Yoga-Lehrbuch - Gerhard Pflug - E-Book

Yoga-Lehrbuch E-Book

Gerhard Pflug

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Beschreibung

Das Yoga-Lehrbuch' ist ein Werk für Menschen, die sich sowohl mit der Yoga-Philosophie als auch mit Yoga-Übungen beschäftigen möchten. Es ermöglicht den Lesern einen sehr umfassenden Einblick in die Hintergründe und Ziele des Yoga. Mit vielen leicht zu erlernenden Körperübungen und Meditationstechniken sowie zahlreichen Fotos entstand ein hervorragendes Einsteigerbuch, das sogar Fortgeschrittenen noch einige neue Erkenntnisse bieten kann. Aufgelockert durch die Darstellung seiner persönlichen Erfahrungen, die gleichzeitig einen tiefen Einblick in innere Entwicklungsprozesse liefern, hat der Autor ein interessantes Werk für alle geschaffen, die mehr über Yoga wissen möchten

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Seitenzahl: 440

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Gerhard Pflug

Das Yoga-Lehrbuch

Theorie und Praxis nach der ältesten Yoga-Schule der Welt

 

 

 

 

 

 

 

DAS BUCH

Das »Yoga-Lehrbuch« ist ein Werk für Menschen, die sich sowohl mit der Yoga-Philosophie als auch mit Yoga-Übungen beschäftigen möchten. Es ermöglicht den Lesern einen sehr umfassenden Einblick in die Hintergründe und Ziele des Yoga. Mit vielen leicht zu erlernenden Körperübungen und Meditationstechniken sowie zahlreichen Fotos entstand ein hervorragendes Einsteigerbuch, das sogar Fortgeschrittenen noch einige neue Erkenntnisse bieten kann. Aufgelockert durch die Darstellung seiner persönlichen Erfahrungen, die gleichzeitig einen tiefen Einblick in innere Entwicklungsprozesse liefern, hat der Autor ein interessantes Werk für alle geschaffen, die mehr über Yoga wissen möchten.

DER AUTOR

Gerhard Pflug, Jahrgang 1946, ist Diplom-Sozialpädagoge, Eheberater und Gesprächspsychotherapeut. Er arbeitete u.a. als Lehrer an einer Fachakademie für Sozialpädagogik sowie als Heilpraktiker mit Schwerpunkt Psychotherapie. Darüber hinaus ist er Yoga-Lehrer, wozu er sich am ältesten Yoga-Institut der Welt, dem 1918 gegründeten Santa Cruz in Bombay, ausbilden ließ. Er betreute über drei Jahrzehnte lang psychotherapeutische Gruppen, gab Trainingskurse und hielt Yoga-Unterricht.

Dieses Buch enthält Verweise zu Webseiten, auf deren Inhalte der Verlag keinen Einfluss hat. Für diese Inhalte wird seitens des Verlags keine Gewähr übernommen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich.

 

 

 

 

 

 

 

ISBN 978-3-8434-6185-6

© 2004 Schirner Verlag, Darmstadt 1. E-Book-Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

Fotos: Gerhard Pflug Ausführung der Asanas: Inge Funk-Pflug Umschlag: Murat Karaçay Redaktion: Eleni Efthimiou/Tobias Blum, Kirsten Glück

E-Book-Erstellung: HSB T&M, Altenmünster

Inhalt

Widmung

Danksagung

Vorwort

Vorbemerkung

Teil A

I Das Weltbild des Yoga

Purusha – der wahre Mensch

Prakriti – die Welt der Schöpfung

Die Gunas – der Tanz der Schleier

Exkurs über Philosophie, Religion und Mystik

Dharma – das große Gesetz oder: deine Lebenslandkarte

Hierarchie/ Partnerschaft

Zufall

Karma – das Gesetz von Ursache und Wirkung

Gott

Kleshas

1. Avidya

2. Asmita

3. Raga

4. Dvesha

5. Abhinivesha

II Das ist Yoga

Der Achtfache Pfad des Patanjali

1. Die Yamas

2. Die Niyamas

Mantra

3. Asana

4. Pranayama

5. Pratyahara

6. Dharana

7. Dhyana

8. Samadhi

III Die fünf Haupt-Yogawege

1. Hatha-Yoga

Kundalini

Chakra

2. Jnana-Yoga

3. Raja-Yoga

4. Karma-Yoga

Der Weg des Kriya-Yoga

5. Bhakti-Yoga

IV Das „Wie“

Zehn Punkte auf dem Weg zur Veränderung

Ernährung

Teil B

Einführung

Der Achtfache Pfad als Übungsleitfaden

Die Yamas

1. Ahimsa

Anitya Bhavana

Umgekehrtes Denken

Die Botschaft suchen

Zurückhaltung

Spiel mit den drei Kugeln

„Zehn gute Dinge“

Gesundheitliche Aspekte von Ahimsa

Die vier Seinszustände

Artha

Kama

Dharma

Moksha

2. Satya

Mauna

Reflexion

3. Asteya

Ziele setzen

Bedürfnisse reflektieren

Geben

4. Brahmacarya

5. Aparigraha

Die Niyamas

1. Sauca

Essen

Rhythmus

Körpergefühl

Hygiene

2. Samtosa

Die positive Seite

3. Tapas

An die Grenze gehen

4. Svadyaya

Mantra

5. Isvarapranidhana

Einführung Asanas

Geschichte

Merkmale der Yoga-Übungen

Weitere Merkmale der Yoga-Übungen

Was zu beachten ist

Das Alter

Ort und Zeit

Vorbereitung

Dauer und Umfang der Übungen

Periode und Schwangerschaft

Die Einteilung der Asanas

Meditation und meditative Asanas

Generelle Hinweise für alle Meditationsübungen

1. Meditative Asanas

Sukhsana

Vajrasana

Siddhasana

Vajrasana

Padmasana

Mauna

Sthitaprarthanasana

2. Körperertüchtigende Asanas

Asanas zur Streckung der Wirbelsäule

Yastikasana

Talasana I

Talasana II

Talasana III

Embryohaltung

Parvatasana

Vorwärtsbeugende Asanas

Trikonasana

Hastapadasana

Chakrasana (dynamische Form)

Pashchimottanasana

Yoga-Mudra

Halasana

Rückwärtsbeugende Asanas

Bhujangasana

Dhanurvakrasana

Ushtrasana

Seitwärtsbeugende Asanas

Konasana I

Konasana II

Konasana III

Asanas zur Drehung der Wirbelsäule

Vakrasana

Hastapadangushtasana

Suptavakrasana

Ardha Matsyendrasana

Umkehr-Asanas

Ardha Sarvangasana

Sarvangasana

Asanas für die Extremitäten

Utkatasana

Nata Prartanasana

Ekapadasana

Hastapangusthasana

Garudasana

Matsyasana

Paryankasana

Bhadrasana

Asanas zur abdominalen Kompression

Pavanamuktasana

Asanas zur Entspannung

Shavasana

Makarasana

Nispanda Bhava

Yoga-Kriya

Sechs Gründe für Yoga-Hygiene

Die Pflege der Zähne, des Mundes, der Ohren und der Nebenhöhlen

Kapalabhati

Jalaneti

Die Pflege der Augen

Techniken zur Gesunderhaltung der Augen

Akkomodieren

Trataka

Nasikagra

Bhrymadhya

Dakshinajatru und Vamajatru

Das Augenbad

Die Gesunderhaltung der Verdauungsorgane

Vamandhouti

Uddiyana Bandha

Pranayama

Yogendra Pranayama

Zusätzliche Resultate bei regelmäßiger Praxis

Yogendra Pranayama I

Yogendra Pranayama II

Yogendra Pranayama III

Yogendra Pranayama IV

Yogendra Pranayama V

Yogendra Pranayama VI

Yogendra Pranayama VII

Yogendra PranayamaVIII

Anulomavilomaatmung

Zusammenfassung

Pratyahara

Yoni Mudra

Ausklang

Personenregister

Verzeichnis der Sanskritwörter

Auswahlbiographie

Kontakt mit dem Autor

 

Widmung

Ich widme dieses Buch meinem Yoga-Lehrer, Dr. Jayadeva Yogendra, ohne den ich nicht da wäre, wo ich jetzt bin.

 

Danksagung

Ich bedanke mich bei meinen Freunden Shin Shin und Werner für das Durchsehen des Manuskriptes.

Besonderer Dank geht an meine Frau Inge, die viel Wertvolles beigetragen hat.

Vorwort

Seit 23 Jahren gebe ich Yoga-Kurse. Viele intensive Gespräche mit Kursteilnehmern fanden während dieser Zeit statt. Gespräche über die Sinnfragen des Daseins: Wie kann ich mehr aus meinem Leben machen? Wie kann ich mehr Harmonie in meine Beziehungen zu Partner und Kollegen bringen? Wie kann ich meine Gesundheit erhalten? Was passiert, wenn das Leben zu Ende geht?

Irgendwann tauchte in mir der Wunsch auf, eine Art Handbuch zur Lebensgestaltung zu schreiben, indem diese und andere Fragen ihre Antwort finden sollten. Eine starke Motivation, dieses Buch zu schreiben, waren sowohl meine eigenen Erfahrungen mit Yoga-Büchern, als auch die der Kursteilnehmer. Wir vermissten Bücher für den ganz normalen Menschen, der in Familie, Beziehung und Arbeitsumfeld mit vielen Fragen des täglichen Lebens konfrontiert ist. In den entsprechenden Abteilungen der Buchhandlungen entdeckten wir hauptsächlich zwei Kategorien von Yoga-Büchern. In der einen Kategorie wird Yoga als eine Art Gymnastik, ähnlich dem Aerobic oder anderen Fitneßtrainings dargestellt. Sie beschränken sich auf die rein körperliche Seite und vernachlässigen die geistige und psychische Dimension. Damit greifen sie zu kurz, um angestrebte und ersehnte Veränderungen zu bewirken. Sie transportieren unverfälscht Normen, wie die Sucht nach Schlanksein, Schönheit, Anpassung u.v.m. Gerade diese Normen aber sind oftmals die Ursache für so manches Leiden.

In der anderen Kategorie finden sich sehr anspruchsvolle Bücher mit großem philosophischem Hintergrund, teilweise sehr mystisch, die aber auf den normalen Yoga-Schüler eher abschreckend wirken. Er kann die Inhalte dieser Bücher nicht in sein Leben übertragen und will dies in der Regel auch nicht. Die meisten möchten in ihrem täglichen Umfeld mit Familie und Freunden bleiben und dort auch angesprochen werden.

In diesem Buch habe ich versucht, Yoga in seiner philosophischen und praktischen Dimension in allgemein verständlicher Sprache darzustellen und in die kleinen, alltäglichen Lebenssituationen zu übertragen. Sehr wichtig war mir dabei, nicht nur vom Yoga-Standpunkt aus zu argumentieren, sondern auch den psychotherapeutischen Blickwinkel zu beachten.

Ob mir dies gelungen ist, mag der Leser entscheiden.

Krondorf, März 2003

Vorbemerkung

Ich werde dich, lieber Leser, duzen. Wir werden in diesem Buch gemeinsam auf eine Reise gehen, die dich näher zu dir selbst führen soll. Ich erzähle dir dabei auch einiges von mir. Kurz – es wird manchmal sehr persönlich. Deswegen meine ich, paßt das Du besser als das distanzierende Sie.

Damit dir das, was wir in diesem Buch miteinander erarbeiten, wirklich nutzt, muß ich dich mit einigen Grundlagen der Yoga-Philosophie bekannt machen. Ohne einige fremd klingende Begriffe wird es nicht gehen. Wenn du mit einer neuen Sportart, sagen wir einmal Tauchen, beginnst, mußt du dich auch mit der neuen Terminologie befassen. So ist es immer, wenn man mit etwas Neuem anfängt. Zur Vereinfachung findest du die mit * gekennzeichneten Begriffe im Glossar erläutert, wo du sie immer wieder nachschlagen kannst.

Die erwähnten Personen sind mit ** gekennzeichnet; auch sie findest du am Ende des Buches in einem Personenverzeichnis wieder.

 

 

Teil A

I

Das Weltbild des Yoga

Das Weltbild des Yoga basiert auf der dualistischen Samkhya*-Philosophie. Dualistisch bedeutet, daß von zwei völlig getrennten und unterschiedlichen Ebenen ausgegangen wird, aus denen die Welt besteht. Das Samkhya ist eines der sechs Systeme der Brahmanischen Philosophie. Die anderen fünf Systeme sind: das Nyaya-System, das Vaischeschika-System, das Yoga-System, das Purva Mimansa und das Vedanta-System.

Purusha – der wahre Mensch

Die erste Ebene, das erste Grundprinzip, wird mit Purusha* bezeichnet; das bedeutet Mensch. Wir verstehen unter Purusha den innersten Wesenskern eines jeden Menschen, seine Seele – im Unterschied zum Ich. Wenn wir nämlich ich sagen, meinen die meisten von uns den Organismus, der sich aus Körper und Psyche zusammensetzt. Das Ziel des Yoga jedoch ist, Purusha als unser wahres, vollkommenes Ich zu erkennen.

Purusha ist absolut statisch, ewig in sich ruhend, losgelöst von allem und von nichts berührbar. Er hat kein Verlangen. Für ihn gibt es kein Suchen und kein Streben. Er ist in sich vollkommen, von Beginn an und für alle Ewigkeit. In unserer Kultur kommt der Begriff Seele dem am nächsten, was wir uns unter Purusha vorstellen können. In jedem Lebewesen existiert Purusha.

Stell dir Purusha als einen Diamanten vor: glasklar, hell strahlend und ohne jede Farbe. Er ist umhüllt von Schleiern farbigen Lichts. Dadurch erscheint er selbst farbig. Tatsächlich jedoch reflektiert er das Licht nur. Die Schleier sind unsere nie ruhenden Gedanken, gespeist aus einer unendlichen Zahl von Sinneseindrücken. Ohne das Licht des Diamanten wären die Farben nicht sichtbar.

Übersetzt heißt das, daß eine stoffliche Existenz ohne Seele nicht möglich ist. Purusha ist also die Quelle unseres Denkens, unserer Existenz. Indem er aber die Farben der Welt der Sinne reflektiert, erscheint er uns identisch mit ihnen. Das ist der Grund, weswegen wir ihn, unser wahres Selbst, nicht erkennen können. Was aber hat es mit den farbigen Schleiern auf sich? Woraus bestehen sie? Was ist ihr Wesen? Wir wollen uns jetzt das andere Grundprinzip anschauen.

Prakriti – die Welt der Schöpfung

Die zweite Ebene ist Prakriti*. Es bedeutet: das Zuerst-Gemachte. Prakriti ist das, was wir als Schöpfung wahrnehmen. Man könnte Prakriti auch mit Materie übersetzen. Sie ist in ständiger Bewegung, in immerwährendem Werden und Vergehen begriffen.

In der indischen Mythologie ist dies sehr schön dargestellt in der Gestalt des Shiva* Nataraja, des tanzenden Shiva. Shiva repäsentiert den göttlichen Aspekt des Vergehens und Neuentstehens. Als Nataraja durchtanzt er die Schöpfung, zerstört und erschafft fortwährend neu und bleibt selbst – ein ewiges Lächeln auf den Lippen – unberührt davon. Er symbolisiert Purusha, der ewig ist und in sich selbst ruht. Seine weibliche tanzende Seite, Shakti*, ist vergleichbar mit Prakriti. Wie diese ist sie in immerwährender Bewegung, tanzt den Tanz des Erschaffens und Zerstörens. In diesem Bild ergänzen sich das männliche und weibliche Prinzip.

Ein anderes Beispiel verdeutlicht die Beziehung zwischen Purusha und Prakriti noch besser:

Stell dir vor, du sitzt in einem Kino und verfolgst gebannt das Geschehen auf der Leinwand. Du identifizierst dich mit den handelnden Personen, gehst mit ihnen durch Freud und Leid und fühlst dich als Teil der Geschichte. Die Quelle des ganzen Geschehens jedoch ist die Projektorlampe, vor welcher der Film abläuft. Du bist dir ihrer nicht bewußt, weil du versunken bist in das Drama, das sich vor deinen Augen abspielt. Wenn allerdings die Projektorlampe Purusha nicht wäre, fände der ganze faszinierende Tanz Prakriti auf der Leinwand nicht statt.

Was du da siehst, ist das Leben in all seinen Farben; den Höhen und Tiefen, dem Glück und dem Leid. Wäre es nicht manchmal wünschenswert, das ganze Drama mit ein wenig Distanz betrachten zu können? Sich seines Purusha, seines inneren, vollkommenen Menschen, bewußt zu sein?

Die Gunas – der Tanz der Schleier

Ich sagte eingangs schon, daß es das Ziel des Yoga ist, sich seiner wahren, vollkommenen Natur bewußt zu werden. Dann hört alles Kämpfen, alles Hetzen und Suchen auf, weil es nichts mehr zu erstreben gibt.

Während es unzählige Purushas gibt, die zwar gleichartig, aber nicht identisch sind, gibt es nur eine Prakriti. Sie setzt sich zusammen aus drei verschiedenen Qualitäten: den Gunas*. Diese sind in allem enthalten, was existiert. Das Wort Guna bedeutet Schnur, Strick oder Faden. Wie in einem Seil drei Schnüre miteinander verdreht sind, so sind in allem Existierenden auch die drei Gunas oder Grundqualitäten vertreten.

• Sattva

Die erste dieser Qualitäten ist Sattva: das Reine, das Klare, das Erkennende. Wenn du zum Beispiel in einem Zustand erhöhter Wahrnehmung bist, bist du vollkommen wunschlos; bist ohne das ständige „ich will“ und „ich muß“; du bist nicht träge oder müde, sondern hellwach – dann dominiert in diesem Moment das Sattva-Prinzip oder, wie die Yogis sagen, das Sattvaguna.

Du kennst diese sattvischen Gemütszustände bestimmt auch. Du hast sie erlebt, wenn du etwas Schönes betrachtet hast und dir die darin liegende Vollkommenheit blitzartig bewußt wurde. Kein anderer Gedanke war in dieser Sekunde vorhanden. Nur reines Wahrnehmen und Erkennen. Vielleicht hast du auch schon erlebt, wie mitten in einem hitzigen Streit plötzlich eine innere Klarheit in dir aufstieg, die dir die ganze Relativität der umkämpften Positionen deutlich werden ließ, und nur noch Friede und Verstehen für alles um dich herum in dir war. Das ist Sattva.

• Rajas

Das zweite Prinzip ist Rajas, das Veränderliche. Rajas bedeutet Staub. Es ist der Drang, tätig zu werden, etwas zu bewirken, zu handeln. Es trübt das reine Bewußtsein des Sattvagunas und legt sich wie Staub auf die reine Erkenntnisfähigkeit. Rajas holt dich aus der klaren sattvischen Wahrnehmung.

***

Ich erinnere mich an eine Urlaubssituation. Es war in der Kathedrale von Vannes in der Bretagne. Ich schlenderte in Touristenmanier durch den hohen, halbdunklen Raum und fand mich plötzlich vor einem Bild, das Jesus zeigte. Ich kann mich an keine Einzelheiten mehr erinnern, weiß aber noch, daß ich wie angewurzelt davor stehenblieb – gefesselt von dem dargestellten Gesichtsausdruck. Da war so viel innere Schönheit und Klarheit. Er zeigte eine entschlossene Männlichkeit, die nichts mit maskuliner Härte zu tun hatte, sondern geprägt war von einer unendlich großen inneren Sicherheit und Reife. Ich fühlte mich in vollkommenem Einklang mit ihm und hatte nur noch den einen Wunsch: so zu werden wie er. So naiv das auch klingen mag. Mir erschienen in diesem Moment mein Leben und die Ziele, die ich anstreben wollte, ganz klar. Es gab kein Wenn und Aber. Nach einiger Zeit nahm ich wahr, daß der Eindruck verflachte. Die Gedanken kamen wieder. Wir wollten ja weiter, uns noch die Fußgängerzone mit den alten Häusern anschauen.

***

Das ist das Rajasguna. Es treibt uns weiter, läßt uns nicht ruhen. Wenn dein Leben ganz von „Ich will“ und „Ich muß unbedingt” diktiert wird, dann dominiert Rajas. Du kannst es auch spüren, wenn dein Denken und Empfinden von Wut oder Ärger bestimmt wird. Dann ist es oft nicht möglich, klar und objektiv zu denken, weil Rajas Sattva überlagert.

Auch in der unbelebten Welt kannst du Rajas beobachten: im Blitz, im schnell fließenden Wasser, bei einem Vulkanausbruch usw.

• Tamas

Das dritte Guna ist Tamas: das Träge, Dunkle, Beharrende. Mutlosigkeit, Gefühle von Schwäche und Minderwertigkeit, geistige und körperliche Trägheit, Faulheit usw. sind Ausdruck von Tamas. Es ist das Schwere in uns; das, was uns am warmen Ofen sitzen bleiben läßt, obwohl sich ein Teil in uns gerne den Wind um die Nase wehen lassen möchte. Dann kommen solche Gedanken wie: „Es hat ja doch keinen Sinn, einmal etwas Neues auszuprobieren“ und: „Ich bin sowieso nicht gut genug.“ Du kennst das alles. Tamas zieht nach unten und hält zurück.

In einem Fußbodenbelag aus Marmorplatten zum Beispiel dominiert Tamas. Aber es ist auch Rajas vorhanden, sonst würden die Platten ewig halten. Selbst Sattva ist in winziger Menge unmerklich vorhanden.

Alle drei Gunas sind also ständig präsent. Auch wenn eines gerade dominiert, so liegt es in ihrer Natur, daß eines der beiden anderen danach drängt, die Oberhand zu gewinnen. Diese Tatsache führt zu folgender Überlegung:

Wir können uns darauf verlassen, daß kein Zustand von Dauer ist. Das ist beruhigend, denn wenn du dich zum Beispiel an einem Tag mutlos fühlst und ohne Antrieb bist, wenn also Tamas dominiert, so kannst du sicher sein, daß sich das früher oder später ändert. Das bedeutet, daß du dir keine Vorwürfe zu machen brauchst, weil du nichts auf die Beine gestellt hast. Wenn du dich beobachtest, dann wirst du feststellen, daß das Belastende nicht der Zustand ist, in dem du dich gerade befindest, sondern das, was du daraus machst. Was ist Schlimmes daran, wenn du einmal nicht aktiv und dynamisch bist? Könnte es nicht sein, daß dann Zeit dafür wäre, eine andere Seite deiner Persönlichkeit zu spüren: die der Schwäche, der Trauer, der Unsicherheit, des Zweifels? Sie zulassen zu können bedeutet, ganzheitlich zu werden und wieder ein Stück Reife zu gewinnen. Sie annehmen zu können bedeutet, das Positive in jeder Situation wahrzunehmen. Mit positiv meine ich immer etwas, was uns persönlich weiterbringt. So könntest du die empfundene Mutlosigkeit als eine Zeit des Nach-innen-Gehens erleben und dabei die Sicherheit finden, welche die Stille dir gibt.

Zweifel birgt für uns die Chance, Dinge anders zu sehen – weicher, weniger bestimmt. Die Wurzel der Sensibilität liegt nicht im exakt Definierten. Wenn du permanent versuchst, Teile deiner Persönlichkeit wegzuschieben, dann bleibst du psychisch unreif und wirst irgendwann krank. Reife läßt sich daran erkennen, daß du alle Teile in dir wahrnehmen und leben kannst. Nichts von dem, was du an dir feststellst, ist schlecht; vielmehr liegt es in der Natur der Gunas, daß jedes von ihnen in ständig unterschiedlichen Anteilen präsent ist.

Was ich dir hier klarmachen will, ist, daß es unnötig ist, sich zu verurteilen und sich schlecht zu fühlen. Was du tun kannst, ist, dich darum zu bemühen, das Wirken der Gunas immer feiner wahrzunehmen und den Sinn zu erkennen, der in ihrem Wirken für dich liegt. Dies wird nicht von heute auf morgen gelingen. Zu intensiv hat man dir das Denken in den Kategorien gut und schlecht anerzogen. In der Praxis bedeutet das, daß du oft an dir herumkritisierst und mit Eigenschaften, die zu dir gehören, nicht einverstanden bist. Da sie jedoch nun mal da sind, tauchen sie immer wieder auf. In solchen Momenten fühlst du dich schuldig und unvollkommen. Dies raubt dir eine Menge Energie und führt häufig zu innerer Zerrissenheit, Trotz und Resignation. In solchen Zuständen fühlst du dich wie gelähmt. Du kannst nicht gegen dich selbst kämpfen! Don’t push the river – schieb den Fluß nicht an, er fließt von selbst.

Wie ich schon sagte, ist keine Situation gut oder schlecht. Dasselbe gilt für Gefühle. Sie unterliegen, wie alles Existierende, dem ewigen Spiel der Gunas. Wir tun gut daran, zu lernen, uns darauf einzustellen.

Vielleicht regt sich jetzt Widerspruch bei dir? Vielleicht möchtest du einwerfen, daß man doch nicht alles an sich akzeptieren kann; daß es doch wirklich Dinge an einem selbst gibt, die man gerne ändern möchte, weil man unter ihnen leidet? Da hast du natürlich recht. Wir kommen später dazu, wie du Veränderungen bei dir bewirken kannst. Im Moment ist es noch wichtig, daß du dir über die Prinzipien, nach denen das Universum abläuft, Gedanken machst und versuchst, dieses Wirken bei dir wahrzunehmen und den Sinn zu erfühlen. Und vergiß nicht, daß Leiden sehr oft aus deinen Bewertungen entsteht und nicht aus der Situation selbst.

Bisher haben wir uns mit einigen für uns positiven Aspekten des Spiels der Gunas beschäftigt. Einer davon ist, daß wir uns darauf verlassen können, daß keine für uns schmerzhafte Situation ewig dauert. Aufgrund dieses Gedankens können wir im Laufe der Zeit mehr Vertrauen gewinnen. Wir haben weiterhin gesehen, daß wir alle Teile unserer Person annehmen dürfen, weil alle drei Gunas – wenn auch in unterschiedlichen Anteilen – immer präsent sind. Dies so zu sehen ist nicht leicht, weil wir zu stark werten und nicht gelernt haben, die Dinge einfach geschehen zu lassen.

Der andere Aspekt des Spiels der Gunas, mit dem wir uns schwer abfinden können, ist der, daß sie sich nicht nur vom scheinbar Unangenehmen zum scheinbar Angenehmen umgruppieren können, sondern auch umgekehrt vom scheinbar Angenehmen zum scheinbar Unangenehmen.

Im letzten Satz wird dir der häufige Gebrauch des Wörtchens scheinbar aufgefallen sein. Hier kommt eine philosophische Sichtweise ins Spiel, die uns am Anfang recht ungewohnt erscheinen mag, die aber bei näherem Hinsehen Teil unserer Alltagserfahrung ist. Wir haben als Lebewesen den tiefverwurzelten Instinkt, alles Unangenehme zu vermeiden. Wir wollen dem Schmerz, wo immer es geht, ausweichen und übersehen, daß wir uns innerhalb der Polarität von plus und minus, ja und nein, heiß und kalt oder wie wir dieses Prinzip auch nennen mögen, bewegen. Vergleiche dazu später den Absatz über Klesha* (im Kapitel I - Karma).

Es gab im Mittelalter einen Mystiker namens Jakob Böhme**, einen Schuhmachermeister. Früher waren die Werkstätten der Schuhmacher noch nicht so steril neonerleuchtet wie heute. Dunkel und mit dem typischen Geruch nach Leder, Pech und Leim vollgesogen, hatten sie etwas Geheimnisvolles an sich. Vor dem niederen Tisch, der durch eine Arbeitslampe erhellt wurde, saß der Meister. Der übrige Raum lag in zwielichtigem Dunkel. Zu Böhmes Zeiten, als es noch keine Elektrizität gab, war es eine Kerze, die für das notwendige Licht sorgte. Um die Lichtausbeute zu erhöhen, war an der Lichtquelle ein Spiegel angebracht, der die Flamme reflektierte und streute. Als Böhme eines Tages wieder einmal sinnend über seine Arbeit gebeugt auf seinem Schemel saß, war sein Blick auf die dunkle Wand vor ihm gerichtet, auf die ein heller Lichtkreis der Arbeitslampe fiel. Dies war der Moment einer blitzartigen Erkenntnis. Damit der Lichtkreis sichtbar werden konnte, war die dunkle Wand notwendig. Allgemein bedeutet das, daß es das eine nicht ohne das andere geben kann.

Wer jeden Tag gut ißt, kann eine besondere Delikatesse nicht mehr schätzen. Es heißt, daß man vor dem Höhepunkt aufhören soll. Darin kommt die Vorahnung zum Ausdruck, daß nach dem Hoch das Abflachen und schließlich das Tief kommt. Kein Mensch ist in der Lage, immer im gleichen Gemütszustand zu bleiben, auch wenn wir uns das scheinbar wünschen. Wenn du zum Beispiel mit einem geliebten Menschen eine Zeit des höchsten Glücks und der Harmonie erlebst und dir wünschst, daß sie nie enden mag, wirst du dich schließlich irgendwann dabei ertappen, daß du dich wieder nach dem Alleinsein sehnst – und wenn es nur für kurze Zeit ist. Vielleicht entsteht durch dieses Sehnen eine leichte Disharmonie in der Beziehung und bietet einen willkommenen Anlaß, dich zurückzuziehen. Wer weiß, vielleicht ging es deinem Partner im geheimen ähnlich. Vielleicht habt ihr unbewußt beide auf eine Auflösung oder zumindest eine Lockerung des symbiotischen Zustands hingearbeitet. Die menschliche oft trickreiche Psyche geht manchmal sonderbare Pfade, um einen Ausgleich herzustellen. Zu große Nähe bedeutet Abhängigkeit und Aufgabe der eigenen Person. Die Natur, die nach Polaritätszyklen abläuft, greift hier unwillkürlich ein. Wenn wir lernen, diese Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, können wir daraus den vollen Nutzen für unsere Weiterentwicklung ziehen.

Bleiben wir noch etwas bei unserem Beispiel.

Nachdem du jetzt also wieder etwas Distanz hast, wendest du dich einer Sache zu, die auch wichtig ist. Vielleicht liest du irgend etwas, machst dir ein paar Notizen und kommst dabei auf Gedanken, die dein Leben bereichern? Wer möchte im nachhinein entscheiden, was an diesem Prozeß gut oder schlecht war? Beide Teile des Erlebens hatten ihre Schönheit und ihren Sinn. Wie oft aber machen wir es uns schwer, indem wir die Veränderung nicht akzeptieren! Wir sind sauer, machen dem anderen Vorwürfe und trauern dem Vergangenen nach. Hier kommt das Tamasguna, das Träge und Beharrende, wieder ins Spiel. Durch unseren Widerstand ändern wir das Erlebte nicht. Das Vergangene läßt sich nicht mehr zurückholen. Das einzige, was wir erreichen, ist, daß alles länger dauert und schmerzhafter wird. Nicht zuletzt deshalb, weil wir – auf das oben stehende Beispiel bezogen – eventuell einiges Porzellan in der Beziehung zerschlagen. Aber auch das hat seinen Sinn. Schönwetterbeziehungen mangelt es an Tiefe. Es scheint in Beziehungen dann gut zu laufen, wenn sich beide einig in der Unterschiedlichkeit sind. Diese Einigkeit setzt ein gegenseitiges Verstehen voraus. Dieses wiederum bedeutet, über den eigenen Schatten springen zu können, das Ego also zu transzendieren. Hier wird wieder deutlich, wie menschliches und spirituelles Wachstum Hand in Hand gehen.

Leid und Schmerz also als notwendiges Moment, um Glück und Freude überhaupt wahrnehmen zu können? Für viele von uns ein zunächst ungewohnter Gedanke. Wenn wir allerdings weiterdenken, erkennen wir, daß wir ohne schmerzhafte und schwierige Erfahrungen nicht die Erkenntnisse und Reife erlangt hätten, die wir jetzt haben.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich darauf hinweisen, daß ich nicht der alttestamentarischen Ansicht bin, daß man nur durch Leid zu Erkenntnis gelangt. Vielmehr treten wir in einen Erkenntnisprozeß ein. Je mehr wir die Relativität der Begriffe Freude und Leid und den Sinn, der in ihrer Existenz liegt, sehen können, desto mehr verlieren sie für uns an Bedeutung. Die Stärke des Gefühls von Schmerz entsteht aus der Bedeutung, die wir einem Ereignis geben. Für den einen bricht die Welt zusammen, weil an seinem neuen Auto ein Kratzer ist. Für den anderen, der um das Spiel der Gunas weiß, ist der Kratzer überhaupt kein Grund, sich aufzuregen, weil ihm der permanente Wandel von Prakriti bewußt ist.

Alles Existierende entsteht aus den sich ändernden Konstellationen der Gunas. Es geht letztlich nicht um die Phänomene, die wir wahrnehmen, sondern um die potentiellen Möglichkeiten, die in diesem Vorgang liegen. Die Karosserie eines Autos besteht aus Stahlblech. Dieses Blech enthält Eisen, Kohlenstoff und Beigaben anderer Metalle. Jeder dieser Bestandteile ist letztlich aus den drei Grundprinzipien von Prakriti, den Gunas, aufgebaut, die, wie wir wissen, in ständiger Bewegung sind. Das heißt, unser Autoblech ist unweigerlich der Umwandlung preisgegeben, weil sich durch winzige Lackschäden das Eisen mit Sauerstoff verbindet, es also rostet. Ein Yogi, dessen Wahrnehmung aufs äußerste geschärft ist, wird die Ebene der Gunas sehen. Er sieht das Eisenerz, die darin enthaltenen Möglichkeiten, zum Beispiel die Herstellung von Autoblechen, die unvermeidliche Auflösung in die Sauerstoff-, Kohlenstoff-, und Eisenmoleküle und das daraus entstehende Neue, und das alles im selben Augenblick.

Diese Stufe des Bewußtseins ist nur durch äußerst konsequente Yogapraxis zu erreichen. Aber – durch die Beschäftigung mit dieser Sichtweise und einer uns angemessenen Praxis können wir uns dieser Art der Wahrnehmung ein ganzes Stück nähern.

Wir haben uns bisher mit dem Wesen von Prakriti beschäftigt. Das heißt, wir wissen inzwischen, wie sie aufgebaut ist. Wozu aber der ganze Tanz der Gunas, den wir als Schöpfung bezeichnen? Ist es blindes Werden und Vergehen ohne Sinn und Ziel? Natürlich nicht!

Das Ziel des Yoga ist, daß wir uns unseres Purushas bewußt werden. Wir hatten eingangs gesagt, daß Purusha statisch, vollkommen, in sich ruhend und desinteressiert an den Vorgängen der materiellen Welt ist. Es wäre ein Widerspruch, wenn sich etwas, was vollkommen und autonom ist, für irgend etwas außerhalb seiner selbst interessieren würde. Für Purusha existiert keine Dualität. Er ist im Zustand absoluter Einheit. Deswegen – und es ist wichtig, daß du das jetzt verstehst – ist er sich seiner selbst nicht bewußt, denn dazu bedürfte es des Gedankens „Ich bin“. Um diesen aber denken zu können, ist die Existenz eines Du nötig, und das wäre wieder Dualität.

Das Samkhya geht davon aus, daß wir uns vor Beginn der Schöpfung im Zustand der Einheit befanden und dann in die Dualität sanken. Es ist dies der uralte Schöpfungsmythos, den wir auch im Christentum finden. Der Biß vom Apfel der Erkenntnis bedeutete, daß wir uns unseres Selbst bewußt wurden. Das Ich entstand und damit auch die Fähigkeit, das Andere um uns herum zu erkennen. Damit waren die paradiesischen Zustände der Einheit vorbei. Adam sah Eva an und dachte vielleicht, daß ihr ein Antilopenfell gut stehen könnte. Aus war es mit der Freundschaft unter allen Lebewesen! Der Mythos spricht vom Engel Gabriel mit dem feurigen Schwert, der das Paar mit strengem Blick aus dem Garten Eden vertrieb. In Wahrheit bedurfte es seiner gar nicht. Dualität bedeutet immer auch Konflikt. Angenommen, Eva war mit Adams Antilopenfell nicht einverstanden, so dürfte ihn das kaum erfreut haben. Vielleicht war das der erste Streit in der Schöpfungsgeschichte. Wohin das schon sehr bald führte, zeigt die Geschichte von Kain und Abel.

Es ist nutzlos, nach dem Warum zu fragen. Warum kam die Schlange ins Paradies? Im Samkhya übernimmt die Rolle der Schlange das erste Karma*, die erste auf einer Ursache basierende Wirkung. Woher kam dieses Karma, und warum? Die indische Mythologie erzählt, daß Brahma* – der schöpferische Aspekt in der hinduistischen Göttertriade aus Brahma, Vishnu* und Shiva (auch Trimurti genannt) – aus seinem Schlaf erwachte und damit ein neuer Schöpfungszyklus begann. Es sind philosophisch-religiöse Grundsätze, die du einfach akzeptieren mußt; keiner von uns war dabei, und offensichtlich hat es ja irgendwie angefangen, sonst wären wir nicht da. Natürlich wissen wir aus der naturwissenschaftlichen Forschung inzwischen, wie Leben entstanden ist, und auch über die Entstehung des Universums gibt es einige Theorien. Die Naturwissenschaft allerdings kann uns nicht bei der Lebensbewältigung helfen.

Dazu bedarf es geistiger Konzepte und Techniken.

Exkurs über Philosophie, Religion und Mystik

Es erscheint mir wichtig, an dieser Stelle darauf einzugehen, wie ich Philosophie, Religion und Mystik verstehe und welche Rolle sie einnehmen sollten.

Philosophie

Philosophien sind Erklärungsversuche für die Dinge, wie sie sich uns darstellen. Ich sage deshalb Versuche, weil kein normaler Mensch weiß, wie das Universum entstand, wer Gott ist, was nach dem Tod kommt oder wie das alles enden wird. Ich habe den Begriff „normaler Mensch“ übrigens ganz bewußt gewählt, denn die Yogis und auch die Adepten anderer mystisch-geistiger Traditionen sind sehr wohl der Ansicht, Einblick in die letzte Wirklichkeit zu haben. Dies gerade ist ja der Sinn und Inhalt dieser Traditionen und Techniken. Die Kette der Fragen ließe sich noch beliebig verlängern. Nur ist das ziemlich müßig, weil alle Überlegungen für uns, die wir noch nicht die letzten Stufen des geistigen Weges erreicht haben, spekulativ bleiben werden. Natürlich meine ich nicht, daß es keinen Spaß machen kann, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Im Gegenteil – die Lust am abstrakten Denken ist faszinierend, und es ist positiv, ihr nachzugehen, weil sie uns aus den alltäglichen Kleinigkeiten heraushebt. Dies ist wichtig, denn dann können wir die Dinge von einem anderen Standpunkt aus wahrnehmen.

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es für mich wichtig ist, einen geistigen Bezugsrahmen zu haben, mit dessen Hilfe ich das, was ich erlebe, einordnen und somit besser verstehen kann. Als Beispiel nenne ich die Guna-Theorie. Mit ihrer Hilfe verstehe ich die Ereignisse in meinem Leben oft besser und werde von den unvermeidlichen Schlägen nicht so oft überwältigt.

Vielleicht wirst du jetzt einwenden, daß es eine verwirrende Vielzahl von Philosophien und Theorien gibt. Da stimme ich dir zu.

Religion

Übrigens fallen auch die Religionen darunter. Das Wort „Religion“ leitet sich ab vom lateinischen religio, das soviel wie Rückverbundenheit heißt. Damit ist die Verbindung des Individuums mit dem Großen Ganzen, mit dem Unfaßbaren, also mit Gott, gemeint. Religionen sind Wege, die große Menschen gegangen sind und die sie an uns weitergegeben haben, damit wir ähnliche Erfahrungen machen können. Solche Menschen waren Jesus, Buddha, Mohammed und die Rishis*. Letztere haben die indischen Veden* verfaßt. Für mich bedeuten die Worte Jesu „Folge mir nach“ und „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“, daß jeder von uns den Weg der Liebe gehen muß, wie er ihn uns gezeigt hat. Dabei verstehe ich Jesus als einen Menschen, der auf dem Weg zu Gott so weit gekommen ist, daß er über das normal Menschliche weit hinausging, so daß wir ruhig an ihn unsere Gebete richten können. Diesen Gedanken fand ich bei Swami Vivekananda**.

Der Begriff Vater bezeichnet das Überpersönliche, das für uns Sterbliche nicht faßbare Göttliche.

Für uns bedeutet das, daß wir die engen Grenzen unseres Egos transzendieren müssen. Immer wieder und jeden Tag aufs neue, um die Ganzheit, das Licht, die universelle Liebe oder wie immer du das auch bezeichnen möchtest, zu erkennen. Diese Arbeit muß jeder selbst tun und dabei seinen eigenen Erfahrungen folgen. Das ist die Einstellung, die uns Mystiker wie Meister Eckhart** [ca.1260 – 1328] empfehlen.

Mystik

Von den Mystikern stammt auch die Haltung, nicht nur zu glauben, was andere erzählen, sondern das, was sie lehren, durch den eigenen Erfahrungsweg zu bestätigen. Jeder von uns muß seine eigenen Erkenntnisse sammeln. Diese mystische Religiosität war bis zum 16. Jahrhundert in unserem Kulturkreis noch weit verbreitet, bis sie dann durch die Befolgung des Dogmas und der Sakramente abgelöst wurde. Natürlich hat das auch etwas mit kirchlicher Machtpolitik zu tun; denn ein Mensch, der aufgrund einer hohen Ethik seinen eigenen Erfahrungen folgt, ist naturgemäß schwerer zu lenken, weil er keinen Priester braucht, sondern den unmittelbaren meditativen Kontakt mit Gott sucht.

Aus dieser unmittelbaren Erfahrung kommt die Erkenntnis, daß Gott oder die absolute Realität keine persönlichen Züge hat, sondern die gewaltige, unfaßbare Kraft ist, die das Universum durchdringt. Welchen Weg du einschlägst, um dich dem Unfaßbaren zu nähern, ist letztlich egal und abhängig von deinem Charakter, deiner Persönlichkeit, den Menschen, mit denen du zusammenkommst, und den geistigen Strömungen, die dich beeinflussen.

Über diese Haltung brauchst du nicht mit Dogmatikern zu diskutieren. Sie werden dir sagen, daß nur ihr Weg der richtige ist und andere Wege in die Irre führen. Gott aber ist viel zu groß, um sich mit solchen Kleinigkeiten zu beschäftigen. Ramakrishna**, einer der großen indischen Mystiker des letzten Jahrhunderts, erreichte Gotteserkenntnis in allen großen Religionen. Dies ist sehr schön im Tempel der Ramakrishna-Mission in Bombay zu sehen. Man sieht dort Darstellungen über zentrale Aussagen aus den großen Weltreligionen an den Wänden. Während meiner Zeit in Bombay bin ich gerne zum Meditieren dorthin gegangen und spürte dort immer eine Atmosphäre der Einheit und des Friedens.

Wie schon erwähnt, ist es wichtig, daß du dich mit geistigen Dingen beschäftigst. Sie heben dich über dein Alltagserleben hinaus und erweitern dein Bewußtsein. Wenn du einmal angefangen hast, auf dieser Ebene zu denken, werden dir entsprechend deiner Persönlichkeit und deiner Kapazität die passenden Menschen, die passenden Bücher und die passenden Lehrer begegnen. Du wirst unzählige Erklärungsversuche für das Seiende kennenlernen, und du wirst in allem einen Kern an Wahrheit entdecken. Je länger du dich mit Philosophie befaßt, desto mehr wirst du entdecken, daß alle recht haben könnten. Vielleicht kennst du den berühmten Ausspruch des Philosophen Sokrates**: „Ich weiß, daß ich nichts weiß.“ Er drückt am besten aus, wie ich Philosophie verstehe; nämlich als eine Art Krücke, die wir benutzen müssen, bis wir zu eigener Erkenntnis gelangen. Sie regt uns zum Denken an, sie hilft uns, die alltäglichen Begebenheiten einzuordnen, sie weist uns Wege, auf denen wir eine bestimmte Strecke voranschreiten können. Sie zwingt uns, eigene Denkschemata und Verhaltensmuster zu hinterfragen und eventuell zu ändern. Sie lädt uns ein, andere Methoden der Erkenntnis, zum Beispiel die Meditation, auszuprobieren, und sie lehrt uns, leiser zu werden und den lauten Stimmen, die scheinbar immer genau wissen, was richtig und was falsch ist, zu mißtrauen.

Auf deinem Weg wirst du irgendwann eine bestimmte Richtung bevorzugen, ohne die anderen zu verurteilen. Das ist ganz natürlich und dient dazu, in die Tiefe zu gehen. Allmählich wirst du immer deutlicher spüren, welcher Weg dein Weg ist. Das kann sich zum Beispiel darin zeigen, daß du weniger Lust hast, philosophische Diskussionen zu führen, und die anderen ihren Weg gehen lassen kannst. Du hast deinen eigenen und spürst so viel Sicherheit in dir, daß du dich nicht mehr messen mußt.

So wie alle Schöpfung wirst auch du, entsprechend deinem Maß, zur Reife, d.h. zur Erkenntnis kommen. Dann wirst du den alten Zen-Spruch „Triffst du Buddha unterwegs, töte ihn“ verstehen. Wenn du nämlich auf einer Ebene angelangt bist, auf der du Buddhas triffst, dann brauchst du kein Buddhist oder sonst irgendein Anhänger einer Religion mehr zu sein. Dann bist du da, wo alle Wege ihre Erfüllung finden. Dann kannst du die Krücke Philosophie wegwerfen, weil du erkennst.

Da du gegenwärtig ein Buch über Yoga liest (was natürlich auch kein Zufall ist), schlage ich dir vor, daß du dich darauf einläßt und deine Erfahrungen damit machst. Du wirst selbst spüren, wieviel du von dem, was ich dir sage, auf deinem Weg gebrauchen kannst. Genauso soll es sein!

Das Problem ist also: Wie können wir unseren Purusha erkennen, da dieser doch – vollkommen und in sich ruhend – absolut desinteressiert daran ist? Es gibt ein schönes Bild, wie die Beziehung zwischen Purusha und Prakriti ist und in dem auch die Lösung unseres Problems sichtbar wird.

Purusha ist darin ein Lahmer, der von einem Blinden getragen wird. Der Lahme kann sich nicht erkennen, wie wir gesehen haben. Er bedarf dazu der Hilfe der Materie, des Blinden. Dieser wiederum kann ohne die Seele keine Richtung halten. Erinnern wir uns an den Film und die Projektorlampe. Ohne die Lampe würde sich das Drama der Schöpfung auf der Leinwand nicht abspielen. Es wäre nur diffuse, chaotische Materie. Prakriti hat die Aufgabe, Purusha zur Selbsterkenntnis zu verhelfen. Das ist der Grund, weswegen sich Purusha und Materie miteinander verbinden.

Das Leben, der Tanz der Gunas, bereitet uns jeden Tag eine Fülle von Erfahrungen. Wir erleben Glück und Schmerz. Wir sehen schöne und häßliche Dinge. Wir lernen Menschen kennen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Bei all diesen Erfahrungen lernen wir immer wieder ein Stück über uns selbst. Es ist ein Prozeß der Selbsterkenntnis. Immer wieder wirst du dabei spüren, daß du „nicht nur vom Brot allein” lebst, sondern daß du das Bedürfnis hast, eine geistige Dimension in dein Leben zu bringen. Solange du lebst, wirst du diesen Ruf der Seele hören. Achte darauf, daß du dich nicht im Tanz der Gunas, d.h. im Materiellen, verlierst. Der Sinn, der im Er-Leben liegt, wäre damit verfehlt. Hegel** sprach vom „Feuerbad der Erfahrungen“, das die Seele durchlaufen muß, um sich selbst zu erkennen. Wäre es nicht so, würden wir nicht existieren. Wir wären noch immer im Zustand der Einheit und uns unserer selbst nicht bewußt.

Es kann sein, daß du erhebliche Zweifel hast an dem, was ich da sage. Die kann und will ich dir nicht nehmen. Das kannst nur du für dich selbst klären. Ich empfehle dir dazu eine wissenschaftliche Vorgehensweise. Nimm das, was ich dir hier vorstelle, als eine Hypothese, die bewiesen oder verworfen werden muß. Wissenschaftliches Vorgehen heißt, eine Versuchsreihe aufzustellen und diese durchzuprobieren. Sie besteht aus allen Gedanken und Techniken, die ich dir in diesem Buch vorstelle. Sie einfach abzulehnen wäre unwissenschaftlich und auch nicht rational.

Versuche, dich ein wenig mit Meditation zu beschäftigen. Setze dich einfach einmal hin, und lausche deinem Atem. Wir reden darüber genauer, wenn es um Techniken geht. Ich bin mir ziemlich sicher, daß du die Erfahrung machst, daß dein Empfinden und dein Denken weiter und lichter werden. Das heißt in unserem Kontext, daß du ein Stückchen Weg aus den Verstrickungen der Materie hin zum Diamanten zurückgelegt hast. Du wirst bestimmt viele Male wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Das Rajasguna und das Tamasguna sind sehr stark. Du weißt um diese Gefühle von Ungeduld und Trägheit. Du weißt jetzt aber auch, was es damit auf sich hat. Dir und mir und allen anderen auch wird nichts anderes übrigbleiben, als sich auf den langen Weg zurück zum innersten Menschen zu machen. Am Anfang, wenn du noch tief im materiellen Denken verhaftet bist, wird es schwer sein. Da kommen Gedanken der Unlust und des Widerstandes. Ich nenne das die Schweinebratenebene. Dann kommen erste Erlebnisse des Wohlbefindens, Gefühle der Leichtigkeit. Du spürst, daß da etwas ist. Und natürlich kommen die Rückschläge. Es ist ein langer, aber auch interessanter Weg, der dir neue Dimensionen des Erlebens schenkt. Irgendwann wirst du das ganze System von Techniken und Überlegungen, die ich dir hier vorstelle, zusammen mit eigenen Erfahrungen in dein Denken und Fühlen integriert haben. Dann hast du schon einige Hürden genommen, und ich brauche nicht mehr zu erzählen, was passieren wird, denn das weißt du dann schon alles selbst. Auf dem Weg bist du schon, sonst wärst du nicht in die entsprechende Abteilung deiner Buchhandlung gegangen und wärst auch nicht beim Lesen dieses Buches.

Noch ein Einwand kann dir begegnen. Es gibt scharfsinnige Untersuchungen, die sich mit Hirnströmen, Hautwiderstand und ähnlichen physiologischen Faktoren während der Meditation beschäftigen und die alles auf einer körperlichen Ebene abhandeln. Das Schönste in Bezug auf Meditation, das ich einmal gelesen habe, lautet: „Meditation – Dösen auf höherer Ebene?”. Mir ist natürlich auch bekannt, daß gerade auf dem Gebiet der Psychotherapie und des Persönlichkeitswachstums viel Unsinn auf dem Markt ist. Man muß genau hinschauen und sich auf sein eigenes Erleben verlassen. Ich frage mich nur manchmal, warum man nicht überall so kritisch ist. Könnte das nicht mit dem Tamasguna zusammenhängen, das sagt: „Bleib wo du bist, auch wenn’s weh tut”?

Im übrigen habe ich dazu dieselbe Einstellung wie zur Philosophie. Wenn es dir hilfreich ist, dann bleib dabei – wenn nicht, laß es!

Dharma – das große Gesetz oder: deine Lebenslandkarte

Leben bedeutet handeln. Es ist unmöglich, nicht zu handeln. Selbst wenn du nur dasitzt und an nichts Besonderes denkst, handelst du; denn auch Denken ist eine Handlung. Da Leben also ein Synonym für Handeln ist, wäre es erstrebenswert, energetisch, klar, konzentriert und effektiv zu handeln, d.h. intuitiv in einer gegebenen Situation das Richtige zu tun.

Vielleicht hast du schon einmal das Wort Tao gehört. Tao ist eine aus China stammende Philosophie und heißt soviel wie Gesetz. Puristen werden hier einwenden, daß sich das Tao nicht definieren läßt. Wer es benennt und definiert, der muß sich gedanklich auf ein Gegenteil beziehen; denn etwas definieren heißt, es von etwas anderem abzusondern, es zu trennen. Das Tao aber sei ja gerade die Einheit jenseits der Dualität. Der Einwand stimmt, aber dennoch will ich versuchen, die Sache zu erklären.

Wasser ist ein beliebtes Symbol, um zu verdeutlichen, was Tao bedeutet. Es fließt, wo immer es eine Möglichkeit hat. Es füllt die kleinsten Ritzen aus. Ist das Gefälle stark, dann fließt es schneller. Ist sein Bett breit, dann fließt es langsam und majestätisch. Es erscheint mühelos, wenn wir ihm zuschauen. Es ist gleichzeitig sanft und kraftvoll. Auf die Dauer vermag ihm nichts zu widerstehen. Es fließt, weil es fließt, weil es fließt, usw. Absichtslos und doch ungeheuer effektiv.

Das Tao plant nicht, denn auch das wäre Dualität. Es ist. Im Tao zu sein bedeutet, zu sein wie das Wasser:

Wenn du müde bist, dann schläfst du. Du planst nicht, jetzt noch ein bißchen durchzuhalten und später zu schlafen. Wenn du Hunger hast, dann ißt du. Jetzt und nicht später! Du spürst, wann Aktivität angesagt ist, und du ruhst, wenn die Zeit dafür ist.

Du lebst vollkommen in der Gegenwart. Das bedeutet nun nicht, daß du nur von einer Minute zur anderen lebst. Vielmehr lernst du, in Einheiten zu denken.

Du kannst dich in bestimmten Situationen nicht einfach hinlegen und schlafen, etwa an deinem Arbeitsplatz. Du weißt aber in der Regel vorher, was dich erwartet, und kannst dich darauf einstellen. Wenn du einen Achtstundentag durchstehen mußt, dann wirst du eben am Abend zuvor früh genug zu Bett gehen. Dieser Arbeitstag ist sozusagen das Großsystem, das im Moment anliegt. Dies unterteilst du in deiner Wahrnehmung immer weiter. Wenn du zwischendurch einmal das Bedürfnis hast, zu entspannen, indem du für zwei Minuten die Augen schließt, dann wirst du dafür eine Möglichkeit finden. Und wenn es auf der Toilette ist. Es geht darum, immer so gut wie möglich zu spüren, was du gerade brauchst. Da du ganz in der Gegenwart bist, ist dein Handeln effektiv und befriedigend, weil nichts von dir in der Zukunft und in der Vergangenheit hängt.

Vielleicht höre ich dich jetzt fragen, ob das denn gehe, so ganz ohne Ordnung und Regeln. Diese Frage zeigt, wie tief wir in der Dualität verwurzelt sind. Indem du nach Ordnung fragst, hast du das Gegenteil davon vor Augen und bist nicht im Tao, denn Tao ist Einheit. Aber zurück zu der (eventuellen) Frage nach der Ordnung.

Unser ganzes Universum ist ein riesiges System, in dem alles von den Planetenbahnen bis zum Flug einer Blütenpolle nach Gesetzmäßigkeiten abläuft. Auch wir Menschen sind darin eingebettet. Wenn ein Teil dieses Systems die Ordnung verläßt, dann versucht diese, wieder einen Ausgleich herzustellen. Wenn es zum Beispiel zu viele Mäuse gibt, dann steigt auch die Anzahl der Raubvögel, die sie wieder auf ein erträgliches Maß bringen. Wenn es dir als Individuum gelungen ist, deinen Platz und deine Rolle in diesem System zu finden und einzunehmen, dann wird die Frage nach Regeln überflüssig. Ähnlich ist es mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie taucht nur dann auf, wenn er zeitweilig verlorengegangen ist. Wir werden dieses Problem im nächsten Kapitel Karma weiterdiskutieren.

Die Yogis nennen das große Gesetz, das Tao, Dharma*.

Es liegt eine große Selbstverständlichkeit und Ruhe in diesem Gesetz. Wenn du einmal einen Hauch davon empfangen hast, dann wirst du dich immer wieder auf den Weg machen, um zu versuchen, tiefer einzudringen, weil du ahnst, daß du dort finden kannst, was du dein Leben lang gesucht hast.

Für mich drückt sich das Wesen des Tao am besten in den Gedichten der taoistischen Weisen aus. Ich stelle dir hier zwei davon vor. Sie sind von einem chinesischen Dichter namens Wang An-shih. Er lebte 1021 bis 1086.

Der Schatten des Bambus streicht über die Stufe

aber der Staub bleibt davon unberührt.

Das Mondlicht dringt tief in den Teich,

aber es hinterläßt keine Spuren.

Der Wind schläft ein, und doch fallen Blüten.

Vögel singen, und doch wird das Tal stiller.

Mein Haus ist aus Steinen erbaut,

inmitten der Bambushaine.

Durch die Bambusstämme sehe ich in der Ferne das Dorf.

Gelassen lebe ich meine Tage und empfange keine Besucher.

Aber der Wind fegt den Pfad zu meiner Tür.

Frei übersetzt nach der Originalversion von Chang Chuang-yuan, A new way of thinking. Perennial Library 1977

Um gelassen und intuitiv richtig handeln zu können, müssen wir versuchen, möglichst oft im Sattvazustand zu sein. Nur dann sind wir in der Lage, das Wirken des Tao oder Dharma in uns und um uns herum zu erkennen.

Es ist das große Gesetz, nach dem die Schöpfung abläuft. Die Sonne läuft in ihrer Bahn bis zu dem ihr bestimmten Ende. Sie hält und ernährt die Erde mit all ihren Lebewesen. Diese wiederum existieren nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Es ist eine Kette, ein System, in dem alles zusammenhängt und ineinandergreift. Wenn sich ein Teil dieses Systems aus irgendwelchen Gründen aus dem Dharma löst, dann knirscht es im Getriebe und führt zu Leid und zu Katastrophe. Stell dir vor, die Erde würde ihre Bahn auch nur geringfügig ändern. Es hätte gigantische Folgen für alles Leben. Wenn aber alles, was existiert, seinem Dharma folgt, dann herrscht Harmonie.

Auch du hast dein Dharma.

Nimm an, du sitzt gelassen im Lotussitz und vor dir ist eine Landkarte mit Linien in teilweise labyrinthischen Formen ausgebreitet. Es ist das Dharma, dem du in diesem Leben zu folgen hast. Je besser dir das gelingt, desto befriedigender und reicher verläuft es. Dharma ist nichts, was du entwickeln müßtest. Es existiert seit Anbeginn, und das einzige, was du tun mußt, ist, es zu entdecken und es zu leben. An einigen Beispielen wird das klarwerden.

Beispiel: Nimm an, du wachst morgens auf. Du wirst das Bedürfnis haben, dich zu waschen und dir die Zähne zu putzen. Es ergibt sich einfach, weil du dich dann wohler fühlst. Wahrscheinlich meldet sich dann der Hunger, und du bekommst Appetit auf frische Brötchen und Kaffee. Also ißt du. Wenn du schon einmal etwas von gesunder Ernährung gehört hast, dann wirst du wahrscheinlich etwas aus Vollkorn essen und auch nicht unbedingt Kaffee trinken. Es fließen also in dein Verhalten fortwährend neue Erkenntnisse ein. Da die Brötchen und der Kaffee nicht umsonst zu haben sind, gehst du anschließend arbeiten. Auch das ergibt sich. Womit du dir jetzt die berühmten Brötchen verdienst, hängt von deinen Fähigkeiten und Neigungen ab und davon, wie du diese entwickelt hast. Sie sind nicht beliebig austauschbar. Wenn du zum Beispiel gerne Mathematiker werden würdest, weil du es bewundernswert findest, wie diese Leute mit Formeln und Zahlen umgehen, du aber nur begrenzte mathematische Fähigkeiten hast, dann wirst du ziemlich leidvolle Erfahrungen machen, bis du zu deinem Dharma zurückgekehrt bist. Auch innerhalb deiner Arbeitssituation werden verschiedene Dinge von dir verlangt. Wenn du eine leitende Funktion innehast, gehört es zu deinen Aufgaben, deine Mitarbeiter zu führen, sie zu motivieren und für ein befriedigendes Arbeitsklima zu sorgen. Das bedeutet, daß du dich mit Menschen, ihren Gefühlen, Schwierigkeiten, Wünschen usw. beschäftigen mußt, wenn du deinen Bereich gut führen und gute Ergebnisse erzielen willst. Wenn dir das gelingt, geht es dir gut. Es geht dir nicht gut, wenn du deinen Vorgesetzten immer wieder erklärst, warum irgend etwas nicht so richtig läuft, weil dieser oder jener in deiner Abteilung sich so oder so verhält. Dazu haben sie dich nicht eingestellt. Vorgesetzte wollen in erster Linie ihre Ruhe und gute Ergebnisse. Wie du das machst, ist deine Sache. Du mußt also immer weiter an dir arbeiten und deine Fähigkeiten ausbauen, um diesen Teil deines Dharma zu erfüllen. Auch privat hast du deine Landkarte. Wenn du als Mann mit einer Frau zusammenlebst, wird dein Leben anders ablaufen als vorher, als du noch allein warst. Du mußt dich auf Kompromisse einstellen und dich damit vertraut machen, daß Frauen in manchen Dingen anders denken als Männer. Das ist ja auch gut so, und es gefällt dir auch, aber eben nicht immer. Je besser du jetzt lernst, mit deinem Partnerschafts-Dharma umzugehen, es zu erforschen und zu entwickeln, desto schöner ist es für dich in deiner Beziehung. Wenn du stur bist und versuchst, diesen Teil der Landkarte ausschließlich nach deinen Vorstellungen zu gestalten, dann kriegst du sehr viel Ärger und wirst oft den Wunsch haben, wieder allein zu leben. Aber eigentlich willst du das ja nicht. Also mußt du irgendeine Lösung finden. Auch hier ist eine Entwicklung von dir verlangt.

Dharma hat auch mit Pflichtbewußtsein zu tun. Vielleicht wirst du bei diesem Wort innerlich zusammenzucken, weil man dir früher alle möglichen Pflichten einzureden versuchte. Yoga sieht das alles anders. Pflicht ist etwas, was von innen kommt. Sie basiert auf Werten und Zielvorstellungen, für die sich eine Person entschieden hat. Sie ist folglich nicht von außen auferlegt, sondern unmittelbar eins mit dem jeweiligen Menschen und seinem Lebenskonzept.

Die Grundidee ist, daß jeder Mensch seinen Part im Gesamtkonzert des Lebens spielt. Wir haben dazu unseren Körper mit all seinen Fähigkeiten – auch der des Denkens. Damit können wir sozusagen für eine bestimmte, uns vorgegebene Zeit arbeiten. Wir müssen also herausfinden, was aufgrund unserer Fähigkeiten (und auch Begrenzungen) unsere Lebensaufgabe ist, und sie dann innerhalb der gesetzten Spanne leben. Das haben wir unter unserem ganz persönlichen Dharma zu verstehen.

Dieser Prozeß erfordert eine möglichst große Bewußtheit und Reflexionsbereitschaft.

Dharma, so verstanden, ist wie Wasser für einen Fisch. Es ist nicht etwas, was man ablehnen oder annehmen könnte. Man kann sich nur möglichst elegant, d.h. bewußt, darin bewegen. Wenn wir leiden, ist das immer ein Signal, daß wir nicht in unserem Dharma sind.

Daraus ergibt sich, daß sich jede Aktivität – sei es gehen, essen oder spielen, im Grunde alles – vor dem Hintergrund dieses Dharma-Konzepts abspielen sollte. Es geht also nicht um von außen an uns herangetragene Pflichten, sondern um unser Leben und darum, wie wir es leben. So gesehen hat alles, was wir tun, einen Wert und einen tieferen Sinn.

Jede Aktivität, die wir ohne diese Einstellung tun, ist wertlos. Wir spüren dann eine innere Leere, die ein Signal für Sinnlosigkeit darstellt.

Wenn wir Pflicht so verstehen, dann ergibt das ein Gefühl von Selbstverantwortung für das eigene Handeln, welches wiederum mehr Freude und Zielgerichtetheit ins Leben bringt – eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung. Die Richtung muß von innen kommen.

Was ist für mich selbst wichtig? Welche Aufgaben habe ich gegenüber meinem Kind und meinem Gatten? Dieselben Fragen stellen sich in bezug auf den Beruf, die Gesellschaft und die Nation. So könnte eine Hierarchie des persönlichen Dharma aussehen.

Aus dieser Einstellung heraus also kommt es zum Handeln. Dies wiederum erfordert eine gewisse Disziplin.

Auch diese Disziplin kommt von innen und entspringt einer Werthaltung, einer Überzeugung. Es stellt sich eine Aufgabe (wie z.B. abwaschen). Nachdem das klar ist, erfüllt man die Tätigkeit mit Konzentration und Freude. Das ist Disziplin.

Diese prinzipiellen Einstellungen hat ein Mensch zu verinnerlichen. Wenn das geschehen ist, wird einsichtig, daß jedes Handeln aus einer positiven Haltung heraus erfolgt.

Das bedeutet, daß man sich an seinem Tun erfreuen sollte und es nicht erlaubt, daß sich negative Gedanken einschleichen. Disziplin heißt also, aus sich selbst heraus bei der Sache zu bleiben. Was immer wir auch tun, sollte mit ganzer Persönlichkeit und mit ganzer Kraft geschehen. Daraus wird Konzentration, aus der wiederum Einsicht in das Wesen der Dinge entsteht.

Disziplin heißt auch, in der Gegenwart zu bleiben und das Denken nicht in der Vergangenheit oder der Zukunft umherirren zu lassen. Wir können aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen, aber nicht im Gestern verweilen. Auch in der Zukunft haben wir eigentlich nichts verloren, denn es kommt doch alles anders, als wir denken.

Was also ist zu tun, wenn uns vergangene Erlebnisse und Gefühle das Leben vergiften? Die Antwort heißt: Gehen lassen, nicht darüber brüten. Es ist eine Frage der Disziplin und der Übung.