YOU MAY LOVE ME - Evy Winter - E-Book

YOU MAY LOVE ME E-Book

Evy Winter

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Beschreibung

Mays Leben bietet keinen Platz für die Liebe. Wenn sie nicht gerade arbeitet, kümmert sie sich um ihre geistig behinderte Schwester June. Kein Mann würde sich je auf eine solche Beziehung einlassen. Das glaubt sie zumindest, bis sie Dean begegnet. Der vermeintlich freiwillige Helfer in Junes Wohnheim tut alles, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Was May nicht weiß: Dean ist ein verurteilter Straftäter. Und es hat einen Grund, dass er seine Sozialstunden in genau dieser Einrichtung ableisten muss. Was passiert, wenn May alles erfährt – aber nicht versteht? Teil 1 einer Geschichte über bedingungslose Liebe und dunkle Geheimnisse.

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Stopp, geh noch nicht!

Evy Winter
You May Love MeDu und ich … wir drei
Eisermann Verlag

You May Love Me 1 – Du und ich … wir drei E-Book-Ausgabe  08/2018 Copyright ©2018 by Eisermann Verlag, Bremen Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns Satz: André Piotrowski Lektorat: Marie Weißdorn Korrektur: Marie Dübbers http://www.Eisermann-Verlag.de ISBN: 978-3-96173-116-9

Kapitel 1

Dean

»Die Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt.«

Ein Raunen geht durch den Gerichtssaal und ich atme erleichtert aus.

»Zudem verurteile ich Sie zu zweihundert Sozialstunden in einer Einrichtung für körperlich und geistig Beeinträchtigte und einer Geldstrafe in Höhe von fünftausend Dollar«, fährt die Richterin fort.

Ich schließe kurz die Augen und lasse es sacken. Richterin Pierce lässt Gnade walten, obwohl sie für das Gegenteil bekannt ist. Zu gern wüsste ich, was sie bewogen hat, so milde mit mir ins Gericht zu gehen.

»Mister Summers. Der Umstand, dass Sie nicht vorbestraft sind und ein recht geordnetes Leben führen, hat mich zu diesem nachsichtigen Urteil kommen lassen«, folgt ihre Erläuterung auf dem Fuße. Ihr Blick ist streng, ihre Stimme sanft und dennoch bestimmend. »Dass Sie zum Zeitpunkt der Tat nicht zurechnungsfähig waren und sie zutiefst bereuen, habe ich ebenfalls berücksichtigt. Allerdings ist die Schwere Ihres Vergehens nicht zu verachten. Sie begreifen sicher, warum ich Sie Ihre Sozialstunden in dieser Einrichtung ableisten lasse. Verstoßen Sie gegen Ihre Auflagen, werde ich mein Urteil revidieren müssen. Ich hoffe, dass das nicht nötig sein wird.«

Ich nicke reumütig und frage mich, ob das tatsächlich die alleinigen Gründe für ihr Urteil sind, denn mein Geständnis hat nicht nur bei ihr für zweifelnde Blicke gesorgt. Niemand wollte anfangs glauben, dass ich es war, der diese Tat begangen hatte. Doch kein Mensch ist fehlerlos. Auch ich nicht.

Die Richterin klappt die vor ihr liegende Mappe zu und erhebt sich. Die Verhandlung ist vorbei. Endlich findet dieses Martyrium ein Ende und ich kann es hinter mir lassen – als freier Mann.

Fünftausend Dollar und zweihundert Sozialstunden. Dazu werde ich mein Sparbuch auflösen müssen. Das neue Motorrad wird also leider noch warten müssen, dabei habe ich seit einem Jahr dafür gespart. Doch mir ist bewusst, dass es mich weitaus schlimmer hätte treffen können. In den letzten Wochen hatte ich das Gefühl, unter einem gigantischen Haufen Schutt begraben zu sein, ohne Aussicht auf Rettung. Schutt, den ich selbst ins Rollen gebracht hatte und der mir mehr und mehr die Luft zum Atmen nahm. Doch nun erblicke ich das Tageslicht, kann mich aus meinem selbst geschaufelten Grab befreien und aufatmen …

Ein Ruck an der Schulter reißt mich aus meinen Gedanken.

»Da hast du wirklich Glück gehabt, Kumpel«, meint mein Cousin Bradon. »Mit so einer geringen Strafe hätte ich nicht gerechnet. Du scheinst ihr zu gefallen.« Er zwinkert mir zu und kann sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.

»Kann schon sein. Aber ohne deine Hilfe wäre ich aufgeschmissen gewesen. Also danke noch mal. Ich bin dir eine ganze Menge schuldig.« Ich klopfe ihm seufzend auf die Schulter. Einen Anwalt in der Familie zu haben, ist nicht von Nachteil. Das war mir zuvor schon klar, doch diesmal hat es mich selbst getroffen. Ohne meinen Cousin hätte das hier ganz anders ausgehen können.

Bradon winkt ab. »Ach was. Die Familie verteidige ich doch gerne. Allerdings hoffe ich, dass es für dich das erste und letzte Mal war. Es reicht, ständig für Nick den Retter zu spielen.«

Da kann ich ihm nur zustimmen. Niemand hofft mehr als ich, dass ich nie wieder einen Gerichtssaal von innen sehen muss.

Während Bradon seine Unterlagen zusammenpackt, sehe ich mich erneut in dem großen Saal um, aber er ist tatsächlich nicht gekommen. Bei jeder einzelnen Verhandlung gegen Nick war ich anwesend und habe ihm beigestanden, so gut ich konnte. Die ganze Zeit habe ich darauf gehofft, dass er noch kommen würde, immerhin ist er mein kleiner Bruder. Doch er lässt mich einfach hängen. Vielleicht erwarte ich einfach zu viel von ihm. Anstand, Höflichkeit und Dankbarkeit sind bekanntermaßen nicht seine Stärken, ebenso wenig wie Zurückhaltung und Disziplin. Langsam fange ich an, meine Entscheidung zu hinterfragen, aber dafür ist es jetzt zu spät.

Vor dem imposanten Gerichtsgebäude stehen meine Eltern. Kühl sehen sie mir entgegen, wirken nicht glücklich über das Ende der Geschichte. Ihre Enttäuschung kann auch dieses Urteil nicht wiedergutmachen, und ich verstehe sie. In ihren Augen war ich immer der gute Sohn.

Ein Musterknabe, der bisher nur ein einziges Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist – bei einer verdammten Mutprobe, als wir gerade erst nach Douglasville gezogen waren. Was daran mutig sein soll, ein PC-Spiel zu klauen, ist mir heute schleierhaft. Mit meinen zwölf Jahren erschien es mir wie eine gute Idee, um Freunde zu finden. Bis auf diese Dummheit war meine Weste also weiß, ganz im Gegensatz zu der meines Bruders. Angefangen bei Diebstahl und Vandalismus bis hin zu Körperverletzung und Drogenmissbrauch findet sich beinahe alles in seinem Führungszeugnis. Mit erst dreiundzwanzig eine reife Leistung. In bestimmten Kreisen, wohlgemerkt.

Einzig und allein Bradons brillanter Verteidigung und dem Wohlwollen der Richter hat er es zu verdanken, bisher noch nicht im Knast gelandet zu sein. Beim nächsten Vergehen wird er für mindestens fünf Jahre einsitzen müssen; die Bewährungsauflagen lassen sich nun mal nicht verhandeln. Ich hoffe wirklich, dass er sich diesmal an die Bewährungsauflagen hält und es schafft, clean zu bleiben. Ich habe schon oft genug versucht, ihm zu helfen, aber er vermurkst es immer wieder. Wie den Schulabschluss. Oder die Ausbildungsstelle in der Kfz-Werkstatt, die unser Vater ihm besorgt hatte. Seine Faulheit und der Umgang mit den falschen Leuten, seinen ›Brüdern‹, wie er sagt, wird ihn eines Tages noch hinter Gitter oder frühzeitig unter die Erde bringen. Beides will ich verhindern, als sein echter Bruder. Von diesen Idioten würde niemand das für ihn tun, was ich getan habe. Daran besteht kein Zweifel, diese Leute kenne ich selbst nur zu gut.

»Dean!«

Ich habe kaum die Stufen hinter mich gebracht, da zieht mein bester Freund Paul mich in eine freundschaftliche Umarmung und klopft mir beherzt auf den Rücken. Sein Gemüt ist ein Spiegelbild des sonnigen, wolkenfreien Himmels. Er wirkt sehr viel glücklicher über den Umstand, mich als freien Mann zu empfangen, als meine werten Eltern. »Alter, das ist gut gelaufen. Glückwunsch!«

Ich ringe mich zu einem müden Lächeln durch. Seit wir damals bei der Mutprobe beide erwischt wurden – wobei ich nur zurückging, um Paul beizustehen –, können wir uns alles anvertrauen. Jetzt aber kann er nur erahnen, wie ich mich im Angesicht meines Vaters fühle.

Ich schaue ihm direkt in die ernsten, dunklen Augen. Er will etwas sagen, ist aber sichtlich darauf bedacht, die richtigen Worte zu finden. Auf die meisten Menschen in seinem Umfeld wirkt er durch die stattliche Figur und den immer finsteren Gesichtsausdruck Angst einflößend. Auf mich hat er diesen Effekt schon lange nicht mehr. Angst hatte ich vor ihm zuletzt als kleiner Junge. Nun fühle ich mich wieder, als hätte ich meine Federmappe nicht geordnet, nur mit dem Unterschied, dass er mich wohl kaum übers Knie legen wird. Dennoch zucke ich zusammen, als die tiefe grollende Stimme ertönt.

»Ich werde dich sicher nicht dafür beglückwünschen, Junge. Aber auch ich bin froh, dass es so ausgegangen ist. Ich gehe davon aus, dass du mich und deine Mutter nicht noch einmal so enttäuschen wirst.«

Kein Hauch einer Gefühlsregung ist auf seinem Gesicht zu erkennen. Meine Mutter tut es ihm gleich. Über die Jahrzehnte sind sich die beiden immer ähnlicher geworden. Neben ihm wirkt sie so klein und zierlich, beinahe zerbrechlich. Ihr Gesicht ist puppenhaft und das Alter sieht man ihr nicht an. Die strenge Haltung und den Hang zu wenigen Worten jedoch hat sie sich eindeutig von ihrem Ehemann abgeschaut. Sie nickt mir nur flüchtig zu, doch in ihren Augen kann ich etwas erkennen … Ich weiß nicht genau, was es ist. Mitleid, Besorgnis oder Wut? Nein, nichts davon. Ihr Blick verrät etwas Wissendes.

»Keine Bange, Dad. So etwas wird nie wieder passieren. Darauf hast du mein Wort.« Nachdenklich schaue ich auf die Straße. Ein Auto nach dem anderen saust an uns vorbei. »Habt ihr was von Nick gehört?« Könnte ihm vielleicht etwas passiert sein?

»Er hat gestern angerufen, hat mal wieder Geld gebraucht. Sonst hat er nichts gesagt«, antwortet meine Mutter und kommt ein paar Schritte auf mich zu. Sie wankt gefährlich auf ihren hohen Schuhen. »Ich habe ihn daran erinnert, dass heute der Gerichtstermin ist. Ich dachte wirklich, er würde da sein. Aber so ist dein Bruder. Mach dir nichts draus.«

Das sagt sie so leicht daher. Wie sehr mich Nicks Verhalten wirklich verletzt, wird sie nie verstehen.

May

»Beehren Sie uns bald wieder.« Lächelnd nehme ich den Rechnungsbetrag des letzten Gastes entgegen. Und bringen Sie dann mehr Trinkgeld mit, denke ich mir, als ich den mickrigen Dollar für meine freundliche Bedienung entdecke. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag erfahre ich am eigenen Leib, dass die Leute immer geiziger werden, deshalb stecke ich den Schein schnell in die Hosentasche, bevor Donald auf die Idee kommt, mir auch davon noch die Hälfte abzuknöpfen.

»Du musst die Bestellung für den Getränkelieferanten noch durchgeben!«, ruft mir Cecilia zu, während ich meinen Tagesumsatz im Kassensystem eintrage.

»Ich habe jetzt Feierabend. Erledige ich gleich morgen früh.«

»Du sollst es jetzt machen.«

»Sagt wer?«

»Anordnung vom Boss.« Grinsend stakst Cecilia hinter die Theke und dreht mir den Rücken zu. Am liebsten würde ich dieser dämlichen Ziege an die Gurgel springen, aber sie ist schließlich nur die Überbringerin der Botschaft.

Einmal mehr bin ich von Donald enttäuscht, das ist so typisch für ihn. Mein Boss überlässt solche Aufgaben gerne mir, obwohl sie nicht Teil meines Vertrages sind. Angestellt bin ich als Kellnerin – für ihn offenbar eine dehnbare Berufsbezeichnung. Er weiß, wie sehr ich auf diesen Job angewiesen bin und nutzt diesen Umstand schamlos aus. Dennoch hätte es mich schlechter treffen können. Wer behauptet nicht ab und zu, dass sein Vorgesetzter ein Arsch ist? Da gehöre ich bestimmt keiner Minderheit an.

Ich unterdrücke ein Seufzen. Donald hatte mir versprochen, mich heute früher gehen zu lassen, aber mich zu ärgern, bringt mich nicht weiter. Stattdessen mache ich mich an die Arbeit, gehe ins Lager, um die Bestände zu prüfen und gebe die Bestellung telefonisch an den Lieferanten weiter, was eine halbe Stunde später erledigt ist.

Nun muss ich mich beeilen und fülle rasch meine Thermoskanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee aus der hauseigenen Maschine. Einen Muntermacher kann ich jetzt gebrauchen und …

»Du weißt schon, dass du den Kaffee bezahlen musst?« Tapsig tritt Donald durch die Schwingtür zur Restaurantküche.

Super Timing, Chef! »Klar weiß ich das.« Den genervten Tonfall sollte ich mir abgewöhnen, zumindest meinem Chef gegenüber, aber manchmal kann ich einfach nicht aus meiner Haut. Mein Geduldsfaden ist bis zum Äußersten gespannt. Ich bin müde, und wenn ich müde bin, bin ich sehr reizbar. Eilig schraube ich die Kanne zu, zücke den Dollar aus meiner Hosentasche und halte ihm das Geld vor die Nase.

»Stimmt so. Führ deine Frau mal schick zum Essen aus.« Ich zwinkere ihm zu. Nur gut, dass dieser Mann völlig sarkasmusresistent ist. Dann schnappe ich mir meine Tasche und spurte los. Nur schnell weg hier, bevor ihm noch etwas einfällt, das ich erledigen soll.

Die vierzigminütige Fahrt nach Fair Oaks zu meiner Schwester nutze ich, um ein wenig abzuschalten. Eine kleine Ruhepause tut mir gut. June wartet mit Sicherheit schon ungeduldig auf mich, und wenn June ungeduldig ist, verhält es sich ähnlich wie bei mir mit dem Müdesein. Hoffentlich ist sie nicht allzu schlecht gelaunt, denn meine Belastbarkeitsgrenze ist nach zehn Stunden schuften im Peach Side schon um ein Hundertfaches überschritten.

Wenig Schlaf, viel Arbeit, große Verantwortung und keine Freizeit – so sieht mein Leben aus. Und täglich grüßt das Murmeltier. Sechs verflucht lange Jahre halte ich dieses Pensum nun schon. Ob ich das noch lange mitmache, weiß ich nicht, aber ich habe gar keine Wahl. Das Leben ist immerhin kein Wunschkonzert. Schon gar nicht für mich.

Der quietschende Anfang eines schrecklichen Popsongs reißt mich aus den Gedanken. Sofort drücke ich wild auf den Knöpfen meines Autoradios herum, aber kein Sender spielt etwas Vernünftiges. Der CD-Spieler meines in die Jahre gekommenen Fords hat leider Gottes vor ein paar Wochen den Geist aufgegeben. Dieses ganze Gelaber in den Radiosendungen, die Quizfragen und vor allem die Werbung gehen mir sprichwörtlich auf den Sender. Ich betätige noch einmal den Suchlauf, bis mir Bon Jovis It’s my life entgegenschmettert.

Lauthals gröle ich mit, zum Glück hört niemand mein Katzengejammer. Manchmal befürchte ich, man könnte mich für komplett durchgeknallt halten, wenn ich durch die Gegend fahre und Spasmen mein Gesicht heimsuchen, weil ich voller Inbrunst mitsinge. Genau das sind aber die Momente, in denen ich mich wohlfühle. Ganz wie ich selbst, ohne Stress, Geldsorgen oder sonstige Probleme. Und mal ehrlich, das ist immer noch besser, als im Auto in der Nase zu bohren, wenn man sich unbeobachtet fühlt. Genau wie der Kerl, der in diesem Moment in seinem Luxusschlitten neben mir an der Ampel zum Stehen kommt. Angewidert schüttle ich den Kopf und wende mich von dem Nasenbohrer ab. Die Ampel schaltet auf Grün und ich trete das Gaspedal voll durch, um die letzten Kilometer in persönlicher Rekordzeit hinter mich zu bringen.

Endlich erreiche ich Ville Eden am Rande der Stadt.

Wachmann Pete begrüßt mich wie immer mit einem schüchternen Lächeln. »Hallo, May. Hat dich dein Chef mal wieder aufgehalten?«

Ich nicke. »Ja, leider. June ist sicher schon genervt.«

Pete grinst verlegen. »Gut möglich.«

Sein unsicheres Verhalten mir gegenüber amüsiert mich. Es ist ziemlich offensichtlich, dass ich ihm gefalle. Allerdings ist er zu schüchtern, um mich um ein Date zu bitten. Zum Glück. Pete ist einfach nicht mein Typ und ich möchte ihn nicht verletzen. Ich könnte ihn mir gut als Mitglied einer Teenie-Boyband vorstellen, was mich zum nächsten Punkt bringt: Für meinen Geschmack ist Pete viel zu jung. Aber leider ist er momentan der einzige Mann in meinem Umfeld, dem ich einen kleinen Flirt und ein wohlwollendes Augenzwinkern zugestehe.

Mit meiner Unterschrift quittiere ich meine Ankunft. »Na, dann begebe ich mich mal in die Höhle des Löwen. Bis dann, Pete.«

Schnell haste ich über das Gelände zu Junes Wohnblock. Es ist ein herrlich sonniger Tag. Bestimmt sitzt sie mit den anderen draußen und genießt die wärmenden Sonnenstrahlen.

Tatsächlich finde ich sie auf der großzügigen Grünfläche vor dem blau angestrichenen Gebäude, aber sie wirkt ganz und gar nicht genervt. Meine Schwester lächelt und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Das macht sie immer, wenn sie sich über etwas freut. Dabei rubbelt sie mit der Handfläche ihre Nasenspitze, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass sie glücklich ist. Manchmal ist ihre Körpersprache alles, was bleibt, um auf ihren Gemütszustand zu schließen, denn sie redet nur, wenn sie es auch wirklich will.

»Hallo, Schwesterherz.« Sanft drücke ich ihr einen Schmatzer auf die Wange. Sofort wendet sie sich von mir ab und drückt mich weg. June hasst Körperkontakt, selbst wenn er von mir ausgeht. Trotzdem kann ich es nicht lassen. Sie nimmt es mir bekanntermaßen nicht lange übel.

»Tut mir leid. Ist wieder später geworden. Aber wie ich sehe, hast du Spaß.« Vor ihr auf dem Tisch liegen ein Blatt Papier und viele Buntstifte. Malen ist eine ihrer großen Leidenschaften. Ihre Zeichnungen sehen immer gleich aus: ein wildes Gekrakel aus Strichen und Kreisen. Doch wenn June ihr neuestes Werk präsentiert, strahlt sie, als hätte sie den großen Künstlern unserer Zeit Konkurrenz gemacht. Jedes einzelne ihrer Bilder hefte ich in einem Ordner ab, der den Namen ›Junes Meisterwerke‹ trägt. Es sei denn, sie verschenkt ihre Gemälde an andere. Meine Schwester gibt sehr gerne und verlangt im Gegenzug selten etwas. Das macht sie um einiges besser als den Großteil der Menschheit.

»Na, May, doch noch den Weg hierher gefunden?« Nina kommt zu mir und lächelt mich an.

»Ja, tut mir leid. Donald …«

»Jaja, schon klar«, unterbricht sie mich sofort. »Donald mal wieder. Schön, dass du jetzt da bist. Übrigens kannst du dich heute ausschließlich um June kümmern. Seit heute habe ich Unterstützung für die Rasselbande hier.«

Ich runzle die Stirn. »Ach, wirklich?«

Souverän wischt sie sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ja, kaum zu glauben, oder? Ein junger Mann soll mir helfen. Endlich wurden meine Gebete erhört.« Mit gefalteten Händen spricht sie gen Himmel.

Nina Gomez ist eine gute Betreuerin; bei ihr weiß ich June in sehr fürsorglichen Händen. Sie behandelt die Behinderten wie ihre eigenen Kinder, nennt sie liebevoll Kids, obwohl viele von ihnen Erwachsene sind – wie June zum Beispiel. Aus der Gruppe von ursprünglich zehn Leuten, die sie umsorgen sollte, sind mittlerweile zwanzig geworden. Ihre fürsorgliche und geduldige Art beeindruckt mich, daher unterstütze ich sie so oft wie möglich bei der Betreuung. Das heißt, falls nicht gerade andere Aufgaben in der Einrichtung auf mich warten, die ich erledige, um Junes Pflege hier zu finanzieren.

Nina lehnt sich näher zu mir. »Und wenn du mich fragst, ist dieser Typ auch noch äußerst hinreißend«, flüstert sie in mein Ohr.

Weit reiße ich die Augen auf und halte mir gespielt empört die Hand vor den Mund. »Nein, wirklich? Dann scheinen in der Tat all deine Gebete erhört worden zu sein«, erwidere ich kichernd.

»Noch lachst du, aber du wirst schon sehen.« Nina nickt zum Wohnhaus hinüber und hebt die Augenbrauen. »Da! Das ist er. June hat ihn schon voll und ganz für sich vereinnahmt. Sie hat ihn gut im Griff, er hat ihr sogar ihre Jacke geholt.«

»Das sieht ihr ähnlich«, stelle ich lachend fest und folge ihrer Geste mit dem Blick.

Aus dem Wohnhaus kommt ein in der Tat sehr attraktiver Mann geeilt, soweit ich das aus dieser Entfernung beurteilen kann. Er trägt ein weißes Shirt und enge Jeans, in der linken Hand hält er die rosafarbene Strickjacke meiner Schwester. Bei jeder Bewegung kann man das Spiel seiner ausgeprägten Muskulatur bewundern. Dieser Typ muss viel Zeit im Fitnessstudio verbringen, schießt es mir durch den Kopf. Sein Gang ist aufrecht und mit breit geschwellter Brust läuft er über den Rasen zu uns herüber.

Wie ihm befohlen, reicht er June die Strickjacke. »Hier, ich hoffe, das ist die richtige.«

June nickt nur beiläufig und sieht zu mir hoch. »Mein neuer Freund Dean«, erklärt sie mir, grinst dabei wie ein Honigkuchenpferd und widmet sich sogleich wieder ihrem Gemälde.

Höflich strecke ich ihm meine Hand entgegen. »Hallo, ich bin May. Die Schwester dieser Sklaventreiberin.«

»Hi, freut mich sehr«, erwidert er freundlich.

So aus der Nähe kann ich Ninas Aussage vorbehaltlos bestätigen. Das rabenschwarze Haar ist akkurat frisiert, an den Seiten kürzer geschnitten als das Deckhaar. Abgesehen von einem stoppeligen Oberlippen- und Kinnbart ist er rasiert. Zusammen mit den dazu passend geschwungenen, dichten Augenbrauen wirkt er fast schon teuflisch sexy. Unter dem rechten Ärmel seines Shirts blitzt ein Tattoo hervor. Einzigartige Augen eines drachenähnlichen Wesens blicken mich an, mit Iriden in einer Farbmischung aus intensivem Moosgrün und golden wirkender Umrandung. Die Augen des Drachen sind ein Abbild seines Trägers, geheimnisvoll und faszinierend. Attraktiv ist dieser Mann allemal, doch solche gutaussehenden Typen gibt es überall und meist verbirgt sich hinter der hübschen Fassade doch nur gähnende Leere. Nichts als Schall und Rauch und nur auf Äußerlichkeiten bedacht, und dieses Exemplar vor mir macht da mit Sicherheit keine Ausnahme. Jetzt starrt er mir auf die Brust. Ja, geht es vielleicht noch auffälliger? Schon fühle ich mich in meinem Verdacht bestätigt.

Kapitel 2

Dean

Der Weg hierher war eine halbe Weltreise. Ohne Navi hätte ich dieses Fleckchen Erde wahrscheinlich nie gefunden. Ich dachte, von Douglasville nach Fair Oaks wäre es nicht weit. Nun wurde ich eines Besseren belehrt. Ich bin zu spät, das hätte mir nicht passieren dürfen und beschert mir sicher schon am ersten Tag Minuspunkte.

Der schmächtige Wachmann mustert mich von oben bis unten. »Unterschreiben Sie hier!«, fordert er mich auf, ohne mich auch nur zu Wort kommen zu lassen und hält mir ungeduldig ein Klemmbrett hin.

Ich tue, was er sagt, und bin dabei reichlich genervt. »Ihnen auch einen guten Tag«, murmle ich.

»Melden Sie sich im Gebäude D bei Miss Gomez.« Grantig drückt er mir einen Zettel mit der Wegbeschreibung in die Hand, ich nicke ihm zu und passiere das Tor. Das Gelände wirkt riesengroß, zumindest ist es durch die Wache und die hohen Mauern ringsherum gut gesichert. Von außen wirkt es eher wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Innerhalb der Mauern tut sich jedoch eine große, gepflegte Parkanlage auf, mit prachtvoll angelegten Blumenbeeten und kunstvoll getrimmten Büschen und Hecken.

Der Wegbeschreibung nach müsste ich gleich da sein. Vor mir liegt eine breite Wiese, der Rasen ist frisch gemäht und sieht saftig grün aus. Ich entdecke Sonnenliegen, aufgespannte Sonnenschirme, eine Feuerstelle und eine kleine Sitzgruppe, zusammengestellt aus augenscheinlich handgearbeiteten Holzmöbeln. Eine kleine Gruppe Menschen hat sich dort versammelt. Dahinter entdecke ich das Gebäude mit dem großen D. Es sieht aus wie ein gepflegtes Reihenhaus, dessen Fassade blau angestrichen wurde. Einige gemütlich wirkende Balkone reihen sich an der Hauswand aneinander.

Eine Dame mit fuchsroten Haaren steuert mir schon entgegen, als ich auf die Gruppe zulaufe. Meine Aufregung wächst. Hoffentlich kann ich das hier wirklich so gut bewerkstelligen, wie ich es mir vorgenommen habe. Dass ich mich eines Tages in so einer Einrichtung aufhalten würde, hätte ich nie für möglich gehalten. Und doch bin ich hier, wenn auch ungewollt.

»Hi, du musst Dean sein. Ich bin Nina Gomez. Du hast gut hergefunden?« Sie strahlt mich freudig an und reicht mir die Hand.

»Hallo. Ja, na ja, ich hätte nicht gedacht, dass es so weit außerhalb ist. Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung. Kommt nicht noch einmal vor«, stottere ich nervös.

»Ach was, halb so wild. Ich bin ja froh, dass du überhaupt gekommen bist und ich endlich Hilfe habe. Und dieses dämliche Sie kannst du dir auch gleich abgewöhnen. Für dich bin ich Nina. Komm, ich zeig dir alles.«

Sie schreitet schnellen Schrittes voran. Dieses hohe Maß an Freundlichkeit kommt unerwartet. Vielmehr hatte ich befürchtet, wie ein Schwerverbrecher behandelt zu werden, der ich ja dem äußeren Anschein nach auch bin. Sie ist froh darüber, dass ich überhaupt gekommen bin? Was denkt sie denn? Ich habe ja keine andere Wahl. Vielleicht weiß sie gar nicht …

»Es ist sehr selten geworden, dass Menschen ehrenamtliche Arbeit leisten. Es ist bewundernswert, dass du einer der wenigen bist. Danke dafür. Wir können jede Hilfe gut gebrauchen.«

Ich versuche, mit ihr Schritt zu halten, während mir sämtliche Gesichtszüge entgleiten. Sie hat also keine Ahnung vom Grund meines Hierseins, aber warum? Eine Verwechslung kann ich ausschließen, immerhin wusste sie meinen Namen. Vielleicht ist es besser so und ich sollte sie in dem Glauben lassen. Für sie bin ich also der Samariter in glänzender Rüstung. Es gibt Schlimmeres.

»Bevor ich dir das Gelände zeige, möchte ich dich mit meinen Schützlingen bekannt machen. Mit ihnen wirst du die meiste Zeit verbringen und mir bei der Betreuung helfen. Das heißt, wir beide sind für die Unterhaltung zuständig und glaub mir, dieses Trüppchen zu bespaßen, ist nicht immer leicht«, sagt Nina kichernd und beginnt, einen Namen nach dem anderen aufzuzählen.

»Da hätten wir Linda und Christian.« Sie deutet auf ein schmusendes Pärchen, das sich durch meine Anwesenheit nicht stören lässt und mich voll und ganz ignoriert. »Du musst es ihnen nachsehen. Sie sind frisch verliebt.« Mit dem Zeigefinger deutet sie auf einen jungen Mann, der gerade an einer Blumenkette bastelt. »Das ist Luke. Unser Sonnenschein«, erklärt sie mir. Er hat das Downsyndrom, wie man an den typischen optischen Merkmalen dieses Gendefekts sofort erkennen kann. Die geringe Körpergröße, der dickliche Leib sowie das rundliche Gesicht und die schräg nach oben gestellten Augen lassen keinen anderen Schluss für mich zu. Ich habe gehört, dass viele dieser Menschen sehr intelligent sind und sofort stelle ich mir die Frage, ob das auf Luke auch zutrifft. Er lächelt die ganze Zeit, während er eine Blüte nach der anderen geschickt miteinander verkettet. Nur flüchtig schaut er auf, um mich mit einem »Hi« zu begrüßen.

»Hier hätten wir noch Lucy, Camden, Will und Megan.«

Alle vier versammeln sich neugierig um mich herum und mustern mich von Kopf bis Fuß, als sei ich ein Außerirdischer. Lucy oder Megan – ich kann es nicht genau sagen – tastet mein Gesicht ab und kneift mir in die Wangen. Immer wieder stupst sie mich an, so als müsse sie sich vergewissern, dass ich real bin. Da lassen mich plötzlich ein heftiger Stoß gegen meinen Rücken und ein schriller Aufschrei zusammenzucken.

»Ach ja, und das ist George. Er kann manchmal etwas rüpelhaft im Umgang mit anderen sein und … laut, aber dennoch harmlos.«

George grinst breit, stößt laute Schreie aus und dreht sich dabei mehrfach im Kreis. Während ich noch meinen Schock überwinde, stellt mich Nina weiteren Personen vor. Darunter Sally, die sich sofort an meine Seite schmiegt und mich anhimmelt wie einen Gott. Sie muss noch ziemlich jung sein, fünfzehn vielleicht. Ein Mann im Rollstuhl, dessen Namen ich durch Georges Gebrüll nicht verstanden habe, begrüßt mich sehr herzlich mit italienischem Akzent. Abgesehen von der Tatsache, dass er im Rollstuhl sitzt, wirkt er auf mich vollkommen normal. »Entschuldige. Wie ist dein Name?«, frage ich sicherheitshalber nach.

»Giovanni«, spricht er überdeutlich. »Der rollende Italiener«, ergänzt er und lacht dabei. Er macht tatsächlich einen geistig ganz klaren Eindruck. Aber bevor ich mich weiter mit ihm unterhalten kann, zieht mich Nina schon weiter.

»Und last but not least, unsere June. Damit hätten wir es vorerst, den Rest lernst du später kennen. Ich bin mir sicher, das reicht dir auch fürs Erste, was?« Nina klopft mir etwas mitleidig auf die Schulter, da sie wohl spürt, wie überfordert ich in diesem Moment bin. »Das wird schon. Man hat mir gesagt, dass du bisher keine Erfahrungen mit Behinderten hast, aber ich versichere dir, du wirst sie alle schnell ins Herz schließen. Ich kenne keine wundervolleren Menschen.«

Das erlebe ich nicht oft, doch mir fehlen tatsächlich die Worte. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie unwohler und deplatzierter gefühlt. Was habe ich mir da nur aufgehalst?

Nachdem ich die erste Welle ungewohnter Eindrücke bewältigt habe, führt Nina mich über das Gelände und zeigt mir wichtige Sammelpunkte wie die Cafeteria, das hauseigene kleine Theater mit Kinoleinwand und die Kapelle. Ich bin ehrlich erstaunt über die Anlage. Ville Eden ist aufgebaut wie ein eigenständiges kleines Städtchen.

Unser Weg führt uns weiter zu den Werkstätten und Lernräumen.

»Hier haben sie die Möglichkeit kreativ zu werden, sich zu beschäftigen und einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, was die meisten von ihnen wahnsinnig gerne tun. Sie haben Spaß an ihrer Arbeit und sind fleißig. Da kann sich manch einer eine Scheibe von abschneiden. Wir haben eine Gärtnerei, eine Töpferei, eine Tischlerei, eine Wäscherei und noch einiges mehr.«

»Du meinst, sie arbeiten hier?«

Ich bin entsetzt, doch Nina lacht nur über meine Entrüstung. »Ja, aber sicher nicht, wie du in diesem Moment denkst. Das hier ist kein Arbeitslager. Die Bewohner dürfen arbeiten, wenn sie etwas finden, was ihnen Spaß macht, aber sie müssen nicht. Dafür bekommen sie auch jeden Monat einen Lohn. So fühlen sie sich nützlich und du wirst erstaunt sein, was manche von ihnen für Fähigkeiten haben.«

»Wow. Das hätte ich nicht gedacht«, antworte ich beeindruckt.

Ein wissendes Grinsen umspielt Ninas Mundwinkel. »Ich denke, du wirst hier noch einige Überraschungen erleben.«

Damit ist der Rundgang beendet und wir sind wieder am Ausgangspunkt angekommen.

Nina widmet sich dem frisch verliebten Paar, bei dem es aktuell kriselt, weil Christian einer anderen Dame schöne Augen gemacht hat. Linda ist darüber nicht sehr erfreut und brüllt ihn ununterbrochen an. Dabei fällt auch manch übles Schimpfwort. Selbst Ninas besänftigende Worte bringen sie nicht zur Ruhe. Die Kleine hat Feuer! Ich lache in mich hinein.

»Freunde dich ruhig erst mal mit allen an«, trägt mir Nina auf. Leichter gesagt als getan, denn ich stehe nur da, trete von einem Fuß auf den anderen und vermeide jeglichen Blickkontakt. Ich weiß absolut nicht, was ich tun oder sagen kann, aber da spüre ich plötzlich kleine, zarte Fingerchen, die sich fest mit meinen verhaken. Es ist die kleine Sally, die mich zuckersüß aus ihren blauen Augen anstrahlt und verlegen lächelt.

»Möchtest du mit mir und June malen?«, fragt sie mich so leise, dass ich Mühe habe, sie zu verstehen. Ihre Wangen färben sich rosig und sie wickelt aufgeregt eine ihrer blonden Haarsträhnen um den Zeigefinger. Ich nicke. Sich mit diesem Mädchen anzufreunden, wird kein Problem sein, dafür muss ich gar nichts tun.

»Klar, sehr gerne, Süße.«

Freudig kichert sie und wiederholt auf dem Weg zur Sitzecke wieder und wieder das Wort ›Süße‹.

Wir setzen uns zusammen und ich widme mich die ersten Minuten ausschließlich Sally. June, die ganz vertieft in ihre Malerei ist, brummelt die meiste Zeit irgendwelche zusammenhanglosen Wortfetzen vor sich hin. Sie ist schüchtern und sieht mich nur an, wenn sie der Meinung ist, ich könnte es nicht sehen. Ein paarmal unternehme ich den Versuch, mit ihr zu reden. Sie behandelt mich jedoch wie Luft und malt weiter farbige Kreise auf ihr Blatt Papier. Gerade will Sally mir ihr Bild präsentieren, da ertönt ein wütendes »Shit!« und ein gelber Buntstift landet genau neben meinem Fuß auf dem Rasen. June sitzt mit verschränkten Armen auf dem Stuhl und flucht lauthals. Ich bücke mich, hebe den Stift auf und erkenne, dass die Spitze abgebrochen ist. Das dürfte Junes Wutausbruch ausgelöst haben. Ich wittere eine Chance, sie für mich zu gewinnen.

»Warte, das haben wir gleich«, beruhige ich sie und greife nach dem Bleistiftspitzer. Sie beobachtet jede meiner Handbewegung genau und scheint in Gedanken abzuwägen, ob sie mir trauen kann. Ich halte ihr den gespitzten Buntstift hin und warte auf eine Reaktion. Zum ersten Mal sieht sie mich direkt an. Unkontrolliert flackern ihre Augen hin und her, doch eine weitere Entgegnung bleibt aus.

»Hier, jetzt kannst du weitermalen. Dein Bild sieht toll aus.« Ich tippe auf das Papier und lege den Stift darauf ab. Endlich antwortet sie, nicht mit Worten, aber ihre Körpersprache interpretiere ich als positiv. Mit der Handfläche rubbelt sie ihre Nase und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Sie scheint sich zu freuen und lächelt ununterbrochen. Geschafft, die erste Hürde ist genommen. Jetzt muss ich dranbleiben.

»Malst du gerne?«

Sie reagiert nicht.

»Was magst du sonst noch?«

Wieder keine Reaktion. Mit ihr zu reden, erweist sich als echte Herausforderung.

»Kannst du mir sagen, wie alt du bist?«

Nichts.

»Du kannst mir auch einfach erzählen, was du willst.« Das ist mein letzter Versuch, und tatsächlich fängt sie an zu reden. Wirr plappert sie von einer May, wie ich den Bruchteilen des Satzes entnehmen kann. Ihrem Geplapper einen Zusammenhang zu geben, ist ausgesprochen schwierig.

»Kaum da.« Sie rollt mit den Augen. »Aber sie kann ja nicht. Ach, May. Immer nein. Na, was soll sie auch machen. Muss ja arbeiten.«

Jetzt gebe ich auf. Ich kann June nicht folgen und Zwischenfragen kann ich mir sparen, wie mir schwant. Also widme ich mich Sally. June stört das reichlich wenig, sie führt den Monolog weiter.

Etwas später gesellt Nina sich mit einem großen Tablett in den Händen zu uns. Ich atme erleichtert auf. Wurde auch Zeit, denn so langsam komme ich an meine Grenzen. Die Geräuschkulisse ist beachtlich, da sich weitere Kids – wie Nina sie nennt – hier versammelt haben. Während June und Sally eher schüchtern sind, löchert mich der Rest mit Fragen und ich bekomme mehr als einen ausführlichen Lebenslauf geschildert.

Nina schaut sich das Ganze eine Weile kichernd an, dann fragt sie: »Wer will Kuchen?«

Schon sind alle mucksmäuschenstill. Bei Kaffee und Kuchen entspannt sich die Lage deutlich – und mein Nervenkostüm auch.

Nina bemerkt die Gänsehaut auf Junes Armen und bietet an, ihr eine Jacke zu holen. Dass sie friert, ist mir komplett entgangen. Wer friert denn auch bitte bei fast dreißig Grad im Schatten? Ihr dürrer Körper scheint sehr temperaturempfindlich zu sein. Zukünftig werde ich besser auf solche Dinge achten, nehme ich mir vor, während June den Kopf schüttelt und auf mich deutet.

»Dean soll dir die Jacke holen?«, vergewissert sich Nina. Mit enthusiastischem Kopfnicken und dem Rubbeln an der Nase ist die Sache klar und ich marschiere schnurstracks los, um der Madame eine Jacke zu holen.

Völlig aus der Puste verlangsame ich meinen Schritt. Ich sollte unbedingt wieder häufiger ins Fitnessstudio gehen. Die Aufregungen der letzten Zeit haben das leider nicht zugelassen und das macht sich nun bemerkbar. Selbst meine geliebten Joggingrunden habe ich sausen lassen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, über die Zukunft zu grübeln, ein guter Bruder zu sein und meine Aufträge in der Firma hervorragend zu erfüllen, damit mir wegen der ganzen Sache nicht auch noch die Kündigung droht. Glücklicherweise hat mein Chef erkannt, wie wichtig ich für die Webdesign-Agentur bin, und mir versichert, dass mein Job sicher ist, auch wenn ich aufgrund der Sozialstunden etwas kürzertreten muss.

Tief in meine Gedanken versunken und noch immer nach Atem ringend, bemerke ich erst jetzt, dass Nina mit einer mir unbekannten Frau tuschelt. Etwas scheint sie sehr zu amüsieren, denn sie gackern wie zwei aufgescheuchte Hühner.

Von June werde ich der Frau als ihr Freund Dean vorgestellt. Somit wäre diese Hürde erfolgreich absolviert. Wie ich das geschafft habe, weiß ich zwar nicht, aber ich werde es sicher nicht hinterfragen. Lächelnd streckt sie mir ihre Hand entgegen.

»Hallo, ich bin May. Die Schwester dieser Sklaventreiberin«, sagt sie und tätschelt June den Kopf, was dieser absolut nicht gefällt. June dreht sich weg und brummt genervt: »Lass das!«

Das ist also May, von der June vorhin geredet hat. Darauf, dass die beiden Geschwister sind, wäre ich nie im Leben gekommen. Unterschiedlicher könnten Schwestern wohl nicht sein. June hat einen hageren, knabenhaften Körper, May hingegen eine weibliche Figur mit einigen scharfen Kurven vorzuweisen. Mein Blick schweift über ihre Brust und verweilt dort einige Zeit.

Mist, hör auf, sie so anzustarren, ermahne ich mich selbst im Stillen. Hoffentlich hat sie das nicht bemerkt. Doch ich komme nicht umhin, sie weiter zu betrachten. Ihre schulterlangen kastanienbraunen Haare hat sie zu einem Zopf gebunden, was bei June nicht möglich wäre, da ihr aschblonder Haarschopf raspelkurz geschnitten ist. Nur das Stahlgrau ihrer Augen gleicht sich wie ein Ei dem anderen. Mays Augen allerdings sind durch lange, dunkle Wimpern anschaulich betont und ihre Brauen schmal geformt. Wer von beiden wohl die Ältere ist? Es lässt sich nur schwer sagen. May sieht erschöpft und blass aus, stelle ich bei näherer Beobachtung fest. Bestimmt hatte sie einen anstrengenden Tag. Make-up hat sie nicht aufgetragen, soweit ich das einschätzen kann. Eine der wenigen Frauen, die darauf getrost verzichten können, wie ich finde. Sie ist natürlich schön. Die ausgewaschene Jeans und die graue ärmellose Bluse lassen sie farblos erscheinen. Dennoch ist da etwas an ihr, was sie ganz und gar nicht wie ein graues Mäuschen anmuten lässt.

Noch heute Morgen hatte ich meine Zweifel und stand dem Ganzen skeptisch gegenüber, aber nach mehreren Stunden kann ich mich immer besser mit der Situation anfreunden. Ein bisschen unwohl und verunsichert fühle ich mich schon noch, was auch May bemerkt haben dürfte. Sie mustert mich genau, wie mir nicht entgangen ist, kümmert sich dabei aber ausgiebig um ihre Schwester und deren Zeichnungen. Ihre Gesellschaft ist es, die es mir erträglicher macht. Nina ist mit organisatorischen Aufgaben beschäftigt und hat uns mit der Gruppe allein gelassen. Umso glücklicher bin ich, jemand Normalen bei mir zu haben. Um uns herum ist eine ganze Menge los, der Kuchen ist verputzt und die Kids wollen beschäftigt werden. Andauernd kichert, kreischt oder plappert jemand. Meistens sogar alles zusammen.

»Ich hole mal ein bisschen Nachschub von der Limonade«, sagt May und erhebt sich von der Sitzbank. Kaum dass sie steht, reißt Luke, der Junge mit dem Downsyndrom, sie beinahe nieder und schlingt die Arme fest um ihre Taille. An ihrem Gesichtsausdruck kann ich ablesen, dass er dabei nicht sehr zart ist.

»Hey, mein Prinz, nicht so stürmisch.«