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Pollacks Buch "Zeiten der Scham" versammelt Essays und Reportagen eines leidenschaftlichen Kämpfers für Demokratie und offene Gesellschaft. Der Band bietet eine sorgfältige Auswahl von Texten aus den letzten Jahren – packende Reportagen aus osteuropäischen Ländern wie der Ukraine, Belarus oder der Republik Moldau, aber auch Aufrufe zum Widerstand und bewegende Reden gegen das Vergessen des Holocaust. Immer wieder setzt sich Martin Pollack auch mit der schwierigen Geschichte seiner eigenen Familie auseinander. Und in seinen letzten, bereits von Krankheit gezeichneten Jahren hat er sehr persönliche Beobachtungen aus seinem geliebten burgenländischen Garten, Geschichten von Apfelbäumen, Jahreszeiten und allerlei Getier verfasst, die hier erstmals publiziert werden.
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2025
Martin Pollack
Essays und Reportagen
Martin Pollack
Essays und Reportagen
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gerhard Zeillinger
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
www.residenzverlag.at
© 2025 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Gestaltung: Bueronardin
Coverfoto: Archiv Martin Pollack
Lektorat: Jessica Beer
Gesamtherstellung: EuroPB, Tschechische Republik
ISBN 978 3 7017 1806 1
eISBN 978 3 7017 4753 5
Der Verlag dankt für die Unterstützung
(2018)
Europa, präziser gesagt: die Europäische Union, steckt in der Krise, vielleicht der tiefsten und gefährlichsten seit ihrer Gründung. Wir alle sehen das deutlich, mit wachsender Sorge. Wenn ich die jüngsten Entwicklungen Revue passieren lasse, fällt mir wenig ein, was zu Optimismus berechtigen würde. Die Krise ist nicht zu übersehen, sie ist förmlich zu greifen.
Wir beobachten beunruhigt, wie rechtspopulistische und rechtsextreme, manchmal offen faschistische Parteien und Gruppierungen europaweit an Boden gewinnen. Sie machen kein Hehl aus ihrer Ablehnung eines freien, vereinten Europa. Sie arbeiten darauf hin, die liberale Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Unabhängigkeit der Medien und der Gerichte auszuhebeln und die Zivilgesellschaft einzuschüchtern, um sie am Ende zu kastrieren.
Diese Parteien und Gruppierungen breiten sich aus wie giftiges Kraut. Dabei handelt es sich nicht um Neophyten, die von irgendwo angeweht oder eingeschleppt worden wären. Wir haben es überwiegend mit heimischen Gewächsen zu tun, deren Wurzeln weit zurückreichen, Denkmuster und Ideologien, von denen wir meinten, sie seien längst überwunden. Umso mehr wundern wir uns jetzt, dass sie erneut auftauchen und einen fruchtbaren Boden finden, auf dem sie sich ungehemmt ausbreiten können. Und wir stehen da und schauen ratlos zu, wie sie immer weitere Gebiete erobern. Bis jetzt ist es uns jedenfalls nicht gelungen, ein probates Mittel zu finden, um sie aufzuhalten oder zumindest einzudämmen.
Oder sehe ich das zu schwarz, bin ich zu pessimistisch? Habe ich mich von den politischen Entwicklungen der letzten Jahre einschüchtern und ins Bockshorn jagen lassen?
Ich bin in der Regel eher ein Optimist, der die positiven Seiten sieht. Das hat vielleicht mit einem gewissen Selbsterhaltungstrieb zu tun. Ich leide seit Jahren an einer unheilbaren Krankheit, die mir manchmal das Leben schwer macht, aber ich bemühe mich, die negativen Begleitumstände so weit wie möglich zu ignorieren und weiterzuleben wie vorher.
Wäre das vielleicht auch in Hinblick auf die Politik ein Rezept? Augen und Ohren zu und unbeirrt weiter wie bisher?
Das mag verlockend klingen, aber meines Erachtens wäre das keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Kann man denn die Politik so einfach beiseiteschieben, sie ignorieren? „Man entgeht der Politik nicht, auch wenn man sich vor ihr zurückgezogen hat“, schrieb der aus dem altösterreichischen Ostgalizien stammende Autor Manès Sperber in einem kurzen Essay, betitelt „Schmerzliches Gelächter“. Sperber hat sich in seinen späten Jahren redlich bemüht, Abstand zur Politik zu gewinnen, doch er blieb bis zu seinem Tod ein Homo politicus.
Wir entgehen der Politik nicht, auch wenn wir uns noch so viel Mühe geben. Ein totales Abschalten, ein radikaler Rückzug, kann vielleicht im privaten Leben funktionieren, doch im öffentlichen Leben, in der Konfrontation mit der uns umgebenden Wirklichkeit, mit den politischen Ereignissen, Brüchen und Verwerfungen, wie wir sie heute täglich erleben, käme so eine Haltung einem resignativen Sich-Fügen gleich. Wenn wir uns nicht aufgeben wollen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als den widrigen politischen Entwicklungen die Stirn zu bieten, auch auf die Gefahr hin, ausgegrenzt, vielleicht sogar drangsaliert zu werden. Das müssen wir in Kauf nehmen. Wir in den westlichen Demokratien haben einstweilen ohnehin nicht viel zu befürchten, rein gar nichts im Vergleich zu unseren Freundinnen und Freunden in östlichen Ländern, in Ungarn, in Russland und in Belarus, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Doch das kann sich rasch ändern.
Wir müssen uns hüten, in Panik zu verfallen, denn das lähmt unsere Kräfte und erleichtert es unseren Gegnern, uns einzuschüchtern und mundtot zu machen. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir dürfen uns keiner Konfrontation entziehen, auch wenn das noch so bequem erscheinen mag.
Ich lebe seit Jahren die meiste Zeit auf dem Land, im Südburgenland, und schaue aus meiner Bibliothek auf meine Streuobstwiesen und Felder. Ich beobachte von dieser luxuriösen Warte aus, wie sich die Natur im Wechsel der Jahreszeiten verändert, ein Phänomen, das uns in der Stadt kaum auffällt, weil es keine echten Übergänge mehr gibt. Auf dem Land kennen wir die noch, und es erscheint oft sehr verlockend, der Politik den Rücken zu kehren und sich gar nicht um die jüngsten Entwicklungen zu kümmern, keine Nachrichten zu hören und keine Zeitungen zu lesen.
Noch vor wenigen Jahren hätte ich an dieser Stelle vor allem über Osteuropa und über Putins Russland gesprochen, über die fortscheitende Zerstörung der Demokratie in Ungarn und Polen, über die autoritären Regime, die vor unseren Augen in diesen Ländern errichtet werden, über die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, über den von Russland angezettelten, doch stets geleugneten Krieg in der Ukraine; über die grassierende Korruption in vielen osteuropäischen Ländern, deren Regierungen nur lax dagegen ankämpfen; über die menschenverachtende und zynische Politik gegenüber Flüchtlingen und Migranten, die zu pauschalen Feinden stilisiert werden, die es mit allen Mitteln fernzuhalten gilt.
In Polen greift man zu diesem Zweck auf die Romantik zurück, auf das Bild des Landes als ewiger Märtyrer und Bollwerk der Christenheit, das in Europa einsam und fest steht wie ein Fels in der Brandung, berannt von den Wellen der westlichen Unmoral und Dekadenz sowie einer vorgeblichen Islamisierung. Der aufgeheizte Nationalismus und der fundamentalistische Katholizismus bilden ein brisantes Gemisch, das den Rechtsruck noch weiter antreibt.
Diese Entwicklungen in Osteuropa dürfen wir nicht unterschätzen, sie sind virulenter denn je. Doch es erscheint geboten, den Blick auch auf andere Länder zu richten, auf scheinbar gefestigte Demokratien, die ins Wanken geraten. Auch in westlichen Demokratien gewinnen Parteien an Einfluss, die sich zunehmend nach Osten orientieren, nach Wladimir Putin und Viktor Orbán, die sie dabei unterstützen, ihren Einfluss nach Westen auszudehnen. Da werden Allianzen geschmiedet, die darauf abzielen, die EU zu spalten und zu schwächen. Das gefährdet das europäische Friedensprojekt.
Die Brandstifter bilden eine verschworene Gemeinschaft. Noch vor ein paar Jahren galten Politiker wie Viktor Orbán, die eine enge Freundschaft zu Putin pflegen und mit diesem die Verachtung für die liberale Demokratie und die Zivilgesellschaft teilen, als Außenseiter und Maulaufreißer, die im demokratischen Europa keiner wirklich ernst nahm. Das hat sich geändert. Die politischen und moralischen Maßstäbe haben sich so rasant verschoben, dass wir manchmal unseren Augen und Ohren nicht trauen. Längst ist Viktor Orbán in Ungarn drauf und dran, die Demokratie mit ihren wichtigsten Institutionen zu zerstören und nach dem Vorbild Putins ein autoritäres Regime zu errichten. Ohne freie Presse, ohne unabhängige Justiz, mit einer marginalisierten und in ihren Rechten beschnittenen Zivilgesellschaft. Der extreme Nationalismus, verbunden mit Antiziganismus, Antisemitismus und einer kräftigen Portion Europaschelte, soll den Weg zur absoluten Macht ebnen.
Die Konflikte, eifrig geschürt von ultranationalistischen Kräften, spielen vor allem Wladimir Putin in die Hände. Es ist kein Geheimnis, dass der rechte Backlash in Europa von Putin aktiv gefördert wird. Wir in Österreich wissen davon ein Lied zu singen. Es gibt kaum ein anderes Land im (einstweilen noch) demokratischen Europa, wo die Banken so eng mit Russlands Oligarchen verbunden wären und wo eine Außenministerin auf die Idee käme, Wladimir Putin zu ihrer Hochzeit einzuladen, dort mit ihm zu tanzen und nach dem Tanz einen Hofknicks vorzuführen, der eher einem devoten Kniefall gleicht. Eine Schande.
2016 hat die rechtsextreme FPÖ – sie gilt bis heute als treuer Vasall Putins – einen Freundschaftsvertrag mit der Kreml-Partei „Einiges Russland“ geschlossen, eine „Vereinbarung über Zusammenwirken und Kooperation“, was immer das bedeuten mag. Dass dieselbe FPÖ mit ihrem Eintritt in die Regierung im Jahr darauf faktisch alle Sicherheitsbereiche in Österreich, Verteidigungsministerium und Innenministerium samt allen Geheimdiensten, übertragen bekam, erscheint in diesem Licht ziemlich bedenklich.
Auch die Kanzlerpartei ÖVP machte keinen Hehl aus ihrer Nähe zum Kremlchef. Im Jahr 2018 hat sich Bundeskanzler Sebastian Kurz viermal mit Putin getroffen. Die Freundschaft machte sich bezahlt, die Russen waren uns eine willkommene Kundschaft. Weder die Annexion der Krim noch die brutale Unterdrückung der Tataren auf der annektierten Halbinsel schien zu stören. Auch nicht die Tatsache, dass Russland den ukrainischen Autor und Filmregisseur Oleh Senzow wegen der angeblichen Vorbereitung terroristischer Anschläge zu zwanzig Jahren Lagerhaft verurteilt hatte. Ebenso wenig interessierten vom Kreml inszenierte Mordanschläge gegen vorgebliche Verräter oder Hackerangriffe russischer Trolle gegen ganze Staaten. Die Regierung in Wien stellte sich solchen Fakten erst gar nicht. Dass sie damit gegen die europäische Solidarität verstieß, kümmerte wenig. Wichtig waren einzig die guten Beziehungen zum Kreml.
Als ich 2011 die Preisträgerrede in Leipzig hielt, war es unumstritten, dass Westeuropa für den Osten ein Vorbild darstellte, ein Ziel, das damals für die meisten in Osteuropa noch in weiter Ferne lag. Ich wies darauf hin, wie wichtig es wäre, dass sich das westliche Europa gründlicher mit den viel zu lang im Schatten unserer Aufmerksamkeit gelegenen Ländern im Osten beschäftigt, etwa mit der Ukraine oder Belarus, mit ihrer Kultur und Literatur, ihrer Geschichte und der aktuellen Politik. Wie wichtig es wäre, Künstler, Autoren und Intellektuelle aus diesen Ländern einzuladen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ihre Werke kennenzulernen, sie zu übersetzen. Das sind die Voraussetzungen für einen fruchtbaren Dialog auf Augenhöhe.
Damals herrschten, anders als heute, Optimismus und Aufbruchsstimmung. Die Gäste brachten neue Werke und Ideen mit, oft überraschende, für uns ungewohnte Sichtweisen. Dabei war die Atmosphäre immer herzlich. Die Diskussionen waren lebhaft, und beide Seiten haben gleicherweise davon profitiert. Und es war viel von Solidarität die Rede.
Inzwischen haben sich die Verhältnisse geändert. Die amerikanisch-polnische Autorin und Journalistin Anne Applebaum zitiert in ihrem luziden Essay „Vom Aufstieg des autoritären Staates“ den bulgarischen Politologen und Philosophen Ivan Krastev, der eine Abwendung des Ostens vom Westen konstatiert.
Zugleich erleben wir eine Osteuropäisierung Europas, wie es der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecký hellsichtig nennt. Er meint damit unter anderem den wachsenden Einfluss der Putin'schen Propaganda, der es gelungen ist, die Gesellschaften Osteuropas, in zunehmendem Ausmaß aber auch des Westens zu verunsichern und zu demoralisieren. Etwa dadurch, dass der Begriff der Wahrheit in Frage gestellt und versucht wird, eine eigene, alternative, den jeweiligen Bedürfnissen anzupassende Wahrheit zu etablieren. Schwarz muss nicht immer schwarz sein und weiß nicht immer weiß, es kommt auf die Umstände an, schwarz kann auch weiß sein, es gibt keine Gewissheit. Das kennen wir auch aus den USA, wo der Einfluss Putins ebenfalls unheilvolle Spuren hinterließ. Wir brauchen nur an die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten zu denken.
In Sowjetzeiten war die Moskauer Propaganda leicht zu durchschauen, sie kam plump und durchsichtig daher. Die neue Propaganda schleicht auf leisen Sohlen, oft gut getarnt. Sie wird verbreitet von zahllosen Trollen, die auf Befehl Fake-Profile erstellen und Fake-News verbreiten, um Ängste und Unsicherheiten zu schüren.
Daneben existiert allerdings auch noch die alte Propaganda, die plumpe Lüge, die sich allein auf die Autorität des Redners stützt, dem keiner zu widersprechen wagt. Jeder weiß, dass er lügt, und er weiß, dass alle wissen, dass er lügt, und trotzdem lügt er der Öffentlichkeit ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken.
Jarosław Kaczyński, der Chef der rechtspopulistischen polnischen PiS-Partei, nimmt für sich in Anspruch, die Fakten beliebig manipulieren zu können. Er allein bestimmt, was wahr ist. Dafür gibt es in Polen einen Satz, der schon die Kommunisten und ihren Umgang mit der Wahrheit charakterisierte: Fakty są inne? Tym gorzej dla faktów. Die Fakten sind anders? Umso schlimmer für die Fakten.
Alle diese Regime regieren mit Angst, sie schüren Ängste, Zweifel und Unsicherheiten. Ängste vor Flüchtlingen und Homosexuellen, vor Feministinnen und kritischen Intellektuellen, vor unabhängigen Journalisten und Vertretern von NGOs, und generell vor dem Anderen, dem Fremden, der anders aussieht und, Gott möge abhüten!, vielleicht auch noch anders betet. Jedes autoritäre Regime braucht Feindbilder und Sündenböcke, auf die man, wenn es geboten erscheint, einprügeln kann. Das besorgen bei Bedarf staatlich konzessionierte faschistische Schlägerbanden und selbsternannte Milizen, die vorgeben, irgendetwas zu schützen, ein Dorf vor den benachbarten Roma oder die Heimat vor unerwünschten Migranten.
An Krisen mangelt es im heutigen Europa wahrlich nicht. Die Flüchtlingskrise dient den Rechten als unverzichtbarer Motor und Stimmenlieferant, weshalb sie sie ständig am Köcheln halten und dazu benützen, Ängste und Unsicherheiten zu schüren. Die Rechten aller Länder schaffen ein Klima der Angst und Verunsicherung, mit dem sie ihren radikal fremden- und allgemein demokratiefeindlichen Kurs legitimieren. Alle diese Entwicklungen stellen uns vor die alte Frage: Was tun? Was können, was müssen wir tun, um dem rechten Backlash, der Ausbreitung von Nationalismus und Fremdenhass, Hetze gegen Flüchtlinge und Andersdenkende Einhalt zu gebieten?
Darauf weiß auch ich keine Antwort. Ich weiß nur eines: Wir dürfen nicht aufgeben. Wir dürfen uns nicht einschüchtern und dazu verleiten lassen, Selbstzensur zu üben. Selbstzensur ist das schlimmste Gift, das die Gesellschaft von innen heraus erodiert. Wir müssen Widerstand leisten und uns neue Strategien ausdenken.
Auch wenn es keine einfachen Antworten gibt, haben wir ein paar Richtlinien, an die wir uns halten können – sie mögen alt sein und naiv klingen. Nicht zu resignieren. Nicht den Kopf hängen zu lassen. Wir dürfen nicht wegschauen, im Gegenteil, wir müssen genau hinschauen und die Entwicklung scharf im Auge behalten. Wir müssen uns informieren und danach trachten, auch andere zu informieren. Auf welche Weise auch immer. Wir dürfen nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Das ist es nicht! Die Situation ist gefährlich, brandgefährlich sogar. Das dürfen wir nie vergessen, sonst werden wir überrollt und an die Wand gedrückt.
Wir müssen Widerstand leisten, auf allen Ebenen und mit allen Mitteln. Wir müssen schreiben und diskutieren, streiten und versuchen, zu überzeugen. Wir müssen uns zusammenschließen und dürfen, trotz allem, unsere Freunde in Osteuropa, in Polen, Belarus und der Ukraine, in der Slowakei, Russland und in Ungarn, nicht vergessen. Das sind wir ihnen schuldig, auch im eigenen Interesse. Wir müssen Solidarität mit denen üben, die in bereits fest verankerten autoritären Staaten leben, die sie daran hindern, frei ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen. Es geht nicht um Ost oder West, sondern um Europa. Um die liberale Demokratie. Und um alles, was damit verbunden ist.
Die Politik der neuen Rechten verfolgt das Ziel, den Zusammenhalt der Gesellschaften zu zerstören. Dem müssen wir entgegentreten. Wir müssen Solidarität üben, mit Fremden, die unserer Hilfe bedürfen, mit kritischen Journalisten, die in vielen Ländern eingesperrt oder gar ermordet werden, zuletzt auch in der EU, wo der Mord an dem slowakischen Investigativjournalisten Ján Kuciak für Aufsehen sorgte. Das dürfen wir nicht hinnehmen, sonst versinkt Europa in einem Sumpf von Korruption und Gangstertum, wie er in Putins Russland herrscht.
Die Welt hat sich rasant verändert, darauf müssen wir uns einstellen, auch wenn uns das nicht leichtfallen mag. Wir im Westen sind träg geworden, Wohlstand und Sicherheit haben uns verwöhnt und eingelullt. Viele Menschen glauben, die Demokratie sei von Gott gegeben, sie falle wie Manna vom Himmel. Ein fataler Irrtum, wie wir jetzt erkennen. Für die Demokratie müssen wir kämpfen, jeden Tag.
Trotz dem unleugbaren Vormarsch der Rechten ist noch nicht alles verloren. Noch gibt es Hoffnung. Es stimmt, die antidemokratischen Kräfte erleben derzeit einen Aufschwung, der uns überrascht hat. Doch es gibt keinen Grund zur Panik. Wir müssen alles tun, um die Zivilgesellschaft in Europa aufzurüsten und zu stärken. In Polen und der Ukraine hat die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren eine Stärke und Ausdauer bewiesen, die bewundernswert und vorbildlich ist. 2014 hat die ukrainische Bevölkerung mit dem Euromaidan gezeigt, dass sie unter Einsatz ihres Lebens eine bleibende Veränderung herbeizwingen kann. Die dramatischen Ereignisse haben das Denken und Fühlen der Menschen nachhaltig verändert. Das ist nicht mehr ungeschehen zu machen. Und wenn zum Beispiel eine Anti-Rassismus-Demo in Berlin 250000 Menschen auf die Straße bringt, ist das mehr als ein kurz aufleuchtendes Signal. Es beweist, wie wehrhaft die Zivilgesellschaft sein kann. Wie rasch es gelingen kann, Hunderttausende zu mobilisieren, damit sie gegen die offizielle Politik protestieren oder ihre Solidarität mit Opfern des Regimes ausdrücken.
Ein ermutigendes Indiz, dass es neben zahlreichen negativen auch genügend positive Entwicklungen gibt. Wir müssen nur verstehen, sie hinter dem dunklen Vorhang, den der rechte Backlash über Europa breitet, zu erkennen und richtig zu lesen.
(2023)
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat Europa in seinen Grundfesten erschüttert. Alte Ängste und Vorurteile kommen hoch, die wir längst für überwunden hielten. Wir müssen nun erkennen, dass wir sie bloß verdrängt haben, weil uns das bequemer erschien, als uns gründlich mit ihnen und ihren Ursprüngen auseinanderzusetzen. Ein Blick zurück mag schmerzlich sein, doch er kann helfen, manches zu verstehen, womit wir jetzt konfrontiert sind.
Mir kommt dabei eine frühe Reise in den Sinn, die ich 1960 nach Prag unternahm. Ich fuhr mit der Bahn von Linz nach České Budějovice/Budweis, wo ich in den Zug nach Prag umstieg. In diesem Zug kontrollierte eine junge Frau in Uniform, mollig, blond und hübsch, die Fahrkarten. In Österreich waren Frauen als Zugschaffnerinnen zu jener Zeit noch undenkbar.
Der Zug war leer und die junge Frau setzte sich zu mir. Sie sprach nur gebrochen Deutsch und ich kein Tschechisch, trotzdem unterhielten wir uns hervorragend. Wir lachten und schäkerten, und als sie den Zug verließ, gab ich ihr ein paar Bananen und eine Schachtel Zigaretten, die ich, obwohl selber Nichtraucher, für solche Gelegenheiten mitgenommen hatte. Sie bedankte sich mit einem Kuss auf die Wange.
Ich kam mir großartig vor. Ein Bote aus einer schöneren, besseren Welt, der hier, in einem Land, wo alles aus dem Westen bewundert wurde, Gaben verteilte und dafür Dankbarkeit erntete. Erst Jahre später dämmerte mir, dass ich mich benommen hatte wie ein Idiot, wie ein großspuriger Angeber, der sich als Wohltäter aufspielte.
Diese paternalistische Attitüde in Bezug auf die Menschen in Osteuropa, das wir so pauschal wie diffamierend Ostblock nannten, hat sich im Westen jahrzehntelang erhalten, manchmal bis heute, obwohl der sogenannte Ostblock längst verschwunden ist. Begleitet wurde diese überhebliche Sicht von der Überzeugung, die Menschen drüben, hinter dem Eisernen Vorhang, hätten ihre Misere selber verschuldet, denn sie seien nicht bereit, ihre beklagenswerte Situation aus eigenem Antrieb zu ändern. Dass sie zu Opfern der Geschichte geworden waren, auf die sie keinen Einfluss hatten, nahmen wir nur ungern zur Kenntnis.
Auf diese Weise entwickelten wir gegenüber unseren östlichen Nachbarn ein Überlegenheitsgefühl, gepaart mit Verachtung, das die gegenseitigen Beziehungen auf Jahre hinaus vergiftete.
Dass unsere Beziehungen zu den Ländern im Osten historisch schwer belastet sind, wird bis heute gern ausgeblendet. Dabei ist unbestritten, dass Deutsche und Österreicher in diesen Gebieten im 20. Jahrhundert grausam gewütet haben. In keinem anderen Teil Europas wurden ganze Bevölkerungsgruppen so systematisch und brutal entwurzelt und hin und her getrieben, von Osten nach Westen und umgekehrt. Vertreibungen, Deportationen und sogenannte Säuberungen, denen Zehntausende zum Opfer fielen, waren an der Tagesordnung.
Die Tatsache, dass unsere Väter und Großväter zu den Tätern gehörten, verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen, voran den Holocaust, wurde lange verschwiegen oder geleugnet. Nach 1945 setzte eine kollektive Amnesie ein, und unser Land wurde zu einem unrühmlichen Beispiel für einen schlampigen Umgang mit der Vergangenheit, geprägt von Selbstzufriedenheit und Verdrängung. Keiner wollte von den Schandtaten gewusst haben, nicht einmal die Täter selber. Wir haben uns rasch daran gewöhnt, kurz nach einer alle Dimensionen sprengenden Katastrophe wieder in einer angeblich heilen und sicheren Welt zu leben. Ohne Schuldgefühle. Das Rezept war ganz einfach: Es galt, Schweigen über die düstere Vergangenheit zu breiten. Wer gegen dieses Gebot verstieß, wurde als Störenfried diffamiert.
Das fiel umso leichter, als die am schlimmsten heimgesuchten Länder nach Kriegsende hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden. Eine Folge war eine tiefe Entfremdung zwischen den Menschen im Osten und Westen, die bis heute nachwirkt. Es dauerte lange, bis wir damit begannen, die tiefen Gräben zu überwinden. Doch heute stellt sich die Frage, ob das wirklich gelungen ist. Ist es nicht so, dass die ehemaligen Gegensätze nach wie vor existieren und nur kurzfristig übertüncht wurden?
Es ist nicht elegant, sich selber zu zitieren, doch ich will hier eine Ausnahme machen. 2005 habe ich im Vorwort des von mir herausgegebenen Essaybandes „Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland“ geschrieben: „Ignoranz, Unkenntnis, Desinteresse gegenüber allem, was man oberflächlich als ‚den Osten‘ bezeichnet, und dazu eine ordentliche Portion Angst und Misstrauen – dieses Gemisch gab seit jeher den Mörtel für die Mauern ab, hinter denen sich die Menschen gegen die anderen, die dort drüben, die aus dem Osten abgrenzten.“
Das scheint mir noch heute zu gelten. Natürlich hat sich seit damals vieles geändert, Grenzen sind verschwunden oder durchlässiger geworden, Konflikte wurden beigelegt, allerdings oft nur oberflächlich, wie sich jetzt herausstellt. Manchmal hat man den Eindruck, es sei ein schier aussichtsloses Unterfangen, alte Vorurteile und Klischees in Bezug auf die Anderen, die wir als Fremde, häufig als Feinde betrachten, bleibend zu überwinden.
Eine unabdingbare Voraussetzung dafür erscheint mir die Bereitschaft, Unwissen abzubauen und uns kundig zu machen, auch und vor allem in Bezug auf die Länder im östlichen Mitteleuropa, um nicht den heiklen Begriff Osteuropa zu verwenden. Die politischen Entwicklungen, das Erstarken autokratischer Tendenzen bis hin zur Errichtung offener Diktaturen in Russland und Belarus, erweisen sich als ernsthafte Hindernisse auf diesem Weg. Wir müssen uns den Vorwurf machen, uns zu lange in Sicherheit gewiegt und die Augen vor der Realität verschlossen zu haben.
Als ein Beispiel für diese Realitätsverweigerung mag die ungläubige Überraschung gelten, mit der die meisten Menschen im freien Europa, auch Politiker, auf den Angriffskrieg Russlands reagierten. Die Ukraine blieb für viele nach der Ausrufung ihrer Unabhängigkeit 1991 weiterhin eine Terra incognita, von der man kaum etwas wusste und, Hand aufs Herz, noch weniger wissen wollte. Existiert sie überhaupt als unabhängiges Land mit eigener Geschichte, Kultur und Sprache? Diese tiefsitzende Ignoranz gilt noch mehr für Länder wie Belarus oder die Republik Moldau.
Es ist eine tragische Ironie des Schicksals, dass diese Länder erst in unser Blickfeld rücken, wenn sie von schweren Krisen oder gar Kriegen heimgesucht werden. Das zeigt das Beispiel der Ukraine. Putin erklärt unverblümt seine Entschlossenheit, das Land zu vernichten und mit ihm alle Menschen, die nicht bereit sind, sich seinen wahnwitzigen Plänen unterzuordnen. Er spricht der Ukraine jedes Existenzrecht ab und sagt, es gebe das Land mit eigener Identität und Kultur gar nicht, es habe es nie gegeben, die ukrainischen Gebiete seien immer Teil des Russischen Reichs gewesen und müssten wieder in jenes Großrussische Reich zurückgeholt werden, das er wiederzuerrichten verspricht.
Der von Putin vom Zaun gebrochene Krieg, der in Russland nicht einmal so genannt werden darf, hat nicht erst im Februar 2022 begonnen, sondern spätestens 2014, als Putin die Krim annektierte und die Separatisten im Donbas aktiv dabei unterstützte, sich von der Ukraine abzuspalten.
Schon 2005 bezeichnete der Kremlherr in einer Rede den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wobei die Absicht herauszuhören war, in Russland wieder eine totalitäre Ordnung unter seiner unbestrittenen Führung zu errichten. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nur ein logischer Schritt in diese Richtung, denn Putin weiß, dass er die Wiedererrichtung eines Großrussischen Reichs nur erreichen kann, wenn es ihm gelingt, die Gebiete der Ukraine, Heimat der Kiewer Rus, auf die sich das heutige Russland zurückführt, zu erobern und ihrer Selbständigkeit zu berauben.
Also Krieg. Ein Krieg, von dem viele hierzulande anfangs meinten, er gehe uns nichts an, denn er werde anderswo geführt, in einer Welt, die uns völlig fremd erscheint. Wir schauen hin und registrieren mit Schrecken die unerträglichen Bilder von den Opfern und Zerstörungen. Einzig die Tatsache, dass der Krieg scheinbar weit weg ist, vermag uns einigermaßen zu beruhigen. Doch ist der Krieg tatsächlich so fern? Entspricht diese Einschätzung nicht einem Wunschdenken, das die Realität ausblendet? Immerhin liegt das ehemals österreichische Lemberg/L'viv, von den Russen mit Raketen beschossen und bombardiert, näher zu Wien als Bregenz. Dazu setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass sich der Krieg nicht nur gegen die Ukraine richtet, sondern gegen das gesamte freie Europa. Trotzdem mehren sich in unseren Ländern die Stimmen, die die Ukraine auffordern, den Dialog mit dem Aggressor zu suchen und Verhandlungen aufzunehmen. Auch manche österreichischen und deutschen Intellektuellen, die sich bisher kaum mit der Ukraine beschäftigt haben, fühlen sich mit einem Mal berufen, die überfallene Ukraine aus sicherer Entfernung aufzufordern, Verhandlungen mit dem Aggressor zu suchen, auch wenn das mit Kompromissen verbunden sein mag, die unweigerlich Gebietsverluste bis hin zum Verlust der Unabhängigkeit mit sich bringen würden.
Die Geschichte wiederholt sich nie eins zu eins, doch es erscheint legitim, an dieser Stelle an die maßlosen Forderungen Hitlerdeutschlands zu erinnern. Auch damals meinten anfangs viele, man müsse dem Aggressor entgegenkommen, wenn nötig durch großzügige Kompromisse auf Kosten Schwächerer. Appeasement lautete das Gebot der Stunde, wohin das führte, wissen wir.
Es fällt nicht leicht, zu akzeptieren, dass bis vor kurzem wieder so viele Entscheidungsträger einem Diktator wie Putin gläubig an den Lippen hingen. Dass sie willig alle seine Lügen schluckten, obwohl er sich wenig Mühe gab, seine wahren Absichten zu verbergen. Steckt da simple Naivität dahinter, Ignoranz, Realitätsverweigerung oder einfach blanke Gier? Mit Diktatoren lassen sich erfahrungsgemäß gute Geschäfte machen. Wir erinnern uns an Schweizer Banken, die bedenkenlos Nazigold aufkauften, während die Nationalsozialisten in den von ihnen besetzten Ländern die Juden beraubten und ermordeten. Es dauerte lange, bis diese schändliche Haltung ans Tageslicht kam. Vergessen und Verdrängen begleiten die Geschichte von Kriegen.
Die Massenmorde im Zweiten Weltkrieg fanden überwiegend in fernen Regionen statt, im besetzten Polen, in Belarus, den baltischen Ländern, in Russland und den Gebieten der heutigen Ukraine. Das machte es scheinbar leichter, die schrecklichsten Taten zu ignorieren.
Wie ist es um die Frage der Schuld bestellt? Ist es überhaupt legitim, diese Frage zu stellen? Die Vergangenheit lehrt uns, dass wir uns dabei auf einem Minenfeld bewegen. Aus Tätern werden oft später Opfer und umgekehrt. Und doch erscheint es unerlässlich, die Verhältnisse eindeutig zu benennen. In einem Gespräch mit der amerikanischen Historikerin und Ukraine-Expertin Marci Shore sagte der ukrainische Schriftsteller Wolodymyr Rafejenko mit Blick auf die Weigerung vieler westlicher Beobachter, die alleinige Schuld Russlands am Krieg anzuerkennen: „Es ist nicht mehr möglich, den Kopf in den Sand zu stecken. Wenn du die russischen Gräueltaten nicht siehst, wenn du Russland nicht als anthropologische Katastrophe wahrnimmst, dann weigerst du dich bewusst, dies zu tun. Auf diese Weise trennen sich auch Gut und Böse.“
Natürlich scheint es Gründe für ein Zögern zu geben, einen Angreifer von Anfang an als solchen zu benennen und die Angegriffenen vorbehaltlos zu unterstützen. Diese Gründe sind in der Regel in der Geschichte zu suchen. Um beim Beispiel der Ukraine zu bleiben: Die zaudernde Haltung Deutschlands der malträtierten Ukraine gegenüber wird von vielen mit einem Schuldkomplex Deutschlands gegenüber Russland erklärt, mit dem Terror Nazideutschlands, der Millionen russischer Opfer forderte.
Dieser Schuldkomplex mag berechtigt erscheinen, denn Russland hat im Zweiten Weltkrieg tatsächlich einen hohen Blutzoll entrichtet, höher als andere Länder. Allerdings wird dabei übersehen (und von Seiten Russlands mit voller Absicht geleugnet), dass es gerade die Gebiete der heutigen Ukraine waren, ethnische Ukrainer, die die Hauptlast des deutschen Terrors zu tragen hatten. Die Kriegshandlungen erfassten die gesamten ukrainischen Gebiete und machten die ukrainische Bevölkerung zu Opfern, während das riesige Russland allein schon aufgrund der geografischen Verhältnisse weniger betroffen war. Auch unter den Soldaten der Roten Armee fanden sich zahlreiche ethnische Ukrainer.
Ich will keineswegs die russischen Opfer schmälern, doch das offizielle russische Narrativ, in Zeiten des Krieges zur heiligen Wahrheit erhoben, wonach die Russen im „Großen Vaterländischen Krieg“ heroisch kämpften und die meisten Toten zu beklagen hatten, während die Ukrainer mehrheitlich mit Hitler kollaborierten, hält einer historischen Überprüfung nicht stand. Da hilft auch die offizielle russische Darstellung nichts, wonach der Überfall auf die Ukraine unausweichlich war, weil das Land angeblich „denazifiziert“ werden muss, was immer das bedeuten mag.
Die Geschichte wird heute vielerorts gerne neu geschrieben, ganz nach den Forderungen und dem Gutdünken der jeweiligen Machthaber, die sie als willkommenes Instrument betrachten, um ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Das ist auch in Russland der Fall, wo sich Putin zum obersten Geschichtslehrer aufschwingt, auch um seine Überzeugung durchzusetzen, die Ukraine sei historisch ein Teil Russlands. Eine andere, von der offiziellen Geschichtsschreibung zur allein gültigen Wahrheit erhobene Behauptung lautet, die Russen seien stets Helden oder Opfer gewesen, niemals jedoch hätten sie Schuld auf sich geladen.
Diese Instrumentalisierung der Geschichte ist auch anderswo anzutreffen, etwa in Polen, wo die Regierenden, ähnlich wie in Russland, mit allen Mitteln die These festschreiben wollen, wonach Polen historisch immer und ausnahmslos Helden oder Opfer waren, niemals jedoch Täter. Es sind nicht nur jüdisch-polnische Historiker, die dem vehement widersprechen und immer neue Beweise dafür vorlegen, dass sich viele Polen während des Zweiten Weltkriegs (und unmittelbar danach) an der Vernichtung der Juden beteiligt hatten.
Auf diese Weise können historische Wunden nie verheilen, es besteht vielmehr die Gefahr, dass sie von neuem aufbrechen und blutige Auseinandersetzungen nach sich ziehen. Um das zu vermeiden, erscheint es geboten, die Verbrechen und Schandtaten der Vergangenheit schonungslos zu erforschen und offenzulegen, um zu einer Verständigung mit den Nachkommen der einstigen Opfer zu gelangen. Eine andere Möglichkeit gibt es meines Erachtens nicht. Verschweigen und Verdrängen sind kein gangbarer Ausweg.
Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2022, Serhij Zhadan, hat in einem Interview erklärt, ein Dialog zwischen der Ukraine und Russland sei undenkbar, „solange die russische Gesellschaft nicht die kollektive Verantwortung für alles übernimmt, was sie in der Ukraine getan haben“.
Der renommierte ukrainische Historiker Andrij Portnow stellt fest, dass Russland eine „Schuldkultur“ brauche, das heißt, die Verantwortlichen müssten sich offen mit den Verbrechen der Vergangenheit und Gegenwart auseinandersetzen. Das gilt in erster Linie für die nachhaltig beschädigten, vielleicht irreparablen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine.
Ob sich diese Erkenntnis in Putins Russland durchzusetzen vermag, erscheint fraglich. Doch aus eigener Erfahrung wissen wir, dass daran kein Weg vorbeiführt. Es hilft in solchen Fällen nicht, tatenlos mit den Achseln zu zucken. Was geht das uns an? Wir müssen uns eingestehen, dass wir mit unserer unkritischen, ja oft devoten Haltung gegenüber dem Diktator im Kreml diesen ermutigten, seine mörderischen Allmachtsfantasien in die Tat umzusetzen, und ihn zu dem machten, was er heute ist: ein blindwütiger, machtbesessener Kriegsverbrecher.
Es ist unser aller Pflicht, ihm endlich Einhalt zu gebieten, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, sonst machen wir uns mitschuldig und werden am Ende selber zu Opfern.
(2009)
Wenn ich in Berlin bin, wo so vieles an die Teilung erinnert, denke ich oft zurück an meine Kindheit in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren, die ich ebenfalls in einer geteilten Stadt verbrachte, und zwar in Linz an der Donau.
Meine Heimatstadt Linz wurde von den Alliierten nach ihrem Sieg über Hitlerdeutschland (dem Österreich unter dem Jubel der Mehrheit der Bevölkerung im März 1938 „angeschlossen“ wurde) in zwei Besatzungszonen geteilt: Nördlich der Donau war die russische, südlich die amerikanische Zone. Die sogenannte Demarkationslinie verlief in der Mitte des Stromes. Auf der nach Vorstellungen Adolf Hitlers erbauten Donaubrücke, Nibelungenbrücke genannt, standen jetzt, anstelle der von den Nazis vorgesehenen monumentalen Reitergestalten von Siegfried und Kriemhild, die Kontrollposten der Amerikaner und Russen, die man in den ersten Nachkriegsjahren nur mit Bangen passierte, wie ich aus den Erzählungen älterer Menschen weiß.
Damals war die andere Seite Europas ganz nah. Sie war nicht fremd, wie in den späteren Jahren, sie war nicht anders, denn drüben wohnten Freunde und Verwandte, wie mein Onkel Egon und Tante Marianne, beide rundliche, gemütliche, lustige Leute, Tante Marianne buk obendrein herrliche Mehlspeisen.
Doch bei aller Nähe war die andere Seite zugleich unheimlich, bedrohlich sogar. Die Zonengrenze, die damals durch unser Land schnitt, galt, nicht ohne Grund, als gefährlich, für viele Menschen wurde sie zu einem Symbol für Misstrauen und Angst.
Wir fuhren nur hinüber auf die andere Seite, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Die leben drüben, hinter dem Eisernen Vorhang, sagten wir von Onkel Egon, Tante Marianne und anderen, die über der Donau wohnten, im russisch verwalteten Teil von Linz, im Osten, und in diesen Worten schwangen Mitgefühl und Bedauern mit, schließlich konnten sie nichts für ihr Schicksal, doch wir, die wir uns diesseits befanden, in der westlichen, amerikanischen Zone, waren eindeutig besser dran. Wir waren vom Schicksal begünstigt.
Die drüben betrachteten wir als die armen Verwandten.
Die armen Verwandten.
Diese Einstellung, ein Überlegenheitsgefühl, begleitet von Mitleid, das jedoch leicht in Unduldsamkeit, ja Ablehnung umschlagen kann, übertrugen wir später auf unsere Nachbarländer und ihre Bewohner, die nach 1945 dem stalinistischen Imperium zufielen, nicht aus eigener Schuld, sondern als Folge historischer Ereignisse, denen sie wehrlos ausgeliefert waren, zuletzt der Konferenz von Jalta im Februar 1945.
Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn und Kroaten, alle Nachbarn, die nach 1945 auf der anderen, unfreien Seite landeten, betrachteten wir, bestenfalls, als arme Verwandte, die unser Mitgefühl verdienten, allerdings aus der Distanz. Wie bei armen Verwandten üblich, tendierten wir auch dazu, sie zu demütigen, wenn sich die Gelegenheit bot, und sie von oben herab zu behandeln. Schließlich waren wir die Erfolgreichen, die Wohlhabenden, die von ihnen Beneideten, wir waren etwas Besseres. Unsere war die schönere, buntere Seite Europas.
Mit der Zeit keimte der Verdacht auf, dass die Nachbarn möglicherweise nicht ohne eigenes Zutun in ihre missliche Lage geraten waren. Vielleicht hatten sie sich ihr Schicksal, zumindest teilweise, selber eingebrockt? Immerhin hatten wir, oder eher unsere Eltern, es auch geschafft, uns von ganz unten, aus Ruinen, Trümmern und Elend, erneut emporzuarbeiten zum Wohlstand. Es musste doch einen Grund geben dafür, dass sie das nicht zustande gebracht hatten. Waren sie vielleicht weniger ordentlich, weniger fleißig als wir?
Solche Vorurteile gegenüber den Menschen in Ostmitteleuropa, Vorurteile, die sich historisch weit zurückverfolgen lassen, waren besonders häufig in der Generation anzutreffen, die aktiv am Krieg teilgenommen hatte, der im Osten ungleich verlustreicher geführt wurde als im Westen. Auch spätere Generationen, wir und unsere Kinder, übernahmen diese abschätzigen Klischees mit einer Leichtfertigkeit, für die wir uns heute schämen müssen. Bei den Menschen, die den Eroberungskrieg Hitlers mitgemacht hatten, kam darin wohl auch eine gewisse Genugtuung, ja Schadenfreude zum Ausdruck. Das war die Rache der Besiegten an den Siegern, die sich nur wenige Jahre nach Beendigung des Krieges als die wahren Verlierer erwiesen – politisch ebenso wie wirtschaftlich.
Ich habe noch im Ohr, wie meine Großmutter, eine überzeugte Nationalsozialistin bis zum letzten Atemzug, jedes Mal reagierte, wenn die Rede auf die materielle Not und Unfreiheit der tschechischen Nachbarn kam: Geschieht ihnen ganz recht, warum haben sie auch unsere arme SS in Prag an den Füßen aufgehängt.
Unsere arme SS.
Dass ihr Sohn, mein Vater, sich als leitender Angehöriger der SS und Gestapo an Kriegsverbrechen in Ostmitteleuropa beteiligt hatte, in Polen und in der Slowakei, wollte die Großmutter nicht wahrhaben. Davon wollte sie nichts wissen.
Meine Großmutter schenkte mir so viel Liebe, so viel Geborgenheit, wie man sich als Kind nur wünschen kann, gleichzeitig war sie eine harte, verbohrte, unbelehrbare Frau, voller Hass und Verachtung gegenüber „denen im Osten“, wie sie das pauschal ausdrückte. Diese Gefühle versuchte sie auch mir, dem grenzenlos geliebten Enkel, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln einzuimpfen.
So wie ich wurden viele meiner Generation erzogen. In Österreich, vermutlich auch in Deutschland.
Unser Verhältnis zur anderen Seite Europas wurde lange Zeit belastet durch die Geschichte, voran die nationalsozialistischen Verbrechen in Osteuropa. Es brauchte einige Zeit, bis wir begriffen, dass der Weg zur Verständigung mit den Nachbarn nur über eine schonungslose Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der eigenen Vergangenheit führen kann, schonungslos uns selber, aber auch unseren Vätern und Großvätern gegenüber. Und in meinem individuellen Fall schonungslos der geliebten Großmutter gegenüber, die in der Familie die Rolle des uneinsichtigen Ideologen einnahm. Natürlich war das oft schmerzhaft.
Wichtig bei der notwendigen Beschäftigung mit der Vergangenheit ist es, nie der Versuchung zu erliegen, von uns verübtes Unrecht gegen von uns erlittenes aufzurechnen, Konzentrationslager gegen Vertreibungen, Massenexekutionen gegen Brandbomben. Solche Rechnungen, das haben wir gelernt, können nicht aufgehen, sie tragen höchstens dazu bei, die Aussöhnung mit den Anderen zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen.
Das heißt nicht, dass wir nicht über das von uns erlittene Unrecht sprechen und schreiben dürfen. Das ist unerlässlich. Aber aufrechnen dürfen wir nicht.
Was die düstere Vergangenheit angeht, haben wir große Fortschritte gemacht. Wir sind den Nachbarn ein großes Stück nähergekommen und haben gelernt, offen mit ihnen zu reden. Die Geschichte nach 1945 hat gezeigt, dass Europa bereit ist, sich den Wirrungen der eigenen Vergangenheit zu stellen und die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Und sie hat bewiesen, dass die Länder der anderen Seite Europas imstande sind, sich aus eigenen Kräften von der Bevormundung durch die Sowjetunion zu befreien.
Dieser Prozess ist schneller gekommen, als selbst die größten Optimisten zu hoffen wagten. Die Erweiterung des europäischen Einigungsprozesses nach Osten um jene Länder, die als Folge des Zweiten Weltkriegs unter den erstickenden Einfluss des stalinistischen Imperiums gerieten, ist ein Erfolg der europäischen Politik, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Umso schmerzlicher empfinden wir es, dass der Schwung dieses Prozesses in den letzten Jahren merklich nachgelassen hat.
Wo vorher die mitreißende Überzeugung war, sitzen jetzt nagende Zweifel. Nationale Egoismen machen sich breit, kleinkariertes, engherziges Denken. In manchen Ländern, nicht nur, aber auch in Ostmitteleuropa, erhalten minderheitenfeindliche Nationalismen Auftrieb, die manchen im Westen einen Vorwand liefern, erneut abzurücken vom Osten, der plötzlich wieder unberechenbar und bedrohlich erscheint.
Es braucht viel Mühe und noch mehr Geduld, um bestehende Vorurteile abzubauen, um Ängste zu überwinden, um mit den Nachbarn wirklich ins Gespräch zu kommen, nicht anlässlich sorgfältig vorbereiteter Gedenkfeiern, bei denen schöne Reden geschwungen werden, sondern im Alltag.
Die politischen Ereignisse, so scheint es, haben in vielen Fällen das Denken der Menschen überholt, haben es hinter sich gelassen. In den Köpfen der Menschen finden Öffnungen und Erweiterungen scheinbar langsamer statt als in der Realpolitik, werden Grenzen, Mauern und Ängste langsamer abgebaut. Die Vorurteile und die Gleichgültigkeit gegenüber den Nachbarn, die sich gestern noch auf der anderen Seite befanden, sind manchmal schwerer zu überwinden als die trägsten politischen Systeme.
Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der die Grenze zum anderen Europa ganz nah war, am anderen Ufer von Enns und Donau, der beiden oberösterreichischen Flüsse, die meine kindliche Welt begrenzten. Heute ist diese Grenze weit nach Osten gerückt – aber sie existiert noch. Immer noch gibt es Länder und Völker in Europa, die scheinbar nicht dazugehören, die außerhalb liegen, auf der anderen Seite, hinter einer neuen, virtuellen, jedoch scharf bewachten Mauer, die durch unseren Kontinent schneidet.
Ich denke dabei an die Ukraine. An die wunderbaren ukrainischen Autoren, die wir seit ein paar Jahren – beschämend spät – entdecken, an Jurij Andruchowytsch, Oksana Zabuzhko, Andrej Kurkow, Jurko und Taras Prochasko, Serhij Zhadan, Natalka Snyadanko … jedes Jahr tauchen neue Namen auf, werden neue Titel übersetzt, und wir reiben uns verwundert die Augen und fragen uns, warum wir dieses Land, diese Literatur, diese Menschen so lang ignoriert haben?
An ihnen lag das nicht. Sie gehörten schon immer zu Europa.
Ich denke dabei an Belarus, dieses nahe und doch so ferne und fremde Land. Manchmal hat es den Anschein, als würde ein Mantel des Schweigens über dieses Land gebreitet, nicht nur vom dortigen Machthaber, dem „letzten Diktator Europas“, sondern auch von unserer Seite.
Aber vielleicht wird die neue Mauer, die Europa teilt, nicht lang Bestand haben. Das wünsche ich uns und vor allem unseren ukrainischen und belarussischen Freundinnen und Freunden.
(2012)
Ich lebe in einer Grenzregion. Im Südburgenland. Von meinem am Rand der kleinen Ortschaft Bocksdorf gelegenen Haus erreiche ich mit dem Auto in weniger als einer Stunde die Grenze nach Ungarn oder Slowenien, das kann ich mir aussuchen. Wenn ich einen Mäusebussard über meinen Streuobstwiesen kreisen sehe, denke ich manchmal, der ist vielleicht aus Ungarn gekommen. Ein gefiederter Grenzgänger oder besser: -flieger. Allein der Gedanke daran macht mich froh. Die Grenznähe empfinde ich als Vorteil, beinahe als Luxus, obwohl ich weiß, dass manche, vielleicht sogar viele, diese Nähe eher als Bedrohung empfinden.
Vor kurzem fuhr ich wieder an der ungarischen Grenze entlang. Die Dörfer lagen friedlich in der Aprilsonne: Inzenhof, Großmürbisch, Deutsch-Bieling, Moschendorf, Gaas, Eberau, Deutsch Schützen … Einige Orte haben Reste ihres pannonischen Charakters bewahrt, weiß gekalkte, ebenerdige Häuser, die schmale Stirnfront zur Straße gewandt, hier und da noch ein Anger, doch überall haben die Jahre des Wohlstands und einer missverstandenen Modernisierung sichtbare Spuren hinterlassen.
In Großmürbisch war eine hagere alte Frau, gekleidet in Schwarz, damit beschäftigt, in ihrem Küchengarten Salatpflanzen zu setzen. Nach Ungarn sind es von hier nur ein paar Kilometer. Als ich sie nach Kontakten zu ungarischen Nachbarn fragte, wischte sie die erdigen Hände an der Schürze ab, dann schüttelte sie den Kopf. Ungarische Nachbarn? Mit denen hat sie nichts zu schaffen, früher hatte sie drüben Verwandtschaft, die hat sie nur selten gesehen, wegen der Grenze. Jetzt gibt es keine Grenze mehr, sagen die Leute, aber für sie macht das keinen Unterschied, sie fährt nie hinüber. Von drüben kommt nichts Gutes, nur schlechte Menschen, so schreibt die Zeitung, angst und bang wird ihr oft, wenn sie liest, was so alles passiert. Ähnliches bekam ich in anderen Ortschaften zu hören, in Deutsch Bieling, in Eberau, in Deutsch Schützen, und nicht nur von alten Leuten. Da wird viel von Europa und Nachbarschaft geredet, aber um unsere Ängste kümmert sich keiner, sagte eine junge Frau in Moschendorf, die einen Kinderwagen vor sich herschob. Manchmal wünsche sie sich die Grenzkontrollen wieder zurück.
Sind das ihre eigenen Gedanken oder redet sie bloß nach, was manche Zeitungen schreiben und Politiker einer einschlägigen Partei wie ein Mantra wiederholen? Natürlich ist diese von Bangigkeit und Vorurteilen getränkte Stimmung nicht nur im Südburgenland anzutreffen, sondern überall in Österreich. Ablehnung und Misstrauen gegenüber allem, was von drüben kommt – und drüben bedeutet in diesem Zusammenhang im weitest vorstellbaren Sinn: aus dem Osten.
Schon als vor über zwanzig Jahren die Grenzen aufgingen, war viel von Gefahren die Rede, die eine Öffnung nach Osten mit sich bringe. In manchen Zeitungen wurden riesige Wellen von Arbeitsuchenden aus den wirtschaftlich desolaten postkommunistischen Ländern angekündigt, aus Polen, aus der zerfallenden Sowjetunion, vom Balkan herauf, die den saturierten Westen, Österreich voran, zu überrollen drohten. Ströme unerwünschter Ausländer, die unser Land überschwemmen und plündern, organisierte kriminelle Banden aus dem Osten, denen die Exekutive hilflos gegenübersteht. „Wien: Eine Stadt wird ausgeplündert“, titelte vor einiger Zeit eine überregionale Tageszeitung, die bekannt ist für ihre seriöse und ruhige, um nicht zu sagen langweilige Berichterstattung. Schreckensbilder von wilden Scharen, die über die weit offen stehenden Grenzen zu uns strömen und uns die Arbeitsplätze streitig machen, wurden an die Wand gemalt. Jetzt ist es die Finanzkrise, die auch die Länder in der ärmeren Hälfte Europas getroffen hat und damit neue Ängste weckt. Der soziale Frieden in manchen Ländern Osteuropas scheint gefährdet, schon wird von drohenden Unruhen berichtet. Dazu kommen faule Ostkredite, die unser Land in den Abgrund reißen könnten, wie kürzlich ein prominenter amerikanischer Wirtschaftsforscher warnte.
Diese von Katastrophisten beschworenen Ängste und Befürchtungen von Überfremdung und Unsicherheit sind so alt wie das christliche Europa. Schon immer hat man in unseren Breiten voll Bangen nach Osten gespäht und gelauscht, ob die Erde unter den zahllosen Hufen der Hunnen, der Vandalen, der Türken, der Tataren oder auch der Roten Kosaken zittert und dröhnt. Allesamt raubgierige Horden, die auf flinken Pferden wie eine verheerende Flut über die Grenze brechen und sengend und brennend, Angst und Schrecken verbreitend durch die Lande ziehen. Diese Urangst scheint vielen Menschen, wenn auch unbewusst, noch heute in den Knochen zu sitzen.
Wie sonst soll man sich erklären, dass es in unseren Gebieten, die früher zur ungarischen Reichshälfte der Doppelmonarchie gehörten, so schwierig ist, die Grenzen zu überwinden. Nicht die realen Grenzen, die spielen keine Rolle mehr, nein, die Grenzen in den Köpfen. Während der gefürchtete Eiserne Vorhang mit seinen Stacheldrahtverhauen und anderen Hindernissen längst auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet ist, scheinen die Grenzen in den Köpfen nach wie vor zu existieren. Zwischen dem Südburgenland, wo ich lebe, und den angrenzenden ungarischen und slowenischen Regionen gibt es jedenfalls keinen regen Austausch, die Gebiete wachsen nicht zusammen, obwohl sie historisch miteinander verbunden sind. Aber die historischen Fäden, die uns mit drüben verbanden, wurden vor langer Zeit abgeschnitten, neue werden nur zögerlich geknüpft. Wenn in diesen Tagen alte Straßen, die bis 1989 gesperrt waren, wieder geöffnet werden sollen, regen sich auf österreichischer Seite regelmäßig Widerstände und Proteste: Von so viel Öffnung wollen viele Grenzbewohner lieber nichts wissen.
Längst sind es nicht mehr ausschließlich rechte Politiker und die Blätter des Boulevards, die sich aus dieser Horrorkiste bedienen. Einst verpönte rechte Parolen werden inzwischen von Politikern fast aller Lager scheinbar bedenkenlos verwendet und sind Teil des Mainstream-Diskurses. Diese Entwicklung ist kein österreichisches Phänomen, sie ist auch anderswo zu beobachten, in Deutschland ebenso wie in Italien oder Frankreich, in Holland wie in Dänemark. Aber was die Sorgen und Ängste angeht, sind wir wohl ein besonders furchtsamer Menschenschlag. Diese diffusen Ängste sind der Boden, auf dem die Skepsis gegenüber Europa wuchert. Dabei kann niemand bestreiten, dass Österreich vom vereinten Europa viel profitiert hat, nicht zuletzt wirtschaftlich.
Als ich so die Grenze entlangfuhr, dachte ich an die Ereignisse im Jahr 1989 zurück. An das Treffen der Außenminister Ungarns und Österreichs, die gemeinsam mit großen Scheren den Stacheldraht durchschnitten. (Dass der befestigte Zaun entlang der Grenze damals eigentlich nicht mehr existierte, änderte nichts am so symbolträchtigen wie medienwirksamen Charakter der Aktion.) Ich erinnerte mich an eigene Erlebnisse, in Warschau, Bratislava und Prag. In Prag hatte ich im April 1989 an einer Hauswand eine mit schwarzer Farbe hingemalte Aufschrift gesehen, die ich in mein Notizbuch schrieb: Naše sny jsou vaše nocne můry. Unsere Träume sind eure Alpträume. Natürlich war das an die kommunistischen Politiker gerichtet, die nun vom Sturm der Zeit hinweggefegt wurden. Aber schon damals kam mir in den Sinn, dass dieser Satz auch das Verhältnis der Bewohner der ehemals kommunistischen Länder zu uns, den Bewohnern der wohlhabenden Hälfte Europas, charakterisierte. Die Träume der meisten Bürgerinnen und Bürger dieser Länder, endlich frei und ungehindert in den sogenannten Westen reisen zu können, bereiteten vielen Menschen hierzulande Alpträume.
An unseren Grenzen treffen verschiedene Kulturen und Sprachen aufeinander, die einander überlappen und wechselseitig beeinflussen. Das hat in der Geschichte spannende Ergebnisse hervorgebracht, von denen wir heute noch profitieren. In dieser Hinsicht sind Grenzlandschaften in der Regel reicher, jedenfalls vielfältiger als andere, die im Inneren eines Landes liegen. Das trifft auch aufs grenznahe Burgenland zu. Wäre es nicht an der Zeit, die Grenze, den gemeinsamen Grenzraum endlich anders zu begreifen? Als Ort der Begegnung. Des gegenseitigen Kennenlernens. Des gegenseitigen Verstehens.
Diese Chance sollten wir nützen und uns bemühen, möglichst viel daraus zu machen. Da haben wir ein Pfund, mit dem es zu wuchern gilt. Wichtig dabei ist es, dem Anderen, der unser Nachbar ist, möglichst offen zu begegnen, mit freundlicher Neugierde und offenen Armen, ohne Misstrauen und Arg – und unbedingt auf Augenhöhe. Das macht es auch leichter, die alten, tief in unserem Inneren sitzenden Ängste zu überwinden.
(2012)
Der Mann ist auffallend klein und hager, der vorspringende Haken seiner Nase verleiht ihm das Aussehen eines fremdartigen Vogels. Als er mich erblickt, lächelt er verlegen, wobei er für einen Augenblick ein paar silberne Zähne entblößt. Seine Begleiterin ist gut einen Kopf größer als er und stämmig. Die beiden stehen vor der Eingangstreppe zum Hotel Europa und mustern mich unsicher, als erwarteten sie jemand, dessen äußeres Erscheinungsbild sie nicht kennen. Ich bin mir sicher, das ungleiche Paar noch nie gesehen zu haben. Auf den ersten Blick sind sie ungefähr gleich alt, Ende fünfzig, Anfang sechzig, vieles deutet auf Dorfleute hin, die nicht oft in die Stadt kommen: die abgewetzte, ärmliche Kleidung, das grobe Schuhwerk, die neugierigen Blicke, die sie den vorübereilenden Passanten zuwerfen. Beide haben große, sonnengebräunte Hände, die auf harte Arbeit unter freiem Himmel schließen lassen. Als ich mich zum Gehen wende, macht der Mann einen Schritt auf mich zu und streckt mir die geöffnete rechte Handfläche entgegen, als wolle er mich aufhalten.
Ich bleibe stehen.
Er sagt etwas auf Rumänisch. Ich schüttle den Kopf.
Er versucht es mit Russisch. Woher ich komme? Ich antworte stockend, er blickt mich verständnislos an. Austria scheint in seiner Welt nicht vorzukommen.
Sie reicht ihm eine braune Kunstledertasche, der er eine Broschüre entnimmt. Ein dünnes, abgegriffenes Heft mit einem frommen Bild auf dem Umschlag. Er öffnet das Druckwerk. Auf der ersten Seite stehen Ländernamen, in alphabetischer Ordnung, er zeigt mit einem braunen Finger auf Anglia. Ich nicke, um die Sache nicht unnötig in die Länge zu ziehen, was ihm ein zufriedenes Lächeln entlockt, er scheint froh, dass die Verständigung mit dem Fremden so gut funktioniert. Nachdem er kurz in der Broschüre geblättert hat, reicht er sie mir.
Please read this text aloud to the person who gave you the brochure, God bless you!, steht oben auf der Seite in fetten Lettern. Ich schaue die beiden fragend an, sie nicken mir aufmunternd zu. Also beginne ich laut zu lesen. Der Text handelt von der Sündhaftigkeit der Welt, von der Suche nach Gott, dessen Name Jehova ist, und vom Glück, ihn zu finden. Das Paar steht andächtig lauschend vor mir. Ich glaube nicht, dass sie ein Wort verstehen.
Thank you! Now please hand back the brochure to the person who gave it to you!, heißt es am Ende des Textes, abermals in Fettschrift. Ich tue wie geheißen. Er nimmt das Heft feierlich entgegen, verstaut es in der Tasche, beide verneigen sich und sagen etwas, was ich für einen Dank nehme. Darauf wenden sie sich einem in der Nähe stehenden jungen Mann zu. Mit ihm gibt es keine Verständigungsprobleme, er darf die überreichte Broschüre behalten, ohne daraus vorlesen zu müssen. Rumänische Exemplare haben die Zeugen Jehovas anscheinend genügend dabei. Der Beschenkte betrachtet ratlos die Gabe.
An einer Säule vor dem Hotel klebt ein buntes Plakat. Es zeigt ein UFO, von dem eine kreiselnde Wolke auf die Erde herabsinkt, aus der bizarre Urtiere kriechen, gefolgt von einem Fisch, einer Schildkröte, einem Zebra, einem Löwen, am Ende zwei Menschen, Mann und Frau. Adam und Eva? Das Bild soll vermutlich erklären, wie das Leben auf die Erde kam und sich hier weiterentwickelte. Nach dieser Darstellung wurde es offenbar von Außerirdischen in einem Raumschiff gebracht. Das Plakat lädt ein zu einer in zwei Wochen stattfindenden Konferenz über die exterrestrische Herkunft des irdischen Lebens im Hotel Europa. Als Veranstalter zeichnet eine Rael-Bewegung, die als Symbol einen Davidstern verwendet, der ausgerechnet ein Hakenkreuz umschließt.
Dubiose Sekten, obskurantistische Organisationen, religiöse Spinner, selbsternannte Propheten, Fanatiker und Wunderheiler haben in postkommunistischen Ländern Hochsaison. Armut, Verunsicherung, Ängste und Sorgen, was die neue Zeit bringen wird, bilden einen idealen Nährboden für wirre Theorien aller Art. Das trifft offenbar auch auf die bitterarme Republik Moldau zu.
Im Eingang des Hotels