!!« lasse ich aber nicht als Antwort gelten! Die unzähligen Situationen, in denen mir bereits als kleines Kind befohlen wurde, dahin zu gehen, wo ich herkomme (in der Regel folgte die Ergänzung: Du »Mohrenkopf« oder »Kameltreiberin«), versetzten mich in größte Angst und Irritation. Ich habe dann tatsächlich immer wieder und wieder überlegt, wo ich eigentlich herkam. Wo war ich eben? Zu Hause? Auf dem Spielplatz? Ich wusste es nicht mehr, und deshalb bin ich einfach geblieben. Welch ein schlechtes Benehmen für einen Gast, richtig? Macht es sich einfach gemütlich, und nun behautet er auch noch, es wäre sein Zuhause? Tja, liebes Deutschland, wenn ich schon Deinen Kuchen mitbacke, will ich gefälligst auch ein Stück, und mit einem Krümel gebe ich mich längst nicht zufrieden.

So, jetzt aber: Yallah, Deutschland, ich verrate Dir, woher ich komme!!

Moment bitte, ich darf mich noch kurz vorstellen:

Mein Name ist Souad Lamroubal, und ich bin das, was Du ein »klassisches Gastarbeiterkind« nennst. Mein Name macht Dir immer wieder Probleme, daher dulde ich auch: Savad, Soiad, Saud, Sound und Zohra. Boris Palmer nannte mich ein gutes Beispiel für gelungene Integration. Was für ein Kompliment, oder? Und das von Boris Palmer, also bitte Reeeeespekt!!!! Ich komme aus einer Großfamilie, eigentlich ist es eine Meeeeeeeegafamilie, denn mein Opa hatte insgesamt sieben Frauen und circa 42 Kinder. Krasser Scheiß, oder? Ich verspreche Dir, es wird noch krasser. Ich bin Kommunalbeamtin, und das schon seit 16 Jahren (das meinte ich natürlich nicht mit »krasser«) und momentan als »Ausländerin« bei der (R)Ausländerbehörde tätig. Was ist nur aus Dir geworden, Deutschland? Oder, was ist nur aus mir geworden? Wenn ich nicht auf Deiner Seite stehe (na ja, als Beamtin sitze ich eigentlich größtenteils), bin ich als Dozentin für Rassismuskritik und interkulturelle Handlungskompetenz unterwegs und als Vorsitzende eines Vereins für Migration, Integration und Bildung. Wie ich dazu kam, Beamtin zu werden? Ich war jung und brauchte das Geld. Habe bitte noch ein wenig Geduld, die Antwort darauf folgt in Kürze. Lass es uns etwas strukturieren, Deutschland. Schön chronologisch!! Ich weiß, Du liiiiiiiebst Struktur und Ordnung. Fangen wir also vorne an. Herzlich willkommen und Ahlan wa sahlan in meiner Welt.

»Guten Tag, mein Name ist Frau Lamroubal. Ich möchte bitte eine Termin.«

»Für Ihren Sohn, für Ihre Tochter oder für Sie?«

»Für Sie! Nein, nein, ich meine für ich!«

Ich konnte mich vor Lachen kaum halten, und im ersten Moment musste auch meine Mutter darüber schmunzeln.

Natürlich imitierte ich sie immer und immer und immer wieder, ohne Pause, und konnte mich kaum beruhigen, doch diese Gespräche wirkten immer mehr nach, und erst jetzt, da ich erwachsen bin, verstehe ich sie und vor allem das Gefühl und den Schmerz dahinter. Erst jetzt, wo meine Mutter bereits seit 23 Jahren tot ist. Vieles habe ich als Kind nicht gesehen, wie denn auch? Ich flüchtete in eine Welt, in der es keinen Schmerz und keine Ausgrenzung gab. Ja, ich baute mir eine Welt, wie sie mir gefällt, denn meine reale Welt war ausschließlich durch die Liebe meiner Mutter stabil. Ihr gelang es, mir trotz schwieriger Umstände grenzenlose Sicherheit und Liebe zu geben. Sicherheit, die bis heute in mir weiterlebt. Es ist mir immer noch ein großes Rätsel, wie sie die Kraft dafür aufbrachte.

Meine Mutter prägte meine Definition von »Vorbild«. Ja, Mama, Du bist und bleibst mein größtes Vorbild, und ich danke Dir für alles, was Du mir mitgegeben hast. Leider konnte ich Dir das nie wirklich sagen, weil Du uns so früh verlassen musstest. Ich wünschte, ich könnte Dir etwas zurückgeben, Dir die Sorgen für einen Moment nehmen, Dir eine Freude bereiten. Beispielsweise könnte ich Dir einen der langen Mäntel kaufen, die Du so gemocht hast, aber die wir uns nicht leisten konnten. Oder ganz viel Cornetto-Nuss-Eis, das hattest Du besonders gern. Deine Oil-of-Olaz-Gesichtscreme. Einen sorgenfreien Aufenthalt bei Deinen Eltern in Marokko würde ich Dir so gern ermöglichen, wo Du nicht aufs Geld schauen und Dich auch sonst um nichts kümmern müsstest. Oder Dir andere schöne Orte auf dieser Welt zeigen, denn all das blieb Dir leider oft verwehrt.

Wahrscheinlich gleicht meine Perspektive nicht der Definition von »Vorbild«, die Du vorgibst, Deutschland. Der Definition, die Du gleichstellst mit gelungener Integration, denn mein Verständnis von gelungener Integration ist sicherlich ein anderes, aber dazu kommen wir noch. Ein Vorbild ist für mich vor allem ein Mensch, der Sicherheit geben kann, ohne selbst Sicherheit erfahren zu haben, der selbst regelmäßig Ausgrenzung erfährt und dir dennoch vermittelt, dass du ein gleichwertiger Teil der Gesellschaft bist und alles schaffen kannst. Für mich wirkt es aber so, als wäre es Dir kaum möglich zu realisieren, was viele Menschen leisten, wenn es nicht die Art von Leistung ist, die Du forderst. Also eine Leistung, die Deiner Meinung nach zu dem Gesellschaftstyp passt, den Du bevorzugst. Für andere Arten von Leistung empfindest Du meist kaum Anerkennung und Wertschätzung, vielleicht weil diese unsichtbar sind, vielleicht weil Du sie unsichtbar machst, vielleicht weil Du einfach andere Prioritäten setzt? Ich weiß, das musst Du, denn für Dich ist Deine Gesellschaft eine Leistungsgesellschaft, und das soll sie auch bitte bleiben. Das hast Du nicht nur festgestellt, sondern auch hergestellt. Sicherlich erfüllt Dich das mit Stolz, Deutschland!

Meine Mutter leistete was, verdammt! Sie leistete enorm viel, aber sicher meinst Du dennoch nicht sie, wenn Du von »Leistungsgesellschaft« sprichst. Trotzdem war ihre Leistung und Aufopferung echt und außergewöhnlich. Sicherlich ist sie nicht die Einzige aus der ersten Generation von Migrant_innen, die besonderen Hürden und Hindernissen ausgesetzt war. Wahrscheinlich sind es noch immer viele. Wenn Du an Migration denkst, dann gehst Du meist davon aus, dass alle Menschen freiwillig hier bei Dir sind und sich nichts Schöneres vorstellen können. Alle haben nur den einen Traum: Deutschland, Aufenthaltserlaubnis und den roten Pass, und es macht ihnen natürlich überhaupt nichts aus, dass sie ihre Familien, ihre Freunde, ihre Straßen, ihren Alltag, ihren Duft von Heimat und alles, was ihnen vertraut war, hinter sich lassen mussten. Meine Mutter hatte ganz sicher keine Wahl, als mein Vater damals entschied, seinem Ruf nach Deutschland zu folgen. Viele seiner Brüder wählten den Weg der Emigration, nicht alle entschieden sich allerdings für Dich, Deutschland. Wenn ich sauer auf Dich bin, trage ich es meinem Vater nach.

Seine Brüder verteilten sich auf ganz Europa. Meine Mutter hatte zu der Zeit bereits vier Kinder auf die Welt gebracht und lebte in dem Dorf meines Vaters, im Haus meines Opas, und ja, es war eine riesige Familie, aber mich gab es da noch nicht.

Die Hoffnung auf ein besseres Leben und eine gewisse Not spielten bei der Entscheidung meines Vaters natürlich eine Rolle – aber war und ist es wirklich ein besseres Leben, das meine Eltern gefunden haben?

Schaue ich mir meinen Vater und andere Menschen der ersten Generation an, sehe ich, dass sie heute, längst im Rentenalter angekommen, nicht mehr genau wissen, wo sie wirklich hingehören, und einige nicht mal mehr, wo sie herkamen. Sie leben in einer Art Abhängigkeit ohne Zugehörigkeit. Meist sind die Gründe, warum sie noch hier bei Dir sind, entweder die eigenen Kinder und Enkelkinder oder Dein Gesundheitssystem, auf das sie inzwischen leider angewiesen sind. Eine Art Verpflichtungsgefühl verbindet sie mit ihrer ursprünglichen »Heimat«, aber auch mit Dir, und deshalb pendeln sie zwischen Dir und ihr, auch wenn sie in ihr längst »die Ausländer« geworden sind und bei Dir auch immer noch Ausländer oder ewige Gäste sind. Ihre Suche nach Heimat hört bald auf, denn bald wird es noch viel stiller um sie, dabei hätten sie Dir noch so viel zu sagen, so verdammt viel, Deutschland! Genau das ist auch das Leben, das mein Vater führt.

Also: War es für ihn die bessere Entscheidung? Ich bezweifle es, und das tue ich sicher nicht grundlos. Aber er beschwert sich nicht, Deutschland. Das würde er nie tun. Er ist Dir lieber dankbar und schweigt. Ich weiß nicht, ob er in seinem Herzen ausschließlich Dankbarkeit für Dich trägt, weil sein Leben – und vor allem meins und das meiner Familie – oftmals Deine harten Seiten zu spüren bekommen hat, Deutschland. Er trägt in seinem Herzen sicherlich auch Enttäuschung darüber, was Du von ihm fordertest, und darüber, dass Du nicht immer da warst, wenn er Dich mal brauchte, und nicht einmal ein »Danke« hat er von Dir gehört. Oft überfordertest Du ihn, aber manches war auch nicht nur Deine Schuld.

Fakt ist aber, dass Du meist nur denjenigen Schutz gewährst, die Deinen Vorstellungen entsprechen, zumindest machst Du Deine Angebote nur für diese Personen sichtbar und zugänglich. Hier fällt Dir auch Dein Mitgefühl tatsächlich viel leichter, aber nicht, weil wir alle so unterschiedlich sind, sondern weil Du den Unterschied machst. Eigentlich gibt es doch keine Fremden, sondern nur unterschiedliche Versionen unseresgleichen, oder? Für meine Eltern waren Deine Angebote und Hilfestellungen unsichtbar, und für meinen Vater sind sie es auch heute noch.

Migration zu managen, ist nicht einfach, ich weiß, aber nicht sie ist das Problem, sondern Deine Überforderung, die dadurch entsteht. Diese Überforderung hast zwar auch Du zu verantworten, Du machst aber meist andere dafür verantwortlich. Ist es denn nicht menschlich, dass dort, wo Überforderung herrscht, Dinge auch mal schieflaufen? Es gibt Stimmen, die sagen, dass es doch eine Form von Eigenverschulden sei, wenn man die vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten aufgrund »mangelnder Integration« nicht in Anspruch nehmen kann. Selbst schuld! Hätten sich meine Eltern besser integriert und wären sie nicht nur unter »ihresgleichen« gewesen, hätten viele Dinge sicher besser funktioniert, oder? Diese Stimmen sind auch heute noch sehr laut, vielleicht lauter denn je. Eine faire Chance auf Integration war allerdings nie vorhanden, genauso wenig wie die gesellschaftliche Forderung danach. Wahrscheinlich gab es die gesellschaftliche Forderung nicht, weil die Rollen klar waren, oder? Natürlich gab es auch damals schon zahlreiche Stimmen, die einem regelmäßig den Satz »Pass Dich endlich an!« zuwarfen, aber das ist ja keine Aufforderung zur Integration, sondern ein Befehl zur Assimilation, oder? Ist Integration also wirklich so fortgeschritten, wie Du sie oft darstellst? Ist sie nicht ein sehr neuer Prozess? Sind wichtige Maßnahmen und Angebote nicht in Wahrheit erst wenige Jahre jung? Gerade »Gastarbeiter« waren nie in der »privilegierten Situation«, auf zahlreiche Integrationsangebote zurückgreifen zu können und zu dürfen. Sie forderten nicht viel. Sie haben sich ohne Sprache irgendwie durchgeboxt und machten ihre Arbeit. So war es doch mit Dir abgemacht, oder Deutschland? Die von Dir neu geschaffenen Integrationsangebote berücksichtigten meist nur diejenigen, die neu nach Deutschland kamen, und das war für mich hauptsächlich in den Jahren 2015/2016 spürbar. Deine gesetzlichen Rahmenbedingen entschieden, wer sich wie integrieren darf, und daran hat sich auch heute nicht viel verändert.

Du entscheidest, wer kommen darf, wer bleiben darf, wer sich integrieren darf und wer sich schnell wieder vom Acker machen sollte, und dann gibt es noch zahlreiche Menschen, die Jahrzehnte hier sind, aber völlig abgespalten werden, weil Du sie eigentlich nicht hier haben willst, aber auch nicht weißt, wie Du sie loswerden sollst, also: einfach ignorieren, bis sie ermüden und von selbst gehen. Die nächste Flucht also, nur in die andere Richtung. Die »Bleibeperspektive« ist hier für Dich entscheidend. Dabei könnten sie so »nützlich« für Dich sein, das wirst Du sicher noch erkennen. Sobald die Not groß genug ist, wirst Du sicher auch Wege für diese Menschen finden, um Deinen Mangel auszugleichen.

Als viele Menschen, wie auch mein Vater, für Dich ihre Heimat verließen, hast Du sie nicht sehr gastfreundlich empfangen, Deutschland. Ich bitte meine Gäste nicht darum, zuerst die Hosen runterzulassen, bevor sie eintreten dürfen. Ich weiß, Du musstest Dich vergewissern, dass Du gute »Ware« kaufst und nicht die Katze im Sack. Aber hast Du Dich jemals gefragt, wie erniedrigend es für diese Menschen war, sich splitternackt in einer Reihe aufzustellen, um von Dir begutachtet zu werden? Wie groß musste die Not eines Menschen, eines jungen Mannes sein, das ohne Widerstand über sich ergehen zu lassen? Einige hast Du danach wieder zurück in ihre Heimat geschickt, weil sie Dir nicht stabil und kräftig genug erschienen. Das war für diese Menschen sicherlich ein noch schrecklicheres Gefühl, oder Deutschland? Mein Vater und andere »Gastarbeiter« vergleichen es oft mit dem Opferfest und erinnern sich an die Zeit, in der sie auf dem Markt das Schaf, welches an diesem Fest geopfert wird, aussuchten. Sie schauten auf die äußere körperliche Verfassung, sie schauten ihm ins Maul und wollten sicher sein, dass die Investition sich auch wirklich lohnt. Das Fell rasierten sie ihm aber nicht ab. Die Menschen, die Du heute noch »Gastarbeiter« nennst, wurden ebenfalls in der Art und Weise von Dir begutachtet. Wie ein Schaf zum Opferfest, und bevor die Tierschützer nun zu demonstrieren anfangen: Es war natürlich ein armes, unschuldiges, süßes Schäfchen, das niemandem etwas getan hatte und auch nicht so behandelt werden durfte. Aber es ist und bleibt nun mal ein Schaf! Wenn mein Vater von der Erstuntersuchung nach seiner Ankunft in Deutschland spricht, klingt es cool und lustig, wie vieles, was er erzählt. Ich sehe noch immer die Scham, die Trauer und den Schmerz in seinen Augen, auch wenn er längst für sich Humor als beste Bewältigungs- und Überlebensstrategie gewählt hat. Mein Vater lächelt oft, wenn er über seine schmerzvollen Erlebnisse berichtet, so verarbeitet er sie und wirkt dennoch stark vor uns Kindern. Lieber möchte er von seinen Kindern als Held betrachtet werden statt als Opfer Deines Systems, das kann ich gut verstehen. Das passt nicht zu einem starken Papa, der seine Familie beschützen sollte, deshalb lächle ich meist zurück, wenn er erzählt. Wenn er wüsste, was ich wirklich denke und fühle, aber lass uns das als kleines Geheimnis für uns behalten, okay? Ihm fehlte es zweifellos an Sprachkursen und anderen Integrationsangeboten. Für solche wie ihn hattest Du kaum was im Angebot, das war ja für »Gäste« nicht nötig, denn deren Aufenthalt ist nur befristet (zumindest war das Dein Plan). Außerdem hätte er neben der schweren Arbeit, die er jeden Tag verrichten musste, sowieso keine Zeit und Kraft mehr dafür gehabt. Deshalb waren seine einzigen Sprachpaten und Integrationslotsen wir Kinder, und in vielen Fällen sind wir es heute immer noch.

So war ich es auch nicht gewohnt, dass meine Mutter den Anruf beim Hausarzt selbst erledigte, denn dies zählte meist zu unseren Aufgaben als Kinder. Meine Mutter hatte immer wieder den Mut und Ehrgeiz, Termine auch selbst zu erledigen, und ich freute mich als Kind immer sehr, meinen Geschwistern darüber zu berichten. Ich liebte ihren Mut und Ehrgeiz und wie sie es immer wieder schaffte, andere damit zu irritieren. Die Kommunikation mit dem Vermieter erledigte sie beispielsweise oft selbstständig. Wenn irgendetwas in der Wohnung defekt war, rief sie beim »Bauverein« an und meldete es. Eines Tages löste sich die Klinke der Hauseingangstüre und ließ sich nicht wieder anbringen, also rief meine Mutter sofort beim Vermieter an, um den Schaden zu melden:

»Guten Tag, ich bin Frau Lamroubal. Hand von Tür kaputt. Muss reparieren!!!«

Natürlich war am anderen Ende der Leitung völlige Verwirrung.

»Was bitte ist kaputt??«

Meine Mutter antwortete erneut und selbstsicher:

»Hand von Türe!! Hand von Türe kaputt!!!«

Es bedarf doch wirklich nicht viel Kreativität, um zu verstehen, was damit gemeint ist, Deutschland.

Dann gab es neben den Anrufen beim Vermieter und bei Ärzten natürlich auch die Besuche bei den Ärzten, beim Arbeitsamt, Ausländeramt, Sozialamt und allen, für die man die deutsche Sprache so benötigt. Hier mussten wir Kinder sie unterstützen, das taten wir gerne, denn natürlich fanden die Termine nicht immer außerhalb der Schulzeit statt.

Ich möchte nicht sagen, dass es ausschließlich nachteilig ist, wenn man Eltern hat, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, denn es hatte definitiv auch Vorteile. Vor allem in der Schule zahlte es sich für mich aus, wenn auch nicht lang. Hieß es also auf dem Zeugnis: »Soiad ist immer unkonzentriert, hat nie ihre Hausaufgaben und stört ständig den Unterricht«, kreierte ich folgende Übersetzung: »Souad ist stets konzentriert, erledigt immer gewissenhaft und ordentlich ihre Hausaufgaben und stört nie den Unterricht.« Wäre da nur nicht mein ältester Bruder gewesen, der seine Rolle als ältester Bruder mehr als ernst nahm, und das größte Problem war: Er konnte lesen! Vielleicht sollte ich Dir also doch dankbar sein für die fehlenden Sprach- und Integrationskurse. Wenigstens ein bisschen?

Heute, 2022, nach so vielen Jahren der Migration hat sich beim Thema Integration nicht viel verändert, außer dass DEINE Definition von Integration existenziell ist und eine Grundvoraussetzung, um Teil Deiner Gesellschaft zu werden, zumindest behauptest Du das. Dennoch kann ich beim besten Willen die Frage »Was ist eigentlich gelungene Integration?« nicht beantworten. Mich überfordert dieser Punkt maßlos. Hilfst Du mir, das zu verstehen, Deutschland? Ich verspreche auch, mich zu revanchieren. Ich sage Dir dann, wie der Araber, Afghane oder Türke tickt. Wechselseitig, wie wunderbar!

Eine meiner wichtigsten Fragen ist also: Wann ist man denn nun wirklich integriert, und wo steht das eigentlich genau geschrieben, Deutschland? Schon allein dieser Ausdruck »Integration« ist so ausgelutscht, dass sogar die Debatten über ihn allmählich verstummen. Wir sprechen nie darüber, wie er denn nun klar definiert und wann der Integrationsprozess abgeschlossen ist. Wir hören nur immer, was angeblich zu tun sei. Wann jemand wirklich integriert ist, bleibt aber unklar und ist gewissermaßen variabel.

Es ist also ruhiger um die Integration geworden. Sicherlich nicht, weil Du das Problem gelöst hättest, sondern weil Du es aufrechterhalten willst und Menschen, die das Problem lösen möchten, aus Erschöpfung resignieren. Viele sind so mit Deiner Aufforderung zur Integration beschäftigt, dass kaum Zeit für etwas anderes bleibt, nicht einmal, um darüber nachzudenken.

Ich behaupte: Du hast den Begriff und seine eigentliche Definition eigenmächtig verändert, denn Integration war ursprünglich etwas ganz anderes. Früher waren es nämlich die Stimmen von betroffenen Minderheiten selbst, die ihre Integration forderten, ja, und sich diese wünschten. Hier ging es um den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe, den Anspruch darauf, »mitmachen und mitentscheiden zu dürfen«, Teil des Ganzen sein zu dürfen. Faire Chancen zu erhalten. Heute ist »Integration« gesetzlich und gesellschaftlich ganz anders verankert und hat viel mit Bringschuld und Anpassung zu tun, mit »Assimilation, sonst Sanktion«. Ich kann es nicht mehr hören: »Integration ist ein wechselseitiger Prozess! Integration ist keine Einbahnstraße!« Blablabla… So drehen wir uns seit vielen Jahren im Kreis und kommen nicht voran. Willst Du überhaupt, Deutschland, dass diese Menschen vorankommen? Manchmal beschleichen mich gewisse Zweifel.

Deutschland, Du bist so genau, so überbürokratisch, man könnte meinen, Du hättest die Bürokratie erfunden! Alles verschriftlichst Du, nichts entgeht Dir, wirklich nichts, und bei der Integration tust Du Dich mit einer genauen Definition schwer? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Wie kannst Du etwas verlangen, von dem Du eigentlich selbst nicht weißt, was es wirklich ist? Vor allem, wie kannst Du Menschen für etwas sanktionieren, für das es keine genaue Definition gibt und das lediglich einer vagen Vorstellung gleicht? Deiner Vorstellung!! Du zwingst Menschen auf eine Reise, die kein wirkliches Ziel hat. Oder ist das Ziel der Reise also die Reise? Solange es eine schöne Reise ist, habe ich nichts dagegen (hier meine ich natürlich nicht die Reise dahin zurück, wo ich herkomme). Wenn es aber eine Reise ist, auf der Menschen immer wieder unter Beweis stellen müssen, dass sie es verdient haben und wert sind, ihre Grundrechte in Anspruch nehmen zu dürfen, dass sie es verdient haben, hier bei Dir sein zu dürfen, dann ist es eine bittere Reise, liebes Deutschland. Eine verdammt bittere Reise!