Zeit - Endlichkeit - Liebe - Georg Juckel - E-Book

Zeit - Endlichkeit - Liebe E-Book

Georg Juckel

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Beschreibung

Neuartige Erkenntnisse zum Zeiterleben Existenziell: Angst vor dem Tod ist ein zentrales Thema in Psychiatrie und Psychotherapie Tiefgreifend: Liebe als Kraft gegen Angst vor Vergänglichkeit und Endlichkeit Praxisbezogen: mit Lernmodulen für die Integration der drei Themenkomplexe in die Psychotherapie und Beratung Wir Menschen können uns das Leben nicht anders vorstellen, als dass es immer weitergeht. So entsteht Angst vor Vergänglichkeit und Endlichkeit. Wir müssen wieder lernen, die Zeit zyklisch mit Anfang und Ende zu betrachten. Dabei kann die wohl stärkste Emotion helfen: Die Liebe weckt unglaubliche Kräfte, in ihr scheint die Zeit still zu stehen. Und sie verdeutlicht das Dialogprinzip des Menschen: Im Denken an ein Du fühle ich mich aufgehoben. In diesem Buch wird das subjektive Zeiterleben im Kontext von Endlichkeitsangst und Liebe als »Gegenprinzip« bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung wie Schizophrenie bzw. Depression dargestellt. Denn diese existenziellen Themen haben immer auch mit psychischen Leiden zu tun. Aus theoretischen Überlegungen werden hilfreiche Perspektiven für die Therapie abgeleitet. Dies könnte auch für alle Menschen in gesellschaftlichen Krisenzeiten hilfreich sein.

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Seitenzahl: 450

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Georg Juckel | Paraskevi Mavrogiorgou

Zeit – Endlichkeit – Liebe

Das subjektive Erleben bei psychischen Störungen

Schattauer

Impressum

Georg Juckel

[email protected]

Paraskevi Mavrogiorgou

[email protected]

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltungskonzept: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © AVTG/Adobe Stock

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Mihrican Özdem

ISBN 978-3-608-40067-0

E-Book ISBN 978-3-608-12035-6

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20611-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1 Einleitung

2 Zeit: Die Sorge um die Vergänglichkeit

2.1 Zeit, Psyche, Geschichte und Begrifflichkeiten

2.2 Zeiterleben aus allgemeiner und psychiatrischer Sicht

2.3 Psychiatrisch-philosophische Phänomenologie von Zeiterleben

2.4 Zeiterleben: Befunde bei den wichtigsten Krankheitsbildern

2.5 In der Zeit leben: Sich-zu-sich-selbst-zeitlich-Verhalten und psychische Störungen

2.6 Vergänglichkeit als unwiederbringliches Gewesen-Sein

2.7 Das Leben in der Zeit: Altwerden und Alter

2.8 Die »Kürze des Lebens«: Leiden an der Zeitdauer

2.9 Subjektives Zeiterleben bei psychisch Kranken und therapeutisches Handeln

3 Endlichkeit: Die Angst vor dem Tod

3.1 Versuch einer Definition von Angst vor dem Tod

3.2 Philosophische Einblicke in die Angst vor dem Tod

3.3 Angst vor dem Tod im Kontext von Psychiatrie und Psychotherapie

3.3.1 Erste Ansätze und Untersuchungen

3.3.2 Psychodynamische Aspekte der Angst vor dem Tod

3.3.3 Terror-Management-Theorie (TMT)

3.4 Verfahren zur Messung der Angst vor dem Tod

3.5 Untersuchungen zur Angst vor dem Tod mittels BOFRETTA

3.5.1 Angst vor dem Tod und psychische Erkrankung

3.5.2 Angst vor dem Tod und kulturell-religiöse Einstellungen

3.5.3 Angst vor dem Tod und Personenmerkmale

3.6 Schlussfolgerungen

3.6.1 Die Position der »radikalen Endlichkeit«

3.6.2 Keine systematische Auseinandersetzung mit dem Tod

3.6.3 Der Tod als Grenze und unwiderrufliches Ende

3.6.4 Die Unmöglichkeit, uns das Ende unseres Bewusstseins vorzustellen

3.6.5 Von der Angst vor dem Tod zum »anthropologischen Trost«

3.6.6 Überwindung der Endlichkeitsangst durch Relativierung des Selbst

3.6.7 Erleben des Todes bei psychisch Kranken und therapeutisches Handeln

4 Liebe als Zuwendung: Gegenprinzip von Tod und Zeit?

4.1 Liebe im Kontext von Vergänglichkeit und Endlichkeit

4.2 »Agape« als Modell therapeutischer Liebe

4.3 Liebe als Sehnsucht nach Beziehung gegen Vergehen in Zeit und Tod bei psychischen Störungen

4.4 Liebe als innere Haltung und therapeutisches Handeln bei psychisch Kranken

5 Fazit und Ausblick

6 Zusammenfassung

Literatur

Für unsere Söhne Konstantin und Alexander

Vorwort

»φόβος οὐκ ἔστιν ἐν τῇ ἀγάπῃ, ἀλλ᾽ ἡ τελεία ἀγάπη ἔξω βάλλει

τὸν φόβον, ὅτι ὁ φόβος κόλασιν ἔχει, ὁ δὲ φοβούμενος οὐ

τετελείωται ἐν τῇ ἀγάπῃ.

[»Angst ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt

die Angst aus; denn die Angst ist schrecklich, und wer sich ängstigt,

ist nicht vollkommen in der Liebe.«] 1. Johannesbrief 4,18

Dieses Buch ist aufgrund einer Einladung von Frau Dr. Nadja Urbani vom Klett-Cotta-/Schattauer-Verlag nach einem Vortrag auf dem jährlichen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) über die Zeiterfahrung bei psychischen Störungen entstanden. Dafür danken wir ihr, ebenso Frau Albrecht, insbesondere der wunderbaren Lektorin Frau Özdem und dem ganzen Verlag einschließlich der guten Betreuung während des Schreibens. Frau Gunda Schulte aus unserer Klinik danken wir für Vieles, hier für ihre große und beständige Unterstützung. Zum Thema »Zeit und Psyche« im engeren Sinne hat uns unser Freund Holmer Steinfath, Professor für Philosophie in Göttingen, durch eine Seminareinladung gebracht, dem wir herzlich dafür wie auch für die vielen Diskussionen und die gemeinsamen Artikel danken möchten. Mit ihm und anderen zusammen konnten wir weitere Gedanken während der Sommerschule auf der Insel Reichenau vortragen und produktiv austauschen; dafür sei dem »guten Geist« dort, Johannes Rusch, sehr gedankt.

Für dieses Buch war es uns wichtig, die theoretischen Erörterungen des Themas zu verbinden mit der Möglichkeit der Integration in die klinische Praxis. Daher hat jedes Kapitel einen zusammenfassenden Kasten »Merksätze« und des Weiteren Abbildungen und Tabellen zum Gebrauch in der Behandlung, z. B. im Rahmen von Psychoedukation. Wir haben dieses Buch weitgehend mit geschlechterneutralen Begriffen verfasst. Wo dies nicht möglich war, haben wir die alternierende Form gewählt: die Therapeutin, der Patient. Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen, sind stets mitgemeint. Wir bitten um Verständnis.

Die Beschäftigung mit dem Zeiterleben und hier vor allem mit der eigenen Zeitlichkeit, d. h. dem Sich-zu-sich-selbst-zeitlich-Verhalten, dem Schmerz der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit sowie mit der Erfahrung des Alterns und der gefühlten Kürze des Lebens war und ist für uns biografisch und wissenschaftlich eingebettet in das Thema »Tod und Endlichkeit«, und dies sowohl theoretisch als auch empirisch. Es begleitet uns seit über 20 Jahren in Grundsatzvorträgen und -artikeln und mit der Konzeption des Bochumer Fragebogens zur Einstellung zum Tod und der Angst vor dem Tod (BOFRETTA) in zahlreichen Untersuchungen von psychiatrischen und neurologischen Patienten sowie gesunden Probanden. In diesem Buch versuchen wir erneut, philosophisch-theoretische und zum Teil auch theologische Überlegungen innovativ auf klinisch-praktische Fragen im Bereich der Psychofächer, speziell im Fach Psychiatrie und Psychotherapie anzuwenden. Dabei verbinden wir für uns zum ersten Mal die Themen Zeit und Tod, Vergänglichkeit und Endlichkeit miteinander.

Bei der Arbeit an diesem Buch wurde zunehmend deutlich, dass es eine Kraft geben muss, die beides – Zeit und Tod – miteinander in ein Gleichgewicht und damit zu einem erfüllten Leben zu bringen vermag. Diese Kraft scheint für uns die Liebe zu sein, die wir alle als Mitmenschen, aber auch professionell als Therapeuten, viel stärker zu berücksichtigen und zu leben haben. Das gilt besonders für die Arbeit mit psychisch Kranken, bei denen bislang zu diesen Themen nur wenige Befunde vorliegen und die oftmals nur wenig an Liebe, Dialog und Zuwendung erfahren haben und auch aufgrund der Erkrankung zu geben in der Lage sind. Aber wie heißt es so schön: »Nur die Liebe bleibt«, daher ist dieses Buch mit diesem tiefen Grundgefühl unseren beiden Söhnen und ihrem Weg in der Zeit gewidmet.

Georg Juckel und Paraskevi Mavrogiorgou

im November 2022

1 Einleitung

»Die Zeitlichkeit, die Endlichkeit ist das, worum sich alles dreht.« (Søren Kierkegaard 2005)

Die Linearität des Zeitbewusstseins schafft innere Probleme für alle Menschen und speziell für diejenigen mit einer psychischen Störung. Wir können es uns nicht anders vorstellen, als dass es immer weitergeht. Daraus wird die Angst vor unserem Ende, dem Tod, verständlich. Wir hoffen zwar, dass es anders ist, aber wir müssen davon ausgehen, dass wir danach nicht und nie wieder unser gewohntes Ich sein können. Zudem entsteht Sorge um die Vergänglichkeit, dass mit dem Fluss der Zeit alles immer vergeblich ist und alles vergeht. Dass dieses und jenes immer schon gerade gewesen ist, kaum ist es da, ist es auch schon vorbei. Eine Möglichkeit, damit ein Stück weit seinen Frieden zu machen, besteht darin, ein zyklisches Zeiterleben zu entwickeln mit Anfang, Höhepunkt und Ende. Dies kann durch die eher bewusste »Sammlung« der Lebensmomente im Alter und Älterwerden passieren, aber vor allem auch emotional. Die für den Menschen stärkste Emotion, aus der er dafür Kraft schöpfen kann, ist die Liebe. In ihr scheint die Zeit stehen zu bleiben und sie drückt das Dialogprinzip des Menschen zu anderen aus. Im Denken an jemanden bin ich aufgehoben und Ängste verlieren sich. So könnte die Liebe konkret, aber auch als therapeutische bzw. religiös-spirituelle Grundhaltung eine wichtige Lösungsperspektive für Ängste vor Vergänglichkeit und Endlichkeit sein. Christliche Philosophen wie Ferdinand Ulrich (1999) sehen in dem »Umsonst« der (göttlichen) Liebe, also in ihrer absoluten »Voraussetzungslosigkeit,« die Einheit von Lebensfülle und Vergeblichkeit in der Zeitlichkeit, d. h. die Einheit von Leben und Tod in der Liebe!

Über das Innenleben psychisch kranker Menschen wissen wir trotz vielfältiger Forschung und vertiefter klinischer Arbeit wenig. Es ist weitestgehend unklar, wie sie über das Vergehen der Zeit, ihres Lebens, also über ihren Tod denken, und ob sie die Kraft der Liebe jemals gespürt haben. Neben theoretisch-konzeptionellen Überlegungen soll das subjektive Erleben bei Menschen mit psychischen Veränderungen, insbesondere bei denjenigen mit den großen psychiatrischen Krankheitsbildern wie der Schizophrenie und der Depression hier erläutert und praktische Perspektiven mit diesen existenziell bedeutsamen Themen für die Therapie dieser Patienten herausgearbeitet werden. Sie erleben subjektiv die Zeit anders, was zum Teil auch objektivierbar ist. Aspekte des Lebenszyklus und das Vergehen in der Zeit scheinen sie anders zu erfahren, und sie verhalten sich offenbar auch verschieden zu Fragen der Endlichkeit, des Altwerdens und des eigenen Todes. Alle, die mit diesen Patienten arbeiten, sollten dies nicht länger übergehen, sondern aktiv ansprechen und – mit der Kraft der Liebe zu diesen Betroffenen – in ihre Arbeit mit einbeziehen. Dadurch wird nicht nur die Beziehung zu unseren anvertrauten Patientinnen besser, sondern wir selbst werden auch an Wissen und Erfahrung reicher und das Ergebnis unserer Bemühungen erfolgreicher.

Die Corona-Pandemie sowie die Kriegs- und Krisenerfahrungen weltweit, auch bei uns in Europa, erzwingen eine Konfrontation mit unserer Vergänglichkeit und Endlichkeit und zeigen dabei in einer erschreckenden Art und Weise unser »unerwachsenes Verhältnis« zum Tod (Sölle 2003). Schon früh konstatierte Sigmund Freud (2022) in seinem Aufsatz zu Krieg und Tod beim Menschen kein »aufrichtiges Verhältnis« zum Tod:

»Wenn man uns anhörte, so waren wir natürlich bereit zu vertreten, dass der Tod der notwendige Ausgang alles Lebens sei. […] In Wirklichkeit pflegten wir uns aber zu benehmen, als ob es anders wäre. Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseitezuschieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren.«

Noch drastischer und im Kontext der aktuellen Pandemie formulierte es die Philosophin di Cesare (2020):

»Doch heute stellt der Tod eine solche Gefahr für das Leben dar, dass er endgültig in die Backstage-Bereiche hinter der öffentlichen Bühne zu verschwinden hat. […] In der gegenwärtigen antibakteriellen Kultur muss der Tod gereinigt, desinfiziert, sterilisiert werden –das geht bis zu seiner Leugnung und Negierung.«

Den Tod als Tatsache und unwiderrufliches biologisches Ende zu fassen, ist eine Sache, sich dem Tod, insbesondere dem eigenen zu stellen, eine andere (Gehring 2010). In der weit verbreiteten Auffassung, dass der Tod die anderen und nicht einen selbst betrifft – oder wie di Cesare (2020) süffisant feststellt: »Man stirbt, aber niemand stirbt« – zeigt sich letztlich ein klassisches Vermeidungsverhalten. Dieses Verhalten, unabhängig davon, ob es eine Abwehr- bzw. Schutzfunktion erfüllt, trägt zur Aufrechterhaltung einer problematischen, unreifen Einstellung allgemein zum Tod und speziell zum eigenen Tod bei. Das Denken oder die Vorstellung des eigenen Todes geht in der Regel mit Furcht und Angst einher, bei manchen Menschen führt sie zu Panik und lähmendem Entsetzen. »Jeder Mensch fürchtet den Tod auf seine eigene Weise«, heißt es bei Yalom (2010). Allerdings möchte jeder von uns Angst und unangenehme Gefühle vermeiden, ein urmenschliches nachvollziehbares Interesse, jedoch kann dies auch als Hemmnis wesentlicher Lebenserfahrungen, gar der Lebensentwicklung fungieren. Gerade in Bezug auf die eigene Endlichkeit verändert sich durch die Konfrontation mit der eigenen Angst vor dem Tod auch der Blick auf das eigene Leben sowie das anderer und kann somit partiell ins konstruktive Gestalten des Daseins beitragen:

»Wenn die Furcht vor dem Tod […] so verstanden werden kann, dass ich angesichts der Möglichkeit des Nichtmehrseins davor erschrecke, dass mein Leben leer war – jetzt auch in dem Sinn, dass ich mich an belanglose Inhalte verloren habe, dann heißt das, dass der Tod mich daran erinnert, dass ich nicht nur dies und das verfolge und befürchte, sondern eben in all dem lebe. Im Verhalten zum Tod – dem Ende meines Lebens – werde ich meines Lebens ansichtig.« (Tugendhat 2006)

Eng in Verbindung damit – und hier befindet Tugendhat sich im Einklang mit Karl Jaspers’ Ansicht zur Todesfurcht – steht also die Sorge, nicht richtig gelebt zu haben, am Ende kein erfülltes, gelungenes Leben gehabt zu haben, Möglichkeiten ungenutzt und in seinem Sinne die Chance verpasst zu haben, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben. Deshalb propagieren viele philosophische Ansätze, von Montaigne (z. B. 2016) bis Dworkin (2014), sich selbst möglichst umfassend um ein »gutes« und »glückliches« Leben zu kümmern, sich um sich zu sorgen. Wir sollen angesichts des Todes den bestmöglichen Nutzen aus der eigenen Lebensspanne ziehen, die definitiv endlich und relativ gesehen kurz ist, sodass am Ende die Chance auf ein gelungenes und erfülltes Leben besteht. Gerade der Tod macht nach Marten (2013) das Leben in seiner Endlichkeit »würzig«. Dabei bleibt sicherlich offen, was subjektiv und objektiv als ein »gutes Leben« angesehen werden kann (Steinfath 1998). Gerade aber das Bilanzieren des hiesigen Daseins fließt zwangsläufig in die Sorge um das Danach, um das Nicht-mehr-Sein hinein, also in die Ungewissheit über das wie auch immer geartete Weiterexistieren nach dem Tod. Für den deutschen Psychiater Joachim E. Meyer (1973, 1979) ist ebenfalls ein wesentlicher Aspekt die »ungewisse Stunde unseres Todes« – die hora incerta, das »Unvorhersehbare des Zeitpunktes unseres Endes« und damit einhergehend der »Fristcharakter des Lebens«, da wir nicht wissen, wie viel Lebenszeit uns wirklich bleibt. Alle diese Aspekte scheinen wesentlich zur Angst vor dem Tod beizutragen. Spätestens hier zeigt sich, dass die Angst vor dem Tod im engen Zusammenhang mit der zeitlichen Verfasstheit des Lebens, vor allem mit dem eigenen Zeiterleben bezüglich Vergänglichkeit und Endlichkeit steht.

Um den möglichen Ursprung der Angst vor dem Tod genauer zu benennen, schlagen wir vor, die Angst vor dem Tod bzw. des Lebensendes, die über die Lebensspanne hinweg immer wieder auftritt, in ihrem antizipierenden Charakter als Endlichkeitsangst zu fassen. Hat dann diese Endlichkeitsangst irgendeine Funktion, außer dass sie Menschen temporär oder ständig beunruhigt oder dass sie dazu führt, dass sich Menschen zusammenschließen, z. B. in religiösen oder politischen Gemeinschaften zur seelischen Beruhigung oder zur Erhöhung des eigenen Sicherheitsgefühls? Die Antwort hierfür scheint eher »Nein« zu sein. Der Mensch scheint in seinem so gearteten Bewusstsein einzeln und als Gattung ewig weiterleben zu wollen, auch wenn es ihm rational klar ist, dass dies aus vielen Gründen unsinnig ist. Alles, was dieses Gefühl, diesen Überlebenswillen bedroht, erzeugt Angst. Eventuell erst am Ende, wenn der Körper nicht mehr kann und Schmerzen dominieren, scheinen die Sterbenden erschöpft und aufgebraucht, »ihren Frieden« mit ihrem Leben und dem Ende ihres Lebens zu machen. Die Endlichkeitsangst scheint eine biologische und entwicklungspsychologische Funktion zu haben, denn ein vorzeitiges Ende des Entwicklungsziels jedes Organismus, sprich Fortpflanzung, ist evolutionär nachteilig, und ein nicht erlebter Lebenszyklus aus Jugend, Erwachsensein und Alter ist für das Individuum psychisch ungünstig. Entwicklungspsychopathologisch sind Zustände kritisch zu bewerten, bei der die Endlichkeitsangst zu stark ist und den Lebensvollzug behindert oder in Reaktion darauf auftritt, z. B. als Todessehnsucht bei Heranwachsenden oder psychiatrischen Patienten. Ein solches Verhalten steht dann allzu oft für Bindungs- oder Verlustängste, Traumatisierungen, Schwierigkeiten in Familie oder Partnerschaft, Schwierigkeiten mit der eigenen Identität und der eigenen Rolle in bestimmten Lebensabschnitten (Erikson 1973). Denn grundsätzlich geht der Einzelne rational und emotional – gerade in der Jugend – von einem unbegrenzten Leben aus. Aber warum kommt es dann zur Angst vor dem Tod im Sinne der Endlichkeitsangst? Weil der Mensch fähig ist, zu antizipieren, indem er zukünftige Ereignisse unter Rückschluss auf vergleichbare Ereignisse annimmt: Einer stirbt, alle Menschen sind bislang gestorben, also muss auch ich eines Tages sterben. Damit handelt es sich um eine Grundtatsache, aber warum bezieht sich diese Angst auf den Tod an sich und nicht eher auf die Unsicherheit darüber, wann der Tod eintrifft. Warum bezieht sich die Angst also nicht auf die eventuelle Plötzlichkeit, also die faktische Kürze des Lebens, über die sicherlich berechtigterweise auch Sorgen bestehen können?

Es gibt grundsätzlich überall eine Begrenzung bzw. hat alles eine Grenze– auch das Universum; seine scheinbare Unendlichkeit macht einen allenfalls hin und wieder schwindlig, staunend und ängstlich. Somit stellt sich die Frage, warum nicht auch die Kategorie der Zeit bei allem Seienden begrenzt sein sollte, warum nicht für den Einzelnen eine zeitliche Grenze und eben keine »Ewigkeit« gelten sollte. Wir nehmen an, dass wir Endlichkeitsangst verspüren, da wir kategorial das Ende unserer Zeit in unserem Organismus, also die Begrenztheit unserer Zeitlichkeit und damit das Aufhören unseres Bewusstseins (einschließlich des Bewusstseins von Zeit als prozessuale und immer voranschreitende Größe), das Nicht-mehr-Ich-Sein und das Nie-wieder-Ich-Sein nicht denken, geschweige denn emotional akzeptieren können. Unser Gehirn mit seinem Bewusstsein ist zeitlich organisiert, d. h. auf »unendlich« programmiert, und dies gerät in Widerspruch mit unserer Erfahrungswelt – unterstützt durch unseren Überlebenswillen, dem ein Ausgerichtetsein auf die Zukunft zugrunde liegt. Präziser gefasst: Solange es überhaupt etwas gibt, gibt es die Zeit. Ein Aufhören der Zeit bedeutet ein Aufhören jeglicher Bewegung (z. B. Bewegung von A nach B), und das können wir nicht denken. Ein Aufhören des Raumes und somit auch ein räumliches »Begrenztsein« können wir hingegen interessanterweise denken und uns da hineinfühlen.

Unsere Zeiterfahrung (Juckel et al. 2022a) fußt kategorial in unserem Bewusstsein als eine rein lineare Kategorie, sprich es muss ewig voran- und weitergehen; ein Ende ist nicht in Sicht (Bloch 1985a). Es wäre aber natürlich auch denkbar, ein Bewusstsein von Zeit zu haben, das zyklisch mit Anfang, Höhepunkt und Ende konstituiert ist und bei dem ein Ende z. B. als ein erwartbares Ende (das vermutlich leichter zu akzeptieren ist als sein überraschendes Ende) gesetzt ist. Abbildung 1-1 veranschaulicht den Unterschied von linearer und zyklischer Zeit.

Wir Menschen befinden uns in einem begrenzten Körper, aber bezüglich der Zeit haben wir prospektiv grundsätzlich eine Wahrnehmung von Unbegrenztem im Sinne eines linearen Zeitpfeils. Dieser sogenannte psychologische Zeitpfeil (Hawking 1988) wird durch den sogenannten thermodynamischen Zeitpfeil bedingt und beide weisen stets in die gleiche Richtung. Letzterer befindet sich in Übereinstimmung mit dem linearen kosmologischen Zeitpfeil, da die »Welt«, die Organismen und die intelligenten Wesen, so die theoretische Annahme, nur in der Expansions-, nicht jedoch in der Kontraktionsphase des Universums entstehen und leben können. Damit dürfte aber die unmittelbare beschleunigte Expansionsphase nach dem Urknall in diesem Modell nicht gemeint sein, allenfalls die spätere Verlangsamung und Anziehung von bewegter Materie zueinander (dort, wo die Zeit am langsamsten vergeht, wie Rovelli [2018], vermutet). Das aber würde das Vergehen, das Aufhören und die zeitliche Endlichkeit nicht unmittelbar erklären. Denn man könnte an dieser Stelle mit modernen kosmologischen Vorstellungen, die von einem zyklischen Universum mit ständigen Expansions- und Kontraktionsphasen (Steinhardt & Turok 2008; Penrose 2012) ausgehen, Folgendes annehmen: Nur deswegen können wir leben und müssen eben auch sterben; alles Seiende muss immer wieder werden und vergehen. Denn das Universum befindet sich gegenwärtig in der Phase der Kontraktion und Verdichtung aller Materie, was immer wieder Leben, aber aufgrund dieses Prozesses auch das zunehmende Aufhören jeglicher Bewegung bedeutet (Juckel 2020). In dieser Annahme würde Leben räumlich durch die jeweiligen vorübergehenden Körpergrenzen, aber eben zeitlich durch das Ende dieses Verdichtungsprozesses bedingt sein. Anders formuliert: Ohne Materieakkumulation und das Zusammenziehen zu einer räumlichen Form mit einem zeitlichen Endpunkt hin sind Ausgestaltungen organischen und anorganischen Lebens nicht denkbar. Das heißt, nur durch räumliche Begrenztheit und zeitliches Ende kann Lebendiges entstehen, sich entfalten und dann wieder aufhören. Der Tod bedingt also das Leben, sein Zustandekommen und vorübergehendes Existieren. Der Mensch als ein biologisches Wesen ist, wie er ist, er besitzt nur zwei Augen und nicht drei, er hat eine Stimme und kein Echolot, und es gehört schließlich zu unserer menschlichen Konstitution, sterblich und nicht unsterblich zu sein. Die wirkliche Annahme unserer Existenz bedeutet also, alle allgemeinen und speziellen individuellen Eigenschaften unseres Lebens zu bejahen und so auch die Endlichkeit mit dem unvermeidlich auftretenden Tod. Wie bereits beispielsweise Georg Simmel (2016) ausführte, ist der Tod als formales Strukturelement a priori essenziell für jegliches Leben und er würde daher alle unsere Lebensprozesse formen. Neben den offensichtlichen räumlichen Grenzen von Lebewesen bedingt das zeitliche Ende, sprich der Tod, als zeitliche Begrenzung das Geformte, also bringt es uns so als Organismen und unser Leben hervor. »Der Tod ist der Anfang zum Leben, er führt zu einer neuen Kristallisation«, wie der Maler Edvard Munch einmal sagte.

Wenn also das Prinzip von raumzeitlicher Begrenztheit überhaupt dazu führt, dass es Geformtes und Formen gibt, dann ergibt sich daraus auch ein Trost und Linderung unserer Angst vor dem Tod. Denn ohne ein zeitliches Ende, ohne den Tod gibt es kein Leben, d. h., auch nicht unser einziges und einmaliges Leben mit all seiner Fülle und seinen guten Aspekten, sofern der Einzelne der unvergleichbaren Erfahrung des Lebens einen entsprechenden Wert zuspricht. Und damit unterliegt alles im Kosmos, so auch wir, dem ständigen Kreislauf von Werden und Vergehen, der zyklischen Zeit in einem vermutlich zyklischen Universum. Alles lebt und existiert vom Ende her; dieses Ende schenkt uns allen einen Anfang, unsere Geburt und unsere Erfahrungen der Welt mit Leiden und Genuss. Der Preis für das Leben in der Zeit ist also sein Vergehen und sein Ende. Ohne Tod kein Leben – diese Erkenntnis dürfte trostreich sein bei Ängsten hinsichtlich Vergänglichkeit und Endlichkeit und sollte darüber hinaus zu seiner Annahme und Bejahung führen.

Abb. 1-1: Lineare und zyklische Zeit

Aber kommen wir zu dem Problem zurück, dass unser Bewusstsein zeitlich primär linear aufgebaut ist. Dass die Zeit für uns nicht begrenzt zu sein scheint bzw. gedacht werden kann, ist schon etwas merkwürdig. Der Raum wird, wie schon erwähnt, permanent als ein endlicher und begrenzter gedacht, jeder Gegenstand im Raum einschließlich von uns selbst als Organismus ist es. Aber warum wird die Zeit als prinzipiell unendlich gedacht? Denn nur die Zeit in begrenzten Einheiten bedingt unser Leben und unsere Erfahrung. Auch die Zeit konstituiert in ihren Begrenzungen die Prozesse der Welt. Nur wenn auch die Zeit begrenzt ist und es ein Anfang und ein Ende (und damit auch den Tod als primär zeitliches Ereignis) gibt, können wir überhaupt sinnvoll Prozesse, Entwicklungen und Bewegungen voneinander abgrenzen und erkennen. Ohne Anfang und Ende gibt es keine Bewegung, sondern nur Stillstand, und damit würde im Grunde nichts wirklich existieren. Mit einem Anfang und ohne ein Ende ist ewige gleichförmige Bewegung ohne zu unterscheidende Formen möglich, aber nicht wirklich sinnvoll denkbar. Denn nicht nur die räumlichen Grenzen, sondern auch das zeitliche Ende bedingt und schafft Formen. Anfang und Ende konstituieren die geformte Welt: Das Ende bedingt den Anfang bzw. ohne ein im Organismus angelegtes Ende gibt es keinen Anfang von überhaupt irgendetwas. Diese im Organismus liegende Kraft, die seine Entwicklung bewirkt, nennt man Entelechie (s. auch das Noch-nicht-Sein als kausale Bedingtheit aus zukünftigen Ereignissen her bei Bloch 1985b).

Ein Bewusstsein von Zeit mit Begrenztheit scheint im Gegensatz zu dem Bewusstsein des Raumes nicht vorstellbar zu sein. Wir müssen uns eingestehen, dass offenbar ein primär zeitlich unendliches Bewusstsein zu unserer Konstitution gehört, wobei die Ausbildung eines zeitlich endlichen Bewusstseins, wie geschildert, eigentlich viel besser zur Bedingtheit unseres Lebens passen würde. Eventuell ist aber ein lineares, nach vorne ausgerichtetes Zeitbewusstsein ein wohltuender, evolutionsbiologisch sinnvoller Schutzmechanismus als Bestandteil des »Sorgens um sich« (Frankfurt 2007), also eine Anpassungsleistung an die Umwelt, um das individuelle Überleben zu sichern. Auch könnte sich hier das erkenntnistheoretische Problem verbergen, dass sich das Gehirn (und damit das Bewusstsein) nicht vollständig selbst begreifen kann (Creutzfeldt 1983; Juckel & Mavrogiorgou 2021a) und daher vermutlich auch nicht sein Ende und seine Auflösung im Ganzen. Deswegen neigen wir wahrscheinlich auch eher zu einem Jenseits- und Unsterblichkeitsglauben zur Angstreduktion als zu einer innerlichen Ausgestaltung eines Von-sich-Abschiednehmens, was wir aber eben in zeitlicher Gänze niemals können. Auffallend ist, dass wir in unserem Sich-zu-sich-selbst-zeitlich-Verhalten in Form unseres sogenannten Selbstbewusstseins (= Bewusstsein seiner selbst) viele Denkkategorien als begrenzte und endliche in uns vorfinden, nur aber die Zeit als prinzipiell offene im Sinne eines »ewigen Fließens«. Auf der anderen Seite finden sich für die Zeit und ihr Ende Metaphern der verrinnenden Sanduhr, das Abschneiden des Zeitfadens (durch die Erinnyen) usw. Allerdings stellt sich hierbei die Frage, warum diese Vorstellungen der begrenzten Zeit so wenig Widerhall in unserem alltäglichen Bewusstsein finden. Nun, vermutlich weil die Vorstellung der unendlichen Zeit für den täglichen Überlebenskampf günstig ist und Gedanken an die eventuell wenige verbleibende Restzeit verdrängt und verleugnet werden müssen (Tugendhat 2006), da wir sonst nicht handlungsfähig wären.

Und trotzdem bleibt die Frage, warum denn die Zeit überhaupt unendlich gedacht wird, wenn doch ihre Begrenztheit etwas rein Faktisches ist? Als vorläufige Antwort kann hier nur formuliert werden: Die Zeit als lineare Kategorie scheint der konstitutive Motor des Gehirns und seines Geistes zu sein. Es bildet sich ein transitives Bewusstsein (Seel 2005) aus, in dem die mentalen Zustände und seine Inhalte konsekutiv und zeitlich linear angeordnet sind, was vermutlich prinzipiell logisch und von unserer mentalen und neuronalen Organisationsform her nicht anders organisierbar und vorstellbar ist. Denn wie sollten zyklische oder ungeheuer viele parallele Prozesse in unserem Gehirn und Bewusstsein ohne zentrale Koordination aussehen, die vermutlich automatisch zu einer konsekutiven chronologischen Zuordnung kommen muss? »Was endlich die volle Zeitvorstellung, die Vorstellung der unendlichen Zeit anlangt, so ist sie ein Gebilde des begrifflichen Vorstellens« (Husserl 1980). Solange die Zeit existiert, ist – so eventuell die angenehme Autosuggestion – permanentes Leben sowohl neuronal als auch mental gegeben. Das In- und Miteinander von mentalen Zuständen kann nur als ein Nacheinander von Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen in der Zeit angeordnet und gedacht werden. Auch die Sprache ist zeitlich geordnet. Ohne Zeit kein Bewusstseinsstrom analog zur ständigen neuronalen Aktivität auch in scheinbarer Ruhe (»resting state«). Und da wir diesen Strom von scheinbar unendlichen mentalen Ereignissen schon immer erfahren haben, wir ihn auch in der Unterbrechung durch z. B. den Schlaf als konstituierend für unsere personale Identität (Locke 1981; Perry 2013) annehmen, müssen wir davon ausgehen, dass dieser immer so weitergehen wird, sprich die Zeit und unsere Zeitlichkeit ein ewiges nach vorne Ausgerichtetsein bedeutet.

Was würde es dann aber bedeuten, wenn das Bewusstsein mit einer zeitlichen Grenze konstituiert wäre? Dann könnte es sein, dass es nicht mehr die »Freiheit der unendlichen Möglichkeiten« sehen würde, den »elan vitale« (Bergson 2013) mit seinen täglichen Aktivitäten und Kulturleistungen. Vermutlich würde das Bewusstsein zudem durch das Ausbleiben dieser Aktivitäten mit ihren sinnstiftenden Eigenschaften, Funktionen und Hoffnungen zunehmend eingeschränkter werden. Das zeitlich prinzipiell Offene und Lineare scheint also für das menschliche Bewusstsein charakteristisch und wertvoll zu sein. Jedoch ist dies nur scheinbar bzw. nur auf der Ebene der Wahrnehmung angesiedelt. Denn wenn wir das weiter durchdenken, müsste uns klar sein, dass wir endlich, d. h. zeitlich begrenzt sind. In diesem Auseinanderfallen von Erleben und Wissen bleibt unsere Endlichkeit und damit der Tod in gewisser Weise bloß abstrakt. Und die Endlichkeitsangst blitzt immer dann auf, wenn genau dies uns real klar wird. Wir haben Endlichkeitsangst, da ein Ende von Zeit und persönlicher Identität in unserem Bewusstsein nicht einfach so vorgesehen ist. Daher macht uns jegliches Denken an ein mögliches Ende von uns selbst hilflos und erfüllt uns deswegen mit Angst vor dem Tod im Sinne der Endlichkeitsangst.

Wie können wir damit umgehen? Wir können versuchen, diesen Webfehler unseres Zeitbewusstseins zu lösen, indem wir uns ständig klarmachen, dass wir endlich sind (zyklische Auffassung als Lebensbogen statt fälschlich linear) und der Tod eine notwendige und hinreichende Bedingung für unser Leben ist, indem wir bewusst Abschied nehmen vom Leben und uns mental und ein Stück weit autosuggestiv-kognitiv auf den Tod als das definitive Ende unserer Zeit vorbereiten (Nozick 1991; Theunissen 1991). Damit würde in jeder Existenz mit dem »Endlich-Sein« auch das »Gewesen-Sein«, also durch den Tod auch das Altwerden, das Vergehen in der Zeit und damit die Vergänglichkeit des individuellen Lebens zu einem faktischen Abschluss kommen. Inwiefern es in einer je eigenen individuellen qualitativen Wertung eher vergeblich oder auch sinnvoll war, wird sich eh erst später herausstellen; und zwar am Ende in der »Sammlung der Zeit« im Futur II des »Ich habe gelebt und werde gewesen sein« (Henrich 2009; Spaemann 2007; s. auch Blankenburg 2007 für die Relevanz bei psychisch Kranken), d. h. im Erinnern seiner selbst in der vergangenen Zeit oder später in der Erinnerung durch seine Nachfahren an dieses eine Leben und seine jeweils spezifischen Aspekte. Das Futur II bedeutet aber auch die Möglichkeit, Bedingungen für die künftige Einschätzung eines erfüllten Lebens zu schaffen und sich Entsprechendes vorzunehmen. Das Sich-Erinnern und alle Formen der Erinnerung sind wesentliche Aspekte des Sich-zu-sich-selbst-zeitlich-Verhaltens, d. h., dass wir uns in Bezug auf uns selbst in unserer gesamten jeweiligen Zeitlichkeit als Modus unseres Lebens als ganze Person erfahren. Solch eine zeitliche Selbstbezüglichkeit geht über die reine Zeiterfahrung hinaus und rundet die persönliche Zeitlichkeit in ihrer individuellen Totalität »als oberste Stufe« ab. Selbstbezüglichkeit in der Zeit meint damit das Bewusstwerden unseres ganzen Lebens in seiner Faktizität, aber auch Befindlichkeit bezogen auf das Vorher und Nachher sowie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zu dem wir uns in unserem Erleben und Handeln rational, emotional und motivational jeweils vollständig verhalten und uns so als zeitliche Wesen für uns und andere konstituieren. Damit hilft uns die »Selbstbezüglichkeit in der Zeit« bei der distanzierten und relativierenden Wahrnehmung von uns selbst in Einheiten mit Anfang und Ende, also im Denken und Fühlen von zyklischen Verläufen. Dies sind die wesentlichen Aspekte auch des therapeutischen Umgangs mit Vergänglichkeit und Endlichkeit bei Patienten mit einer psychischen Störung, bei denen solche Fähigkeiten bezüglich Zeitlichkeit und Einstellung zum Tod verändert sind.

Aus dem Bisherigen lässt sich vereinfacht schlussfolgern: Die allgemein übliche Vorstellung einer linearen und unbegrenzten Zeit im menschlichen Bewusstsein scheint eine »Finte der Natur« zu sein. Das schützt den Menschen vor einer stets vorhandenen und ihn in seiner Entwicklung lähmenden Endlichkeitsangst, die unerträglich würde, wenn man ständig an seine zeitliche Begrenztheit denkt. Trotz bzw. gerade aufgrund der unbegrenzten Linearität der Zeit erscheint das eigene Leben in Relation dazu dann eben immer »zu kurz«. Diese Ambivalenz und Diskrepanz der relativen Zeitvorstellungen verstärken die Endlichkeitsangst. Eine Strategie dagegen wäre, sich dieser Ambivalenz bewusst zu stellen und die Zeit begrenzt mit Anfang und Ende zu denken. Durch das Denken der Begrenztheit der Zeit kann sich der Mensch eine Orientierung in Zeit und Raum verschaffen, somit seine Endlichkeitsangst relativieren und reduzieren.

Ein anderer Ausweg aus der scheinbaren Dominanz der Linearität in unserem Zeitbewusstsein dürfte die Liebe sein, die mit ihrer Energie und Dynamik als Zuwendung zu sich selbst, den Mitmenschen und der Welt den Grundmotor unserer menschlichen Existenz darstellt. Auf der einen Seite bewirkt sie den erfüllten Augenblick, und die Zeit bleibt stehen, aber oft hat sie auch einen zyklischen Verlauf mit Anfang und Ende. Zum anderen wird sie als »ewiges« Gegenprinzip zu Tod und Zeit im individuellen Erleben angesehen. Natürlich ist das Letztere schon oft gedacht worden, angefangen von der göttlichen Liebe bis hin zu paradigmatischen Dramen der Menschheitsgeschichte wie »Tristan und Isolde« oder »Romeo und Julia«, in denen die Liebe »stärker als der Tod« und damit als dem Lauf der Zeit überlegen postuliert wird (s. auch dazu z. B. Lütkehaus 2008). Liebe ist eine auf etwas gerichtete Energie, sie schließt Beziehung, Zuwendung und Vereinigung ein, was sich beim Menschen manifestiert als Zuwendung, Dialog und Sozialität, als ein Über-sich-Hinausgehen zu einem anderen, in der Regel einem Mitmenschen. Das jedoch scheint bei Menschen mit einer psychischen Störung weniger stark vorhanden zu sein (Juckel & Mavrogiorgou 2021b). Endlichkeit und Vergänglichkeit sind dagegen Prinzipien der Auflösung und Auslöschung, eine Konzentration auf sich bis hin zum Nichts (Nicht-mehr-Sein und Nie-wieder-Sein). Als Gegenprinzip müsste also die Liebe »unendlich« und »nichtvergänglich« sein, was man ihr bekanntlich zuschreibt – wie im Energieerhaltungssatz der Thermodynamik, in dem Energie die Kraft hat, Tod und Zeit zu überwinden. So könnte diese Auffassung von Liebe einer »ewigen« zeitlichen Linearität, wie sie offenbar in unserem Bewusstsein angelegt ist, entsprechen. Während die Erinnerung, also das retrospektive »An-denken« bei der Endlichkeit und Vergänglichkeit wirkmächtig wird, ist es bei der Liebe das »Denken an« jemanden oder etwas. Wenn hier also ähnliche mentale reflexive Vorgänge zu finden sind, ergibt sich die Frage, ob der Tod, die Zeit und die Liebe im Kern einen prinzipiellen Zusammenhang aufweisen. Beispielsweise könnte man in diesem Kontext an Freuds dualistische Prinzipien von Eros und Todestrieb denken, die in ihrer jeweils ergänzenden Regulationsweise Folgendes ermöglichen sollen: »Das Ziel alles Lebens ist der Tod« (Freud 1940), wobei beide Prinzipien einerseits ein möglichst lustbetontes Leben und andererseits auch dessen »Rückkehr ins Organische«, in den Tod bewirken sollen. Auch Carl Gustav Jung nahm in seinem Aufsatz »Seele und Tod« (2022) Ähnliches an, dass nämlich alles, so auch das Leben von Anfang an energetisch immer zu seinem Ziel tendiere, nämlich zurück in seine Ausgangs- und Ruhelage, also seinem Nullpunkt, zu kommen.

Man könnte darüber spekulieren, ob Endlichkeit und Zeitlichkeit als notwendig für die Liebe anzusehen sind, da ja der Tod als zeitliche Grenze das Leben bedingt. Denn ohne begrenzende Prinzipien auch in der Zeit (mit Anfang, Höhepunkt und Ende) würde, wie schon ausgeführt, kein Gerichtet-Sein der Liebe auf etwas oder jemanden möglich sein, da es dann kein Seiendes als in Raum und Zeit voneinander Abgetrenntes, also Geformtes und (anorganisch oder organisch) Existierendes geben würde. Auf der anderen Seite könnte man meinen, dass die Liebe für den Tod und die Zeit wesentlich ist, da erst durch die Liebe ein Ausgerichtet-Sein auf etwas als Prinzip dazukommt und damit ein Zeitpfeil mit Werden und Vergehen, also bis hin zu einem Ende, dem Tod. Insofern wird hier angenommen, dass der Tod, die Zeit und die Liebe als Grundprinzipien allen Lebens wesentlich miteinander verbunden sind, weswegen sie in diesem Buch jeweils einzeln, aber auch in ihrer Bezogenheit aufeinander dargestellt werden sollen. Vor diesem Hintergrund wird aber auch deutlich, dass bei krankhaften Zuständen der Seele die Gegebenheiten von Tod, Zeit und Liebe von den betroffenen Menschen verändert wahrgenommen werden dürften, was die hohe Relevanz dieser Themenfelder ausmacht, insbesondere für alle Arbeitsbereiche, die sich im Allgemeinen mit dem Menschen und im Speziellen mit seiner Psyche beschäftigen.

Jeder Mensch hat für sich – auch in Zuständen psychischer Veränderung und Störung – ein möglichst ihn stützendes und tröstendes Erklärungsmodell zum Leben in der Zeit mit Altwerden und Sterben-Müssen zu entwickeln; dabei können ihm auf jeden Fall psychotherapeutische Bemühungen und Beratung helfen. Nimmt man bestimmte kulturell vorgegebene weltanschauliche und religiöse Positionen zur Seite und betrachtet das aus der hier vorgeschlagenen Position der radikalen Endlichkeit, dann bleiben folgende Vorgehensweisen: Zum einen, wie bereits geschildert, bejahen wir das Ende und den Tod, da er uns alle unsere Erfahrungen und unser Leben bringt, wir üben rechtzeitig das Abschiednehmen und nehmen uns selbst und unsere Wünsche allmählich zurück (in vollem Sinne wäre das dann der Weg z. B. der Mystik, Tugendhat 2008) und wir wenden Strategien der zyklischen und weniger der linearen Zeiterfahrung an durch entsprechendes Denken und durch die Liebe. Zum anderen kommen grundsätzlich drei weitere Positionen in Betracht:

Die Tatsache, überhaupt geboren worden zu sein (Cioran 1979; Benatar 2008), als tiefstes Unglück zu betrachten.

Radikale Akzeptanz der Absurdität des Lebens mit Werden und Vergehen und Sinnfindung im Hier und Jetzt trotz aller scheinbaren Vergeblichkeit (Sisyphos als glücklicher Mensch: Camus 2000)

Ablehnung der Annahme von jeglichem Werden, d. h. von Zeit überhaupt, und damit auch von Vergänglichkeit und Endlichkeit als zugrunde liegende Prinzipien. Stattdessen Bejahung der Annahme eines »ewigen Seins«, an dem nur scheinbar jeweils zeitliche Veränderungen stattfinden, weil die Dinge nicht wirklich »in der Zeit« sind (Severino 1983).

Dieses »ewige Sein« kann als ein immer vorhandener Urstoff (z. B. »apeiron« [»Unbegrenzte«], als »Eines«, »Göttliches« oder »Gesamtmaterie«, dem im Universum erst jegliche Zyklizität und/oder Linearität von Zeit scheinbar zukommt, gefasst werden. Diese Denkmöglichkeit wurde zunächst im Wesentlichen von Parmenides entwickelt, ein Stück weit von Platon mit seiner zeitlosen Ideenlehre aufgegriffen, dann aber mit Aristoteles und seiner Bestimmung der Zeit als Maß einer jeden Bewegung, also ständiger Veränderung, für sehr lange verlassen, bis sie der späte Heidegger und jetzt vor allem Severino wieder stärker in das Zentrum gerückt haben. Ihnen zufolge existiert Zeitlichkeit und Endlichkeit nicht wirklich, da das Prinzip von Werden und Vergehen grundsätzlich unsinnig sei (etwas würde »aus dem Nichts« kommen und dorthin zurückkehren), weil es ein Nichts nicht gäbe, sondern nur Sein und Seiendes. Dabei käme dem Seienden immer nur jeweils andere Formen der Erscheinung zu, aber das Seiende würde sein »zeitloses Sein« als solches nicht verlieren. Diese doch recht abstrakte philosophische Annahme könnte auf den Einzelnen gegebenenfalls auch beruhigend und tröstend wirken, da die jeweiligen Ausformungen dieses ewigen Seins und damit Zeit und Tod letztlich nur Illusionen wären (s. auch Kügler 2019). Aber auch wenn selbst diese Möglichkeit mit der Annahme von Sein ohne Zeit und Tod trostreich sein könnte, bleibt dem Menschen in seiner individuellen psychischen Befindlichkeit unseres Erachtens trotzdem die konkrete Aufgabe, mit seiner Vergänglichkeit und Endlichkeit möglichst souverän umzugehen, was insbesondere Personen mit einer psychischen Störung oftmals nicht gelingt. Und neben dem Denken kann hier die Kraft der Liebe hilfreich sein, um den Umgang mit Zeit und Tod zu verbessern.

Zu all den hier zur Sprache kommenden Zusammenhängen gibt es bisher weder eine umfassende theoretische noch klinisch-psychiatrische Literatur. Hier sei auf das wichtige Buch »Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter« (1992) von Walter Schulz explizit hingewiesen. Er spricht bezogen auf das jeweilige subjektive Erleben vom Ineinander von Vergänglichkeit und Endlichkeit, Zeiterfahrung und Tod und deutet als Umgangsstrategie eine ethische Perspektive des gemeinsamen Todesbewusstseins an. Dabei betont er zum einen die Wichtigkeit von Erinnerung und Gedächtnis, also insgesamt vom Vergangenen, mit dem man in die stets ungewisse Zukunft gehen würde. Gerade in den Zeiten des von ihm sogenannten »gebrochenen Weltbezuges« des modernen Subjekts zwischen Weltgebundenheit und Weltlosigkeit sieht er in der Dimension der Zeit, die das lebenslange »In-der-Schwebe-Sein« und »Nichtfestgestelltsein« der Subjektivität bedingen würde, immer nur ihre Vorläufigkeit. Diese Situation kann das moderne Subjekt nach Schulz nur mit »Gelassenheit« begegnen. Die Funktion des Todes wäre dann die endgültige »Lösung« jenes Widerstreits zwischen Weltgebundenheit und Weltlosigkeit. Natürlich ist uns die eigene Subjektivität immer »am nächsten«, da es um uns selbst geht und aus der wir nicht entkommen können. Dadurch wirken wir so eigentümlich ortlos, reflektiert-distanziert und als ob die Welt nur für uns allein existieren würde. Die Betonung der »Besonderheit unseres Geistes und Subjektivität«, der Schulz auch unterliegt, dürfte ein nicht weiterführender Ansatz sein, denn wir sind mental und biologisch in unserem In-der-Welt-Sein immer mit ihr und den Mitmenschen tief verbunden. Aber wir realisieren auf jene Weise immer nur stärker unsere Verlorenheit, das Abgetrenntsein als die Verbundenheit mit der Fülle der Dinge und ihrer zyklischen Abläufe. Diesen brauchen wir uns nur anzuvertrauen, sie zu lieben, um eins zu werden mit der Zeit und dem Tod.

MERKSÄTZE

Das Denken an den eigenen Tod und die Angst vor dem Tod werden in unserer Gesellschaft tabuisiert.

Die globale Corona-Pandemie als ein in der Menschheitsgeschichte epochales gefährdendes Ereignis und die jüngsten Kriegserfahrungen demaskieren unser »unreifes« Verhältnis zum Tod sowie unsere Angst vor dem Tod stärker als bislang.

Bilanzieren des eigenen Lebens und die Sorge, sein Leben nicht »gut und gelungen« erfüllt zu haben, können die Angst vor dem Tod triggern.

Ebenso scheinen zeitliche Dimensionen wie die »hora incerta«, das »Unvorhersehbare des Zeitpunktes unseres Endes«, und damit einhergehend der »Fristcharakter des Lebens« wesentlich zur Angst vor dem Tod beizutragen.

Der enge Zusammenhang zwischen der Angst vor dem Tod und der Zeit im Sinne des individuellen Zeiterlebens lässt sich mit dem Begriff »Endlichkeitsangst« am besten darstellen.

Vergänglichkeit und Endlichkeit, Zeit und Tod hängen eng zusammen, denn das Ende bedingt den Anfang, der Tod das Leben als zeitliches Formprinzip. Das kann nicht nur Trost und Akzeptanz spenden – stärker als die Vorstellung des Todes als pures Aufhören, auf das man sich nur mit rechtzeitigem Abschiednehmen vorbereiten kann, oder dass der Tod leider eine Eigenschaft von Lebendigem unter vielem anderen sei – das kann auch helfen, ihn zu bejahen.

Unsere Zeiterfahrung fußt kategorial in unserem Bewusstsein als eine rein lineare, offene Dimension, in der ein Ende nicht in Sicht ist.

Wir haben Endlichkeitsangst, da ein Ende der Zeit und das der persönlichen Identität in unserem Bewusstsein nicht vorgesehen ist, d. h. wir ein jegliches Ende unseres Selbst nicht denken können.

Eine Konfrontation mit der eigenen Angst im Sinne der Endlichkeitsangst, ein z. B. ständiges Sich-Klarmachen der Endlichkeit, ein bewusstes Abschiednehmen vom Leben und mentales Sich-Vorbereiten auf den Tod als das definitive Ende der jeweiligen Zeit, kann zum konstruktiven, gar sinnerfüllten Gestalten des Lebens beitragen.

Der »Fehler« der kontinuierlichen zeitlichen Linearität, die evolutionär tief in unserem Bewusstsein verankert ist, lässt sich nur durch intensive Einübung zyklischen Denkens ein Stück weit korrigieren. Über das Sich-Erinnern verhalten wir uns zu uns selbst als zeitliche Wesen. Diese zeitliche Selbstbezüglichkeit hilft uns in der Wahrnehmung von uns selbst in Teileinheiten mit Anfang, Höhepunkt und Ende, also in jeweils zyklischen Einheiten.

Die Liebe als auf jemanden anderen gerichtete Energie kann ein Gegenprinzip zu Tod und Zeit darstellen. Auf der einen Seite scheint ihre Kraft den Tod und die Zeit anzuhalten bzw. zu überdauern und könnte so der ewigen Linearität entsprechen. Auf der anderen Seite unterliegt auch sie der zyklischen Abfolge von Anfang, Maximum und Ende. Mit dem »Denken an« gibt es bei der Liebe eine der Erinnerung ähnliche mentale Funktion (»An-Denken«).

Unsere Schlussfolgerung ist: Endlichkeit, Vergänglichkeit und Zuwendung, also Tod, Zeit und Liebe, weisen einen inneren Zusammenhang auf. Da es ein Wechselspiel zwischen ihnen und den psychischen Zuständen eines Menschen gibt, haben sie eine hohe Bedeutung für alle »Psychofächer«, vor allem für die Psychiatrie und Psychotherapie.

2 Zeit: Die Sorge um die Vergänglichkeit

»Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muss. Welcher Satz bei genauerem Durchdenken gerade damit endet, dass das Leben in der Zeitlichkeit nie recht verständlich wird, eben weil ich in keinem Augenblick vollkommen Ruhe finden kann, um die Stellung: rückwärts einzunehmen.« (Søren Kierkegaard 1983)

»Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.« (Ludwig Wittgenstein 1921)

2.1 Zeit, Psyche, Geschichte und Begrifflichkeiten

Die Dimension der Zeit spielt nicht nur im Kontext des Todes und der Angst vor ihm, sondern auch für die diesseitige Existenz, unser Leben auf Erden, eine wichtige Rolle. Welche Rolle das ist und was überhaupt Zeit im Allgemeinen, aber auch im Speziellen, z. B. im Rahmen von psychischem Leiden bedeutet, darauf soll hier näher eingegangen werden. Safranski fasst das in seinem Buch »Zeit« (2015) zusammen: »Zeitpathologien, die Depressionen und Hysterien, die entstehen, wenn der Einzelne zu stark unter Strom gesetzt oder leer und ausgebrannt zurückgelassen wird«. Hier wird nicht nur das individuelle Schicksal angesprochen, sondern auch die soziale Verursachung dafür, und damit auch die Verantwortung der Gemeinschaft im Umgang mit der Gestaltung von Zeit. Stichworte sind die bekannten wie Leistungsgesellschaft, Leistungsdruck, Arbeitslosigkeit, Entfremdung, Beschleunigung, E-Mail-Flut, ständige Benutzung von Smartphones. So fragte Dornes (2016): Macht der Kapitalismus durch Beschleunigung, Veränderung der Zeit, krank? Seine entwicklungspsychologische und psychoanalytische Antwort ist: Im Grunde nein. Denn die wesentlichen Strukturen des Menschseins hätten sich nicht geändert, allenfalls die technischen Möglichkeiten, zumal sich die psychischen Störungen über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte auch nicht stark quantitativ oder qualitativ verändert hätten. Es gäbe eine Konstanz von Depressionen und psychischen Erkrankungen über lange Zeit, d. h., solche Erkrankungen seien häufig und reagieren wenig empfindlich auf soziale Veränderung, als gemeinhin angenommen. Ähnliches stellten Fountoulakis et al. (2014) im Hinblick auf Suizidalität und die damalige Europäische Finanzkrise fest. Dornes kommt zu dem Ergebnis, dass es kein Fundament für eine Sozialkritik gibt, die behauptet, die Beschleunigung in der kapitalistischen Gesellschaftsform mache zunehmend psychisch krank. So schreiben auf der anderen Seite z. B. die »Marxistischen Blätter«, dass der Burnout ein systematischer Verschleiß von Menschen darstellt und dass Mobbing eine Form von zerstörter Solidarität unter Menschen ist. Die marxistische Zeitschrift »Z.« führt aus, dass die Beschleunigung der Zeit wesentlich für den Kapitalismus ist, jedoch Formen und Techniken der Entschleunigung kein probates Mittel dagegen seien, sondern schlussendlich nur die Aufhebung des Privateigentumes, weil dieses dann zum postgeschichtlichen zeitlosen Zustand des Kommunismus führen würde. Daneben gibt es eine ganze Reihe von soziologisch-philosophischen Entwürfen, in denen versucht wird, subjektive und soziale Befindlichkeitsstörungen eher gesellschaftstheoretisch und kulturell zu deuten, nämlich als Zeit-Stressfolge-Störungen des modernen Menschen – so z. B. Ehrenberg in »Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart« (2015), Virilio in »Fluchtgeschwindigkeit« (1999) oder Han in »Müdigkeitsgesellschaft« (2010). Hinzu tritt die reiche Ratgeberliteratur zum Thema Burnout und Depression, in der vieles empfohlen wird, um der Seele Zeit zu geben: Achtsamkeit, Buddhismus, Entschleunigung usw. Ein Beispiel ist Verena Kasts Buch »Seele braucht Zeit« (2013): Sie weist auf die Trägheit psychischer und psychotherapeutischer Prozesse hin, man müsse die Seele baumeln lassen, den inneren »Hetzer« reduzieren, »mehr Muße und produktive Langeweile, die von der Langeweile im Rahmen der Depression als Stillstand von Leben und Zeit zu unterscheiden ist«, zulassen. So auch Zimbardo und Boyd (2009): Es gelte, die Justierung der inneren psychischen Uhr im Sinne »ausgeglichener Zeitperspektiven« vorzunehmen. Das Zeitmanagement sollte balanciert sein, man solle die Vergangenheit durchweg positiv ansehen, sowohl die Zukunft als auch die Gegenwart sollten mit einem eher moderaten Hedonismus angegangen werden.

Wir möchten aber zunächst einmal grundsätzlich auf die theoretischen Überlegungen zur »Zeit« eingehen und dabei die Verflochtenheit von Philosophie und Physik mit einbeziehen. Das bekannte Zitat von Augustinus besagt ja: »Was also ist ›Zeit‹? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht« (Confessiones XI, 14). Mit Augustinus (2009) kam die Unterscheidung zwischen der objektiv gelebten und der subjektiv erlebten Zeit auf. Schon früh unterschieden sich die Philosophen in jene, die die Zeit eher als zumessende Bewegung und Veränderung (Heraklit, Aristoteles), und andere, die die Zeit eher als »stehendes Jetzt«, dem »nunc stans« der Ewigkeit und alles Sein im Stillstand ansahen (Parmenides, Platon). Später hat dann die Neuzeit die Zeit nur noch als reine, formale Anschauungsgröße wie »Raum« als subjektive Voraussetzung der sinnlichen Wahrnehmung betrachtet. Hier wurde die »Zeit« als Teil der menschlichen Erkenntniswerkzeuge verstanden, am prominentesten von Kant, ohne sicher wissen zu können, ob sie einer realen Welt (dem »Ding an sich«) entsprechen würde. Die Zeit sei als ewige Form der Anschauung zu betrachten, die Inhalte mögen wechseln, die Struktur der Zeit bleibe: »Die Zeit, in der aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht« (Kant 1974). Im 20. Jahrhundert beschäftigte sich Husserl (1980) phänomenologisch mit dem inneren Zeitbewusstsein von Ur-Impression, Retention und Protention und damit der Wahrnehmung des Zeitverlaufs von einem Vorher zu einem Nachher. Heidegger legte anschließend mit »Sein und Zeit« (1927) eine Analyse des sogenannten Daseins vor, in der er die menschliche Existenz primär in seiner Zeitlichkeit untersuchte: Das menschliche Dasein sei primär bestimmt durch die Stimmung der Angst, der Sorge um sein Sein angesichts der Endlichkeit und durch das Vorlaufen in die Zukunft (»sich immer selbst vorweg sein«), dem Sein zum Tod. Gegen Letzteres positionierte sich z. B. Sartre (1991), der das Einverständnis mit Vorlaufen in den Tod kritisch sah angesichts seiner durch nichts zu erklärenden Skandalhaftigkeit und Sinnlosigkeit. Aber auch Schulz (2002) fasste die »Härte des Todes«, der nur Ausdruck der »Objektivität der Weltzeit« sei, für das Subjekt als wesentliches Momentum auf. Aus einer spätidealistischen Perspektive heraus sprach der Philosoph John McTaggart (1993) auf der anderen Seite dann wieder von einer nur Scheinbarkeit und Unwirklichkeit der Zeit. Nach seiner Auffassung gibt es zwar absolute Zeit-Bestimmungen, die sogenannte A-Reihe bestehend aus »vergangen, gegenwärtig, zukünftig«, und relative Zeit-Bestimmungen, die sogenannte B-Reihe mit »früher, gleichzeitig, später«. Aber diese Zeitreihen selbst, in denen Veränderungen auftreten, und auch die Veränderungen in der Zeit existieren indes nicht, da sie weder Teil der Ereignisse selbst sind noch eine nachzuweisende zeitliche Relation zwischen ihnen besteht.

Weitet man den Blick geschichtsphilosophisch, so könnte man meinen, dass das christliche Abendland an der zyklischen Zeit orientiert ist: an ihrem Anfang in der Genesis und ihrem Ende mit dem Erscheinen von Jesus Christus. Apokalypse, Jüngstes Gericht, aber auch die Hölle und das Paradies zielen auf die Endlichkeit der Zeit und auf den eschatologisch-messianischen Beginn einer Ewigkeit ab (z. B. Taubes 1947, 2017). So wurde für viele zeitgenössische Theorien neben dem Begriff der »Postmoderne« für Jahrzehnte auch jener der »Posthistoire« relevant, dem Aufhören des zeitlichen Gangs der Geschichte, d. h. dem Ende von Zeit überhaupt und dem Eintritt einer Zeitlosigkeit (s. dazu Pieper 2014). Das gilt auch für Theorien, die den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaften mit dem »entfesselten Neoliberalismus« als dauerhaft und einen damit eingetretenen Stillstand der Zeit beschreiben. Ab der Neuzeit würden sich Aufklärung und Vernunft weniger an der Zeit, sondern eher am Raum orientieren (Rathgeb 2022). Dabei sei in einer prinzipiell unendlichen linearen Zeit für die Vernunft in den Räumen der Welt alles möglich. So könne die Expansion von Wissenschaft, Technik und Naturbeherrschung in alle »Welträume« trotz aller immer wieder auftretenden Abgründe (s. die »Dialektik der Aufklärung«, Horkheimer & Adorno 1988) grundsätzlich niemals gestoppt werden.

Trotzdem wurde die Versöhnung zwischen den Zeitdimensionen der Vergänglichkeit und Endlichkeit sowie der Ewigkeit immer wieder thematisiert. Diese wurden versucht, im »gelungenen und erfüllten Augenblick einzufangen, so z. B. in Goethes »Faust« im Verweilen des »höchsten Glückes«, d. h. der Ruhe nach getaner Arbeit als Verdichtung eines Erfahrungskosmos, oder bei Proust in der sogenannten »wiedergefundenen Zeit« mit der erneut durch-erlebten Erinnerung nach Eröffnung innerer Kontinente durch Triggersignale (in Form des Bisses in eine »Madeleine«). Hier wird der Augenblick als abstrakter Moment gedacht, der alles und nichts sowie die Ewigkeit zugleich umfasst, da er die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des konkreten Lebens aufhebt.

Eine Schwierigkeit hinsichtlich der Zeit bereitet die Vielzahl der in der Literatur benutzen Begriffe, die inhaltlich oft auf unterschiedlichen und teilweise überlappenden Konstrukten beruhen. Deswegen soll zunächst ein grober Ordnungsversuch erfolgen. Hierbei ist es wichtig, auf die Schwierigkeit hinzuweisen, dass alle Begriffe, die im Kontext der Zeit verwendet werden, nicht streng kategorial und definitorisch zu trennen sind, sondern miteinander dimensional, d. h. in einem Kontinuum zusammenhängen. Wir schlagen vor, den Terminus »Zeiterfahrung« als Oberbegriff für den gesamten Zeitverarbeitungsprozess (»time processing«) zu verwenden. Als ein wichtiger Bereich davon abzugrenzen sind die inneren und äußeren Zeittaktgeber mit den zirkadianen und anderen chronobiologischen Rhythmen, die aber kein Gegenstand unserer Betrachtung hier sein werden. Bei der Zeiterfahrung wiederum sollte zwischen Zeitkenntnis, Zeitwahrnehmung und Zeiterleben differenziert werden (→ Tab. 2-1):

Zeitkenntnis meint den Bereich der »Kenntnis der basalen zeitlichen Relationen« – im Sinne von Jaspers’ »Zeitwissen« (1946). Hier geht es um das Wissen von zeitlichem Vorher und Nachher als solchem, das Wissen um die allgemeine Ordnung zeitlicher Abfolgen und der eigenen temporalen Stellung in ihr, also um die Orientierung in den grundsätzlichen zeitlichen Verhältnissen, was vor allem bei hirnorganischen Erkrankungen gestört ist.

Bei der Zeitwahrnehmung geht es um die konkreten Einschätzungen zum objektiv messbaren Zeitverlauf, also etwa um die genaue chronologische Ordnung von Ereignissen nach früher und später, aber auch nach vergangen, gegenwärtig und zukünftig, oder um die Schätzung der Dauer eines Vorgangs bzw. Zeitintervalls (Thönes & Oberfeld 2015, fassen dies als »temporal processing«).

Beim Zeiterleben geht es um die Frage, wie das Vergehen der Zeit subjektiv empfunden wird, also etwa, ob sich die Zeit für einen endlos dehnt, ob sie rast oder stillsteht oder ob sie als belastend oder befreiend erfahren wird, worauf sich dieses Buch vor allem fokussiert.

Das Sich-zu-sich-selbst-zeitlich-Verhalten, das zusammen mit der Zeiterfahrung die Zeitlichkeit einer Person insgesamt abrundet, bedingt dann die innere Fähigkeit des Menschen, sein Leben in der Zeit als Ganzes zu betrachten. Hierdurch kommt letztlich Wertung und Gestimmtheit auf, Färbung und Tönung, z. B. in der Haltung zum Tod, den Umgang mit der erinnerten Vergangenheit oder der Gesamtheit der gegenwärtigen Lebensumstände sowie Hoffnung oder auch Verzweiflung im Hinblick auf die zu erwartende Zukunft. Auf diesen ganzheitlichen Rahmen von Zeitlichkeit im Sich-zu-sich-selbst-zeitlich-Verhalten werden wir immer wieder zurückkommen, auch in Bezug auf den Lebenszyklus, insbesondere des Älterwerdens. Auf den soziokulturellen Kontextbezug werden wir jedoch nur vereinzelt eingehen; er sollte als wichtiger Hintergrund für die Zeiterfahrung des Menschen, insbesondere bei denen mit psychischen Störungen, aber stets mitgeführt werden.

Zeiterfahrung

Zeitkenntnis

Zeitwahrnehmung

Zeiterleben

basal

objektiv

subjektiv

Tab. 2-1: Zeiterfahrung

Die Unterscheidung zwischen Zeitwahrnehmung und Zeiterleben hat sich in der Literatur inzwischen stärker verbreitet (Wearden 2008). Das ist unter anderem deshalb wichtig, weil beim psychopathologischen Befund das subjektive Erleben auch falsch positiv, also als Auffälligkeit der objektiven Zeitwahrnehmung erhoben werden könnte. So muss ein depressiver Patient, der die gegenwärtige oder die vergangene Zeit als verlangsamt erlebt, nicht automatisch die Dauer von Zeitintervallen verändert wahrnehmen, was er im Regelfall auch nicht tut (→ Kap. 2.4). Ähnlich kann es sich bei der »fragmentierten« Zeitwahrnehmung schizophrener Patienten verhalten. Und wenn das Zeiterleben manischer Patienten als beschleunigt beschrieben wird, muss auch das nicht seine objektive Wahrnehmung von Zeit als messbare Folge von Ereignissen und Prozessen berühren. Auf der einen Seite steht hier z. B. die Schnelligkeit der Inhalte, der rasche Wechsel, das Mehr-Erleben in derselben Zeiteinheit, was psychopathologisch als Antriebssteigerung, Ideenflüchtigkeit usw. gewertet wird. Und auf der anderen Seite wird die formale Struktur von Zeitkenntnis und Zeitwahrnehmung nach früher und später, vergangen, gegenwärtig und zukünftig betrachtet, die bei psychopathologischen Zuständen wie der Manie mit Ausnahme der hirnorganischen Störungen unverändert ist. So könnten die Schlussfolgerungen von Psychiatern für die Zeiterfahrung von psychisch Kranken ohne weitere (apparativ gestützte) Empirie eine unvollständige oder inkorrekte Beurteilung ergeben.

In dem Bemühen der philosophischen Literatur über die Zeit spielt die Psyche vor allem im Kontext eines »guten Lebens« eine besondere, sprich methodologisch und heuristisch wichtige Rolle (Steinfath 2020). Dabei wurde die Idee entfaltet, dass wir etwas über den gelingenden Umgang mit der Zeit unseres Lebens vielleicht am besten ex negativo über das Studium pathologischer Fälle erfahren könnten, für die spezifische Formen des »Leidens an der Zeit« als charakteristisch angenommen wurden (Theunissen 1991). Diese aus der phänomenologisch-existenzphilosophischen und negativ-theologischen philosophischen Literatur stammenden Ansatzpunkte sind über Jahrzehnte verfolgt und immer wieder aufgegriffen worden mit dem Versuch, sie auch empirisch nachzuweisen. Dabei wird bezüglich der Psyche oder Seele eine – ausgehend von Spinoza – eher monistische und Welt-immanente Position vertreten: nämlich dass Körper und Geist zwei Seiten einer Medaille darstellen und damit die Unterscheidung von Neurobiologie und Psychotherapie nur als relativ anzusehen ist. So hat jeder psychische Vorgang nach monistischen Vorstellungen ein neuronales Analogon und umgekehrt. Hinterhuber (2012) definiert Seele wie folgt: